Brother of Sleep von Sassassin (Des Schlafes Bruder (Fred x George)) ================================================================================ Kapitel 1: Tuck me in (Decke mich zu) ------------------------------------- Die Blätter tanzen im Wind. Ja, sie tanzen wirklich. Schweben durch die Luft, ziehen kreise, bis sie endlich sanft auf dem Boden landen. Ich lehne mich zurück. Ich liebe diese späten Sommertage. Diese Tage, an denen es warm ist. An denen die Blätter sich bereits bunt färben und zu Boden fallen. Diese Tage, die mich so an dich erinnern. Der Wind weht mir durch die Haare. Sie sehen richtig durcheinander aus. Genau so sahen sie immer aus, wenn du mir die Haare zerwuschelt hast. Dann hast du immer gesagt, ich sähe aus wie ein geplatztes Sofakissen. Und dann hast du gelacht und dir deine eigenen zerzaust. Wie verwegen du damit aussahst...das hat mich glücklich gemacht. Mir fällt ein orangefarbenes Blatt auf den Kopf. Das hätte dir bestimmt gefallen. Und wieder denke ich, dass die Blätter tanzen. Darüber haben wir uns damals gestritten, weißt du das noch? Damals waren wir noch so klein. Die Blätter sind von dem großen Baum in unserem Garten gefallen. Und ich sagte, sie würden tanzen. Das fandest du lustig. Du hast mich ausgelacht. Und gesagt, dass ich ein Mädchen sei, obwohl ich das nicht war. Ich wurde traurig. Weil ich es mochte, wie die Blätter vom Wind hin und her getragen wurden. Sich einfach gleiten ließen, fallen ließen, sich davon treiben ließen. Ich breitete die Arme aus, und lief zum Baum. Drehte mich im Kreis, ließ die Blätter auf mich fallen. Du hast mir nur dabei zu gesehen. Gelacht. Bist zu mir gekommen, hast mich in den Arm genommen. Dich bei mir eingehakt und dich mit mir im Kreis gedreht. Wir haben getanzt, unter den Blättern, die selbst einen kleinen Walzer in der Luft vollführten. Gedreht und gedreht, bis wir ins Gras fielen, weil uns so schwindelig war. Und haben so viel gelacht, dass ich es heute kaum noch für möglich halten kann. Wir haben uns an den Händen gehalten. An diesem späten Sommertag. Ich stoße mich vom Boden ab. Ich habe dich geliebt, Fred. So unglaublich geliebt, dass mich meine eigene Liebe beinahe zerquetscht hätte, hätte ich sie nicht weitergeben können. Du warst so gütig, sie mir abzunehmen. So wie an diesem Spätsommertag. Ich schiebe die Hände in die Hosentaschen. Lasse meinen Blick über den Friedhof gleiten. Die anderen Grabsteine wirken im Vergleich zu deinem ganz schön erbärmlich. Obwohl schon fünf Jahre vergangen sind, seit deinem Tod. Auf deinem Grab liegen viele Kränze. Blumen. Ein Bild von unserer Familie. Es ist ein Wunder, dass alle darauf gepasst haben. Juxzauberstäbe. Eine unserer ersten Erfindungen. Die stammen natürlich von mir. Was willst du auch mit Blumen, oder Kränzen, oder Teelichtern? Ich stehe stumm vor deinem Grabstein. Es tut immer noch weh, dich so zu sehen. Beziehungsweise, dich nicht zu sehen. Du liegst nicht weit von mir entfernt. Einen Schritt vor mir, ein paar Meter unter mir. Und dennoch bist du weiter entfernt, als je zuvor. Würde ich auf die Knie fallen, und nach dir graben, würde mir eine verwesende Leiche begegnen. In einer hölzernen Kiste, die ich zuvor aufbrechen würde. Und selbst dann wärst du noch so weit entfernt. Ich erschrecke, als sich plötzlich etwas an mein Bein klammert. Oder besser: Jemand. „Daddy, lass uns was spielen!“ Ich lege meine Hand auf den Kopf des Jungens, der mich 'Daddy' nennt. „Ich komme gleich.“ „George, wir sind hier auf einem Friedhof!“ Und da ist die Person, die ich jeden Tag am liebsten umbringen würde. Meine Ehefrau. „Und weiter?“ „Es gehört sich nicht, hier zu spielen.“ Sie verzieht das Gesicht, schaudert kurz. Aber das ist mir egal. Was sie sagt, das hat keinen Stellenwert. Es zählt einfach nicht. Ich gehe auf die Knie, und sehe meinen Sohn an, der dir so verdammt ähnlich sieht. Er hat rotes Haar. Und Sommersprossen. Vielleicht sogar genauso viele wie du. Ich habe mich nie getraut, sie zu zählen. Und er hat dieses wunderschöne blau in den Augen. Das, das ich früher immer 'Wunderlandblau' genannt habe. Weil es daran grenzte, in eine andere Welt einzutauchen, wenn ich in deine Augen gesehen habe. Aber es sind nicht deine Augen, sondern die meines Sohnes, der dir durch Zufall ähnlich sieht, und durch meine Dummheit denselben Namen trägt wie du. „Was willst du denn spielen, Fred?“ Was würdest du spielen wollen, wenn du jetzt hier wärst? „Verstecken!“ Ja, das habe ich mir schon gedacht. Du hättest dasselbe gesagt. Oder du hättest 'Snape explodiert' vorgeschlagen, weil wir für Verstecken schon viel zu alt wären. Dabei war uns das nie sonderlich wichtig. „Und du musst suchen!“ „George, du willst doch nicht-“ „Okay, dann such dir mal ein gutes Versteck.“ Ich lasse sie nicht zu Ende reden. Sie hat nicht zu sprechen. Sie soll ihren verlogenen Mund halten. Wie halte ich sie aus? Diese verlogene Frau. Das einzige, das uns je verbunden hat und verbinden wird ist die Liebe zu dir. Sie hat meinen Schmerz verstanden. Aber sie hat dich längst vergessen. Du warst ihr egal. Sie hat keinen Unterschied gemacht. Es war ihr egal, ob du oder ich. Sie seufzt nur, und setzt sich zurück auf die etwas entfernter stehende Bank, auf der sie zuvor noch mit ihm gesessen ist. Er strahlt mich an. Du hast mich auch des Öfteren so angestrahlt. Aber das, was ich in seinem Gesicht lesen kann, ist nicht dieselbe Freude, die du immer empfunden hast. Ich lerne einfach nicht dazu. Ich lerne nicht ihn als ein eigenständiges Individuum anzusehen. Ich schaffe es einfach nicht. Ich kann lediglich Vergleiche anstellen. Er ist anders als du, und das mag ich nicht an ihm. Wie kann man so von seinem eigenen Sohn denken? Ich hasse mich selbst dafür. Aber du fehlst mir so sehr. Ich drehe mich mit dem Gesicht zu einem Baum. „Ich zähle bis 20, okay, Fred?“ Ich lege meinen Arm auf die Rinde des Baumes und lehne meinen Kopf gegen ihn. Ich schließe die Augen. Heute erinnert mich alles an dich. Jeder Atemzug, jede Bewegung, jede Handlung. Aber ist es nicht eigentlich jeden Tag so? Ist es nicht so, dass ich nur noch lebe, um mich jeden Tag aufs Neue an dich zu erinnern? Ich beginne zu zählen. Und währenddessen führe ich mir einen weiteren Tag aus unserer Kindheit vor Augen. Wir spielten verstecken. Wie so oft. Wir liebten es einfach, uns gegenseitig an der Nase herumzuführen. Ich wollte dir in nichts nachstehen. Ich wollte dir ebenbürtig sein, dir gerecht werden. Aber irgendwie schafftest du es immer, mich zu finden, während ich versagte. Du hattest wohl ein Gespür dafür, während ich wohl einfach nur ein Versager und letztendlich auch ein schlechter Verlierer war. Ich versuchte immer zu schummeln. Und ich weiß, dass du es wusstest, aber du hast es nie gezeigt. Stattdessen hast du gelacht, wenn ich dich gefunden habe, hast mich umarmt und gesagt, dass ich immer besser werde. Du warst so gütig zu mir, Fred. Ich hätte wohl keinen besseren großen Bruder haben können als dich. Und so lernte ich dich noch mehr lieben, an diesem Spätsommertag. Ich merke, wie ich lächle. Und ich öffne die Augen, obwohl ich noch nicht zu Ende gezählt habe. Immerzu bringen mich diese Erinnerungen dazu, einen Versuch zu starten, sie zu wiederholen. Und als ich versuche zu sehen, wo mein Sohn sich versteckt, bleibt er vor einem Grabstein stehen, verschränkt die Arme und sieht mich vorwurfsvoll an. „Daddy, du schummelst!“ „Entschuldige.“ Traurig drehe ich mich zu meinem Sohn, der mich verwirrt, aber noch immer böse ansieht. Wieso tue ich mir das nur immer wieder selbst an? Ich hätte wissen müssen, dass er nicht wie du handelt. Aber ich wollte es versuchen. Um zu sehen, ob du vielleicht doch irgendwo dort drin steckst. Aber das war dumm von mir. Er ist nicht du. Wieso kann ich das nicht endlich einsehen? Angelina steht von ihrer Bank auf und eilt zu unserem Sohn hinüber. „Daddy hat nur einen Spaß gemacht.“ Sie nimmt seine Hand, während sie mir einen bösen Blick zuwirft. Das ist mir aber egal. Diese Frau interessiert mich nicht. In keinster Weise. „Wir gehen jetzt nach Hause.“ Es ist unglaublich, dass sie sich das Recht herausnimmt, für uns zu entscheiden. Dass sie mich zwingen will, dich für heute wieder zu verlassen. Fred nickt verwirrt und lässt sich von Angelina zu mir herüber ziehen. Er nimmt meine Hand und ich drücke sie leicht. Keine Sorge, ich werde dich morgen wieder besuchen kommen. Wie ich es jeden Tag tue. Ich werde die kaputten Blumen wieder frisch zaubern. Und ich werde darauf achten, dass dein Grab gepflegt ist. Ich werde dafür sorgen, dass ich alleine komme. Wir verlassen den Friedhof. Mein Sohn ist aufgeweckt und scheint bereits vergessen zu haben, dass ich gerade geschummelt habe. Er ist eben noch klein. Wir gehen die Straßen entlang. Im Sommer sind sie immer so voll. Obwohl es schon fast abends ist. Früher hätte mir das gefallen. Früher warst du noch da. Und dann hätten wir uns Eis gekauft, uns unter die Leute gemischt und für ein wenig Unruhe gesorgt. Ja, das hätten wir getan. Und wir hätten Spaß gehabt. Aber jetzt ist es eine Farce, durch die überfüllten Straßen zu gehen. Alleine. Oder sollte ich besser sagen, mich alleine fühlend? Ich erkenne sie nicht als meine Gesellschaft an, diese Frau. Und auch nicht meinen Sohn, der dir durch Zufall ähnlich sieht. Jetzt ist es eine Qual daran denken zu müssen, was wir alles getan hätten, an einem Spätsommerabend. Ich bleibe stehen, als wir vor unserem Haus stehen. Oder eher dem Haus, in dem sich unsere Wohnung befindet. Angelina öffnet die Tür und nachdem wir, dank meinem Sohn, recht langsam die Treppen hinaufgegangen sind, sind wir da. Zu Hause. Falls man das so nennen kann. Ich wollte nie so leben. Ich schließe die Tür langsam hinter mir. Nicht so. Wenn ich früher an die Zukunft gedacht habe, habe ich nur dich gesehen. Nein, ich habe uns gesehen. Dich und mich, wie wir unseren Laden führen. Wie wir in unserer kleinen Wohnung über dem Laden wohnen, und ihn so verrückt einrichten, wie wir nur können. Die schrägsten Möbel, die unpassendste Dekoration. So waren wir. Und für kurze Zeit lebten wir so. Und während wir so lebten, und ich an die Zukunft dachte, habe ich noch immer nur uns gesehen. Wie wir in dieser Wohnung leben. Wie wir reicher werden, durch unsere Erfindungen. Wie wir alt werden, glücklich. Ohne Frauen, die uns nicht unterscheiden können. Ohne Kinder, die uns lediglich ähnlich sehen. In unserer Wohnung, die sich unserem Charakter angepasst hat. Und wenn ich mich heute so umsehe, habe ich das, was ich niemals haben wollte. Eine Frau, die uns nie unterscheiden konnte, und auch keinen Unterschied gemacht hat. Einen Sohn, der lediglich ein wenig aussieht wie du und deinen Namen trägt. Eine Wohnung, die langweiliger nicht sein könnte. Von jemandem eingerichtet, der keinen Geschmack hat. Ich bin eingesperrt in diesem Leben, das ich niemals haben wollte. Und wenn ich nun an die Zukunft denke, sehe ich nichts. Ich gehe den Flur entlang. Und bevor ich ins Wohnzimmer gehe, bleibe ich vor dem Spiegel stehen, der neben der Garderobe hängt. Ich wende mich ihm zu, sehe mich an. Gehe einen Schritt auf den Spiegel zu, lege meine Fingerspitzen darauf. Er ist kühl, obwohl es auch hier drin warm ist. Es tut mir weh, mich anzusehen. Wenn ich kann, meide ich es, direkt in den Spiegel zu sehen. Weil ich genau so aussehe wie du. Weil es zwischen uns keinen Unterschied gibt. Wärst du noch am Leben, wären wir noch immer identisch. Bis auf diesen kleinen Makel, meinem Ohr. Aber wenn ich es abdecken würde, wäre ich du. Ich könnte du sein. Ich schließe die Augen und lehne meine Stirn gegen das kühle Glas. Wieso kann ich nicht du sein, während ich auch ich bin? Es würde so vieles einfacher machen. Ich müsste dich nicht vermissen. Aber ich wüsste dennoch, dass ich nicht du wäre. Und so wäre das Bild wieder zerrissen. Spiegel erinnern mich an dich. Schon früher mochte ich es, mit dir in den Spiegel zu sehen. Wir haben uns immer über uns lustig gemacht. Haben gesagt, wer von uns beiden besser aussieht, obwohl wir exakt identisch waren. Kurz lächle ich. Wieder erinnere ich mich an eine Begebenheit von früher. Damals waren wir bereits in Hogwarts. Kurz nach den Sommerferien. Wir waren so müde. Weil wir uns nachts herumgetrieben hatten, bis die Sonne aufgegangen war. Es hat Spaß gemacht. So viel Spaß, die Regeln zu brechen. Und wir standen vor dem Spiegel im Bad. Ich legte meinen Kopf auf deine Schulter, so müde war ich. Und ich fragte dich, wer von uns beiden im Spiegel denn nun ich wäre. Ich weiß noch, wie du gelacht hast. Und wie ich gelacht habe. An diesem späten Sommertag. Langsam öffne ich die Augen wieder. Und sehe, wie mich mein Wunderlandblau ansieht. Aber es ist schon lange nicht mehr so schön, wie es einmal war. Ich weiß, dass es nie so schön war wie das Blau in deinen Augen. Aber jetzt ist es noch trüber, leerer und glanzloser als damals. Langsam entferne ich mich vom Spiegel. „Ich bringe Fred ins Bett“, sagt meine Frau und lächelt mich an. Ich nicke ihr zu und drücke meinen Sohn an mich. „Liest du mir noch etwas vor, Daddy?“ Erneut nicke ich, nehme meinen Sohn auf den Arm und trage ihn in sein Zimmer. Es ist langweilig. Nicht so, wie unser damaliges Zimmer. Es war immer chaotisch. Und wir haben es mit unseren Erfindungen gefüllt, mit unseren Sammlerstücken, mit Dingen, die uns wichtig waren. Ich setze Fred auf sein Bett und während Angelina ihn umzieht, setze ich mich auf seine Bettkante. Als er im Bett liegt, beginne ich zu erzählen. Deine Lieblingsgeschichte, meine Lieblingsgeschichte. Und während ich erzähle, erinnere ich mich daran, wie du sie mir einmal vorgelesen hast, als wir neun Jahre alt waren. Wir waren krank, du und ich. Und uns war schrecklich langweilig. Ich mochte es nie, krank zu sein. Und ich mochte es nie, nur im Bett zu liegen. Also bist du zu mir ins Bett gekrochen, mit einem alten, abgenutzten Buch und hast mir vorgelesen. Die Geschichte vom Sommer, der drei Geschwister hat und eine Mutter. Wie sich der Sommer mit dem Herbst streitet, weil der Herbst den Sommer beendet. Und wie sie sich vertragen haben, weil der Herbst eine genau so wichtige Rolle spielt wie der Sommer. Ich hatte dir aufmerksam zugehört. Jeden Tag, bis wir gesund waren. Bis ich die Geschichte auswendig konnte. Und wenn ich dann krank war, fand ich es nicht mehr so schlimm. Denn dann hast du mir die Geschichte vom Sommer erzählt. Und es war alles gut, an diesem Spätsommertag. Als ich fertig bin, schläft er schon. Das ist mir nie passiert. Ich konnte nie aufhören, an deinen Lippen zu hängen. Deiner Stimme zu lauschen, wie du die Stimme des Sommers und die Stimmen der anderen nachgeahmt hast. Ich konnte nie aufhören festzustellen, dass ich deine Stimme in jeder Tonlage mochte. Und erst als du fertig warst zu erzählen, habe ich mich getraut zu schlafen. Weil ich dann sicher war, ich würde nichts verpassen. Wenn ich nun genauer darüber nachdenke, habe ich alles verpasst. Als ich geschlafen habe, habe ich auf deine Anwesenheit verzichtet. Ich habe sie nicht bewusst wahrgenommen. Ich habe unsere Zeit vergeudet. Hätte ich nur nie geschlafen. Ich stehe auf und Angelina deckt ihn zu. Dann küsst sie mich auf die Wange und lächelt. Ich erwidere dieses Lächeln nicht. „Wollen wir auch ins Bett gehen?“ Sie ist ein Spießer. Ich mochte Spießer noch nie. Und du mochtest solche Menschen auch nie. Sie waren langweilig. „Ich komme später nach“, sage ich. Sie ist enttäuscht. Aber das interessiert mich nicht. „Okay.“ Erneut küsst sie mich auf die Wange und verschwindet. Ich bleibe in dem Kinderzimmer unseres Sohnes zurück. Kurz beobachte ich ihn beim Schlafen. Ich bin mir sicher, dass du dabei niedlicher ausgesehen hast. Und wieder muss ich mich daran erinnern, dass er nicht du ist. Also schüttle ich den Kopf und verlasse das Zimmer. Ich sehe noch, wie Angelina das Licht in unserem Schlafzimmer löscht. Und nun ist es still in der Wohnung. Ich kehre ins Wohnzimmer zurück und setze mich dort auf die Couch. Jeder Abend läuft gleich ab. Jeder Tag ist gleich. Hätte ich nicht die Erinnerungen an dich, würde ich das nicht aushalten. Ich ziehe die Knie an mich heran und stelle sie auf dem Sofa ab. Jeden Tag vermeide ich es, in unser gemeinsames Schlafzimmer zu gehen. Meistens bleibe ich hier. Dennoch fragt sie, ob ich ihr Gesellschaft leiste. Sie hofft noch immer, dass ich sie irgendwann lieben werde. Dabei habe ich ihr klar gemacht, dass es eine Zweckgemeinschaft ist. Nichts weiter. Unser Sohn war ein Versehen. Ein Versehen, das ich gerne rückgängig machen würde. Ich vergrabe meine Hand in meinen Haaren. Draußen wird es immer finsterer. Trotzdem bleibe ich in dieser Position sitzen, wie jeden Tag, wie jeden Abend. Seit du fort bist, schlafe ich kaum noch. Ich vermeide es zu schlafen. Denn dann träume ich von dir. Wie du noch lebst. Und wie wir gemeinsam unser Leben verbringen. Und wenn ich aufwache, wünschte ich, ich wäre tot. Denn ich weiß, wie glücklich ich war, in diesem Traum. Aber ich darf nicht sterben, jetzt noch nicht. Weil ich voller Liebe sterben will. Voller Liebe für dich, Fred. Und das ist ein weiterer Grund, weshalb ich versuche nicht zu schlafen. Denn jemand der liebt, der schläft nicht. Jemand der wahrhaftig liebt, schläft nicht. Trotzdem falle ich immer wieder in den Schlaf, ohne es zu merken. Wenn ich zu erschöpft bin, schlafe ich ein. Wieso, Fred? Ich will nicht schlafen. Ich will dir zeigen, wie sehr ich dich liebe. Wer liebt, der schläft nicht. Und ich liebe. Aber ich liebe noch nicht genug. Eines Tages, wenn ich wirklich liebe, aus tiefstem Herzen, mit jeder Faser meines Daseins, dann werde ich nicht mehr schlafen. Solange ich schlafe, bin ich nur dein Bruder. Und du Fred, du bist des Schlafes Bruder. Der Tod ist der Bruder des Schlafes. Tod und Schlaf. Das klingt ziemlich grausam. Sobald ich nicht mehr schlafe, werde ich sterben. Werde sterben voller Liebe. Dann werden wir wieder Zwillinge sein. Du wirst der Tod sein, und du wirst den Tod zum Bruder haben. Bald. Bald schaffe ich es. Bald. Ich ziehe die Decke über mich, die neben mir liegt. Es wird kalt. Sie ist weich, diese Decke. Aber nicht so weich wie die, die wir uns früher geteilt haben. Nicht so warm wie die, die wir uns früher geteilt haben. Ich lege den Kopf in den Nacken und starre an die Decke. Ich erinnere mich an die kalten Tage. An die kalten Tage des Sommers. An solchen Tagen lagen wir gemeinsam im Bett. Wir haben nach draußen gesehen, haben beobachtet wie der Wind durch die Bäume wehte. Oder haben zugesehen, wie der erste Frost die Fenster beschlug. Und als ich zu zittern begann, hast du einen Arm um mich gelegt und gelächelt. Und als ich dennoch weiter zitterte, hast du die Decke über mich gezogen. Du hast mich zugedeckt. An diesen kalten Spätsommertagen. Ich schlucke schwer. Der Kloß in meinem Hals, der sich über den Tag hinweg angesammelt hat, löst sich. Und dann perlen mir Tränen aus den Augen. Bahnen sich ihren Weg über meine Wangen, bis sie hinab tropfen und in der Decke versickern. „Fred...“, flüstere ich leise und schließe die Augen. „Kannst du mich heute Nacht zu decken?“ Ich lächle schwach. „Ein letztes Mal?“ Mir wird warm. Ich lächle. „Danke.“ Ende. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)