Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 10: Am nächsten Morgen ------------------------------ Der nächste Morgen brachte keinen Trost und keine Erkenntnisse. Stattdessen brachte er Verwirrung, denn als Raymond die Augen öffnete, erkannte er diese Decke nicht als jene wieder, die zu seinem Apartment oder dem Haus der Chandlers gehörte. Es dauerte einen langen Moment, in dem ihm all die Ereignisse vom Vorabend wieder in den Sinn kamen, bis er sich wieder erinnerte, dass er die Nacht bei Ryu verbracht hatte – und streng genommen auch Seline, aber diese war im Moment offenbar nicht zu Hause. Da Sonnenlicht in den Raum fiel, wusste er bereits, dass der Vormittag weit fortgeschritten war, was sich auch sofort bestätigte, als er auf die Uhr sah. Er seufzte leise, als er feststellte, dass es sogar bereits kurz vor elf Uhr war, eindeutig zu spät, um noch zum Unterricht zu gehen. Auch wenn ihm an diesem Tag ohnehin nicht der Sinn danach stand. Joel und Christine wären mit Sicherheit auch nicht da und er wollte sich nicht mit all den mitleidigen Blicken abgeben – oder dem offenen Desinteresse an ihm oder den anderen beiden. Aus der unteren Etage konnte er Geräusche hören, weswegen er aufstand und sich Pullover, Strümpfe und Schuhe wieder anzog. Zum Schlafen hatte er lediglich seine Jeans anbehalten, aber wenn er nach unten ging, wäre es besser, vollständig angezogen zu sein – und außerdem wurde ihm außerhalb des Bettes direkt kalt. Nachdem er sein Handy vom Nachttisch genommen und dabei festgestellt hatte, dass keine neue Nachricht auf ihn wartete, verließ er den kargen Raum, der gerade genug Platz für das Bett, einen Schreibtisch, einen Stuhl und einen Schrank bot und schritt durch den engen Flur, der wie alles in der oberen Etage... klein war. Fast so als wäre es dem Architekten nur wichtig gewesen, dass der Gastraum im Erdgeschoss groß war und der Rest, in dem sich der Besitzer aufhielt, ohnehin nicht wert wäre, beachtet zu werden. Da das Café um diese Zeit noch nicht geöffnet war, fand Raymond im Gastraum niemanden, aber in der angrenzenden Küche, in der sämtliche Arbeitsplatten aus feinstem Chrom zu bestehen schienen, entdeckte er eine Person, die am Spülbecken stand und dort einige Gläser wusch. Seine violette Aura in der Form zahlreicher Blitze, ließ den Eindruck entstehen, dass er beständig unter Strom stand, aber gleichzeitig war die Elektrizität so sanft und gutmütig, dass davon nicht zu sprechen war. Er wandte Raymond den Blick zu, worauf seine violetten Augen sanfter, aber nicht wärmer, zu werden schienen. „Guten Morgen.“ „Guten Tag trifft es wohl eher, Ryu“, erwiderte Raymond, während er auf seinen Gastgeber zuging, der sich allerdings nicht an der Zurechtweisung zu stören schien. Stattdessen deutete er auf einen der Barhocker, die an der Arbeitsplatte mitten im Raum, standen. Er verstand ohne Worte und setzte sich. „Warum hast du mich so lange schlafen lassen?“ Ryu wandte sich wieder seiner Arbeit zu und antwortete, ohne ihn anzusehen: „Ich dachte mir, es wäre wohl besser, wenn du dich einmal ausschläfst. Ich habe gehört, dass du in der letzten Zeit viele Albträume hattest.“ Er fragte besser nicht, woher sein Gastgeber das wusste, sondern bedankte sich leise dafür. Ryu beendete das Spülen und stellte dann ein Glas und eine Flasche vor ihm ab. Bereits auf den ersten Blick erkannte Raymond, dass es sich dabei um Alkohol handelte, was ihn die Brauen zusammenziehen ließ. „Ich bin noch nicht alt genug, um das zu trinken.“ „Oh wirklich?“, erwiderte Ryu mit einem Unterton, der deutlich sagte, dass ihm das durchaus bewusst war. „Dann solltest du besser niemandem hiervon verraten. Aber nach der letzten Nacht dachte ich, dass du ruhig mal ein Glas vertragen könntest – ich hätte damals eines gebraucht, als ich meinen ersten Feinden gegenübergestanden war. Aber ich hatte jemanden, der mich davon abgehalten hat.“ Also gab Raymond seufzend nach und schenkte sich etwas ein. Kaum hatte er das Glas allerdings geleert, hustete er bereits, da der Alkohol doch wesentlich stärker war als er erwartet hatte. Ryus darauf folgendes Lachen, das wie üblich so unterkühlt klang, dass es nicht zu ihm passen wollte, half ihm auch nicht sonderlich, sich besser zu fühlen. Ehe Raymond auch nur in Versuchung kommen konnte, sich noch ein Glas einzuschenken, nahm Ryu die Flasche wieder an sich. „Joy hat mir erzählt, was letzte Nacht geschehen ist.“ Nach Raymonds Ankunft bei Ryu, war er viel zu müde gewesen, um selbst noch etwas zu erklären, aber Joy schien wie üblich weitergedacht zu haben. Manchmal zweifelte er daran, dass diese Frau wirklich schlief. Er erwiderte nichts darauf, sondern malte Kreise auf dem Chrom der Arbeitsplatte. Aber Ryu erwartete offenbar auch keine Antwort, denn er fuhr direkt fort: „Es muss ziemlich hart gewesen sein, das alles zu beobachten. Ich meine, selbst als angehender Söldner hattest du bislang doch eher ein behütetes Leben und dann begegnest du nicht nur Monstern, sie töten sogar beinahe deinen besten Freund.“ „Warum?“ Ryu hielt inne und betrachtete Raymond verwirrt, er führte die Frage sofort aus: „Warum haben sie Joel angegriffen? Joy sagte, das Besondere ziehe sie an... was ist an ihm besonders?“ „Sag, wie sieht seine Aura aus?“, konterte Ryu mit einer Gegenfrage. Das musste Raymond nicht lange überlegen, die Antwort kam sofort: „Sie ändert ihren Farbton, seiner Stimmung entsprechend.“ Das war immerhin das gewesen, was ihn damals an Joel so fasziniert hatte und auch das, was dafür sorgte, dass andere Menschen nicht so viel Umgang mit ihm pflegten, auch wenn andere es nicht sehen konnten, sie spürten es immerhin. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, dass dies wirklich der Grund war, dass diese Wesen ihn angegriffen hatten, aber Ryu nickte bestätigend. „Wir können uns nicht erklären, warum seine Aura das tut, aber es ist derart einzigartig, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Mimikry ihn aufspüren würden. Er kam noch gut davon, weil du und Christine bei ihm wart.“ Daran zweifelte Raymond, immerhin hatte er nichts tun können, um ihm zu helfen, es war alles Christines Verdienst gewesen. Er hatte Joel möglicherweise auch erst in Gefahr gebracht, immerhin gab es auch etwas in ihm, das sie wie magisch anzog. „Warum hat mir nie jemand etwas von diesen Wesen erzählt?“, fragte er und klang dabei nicht halb so vorwurfsvoll, wie man eigentlich hätte erwarten können. „Dann wäre es vielleicht nicht so weit gekommen und Joel wäre nun nicht im Krankenhaus.“ „Erstens“, begann Ryu ruhig, „kannst du froh sein, dass er nur im Krankenhaus ist und zweitens haben wir dir es nicht aus Bosheit nicht erzählt. Es ging dabei um deine eigene Sicherheit. Wie fühlst du dich nun, da du von der Existenz dieser Wesen weißt?“ Raymond öffnete bereits den Mund, hielt aber noch einmal inne. Er fühlte sich als wäre er aus dem sicheren Hafen der Normalität gerissen und direkt in ein tosendes Meer aus Furcht und Rastlosigkeit geschleudert worden. Er wusste nun von dieser verborgenen Welt, in der es Monster gab, die nach menschlichen Seelen gierten und er wusste, dass es nur wenige gab, die gegen sie kämpfen konnten und manche von ihnen – so wie Christine oder auch seine Angreiferin, davon war er überzeugt – darunter litten. Nein, er konnte wirklich nicht behaupten, dass er sich nun gut fühlen würde. Also schloss er den Mund wieder und ließ Ryu einen Schluss aus seinem Schweigen ziehen: „Das dachte ich mir doch. Deswegen haben wir dir nichts erzählt. Wir dachten, du wärst umsichtig genug, nie an diese Wesen zu geraten oder dich dann zumindest zu wehren wissen.“ „Wie würdest du dich gegen etwas wehren, das du nicht kennst?“ Ryu senkte den Blick ein wenig und sah ihn von unten herab an, als würde er ihn über den Rand einer Brille hinweg betrachten wollen. „Du enttäuschst mich wirklich, Ray. Ich dachte immer, du wärst intelligent und hältst auch viel von dir selbst.“ „Ich bin im Moment auch nicht stolz, dass ich keine Ahnung habe, was du von mir willst.“ „Du hast doch das Kämpfen gelernt“, erwiderte Ryu, tatsächlich klang Enttäuschung in seiner Stimme. „Du solltest dich eigentlich auf das Kämpfen verstehen.“ Von dieser Feststellung unangenehm berührt, kratzte Raymond sich an der Schläfe. Er hatte versucht, nicht in Panik zu geraten, aber das war eben nicht so einfach, wie er es sich gewünscht hätte. „Vielleicht war die Situation auch zu bedrohlich“, überlegte Ryu, um ihm ein wenig zu helfen. „Ich kann mir vorstellen, dass es schwer sein muss.“ „Eigentlich will ich gar nicht mehr darüber nachdenken“, erwiderte Raymond. „Ich möchte es nur noch vergessen.“ „Ich fürchte, das wird nun nicht mehr möglich sein.“ Ryu hob die Schultern und begann damit, die Arbeitsfläche abzuwischen, statt noch etwas zu sagen. Noch mehr war allerdings auch unnötig, denn in diesem Moment klingelte Raymonds Handy, das er hastig aus seiner Tasche zog. Doch dann hielt er es einen endlos erscheinenden Augenblick nur in der Hand, ohne auf das Display zu sehen. Er badete in der Hoffnung, dass es jemand war, der ihn wegen Joel anrief und wusste, dass er es nicht ertragen würde, wenn er entdeckte, dass sein Anrufer jemand vollkommen anderes war, jemand aus der Schule vielleicht, ein Lehrer oder ein Mitschüler, Leute, die einfach nur neugierig waren. Doch nachdem das Handy mehrmals geklingelt hatte, blickte er auf auf das Display, ehe sein Anrufer vielleicht noch auflegen würde. Er kannte die Nummer nicht, so viel wusste er sofort, dennoch nahm er den Anruf an und meldete sich mit seinem Namen. Dabei bemerkte er, wie Ryu ihn neugierig anschielte, ohne mit dem Wischen aufzuhören. „Ah, endlich gehst du mal ran“, sagte eine Stimme, die ihm im Gegensatz zu der Nummer sehr bekannt vorkam. „Ich dachte schon, du ignorierst mich absichtlich.“ „Joel?“, hakte Raymond ungläubig nach. Die Person am anderen Ende klang genau wie er, selbst die lebhafte Stimme war dieselbe wie vor dem Angriff, als ob dieser niemals stattgefunden hätte. Er glaubte gar, sich diesen Anruf nur einzubilden, was Ryus Blick erklärt hätte, aber ein kurzer Blick auf sein Display verriet ihm, dass der Anruf wirklich existierte und nicht nur Teil seiner Einbildung war. Joel lachte amüsiert. „Natürlich bin ich es. Mann, du hörst dich an, als würde dich gerade ein Geist anrufen oder so etwas.“ Raymond atmete erleichtert auf. „Nach der letzten Nacht dachte ich, du würdest ein Geist werden.“ „Ach, als ob mich so etwas umbringen würde... was auch immer das war.“ Er klang verwirrt, also wusste er immer noch nicht so recht, was eigentlich geschehen war. „Aber wie auch immer, Christine ist schon auf dem Weg hierher, also komm doch auch. Das Essen hier ist auch ziemlich lecker.“ „Ich bin schon unterwegs“, sagte Raymond, ehe er auflegte und dann aufstand, um ihn besuchen zu gehen. Joel war wach und das so schnell nachdem er ins Krankenhaus gekommen war, das musste das einzige Wunder sein, das er in den letzten Wochen erlebt hatte – aber er hoffte, dass es nicht das letzte bleiben würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)