Das Märchen vom kleinen Tod von scippu ================================================================================ Kapitel 1: Das Märchen vom kleinen Tod -------------------------------------- Das Märchen vom kleinen Tod Vor langer, langer Zeit, da war es einmal, dass tot Tod hieß und leben Leben. Doch viele Jahre gingen ins Land und es begab sich, dass sterben zu fast sterben wurde und leben zu fast leben. Die Unantastbarkeit des Lebendigen grausam verlacht, mussten die armen Seelen dieser Welt in eine neue Zeit folgen. Eine Zeit, in der es Menge heißt. Menge, Anzahl, Pensum vor allem. Vor jedem und allem, aber vor allem vor Wert. Menge vor Wert. Quantität vor Qualität. So begibt es sich bis heute. So wird es sich begeben, wenn sie nicht aufwachen und den Sinn des Lebens nicht wieder verstehen lernen. Sie verkaufen es als Fortschritt, als Besserung. Schicksal und Zeichen. Zeit an sich zu wachsen, den eigenen Lebensweg zu akzeptieren. Neu beginnen, stark sein, alles schaffen. Doch es ist nur ihre Art ihren egozentrischen Willen nach Verewigung in der medizinischen Zeitgeschichte, um Einträge in Enzyklopädien und Lehrbüchern zu verwirklichen. Die Praxis der Kaiserschnittentbindungen überlebte in den Anfängen 1870 keine einzige Frau. Allein der Ehrgeiz und der Gedanke an den Respekt der Auszeichnung, der dem gebühren würde, dem es zum ersten Mal gelingt die Mutter nicht zu meucheln, trieb Medici an. Immer mit der Verteidigung „…aber das Kind lebt…“, um es dann in eines der Findelhäuser zu bringen. In einer Zeit, in der nach eigener Aussage die selbst dort aufgewachsenen Mütter ihre Kinder lieber selbst getötet hätten, um ihnen dieses elende Schicksal zu ersparen. Ihr Gewissen zu beruhigen, wenn die Spitäler voll sind mit lebenden Köpfen, ohne zur Empfindung und Fortbewegung fähigen Körpern, sprechen sie von Akzeptanz, Verarbeitung und sogar von Schicksal. Doch was es wirklich bedeutet, das wissen sie nicht. Wie könnten sie auch? Nicht leben. Nur fast leben. Wozu also? Kapitel 2: Das Märchen vom kleinen Tod -------------------------------------- Seufzend lässt Dr. phil. Gasser das strahlend weiße DIN A4 Blatt sinken, die in sauberer und strukturierter Schrift geschriebenen Worte immer noch drückend vor dem inneren Auge. „Und?“ Stumm schüttelt er den Kopf. Mit schwerer Hand greift er nach dem randlosen Brillengestell und reibt sich die müden Augen. Sein Gegenüber, sozialpädagogische Angestellte und gute Freundin Clara schweigt abwartend. „Ich wusste, ich hätte ihr nichts von dem Phasenmodell erzählen sollen.“ Er denkt an die vorrangegangene Therapieeinheit mit Johanna Sanktensen, einer 23 jähren tetraplegischen Patientin. Vielversprechende Kandidatin auf irgendeinen Spitzentitel im Eiskunstlauf. Keine Ahnung, einer ihrer Angehörigen hat es dem Pfleger erzählt. In den Akten steht es auch. Aber wer kann schon etwas damit anfangen, wenn man nicht in der Materie steckt. Ist wohl auch egal. Jedenfalls hat es Johanna die Welt bedeutet. Johanna selbst spricht kaum. Schon gar nicht über sich selbst. Schon gar nicht über Dinge, die ihr die Welt bedeuten. Sie ist verschlossen und stumm. Tief vergraben in einer tiefen, reaktiven Depression, so hatte er den Zustand in der letzten Teambesprechung geschildert. Zustimmung von den meisten Seiten. „Überrascht es dich?“ Gasser überlegt. Überraschte es ihn? Depressionen bei Menschen, die so konsequent und plötzlich vor eine komplette Veränderung ihres gesamten Lebens gestellt werden, sind für ihn de facto nichts Ungewöhnliches. Normal in der Tat. Schlimme Schicksale sind hier wahrlich keine Seltenheit. Dennoch. Für gewöhnlich reden die Menschen. Sie verleugnen die Verletzung, sie verspotten sie, sie sind wütend, sie schreien, sie sind niedergeschlagen, ja, sie sind zuweilen depressiv, bis sie am Ende meist akzeptieren. Johanna jedoch... Johanna steht still. Johanna verarbeitet nicht. Johanna redet nicht, sie weint nicht, zeigt keinerlei Emotionen oder Reaktionen. Sie antwortet auf Fragen, sie sagt höflich hallo, guten Morgen und guten Abend, danke, bitte und auf Wiedersehen. Sie isst, sie trinkt, sie arbeitet mit. Mehr oder weniger. Ein klassisches Motivationsproblem sei eben nicht das Problem, berichten die Physiotherapeuten. Es gäbe ganz andere Fälle, oh ja! Aber dennoch. Irgendwie spüren es alle. Irgendwie ist da etwas mit Johanna, das alle grübeln lässt. Das allen nahe geht. Allein deswegen hatte er dem Mädchen in der letzten Therapiesitzung von dem Phasenmodell Elisabeth Kübler-Ross‘ erzählt, demnach Sterbende vor der Akzeptanz ihres nahenden Todes verschiedene Phasen durchlaufen, natürlich in psychischer Hinsicht. Derweilen wird ein so einschneidendes Ereignis in das Leben eines Menschen, ein solches Ereignis wie eine Querschnittslähmung eben, als „kleiner Tod“ bezeichnet. Die Erfahrung zeigt, die Verarbeitung der neuen Situation ähnelt derer Sterbepatienten. Natürlich will man dabei niemanden in eine Nische drängen, in die derjenige nicht hinein gehört. Nur reine Erfahrung. Aber die Verarbeitung ist wichtig. Stillstand schädlich. Die tiefe Verzweiflung, die Johanna zweifelsohne in sich trägt muss hinaus. Nur deswegen hatte er davon erzählt. Also nein. Eigentlich überraschte es ihn keineswegs. „Nein. Ich weiß nur nicht, was ich davon halten soll.“ „Vielleicht fängt sie an zu verarbeiten?", beginnt Clara. ,,Sie stellt Anklagen. Man hätte ihr Leben nach dem Unfall nicht retten sollen. Das steht doch da, oder? Quantität vor Qualität, darum geht es ihr. Das Märchen vom kleinen Tod. Für sie bedeutet es nicht nur das Sterben des alten Lebens, aber nicht die Geburt eines Neuen." Eine kurze Gedankenpause, in der die Empathie emotionsreich in Claras offenem Gesicht zu sehen ist. "Aber damit können wir umgehen. Viel besser als mit diesem schweigenden, passiv verzweifelten Mädchen.“ In dem Moment fliegt die Tür auf. Beide zucken zusammen, die Köpfe drehen sich rasch zu dem Geräusch hin. „Da ist irgendwas passiert. Ich glaub jemand hat sich was angetan.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)