Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 11: Anspannung ---------------------- Joel wirkte tatsächlich gesünder als noch in der Nacht zuvor. Er saß aufrecht in seinem Bett und aß immer wieder etwas von dem Tablett, das auf dem kleinen Beistelltisch stand, dafür benutzte er aber kein Besteck, sondern zwei Finger, mit denen er etwas von dem krümeligen Kuchen nahm, um es sich in den Mund zu stecken. Er war nicht mehr blass und er lächelte sogar, als er Raymond sah. „He, Morgen, Ray.“ „Hallo“, erwiderte dieser, während er ihn mit den Augen taxierte, um festzustellen, ob er wirklich so gesund war, wie er wirkte. „Was ist los? Hast du vor, unter die Ärzte zu gehen und nutzt mich als Anschauungsobjekt?“ Raymond wollte gerade erklären, was er tat, als er bei Joels Augen innehielt. Sein Herz sank augenblicklich derart tief, dass er glaubte, es würde niemals mehr an seinen ursprünglichen Platz zurückkehren können. Joels Augen waren golden. Seine einstmals braunen Iriden zeigten nun absolut nichts mehr von dieser Farbe, so als würde sie Raymond sagen wollen, dass er sich irrte und sie schon immer so ausgesehen hatten und fast hatte er sich selbst soweit, es auch zu glauben, nur um seinen Seelenfrieden zu wahren – als Joel die Stirn runzelte. „Ah, meine Augen irritieren dich, oder? Meine Mutter ist vorhin deswegen schon in Tränen ausgebrochen, dabei finde ich das gar nicht so schlimm.“ Also wusste er nicht, was das bedeutete, Raymond beneidete ihn regelrecht um diese Ahnungslosigkeit, die ihm wie ein Segen vorkam. Aber sich vorzustellen, dass die sonst so fröhliche Theia in diesem Zimmer stand und weinte, tat ihm in der Seele weh und Joel offensichtlich auch, denn er wirkte zerknirscht, als er daran zurückdachte. „Ich fühle mich, als hätte ich etwas falsch gemacht, aber ich erinnere mich an nichts.“ „An nichts?“, hakte Raymond verwirrt nach. „Na ja, ich weiß noch, dass wir wegen dem Ausflug unterwegs waren, aber nachdem wir wieder in der Stadt angekommen waren... na ja, ab da ist alles weg.“ Er erinnerte sich also nicht daran, dass diese Wesen ihn berührt hatte, dass er geschrien hatte als würde er bei lebendigem Leib verbrannt werden und er erinnerte sich nicht an Christines seltsame Fähigkeiten und die Untätigkeit seines besten Freundes. Um das alles beneidete Raymond ihn noch mehr, auch wenn er gleichzeitig sehr interessiert an dem gewesen war, was Joel gefühlt hatte, während diese Wesen ihn berührten. Er wollte wissen, was in der Lage dazu war, einen Menschen in Agonie schreien zu lassen, ohne dass er dabei auch nur im Mindesten verletzt war. Aber für Joel war es sicherlich besser, wenn er sich nicht erinnerte. Die Ankunft von Christine unterbrach seine Gedanken abrupt. „Guten Morgen allesamt~!“ Sie sah müde aus, dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, aber sie bemühte sich, fröhlich zu sein. Dass sie sich anstrengen musste, war deutlich in ihrer Stimme zu hören. „Wir haben kurz vor zwölf Uhr“, seufzte Raymond. „Es ist wirklich zu spät für diese Begrüßung.“ Christine setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, während er weiterhin stehenblieb, dabei sah sie ihn ungewohnt finster an. „Sei nicht so pingelig. Ist doch egal, was wir sagen.“ Joel tippte ihr auf die Schulter, worauf sie sich näher zu ihm beugte, damit er ihr etwas ins Ohr flüstern konnte. Dabei wirkten die beiden so vertraut, dass Raymond sich abermals wie ein ungewollter, überflüssiger Störfaktor fühlte, der eigentlich gar nicht da sein dürfte. Als die beiden ihre geheime Besprechung beendet hatten, wirkte Christine nun ebenfalls ein wenig zerknirscht. „Tut mir Leid, ich sollte dich nicht so anfahren. Das ist alles... ein wenig schwer, nicht wahr? Ich meine... woah!“ Sie vollführte eine Bewegung mit den Händen, als würde etwas zerplatzen, was Joel zu der Frage bewegte, was sie eigentlich meinte. Sie setzte gerade an, ihm davon zu erzählen, stutzte dann aber. „Warte, du erinnerst dich gar nicht an den Angriff?“ „Was für einen Angriff?“, fragte er. „Niemand hat mir gesagt, warum ich hier bin... oder was mit meinen Augen los ist.“ Bislang schien ihn das nicht gestört zu haben, aber plötzlich wirkte er deutlich unzufriedener als kurz zuvor. „Mir wurde nur gesagt, dass ich morgen wieder entlassen werde und ich dann wieder in die Schule gehen kann.“ Bei den letzten Worten rollte er mit den Augen. „Und ich soll außerdem nicht mehr im Dunkeln und auch nicht allein rausgehen. Als ob ich das immer verhindern könnte...“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte in Richtung der Wand, als gäbe es dort irgendetwas, das es wert war, angestarrt zu werden und von Raymond nicht gesehen werden konnte. „Na ja“, versuchte Christine es mit einem improvisierten Erklärungsversuch, „es ist nicht großartig viel passiert. Du bist einfach bewusstlos geworden und das... war es dann auch schon. Vermutlich hast du dich nur überanstrengt.“ „Wobei denn?“ Joel war ganz offensichtlich nicht mit dieser Erklärung einverstanden. Mit einem um Hilfe heischenden Blick wandte Christine sich nun Raymond zu, obwohl sie wusste, dass er nicht unbedingt fantasievoll war, was derartige Dinge anging – aber ausnahmsweise hatte er tatsächlich eine Idee: „Du hast den ganzen Tag kaum etwas getrunken oder gegessen und die Nacht davor auch nicht viel geschlafen, weil du dauernd in diesem Buch gelesen hast. Irgendwann rächt sich das dann auch mal.“ Skeptisch zog er die Brauen zusammen, aber dann zuckte er plötzlich mit den Schultern. „Na ja, wenn du das sagst, wird das schon stimmen. Aber meine Augen-“ „Deine Aura wechselt ständig ihre Farbe“, erklärte Raymond weiter. „Möglicherweise hat das auch noch Auswirkungen auf den Rest deines Körpers und in diesem Fall wären es eben die Augen.“ Joel ließ sich diese Aussage durch den Kopf gehen und blickte dafür an die Decke, da ihm dies – wie Raymond wusste – das Denken erleichterte. Christine nutzte die Gelegenheit, um Raymond unbemerkt noch einmal anzusehen und mit dem Mund das Wort Danke zu formen, worauf er nur nickte, damit sie wusste, dass es schon in Ordnung war. Immerhin war Joel auch sein Freund und er sah es lieber, wenn dieser sich mit einer Lüge abgab, als solch eine Wahrheit zu erfahren. „Klingt logisch“, meinte er schließlich, nachdem er eine Weile über die Erklärung nachgedacht hatte. „Wahrscheinlich sagt mir keiner was, weil alle keine Ahnung haben.“ „Ja, das wird es sein“, sagte Christine überzeugt. „Also mach dir keine Sorgen.“ Er lächelte ihr zu, dann sah er wieder Raymond an. „Setz dich doch auch. Das wirkt so, als würdest du gleich wieder gehen wollen.“ Erst als Christine zustimmend nickte, ihr Blick wieder ganz der alte, entschuldigte er sich leise dafür und setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Bettes. „Schon besser“, urteilte Joel. „Und jetzt bemitleiden wir mich richtig.“ Erst am Abend, als die Sonne bereits unterging, verließen Raymond und Christine das Krankenhaus wieder. Schweigend liefen sie nebeneinander her, bis sie aus dem Gebäude traten und an den Fahrradständer kamen, an dem sie ihr Gefährt festgekettet hatte. Während sie sich daneben kniete, um die Kette zu lösen, blieb Raymond wieder stehen. Er hätte weitergehen können und sein Gefühl sagte ihm, dass er das eigentlich auch sollte, immerhin war die Stimmung zwischen ihnen den ganzen Tag angespannt gewesen und er glaubte, dass sie ohnehin nicht mit ihm reden wollte. Dennoch blieb er stehen. Dass sie damit nicht gerechnet hatte, erkannte er, als sie sich wieder aufrichtete und überrascht zusammenzuckte, als sie ihn sah. „Oh... du bist noch da...“ „Wie du siehst. Willst du mir nicht lieber sagen, was los ist?“ Es war nicht üblich, dass sie wütend auf jemand war oder ihn absichtlich ignorierte und Raymond war der Meinung, dass sie das alles leichter hinter sich bringen könnten, wenn sie einfach direkt darüber sprachen. „Eigentlich nicht“, antwortete sie. „Es ist nämlich schwachsinnig, deswegen sauer zu sein.“ Er musste nicht lange überlegen, wem das galt. „Warum bist du sauer auf mich?“ Sie presste die Lippen aufeinander, überlegte einen Moment und entschied sich dann tatsächlich, mit ihm zu sprechen – oder eher zu schreien: „Du hast letzte Nacht nichts getan, um Joel zu helfen! Du bist einfach nur dagestanden, aber du wusstest, was das für Wesen sind!“ Noch nie zuvor hatte er sie wütend erlebt, weswegen es ihn doppelt traf. Es war keine böswillige Absicht gewesen, die ihn hatte erstarren lassen, sondern die reine Furcht vor diesen Mimikry und seine Machtlosigkeit. Er besaß keine Fähigkeiten wie die von Christine, was hätte er tun sollen, außer Joel von diesen Angreifern fortzuziehen? „Du kannst sie sehen!“, bestand sie, als er schwieg. „Also musst du auch irgendetwas tun können, aber du hast es nicht!“ „Ich kann nichts tun“, erwiderte er leise. „Ich weiß nicht, warum ich sie sehen kann.“ In der Nacht zuvor war sie nicht derart wütend auf ihn gewesen, während sie auf eine Nachricht von Joel gewartet hatten. Möglicherweise war sie die ganze restliche Nacht wachgelegen, um sich einen Sündenbock zu suchen – und den hatte sie in Raymond, dem einzig anderen Anwesenden, gefunden. „Aber du bist ihnen schon einmal begegnet, oder?“, fragte sie weiter, als suchte sie noch immer nach etwas, das ihr zu verstehen helfen könnte. „Als du im Krankenhaus warst, in jener Nacht, da hast du sie gesehen, nicht wahr?“ Er deutete ein Nicken an. „Ich wurde von einem GS-Mitglied gerettet – das mich kurz darauf töten wollte. Ich habe es euch nicht gesagt, um euch nicht zu besorgen.“ Sie wurde augenblicklich blass und nahm seine Hand. „Ein GS-Mitglied ist hinter dir her?“ Doch ehe er antworten konnte, sog sie bereits hörbar die Luft ein, ließ ihn schlagartig wieder los und schlug sich die Hände vor den Mund. „Oh nein! Die Mimikry sind auch hinter dir her!“ Sie senkte den Blick und murmelte dabei Dinge vor sich her, die er nicht verstehen konnte, weil sie viel zu schnell sprach. Aber als ihr eine Erkenntnis kam, sah sie ihn wieder direkt an, die Augen vor Furcht geweitet. „Oh! Dann sind sie auch hinter Joel her!“ Sie wirkte nun wieder wesentlich ruhiger und entspannter, was ihn dazu bewegte, ihr mitzuteilen, was das GS-Mitglied ihm gesagt hatte, um herauszufinden, was sie dazu sagte – und zu seinem Glück antwortete sie auch bereitwillig: „Weil du so besonders bist, hat sie dich als Lockvogel benutzt, um möglichst viele Mimikry auf einen Schlag zu töten, das ist eine verbreitete Methode bei der GS, mit speziellen Barrieren halten wir Opfer und Monster dabei in einem bestimmten Bereich.“ Raymonds Inneres gefror regelrecht, als ihm bewusst wurde, dass er unbeabsichtigt in eine von dieser Frau vorbereitete Falle gerannt war. Dass sie ihn schamlos ausgenutzt hatte, um ihren Auftrag zu erfüllen auch wenn etwas in seinem Inneren ihm sagte, dass dieser Plan immerhin vielen anderen Menschen geholfen hatte. „Normalerweise werden wir angewiesen, den Lockvogel gleichzeitig mit den Mimikry zu töten. Ich weiß nicht, warum sie da bei dir eine Ausnahme gemacht hat.“ Vielleicht war in dieser verbitterten Frau doch noch ein letzter Funke Menschlichkeit, der sie davon abgehalten, aber nicht verhindert hatte, dass sie den Auftrag noch nachträglich ausführen wollte. „Weswegen werdet ihr dazu angewiesen?“ „Mimikry versammeln sich dort, wo viele spezielle Menschen sind und sie ernähren sich auch von diesen. Je spezieller, desto schneller wachsen sie. Wenn es nun aber keine von ihnen gibt und sie nicht mehr wachsen können, dann müssen sie doch irgendwann aussterben – so die Theorie.“ Das leuchtete ihm ein, auch wenn er es als grausam empfand. Es musste doch einen anderen Weg geben, mit ihnen fertig zu werden – genau denselben Gedanken musste auch Joy hegen. „Aber mal unter uns“, fuhr Christine mit verschwörerisch gesenkter Stimme fort, „ich glaube, man kann sie gar nicht ausrotten.“ „Wie kommst du darauf?“, fragte er. Ihre Augen verdunkelten sich ein wenig und hätte er die Brille abgenommen, wäre es ihm möglich gewesen, zu erkennen, dass ihre Aura sich gleichfalls verfinsterte. Noch dazu wäre ihm aufgefallen, dass der Sand nicht zurückgekehrt war und das flüssige Gold sie noch immer in eine lebende Statue zu verwandeln drohte. „Immer, wenn ich gegen sie kämpfe, ist das so, als würde ich gegen alle negativen Gedanken und Gefühle der Menschen auf einmal kämpfen... Ich glaube, sie entstehen daraus und fressen deswegen spezielle Seelenfragmente, die als positiv bewertet werden, um vollständig zu werden.“ Sie nickte nach diesen Worten schweigend, um sie noch einmal zu bekräftigen, während Raymond sie sich durch den Kopf gehen ließ. „Das klingt plausibel“, merkte er schließlich an. „Wenn deine Theorie stimmt, könnte man sie nur mit dem Tod der gesamten Menschheit ausrotten.“ „Ah, ich wusste doch, dass du mich verstehen würdest.“ Sie lächelte zufrieden und nahm endlich ihr Fahrrad aus dem Ständer. „Aber eine Sache würde mir da noch zu denken geben, weil sie dem widerspricht.“ „Was denn?“, fragte sie. So ganz wusste er nicht, ob er sie das wirklich fragen sollte, aber seine Neugier und der Wunsch, darüber zu theoretisieren war größer als sein Anstand. „Wenn du ein Mitglied der GS warst und zu einem halben Mimikry gemacht wurdest... wie kommt es, dass du immer so fröhlich bist?“ Sie hatte erwähnt, dass Joy ihr geholfen hatte, nicht sterben zu müssen, aber auch, dass ihre Seele nicht wiederhergestellt werden konnte. Also musste sie noch immer so sein wie diese Wesen und wie diese andere Frau, sofern Christines Theorie über die negativen Eigenschaften stimmte. „Nun, das ist so...“ Ohne ihn anzusehen, stieg sie auf ihr Fahrrad und stellte ein Fuß bereits auf das Pedal, während sie sich mit dem anderen noch auf dem Boden abstützte, dann blickte sie doch zu ihm. „Vielleicht spiele ich für euch auch nur erfolgreich Theater.“ Ehe er nachhaken konnte, trat sie in die Pedale und fuhr davon, so dass er ihr nur noch hinterhersehen konnte. Er konnte und wollte nicht glauben, was er da eben gehört hatte, aber wenn es stimmte, warf das ein vollkommen neues Licht auf seine beste Freundin, die vielleicht gar keine war. Alles schien vor seinen Augen einzustürzen wie ein Kartenhaus und er konnte nichts tun, um es aufzuhalten. Was, wenn Joel auch so werden würde? Was sollte er tun, um das zu verhindern? Vielleicht sollte er mit Joy darüber sprechen, immerhin kannte sie sich damit aus – und dann könnte er auch gleich herausfinden, was die Hallows noch taten, um die Mimikry zu bekämpfen. Also machte er sich auf den Rückweg ins Restaurant, in der Hoffnung, sie dort vorzufinden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)