Don't open before Christmas von Arcturus (Adventskalender 2011, Tag 23) ================================================================================ Nicht vor Weihnachten öffnen ---------------------------- Hermes war bereits aufgrund seines Status als griechischer Gott nicht sonderlich gut auf das Christentum zu sprechen. Aber Weihnachten? Das hasste er wie die Pest. Nicht, dass er dem Mann aus Nazaret einen Vorwurf machen konnte. Der hatte kein Testament mit dem ausdrücklichen Willen ‚Feiert meinen Geburtstag mit einem großen Konsumspektakel und schickt euch Päckchen!‘ hinterlassen. Es war allerdings nicht das Konsumspektakel, das Hermes nervte, immerhin hatte er als Gott des Handels ein gewisses Interesse am Konsum. Nein, es waren die Päckchen. Und all die Götter, die dachten, Weihnachten sei eine gute Idee. Vornehmlich eine gute Idee, um andere dazu zu erpressen ihnen Geschenke zu machen. Wer war wohl der Dumme, der all den Tand überbringen durfte? Blumen und Geschirr für Mutti. Nicht seine eigene. Eine Ladung Speere für Ares. Eine Lieferung Maschinengwehre an Camp Half-Blood, die er unterwegs verlieren musste, weil Chiron ihm sonst einen Pfeil in den Hintern schießen würde. Berge von Pralinen für Aphrodite, die sie jedes Jahr dem Boten aufnötigte, weil zu viel Schokolade fett machte. Äpfel mit seltsamen Aufschriften. Noch mehr Geschirr. Und überall diese Lichtschläuche, -girlanden und -rentiere vor den Tempeln, aufgereiht wie besonders hinterlistiger Stacheldraht. Aber Hermes würde das (Christ)Kindchen schon schaukeln. Er war ja der Götterbote. „Hrmpf.“ Frustriert holte er aus und trat zu. Eine Kiste Maschinengewehre, die jeden menschlichen Fuß bei einem solchen Unternehmen mehrfach gebrochen hätte, flog in hohem Bogen durch seinen Tempel, der zu dieser Zeit nicht mehr war, als eine überdimensionierte Lagerhalle. Die Kiste gewann schnell an Höhe und segelte in einem eindrucksvollen Parabelbogen über Pyramiden und andere Stapel hinweg. Lautes Klirren kündete davon, dass er das Geschirr gefunden hatte, nachdem er schon seit drei Tagen suchte. „Oh, er ist sauer“, verkündete eine Stimme aus der hinteren Tasche seiner Jogginghose. „Reiz ihn nicht auch noch“, antwortete eine andere. „Wenn er mir eine Ratte gibt, überlege ich mir das vielleicht.“ „George …“ Seufzend griff Hermes nach seinem Smartphone. Die beiden Schlangen, die sich um seine Antenne wanden, züngelten schuldbewusst. Finster hielt er das Telefon auf Augenhöhe. Obwohl er wusste, dass das nicht viel bringen würde, knurrte er: „Noch ein Wort und ich knote euch eure Zungen zusammen.“ Immerhin war sein Tonfall einer jener, die auch zwei verfressenen Schlangen zu verstehen gaben, dass er diese Drohung ernst meinte. „Also? Was wollt ihr?“ George, fast immer der Aktivere der beiden, öffnete das Maul, wie um etwas zu sagen, bemerkte dann aber seine Zunge und ließ die Kiefer eilig wieder zuschnappen. Mehr als ein leises „Au!“ als er sich dabei die Zunge klemmte, kam nicht über seine Schlangenlippen. Hermes Augenbrauen zogen sich über der Wurzel seiner scharf geschnittenen Nase zu einem Gewitter aus Zornesfalten zusammen. „Nun?“ Die Schlangen schwiegen einen weiteren langen Moment, bis sich Martha einen Ruck gab und doch vorsichtig antwortete. „Du hast gesagt-“ „Ich weiß, was ich gesagt habe! Ich meinte euer unnützes Gewäsch!“ „Ratten sind nicht unnütz!“ Allein sein Blick genügte, um George erneut verstummen und hinter der Antenne verschwinden zu lassen. „Was wollt ihr? Und ich hoffe, es sind keine Ratten.“ „Doch, die – Au! Martha!“ Ohne weiteres schlängelte Martha sich um ihren Begleiter und würgte, bis dieser nur noch wimmerte. Immerhin – sterben konnte George nicht. „Ignoriere ihn einfach“, sagte sie betont freundlich. „Du hast eine neue Nachricht. Na gut – eigentlich hast du dreitausendzweihundertvierundachtzig neue Nachrichten, aber wir waren so frei, die Werbung für Penisverlängerungen, Viagra und Geschlechtsumwandlungen, die Newsletter von den Internetseiten, von denen du deine Mailadresse nicht löschen kannst, Momos‘ Beschwerden und Eris‘ Kettenbriefe und Flamemails zu löschen-“ „Martha …“ Die Schlange zuckte zusammen. „Jedenfalls – Apollo schreibt-“ Apollo. Das war das falsche Wort. Zumindest eines von vielen falschen Wörtern. Die anderen lauteten Muttertag, UPS und Amazon. Aber Apollo, der hatte ihm gerade noch gefehlt. Arroganter, eigensüchtiger, selbstverliebter, perverser, unverschämt gutaus– Halt. Apollo mochte unverschämt gutaussehend sein, das stand so in der Jobbeschreibung, aber daran musste er sich nun wirklich nicht hochziehen. Das man ihn ausgerechnet wegen Apollo störte! Wenn er jetzt auch noch dreihundert Weihnachtsgedichte anhören und zehn Manuskripte für schlechte Vampirschnulzen verschicken sollte, hänge er jemanden an den Sonnenwagen. Nach Möglichkeit dessen Besitzer. „Mir ist egal, was Apollo schreibt“, fauchte er. „Was er auch will – soll er es sich hinstecken, wo die Sonne nicht scheint. War das alles?“ „Bist du sicher, dass du das ausgerechnet dem Sonnengott ausrichtenmhhmmmhhh-“ Georges restliche Wörter erstickten im Stoff seiner high-god Jogginghose. Nur Marthas belehrende Stimme drang noch durch die Tasche, verstummte aber eilig, als er gegen den Stoff klopfte. Statt sich weiter mit dem Caduceus aufzuhalten, starrte er finster auf das nächste Päckchen zu seinen Füßen. Es war grün, richtiges Waldweihnachtsgrün, was vielleicht die Farbe war, die er von allen am meisten hasste. Damit diese Farbe so richtig in seinen Augen brannte, schlängelte sich ein ätzend rotes Band in unmöglichen Drehungen um das Paket. Vermutlich hatte es ein Dreijähriger eingepackt, was die Zahl der Adressaten minimierte. Unbarmherzig holte er erneut mit dem Fuß aus. Erst dann sah er das Kärtchen, das halb unter der Schleife steckte. Für Hermes Ungläubig ließ er den Fuß wieder sinken. Ein Paket? Für ihn? Wer schickte ihm denn Pakete? Ihm? Eines seiner Kinder vielleicht? Die sollten doch eigentlich in der Lage sein, ein dummes Paket zu verpacken. Kurzentschlossen hob er das Paket an, doch einen Absender konnte er nirgends entdecken. Nur ein weiterer Aufkleber lächelte ihm entgegen. Nicht vor Weihnachten öffnen! 8-) Da war es wieder. Weihnachten. Für diesen Mist hatte er keine Zeit, verdammt! Und erst recht keine Nerven. Wo eben noch Neugierde geherrscht hatte, überwog nun Frustration. Mit dieser Frustration in den Fingern warf er das Päckchen, das nicht mehr als eine Beleidigung für seine Augen war, kurzerhand über seine Schulter. Etwas polterte, als es die instabile Balance eines Geschenkberges mit seinem Aufschlag negativ beeinflusste. Zurück zum Geschirr. Ach, nein. Das hatte sich erledigt. Grimmig griff er nach der Liste der abzuarbeitenden Lieferungen. Das würde noch ein langer Tag werden. Dabei hatten andere Leute am vierundzwanzigsten Dezember nur bis zum frühen Nachmittag Dienst. Nicht er. Er bekam all die Nachteile ohne die Vorteile. Vielleicht sollte er streiken. Ja, das war eine gute Idee. „Hä? ‚Nicht vor Weihnachten öffnen!‘? Was‘n das für‘n Scheiß?“, bedankte sich Ares für die Lieferung seines Geschenks. Für Hermes, der ihn bereits in seinem Tempel, in Afghanistan, auf einem Weihnachtsmarkt in Sparta (New Jersey) und bei einem Spiel des 1. FC Hansa Rostock gesucht hatte, war das nicht das, was er hören wollte. Nicht, nachdem er in Stacheldraht gefallen, von Maschinengewehren durchsiebt, mit Glühwein abgefüllt und von Hooligans verprügelt worden war. Sein T-Shirt vom New York City-Marathon hatte immer noch Einschusslöcher im Stoff. Die gingen doch nie wieder raus. Genauso wenig, wie die Weinflecken. Dass er den Kriegsgott ausgerechnet bei Aphrodite gefunden und mehr, als er jemals hatte sehen wollen, gesehen hatte, machte die Sache keinen Deut besser. „Es bedeutet, dass Zeus will, dass du erst morgen früh erfährst, was er dir schenkt“, antwortete er so steif wie unterkühlt. Sein Blick klebte sich wie von selbst immer wieder auf die Schokoladenflecken auf der Brust des anderen Gottes. Sie hatten die Form von Herzen. „Hermes?“ Schweigend zog er eine Augenbraue hoch. Ares fuhr trotzdem fort, so als hätte er ihn freundlichst darum gebeten. „Hast du dir das Geschenk einmal angesehen?“ Knapp nickte er. „Ja.“ „Hermes?“ „Ja, Ares? Ich kenne meinen Namen.“ „Eines verstehe ich nicht“, antwortete Ares skeptisch. Dass das keine große Kunst war, antwortete er ihm freundlicherweise nicht. Er war immer noch im Dienst und ein Krieg war das letzte, was er gebrauchen konnte. Ares Augenbrauen zogen sich zu einem Strich zusammen, so als versuche er, eine schwierige mathematische Gleichung – so etwas wie 4a + 12 = 24 – zu lösen. „Weißt du“, begann er, stockte dann aber. „Bist du dir sicher, dass Zeus will, dass ich erst morgen früh erfahre, was er mir schenkt? Weil…“ Er verstummte erneut. Der Blick des Kriegsgottes wanderte zu dem Bündel Speere in seiner Hand. Eine breite, rosafarbene Schleife zog sich um die Schafte und schnürte sie fest zusammen. Es mochte vielleicht schön verschnürte Speere sein, doch die Verpackung ließ keinen Zweifel daran, um was es sich handelte. „Ja“, antwortete Hermes beflissentlich. Gleichzeitig verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen, das zu viele Zähne zeigte und vielleicht an einen Haifisch erinnerte. Der Strich, der Ares Augenbrauen waren, kräuselte sich skeptisch. Schließlich zuckte er mit den Schultern. „Was solls. Aphrodite, guck mal, was ich habe!“ Während Aphrodites schlanke Gestalt am anderen Ende des Flurs erschien, riss ihr Geliebter ihm das Bündel Speere aus den Armen. Ihr Haar fiel ihr in sachten Locken um die baren Schultern und bis hinunter zu ihrer ebenfalls baren Taille. Er sah die Göttin der Liebe und der Schönheit noch lächeln. Es war ein sehr, sehr eindeutiges Lächeln. Eines, das ihm versprach, dass sie sich auch nicht daran störte, sich den Abend mit zwei gutaussehenden Herren zu vertreiben. Einen Augenblick später, noch bevor er sich das unausgesprochene Angebot überlegen konnte, schlug die Tür des Beautysalons vor seiner Nase zu. Skeptisch warf er einen Blick auf sein Notepad, auf dem drei sehr, sehr krakelige Kreuze leuchteten. Martha und George schwiegen, aber er wusste, was sie sich im Stillen fragten. Er stellte sich insgeheim dieselbe Frage, aber er würde sich nicht beschweren. Immerhin hatte Ares dieses Mal unterschrieben. Trotz der vielen Löchern klebte sein T-Shirt erschreckend fest an seinem Oberkörper. Das lag vermutlich an dem Blut, das nicht ihm gehörte, und am Wein, der auch nicht ihm gehörte. Es kostete Hermes einiges an Mühe, sich den Stoff vom Leib zu ziehen, weil er es nicht mehr über den Kopf bekam. Diverse Damen – und Herren – hätte der Anblick sicher verzückt, aber in seiner Lagerhalle, die eigentlich ein Tempel hätte sein sollen, sah ihn niemand, außer zwei Schlangen und die hatten die Zungen zu halten. Der Stoff hinterließ rote, schmierige Flecken auf seiner Haut. Mit dem festen Willen, sich umzuziehen, stapfte er durch Berge von Geschenken. Wild verstreute Maschinengewehre inmitten von Porzellanscherben – um die würde er sich noch kümmern müssen – Schokolade, die er vielleicht über Camp Half-Blood verlieren sollte, goldene Äpfel. Sein Weg durch die Päckchen war kein freundlicher. Für Freundlichkeit bezahlte ihn niemand, nicht gegenüber Päckchen und erst recht nicht an diesen Tagen. Hauptsache, die Päckchen erreichten den Empfänger umgehend. Wie, war diesen Idioten doch egal. Auf das grüne Päckchen mit der roten Schleife wäre er auf seinem Weg zum Mülleimer – an den sich ein Weg zum göttlichen Kleiderschrank anschließen sollte, wenn auch nur, um Zeit zu schinden – getreten. Den Fuß hatte er bereits unbarmherzig erhoben, als er es erkannte. Die Schildchen leuchteten ihm förmlich entgegen. Für Hermes. Nicht vor Weihnachten öffnen. 8-) „Hermes?“, ertöhnte Marthas Stimme aus seiner Jogginghosentasche, die auf wundersame Weise unversehrt geblieben war. „Ich weiß, was auch immer du mit diesem Paket anstellen möchtest, ist von überragender Wichtigkeit, aber wir haben jemanden in Leitung zwei.“ Hermes fragte sich vorsichtshalber nicht, woher die Schlange wusste, dass er etwas mit dem Päckchen zu tun beabsichtigte. Das dieses Tun tatsächlich wichtig war – vornehmlich, um dem Frustrationslevel seiner Nerven genüge zu tun – würde er allerdings ebenfalls nicht erwähnen. Seufzend ließ er den Fuß sinken. „Wer?“, fragte er, ohne Anstalten zu machen, selbst nach dem Telefon zu greifen. Martha schwieg verunsichert. Es war George, der die Initiative ergriff. „Artemis“, verkündete er fröhlich. „Sie sagt, ich zitiere, ‚Wenn er‘, damit meint sie dich, fürchte ich, ‚nicht sofort hier‘, damit meint sie die übliche Pampa, nicht die Stadt in Texas, ;auftaucht, werde ich bei ihm auftauchen.‘ Denkst du, sie hat eine Ratte für mich?“ Hermes Miene verdüsterte sich, wenn das möglich war, noch weiter. Ohne sich noch einmal unterbrechen zu lassen, holte er aus und trat nach dem Päckchen. Der Widerstand, den das Ding leistete, war jedoch größer, als er erwartet hatte. Es schlitterte ein paar Meter weiter und schickte einen Schmerz durch seinen Fuß, der ihm mitteilte, dass das nicht seine beste Idee des Tages gewesen war. Doch selbst das lenkte ihn nicht genügend von dem Problem ab, dass sich in der Pampa zusammen braute, um seine Nerven zu beruhigen. Artemis. Ausgerechnet Artemis. Er erinnerte sich noch gut an das letzte Mal, das sie und ihre Jägerinnen ungefragt in seinem Tempel herumgestreunt waren. Die Göttin hatte monatelang kein Wort mehr mit ihm gesprochen und auf sämtliche Hermes-Versand-Lieferungen verzichtet, und die Jägerin, die zwischen ihnen stand, half heute in seinem Kundenservice aus. Der Job machte ihr keinen Spaß, aber immerhin war sie noch immer ein Mensch und kein Reh auf einem Spieß über einem Feuer ihrer Wahl. Ihr und ihrer Tochter – deren Nase vielleicht nicht ganz zufällig seiner eigenen glich – ging es gut, auch wenn ihnen noch immer Pfeile aus dem Nichts begegneten. Nein, darauf konnte er verzichten. Der Spaß war den ganzen Ärger nicht wert. Einen letzten Blick auf seine bloße, dreckige Brust werfend, entschied er, dass Artemis ihm keine Zeit zum Umziehen ließ. Artemis Gesichtsausdruck, als er zwischen ihr und ihren Jägerinnen auftauchte, war einige Opfergaben wert. Beinahe ließ die Göttin, die im Moment nicht älter und nicht viel anders als ihre Jägerinnen aussah, alles fallen. Es musste an seiner umwerfenden Schönheit liegen. Oder an den ekligen Flecken auf seiner Brust, die vielleicht so wirkten, als käme er entweder aus einem Blutbad oder einem Besäufnis. Zur Feier dieses Anblicks setzte er sein bestes Lächeln auf, das vielleicht so freundlich war, wie das eines Staubsaugerverkäufers. „Hallo Schwesterchen“, flötete er. „Gott des Kaufleute, der Reisenden, des Verkehrs, der Kunsthändler, der Diebe, der Redekunst und der Gymnastik und Götterbote zu deinen Diensten. Wohin kann ich liefern?“ Die Göttin sprang endlich auf, so, als würde sie sich erst jetzt daran erinnern, dass ein Mann in ihrem edlen Kreis voller züchtiger Jungfern aufgetaucht war. Ein Pfeil richtete sich auf seine Brust, doch er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Immerhin hatte an diesem Tag bereits jemand auf ihn geschossen. Von dem Lichterketten-Stacheldraht vor Ares Tempel – das war übrigens wörtlich zu nehmen – einmal ganz abgesehen. „Du!“, zischte sie. Unbeeindruckt breitete er die Arme zu einer einladenden Geste aus. „Ja, ich. Ich freue mich auch, dich zu sehen, Artemis. Also, womit kann ich dienen? Eindeutigkeiten, Zweideutigkeiten, Lieferungen?“ „Zunächst einmal könntest du dir etwas anziehen“, antwortete sie finster, seinen Unterton ignorierend, der zwischen den Zeilen mehr Angebote andeutete, als sie hören wollte. Ihr Bogen zitterte indes nicht. Leider kam sie auch nicht auf die Idee, ihn zu senken. Nicht, dass ihn das beeindruckte. Er wurde ständig bedroht, von allen möglichen und unmöglichen Dingen, vornehmlich aber von Hunden. Nur manchmal mit drei Köpfen. „Damit du mir ein Loch durch mein nicht vorhandenes T-Shirt schießen kannst, wie dieser Soldat vor zwölf Minuten?“, fragte er spitz. „Abgelehnt. Im Übrigen schießt man nicht auf den Boten, der einem die Weihnachtsgeschenke bringt.“ „Deine Weihnachtsgeschenke kannst du dir sonst wohin stecken.“ Oh-oh. Da war jemand sauer und nicht einfach nur göttlich-menstruierend. Vielleicht sollte er sie doch ernst nehmen. Ja, vielleicht sollte er das tun. Andererseits – es bereitete ihm zu viel Spaß, sie aufzuziehen. Dennoch ließ er ergeben die Arme sinken. „Sag das den Absendern. Wo drückt die Pfeilspitze?“ „Gleich zwischen deinen Rippen. Sieh dir das an! Das hast du geliefert! Mir, von allen Göttern des Pantheons!“ Statt mit ihrem Arm auf eine Reihe von Geschenken zu zeigen, nickte sie schlicht in die grobe Richtung. Alles andere hätte bedeutet, den Bogen zu senken und sich dabei zu unterbrechen, ihn zu bedrohen. Hermes indes folgte ihrem Nicken und sah. Seine Grinsen wurde immer breiter. „Also eigentlich bist du nicht der Empfänger“, antwortete er langsam. „Aber meine Jägerinnen! Was bildest du dir eigentlich ein? Was bildet er sich ein?“ „Du musst zugeben – Geschmack hat er.“ Artemis Pfeil genauso ignorierend, wie ihr Schnauben, schritt er zu den Päckchen. Die waren nicht nur unsanft aufgerissen worden, sondern ohnehin nicht sehr kunstvoll verpackt. Dafür waren sie pink, mit silbernen Schleifen, die mittlerweile achtlos auf dem Waldboden lagen. Aus jedem der Päckchen leuchteten ihm Dessous entgegen. In weiß, in silber und rosa, mit Spitze, mit Rüschen, aber ohne Blümchen. Aus jedem der Kleidungsstücke, die mehr betonen und verdecken würden, strahlte ihm das Grinsen des Schenkers entgegen, auch wenn man es nicht sehen konnte. Das und die Angebote zwischen den Maschen, die nicht nur zufällig zweideutiger Natur waren. Außerdem erklärten sie natürlich Apollos Heiterkeit, mit der er ihm die Päckchen überreicht hatte. Nur ein Geschenk stammte nicht von dem Sonnengott. Dazu war es zu sauber verpackt. Genauso sauber hatte jemand es geöffnet und wieder geschlossen, vermutlich mit ausgesprochen spitzen Fingern. „Was ist mit dem?“, fragte er und hielt die Neugierde nicht aus seiner Stimme. Artemis schnaubte erneut. Ihre Pfeilspitze war indes seiner Bewegung gefolgt. „Sieh nach.“ Er sah nach – mit einem sachten Tritt, den er dem Deckel verabreichte. In der Schachtel lag eine einzelne Unterhose. Alt, ursprünglich vielleicht mal gold, jetzt aber grau von zu vielen Waschgängen und noch ein echter Liebestöter. Ein Zettel, der zwischen dem Stoff steckte, verkündete in goldenen Schrift mit den weit ausgreifenden Schnörkeln von einem seiner Söhne ‚Für die Prüdeste‘. Er wusste nicht, wie Connor und Travis sich mit Apollo hatten absprechen können, aber er wusste, dass dieser Scherz geglückt war. Amüsiert prustete er. Artemis indes gefiel das gar nicht. „Hör auf zu lachen!“, fauchte sie. Ihre Stimme bebte. „Du hast den Mist geliefert. Schaff ihn fort!“ Hermes verkniff sich ein erneutes Prusten, dass dennoch in seiner Stimme mitzitterte, als er sprach. „Nö. Ich bin ein Bote, nicht die Müllabfuhr.“ „Nimm diese – diese – diesen Schund mit. Sofort.“ „Gib mir eine Zieladresse. Und denk nicht, dass ich dir einen Rabatt gebe, nur weil du mit einem Pfeil auf mich zielst.“ Wie sehr er sie wohl noch reizen konnte? Vermutlich nicht sonderlich viel weiter. Nicht, wenn er sich die Gesichter ihrer Jägerinnen ansah, die ihr Treiben furchtsam beobachteten. Selbst Thalia schien mittlerweile mehr verunsichert als amüsiert, und Thalia war noch die Aufmüpfigste dieses Haufens. „Hermes?“, zischte Artemis drohend. Nein, er durfte sie wohl nicht viel weiter reizen. Nur noch ein kleines bisschen... „Setz eine Lieferung auf, dann können wir darüber reden.“ „Ich bezahle nicht dafür, dass du etwas fortschaffst, das ich nie geliefert haben wollte!“ Es ging also ums Prinzip. Na wundervoll. Aber das konnte er auch. Bedeutungsschwanger zuckte er mit den Achseln. „Erstens: Ich habe es nicht dir geliefert. Zweitens: Keine Drachmen, kein Deal. Ich bin der Gott des Handels, nicht der BarmherzigkAU!“ Langsam blickte er an sich hinunter und musterte fasziniert die Pfeilspitze, die irgendwo in seinem Rücken eingetreten und durch seine Rippen hindurch gedrungen war und nun aus seiner Brust ragte. Goldenes Blut trat aus der Wunde aus. Wäre er ein Sterblicher, er hätte jetzt ein Problem. Eigentlich hatte er auch als Nicht-Sterblicher ein Problem. Er wusste, dass die nächsten Bewegungen selbst für einen Gott nicht schön werden würden. „Du hast auf mich geschossen!“, rief er entrüstet. „Und ich werde es wieder tun“, antwortete sie kühl. Hermes hörte, wie sich eine Bogensehne spannte. „Schick diese Beleidigung an meinen Bruder, wenn du sie unbedingt irgendwohin liefern willst.“ Er schnaubte. „Von wollen kann nicht die Rede sein. Ich werde dir das in Rechnung stellen.“ Eine Bogensehne wurde losgelassen. Hermes wartete nicht darauf, diesen Pfeil ebenfalls in seiner Brust zu spüren. Er sah zu, dass er weg kam. Mit den Dessous. Elende, prüde Langweilerin. Für einen Moment war er eines seiner anderen Ichs, die gerade lieferten, lieferten, schliefen, seine Hände in fremder Leute Taschen hatten, lieferten und mit der hübschen Blondine in dem DHL-Wagen flirteten. Hätte er es sich aussuchen können – er hätte die Blondine genommen. Konnte er aber nicht. Stattdessen bekam er die alte Schachtel. „Das sind Scherben, Hermes“, verkündete Hera mit Grabesstimme. Er zuckte mit den Achseln. „Sieht danach aus, ja. Aber sieh es so, man schenkt dir jedes Jahr Geschirr, bis auf den Mixer vor zwei Jahren, den du nach Zeus geworfen hast. Genauso wie die gußeisernen Pfannen im Jahr davor. Ich hab‘s gesehen.“ „Vielen Dank“, erwiderte die Göttin kühl. „Warum lieferst du mir Scherben, Hermes?“ „Weil sie handlicher zum Werfen sind“, antwortete er prompt. Er würde ihr nicht sagen, dass er Maschinengewehre in den Geschirrhaufen getreten hatte. Es gab Dinge, die musste Mama nicht wissen. Ganz sicher nicht. Auch dann nicht, wenn es nicht seine eigene war. „Außerdem habe ich diese Blumen hier.“ Er schnippte mit den Fingern. Blumen rieselten aus dem Himmel über den gesamten Tempel. Rosen, Tulpen und ein verkrüppelter Lorbeerbaum. Hera verdrehte die Augen, unterschrieb aber immerhin, als er ihr sein Notepad hinhielt. Im Gegensatz zu anderen Göttinnen hatte sie diesen Anstand. „Danke vielmals.“ „Ich verstehe die Scherben trotzdem nicht“, sagte sie, als sie ihm den Stift zurückgab. Ihr Blick wurde stechend – der einer Mutter. Glücklicherweise war sie nicht seine. Er schrumpfte dennoch ein wenig zusammen. „Hast du denn jemand verärgert?“, fragte er vorsichtig. „Ich meine, abgesehen von den üblichen Göttern.“ „Hermes, ich verärgere niemanden. Sie verärgern mich.“ Im nächsten Augenblick saß er auf einem ledernen Autositz. Sich an den Federnschaft erinnernd lehnte er sich vorsichtig vor. Das tat weh. Die Arme auf die Oberschenkel zu stützen auch. Grimmig beschloss er, Artemis gar nicht mehr zu beliefern. Sollte sie sich den Krempel von wem anders bringen lassen. Am besten, sie holte ihn gleich selbst ab. Würde ihrer Figur gut tun. „Hey, jetzt werde ich sogar schon von meinen Fans mit Unterwäsche beworfen, wenn ich nur meinen Sonnenwagen fahre! Jungs, das sollten wir öfter tun!“ war das erste, was er hörte. „Ach, das bist ja nur du“ war das zweite. Wind strich über seine Haut, während er realisierte, dass Apollo gerade tatsächlich Cabrio fuhr. Goldenes Blut floss derweil seine Brust hinab, versaute ihm die Hose und den Sitz, auf den er sich ungefragt gesetzt hatte. Apollos Blick, der von freudestrahlend über enttäuscht zu empört wechselte, nur um dann bei skeptisch zu verharren, ignorierte er geflissentlich und starrte geradeaus. Unter ihnen lag Arizona und irgendwer freute sich dort unten gerade möglicherweise über goldenen Regen. „Hermes?“, hörte er Apollos skeptische Stimme neben sich. „Du weißt, dass dir ein Pfeil aus der Brust ragt?“ „Er ragt mir nicht nur aus der Brust. Ich glaube, der Federschaft steckt mir nach wie vor im Rücken.“ „Aha.“ Stille. Hinter sich auf der Rückbank hörte er das Glucksen zweier Jungen, die nicht wussten, ob sie lachen durften, oder nicht. Hermes war entschieden für ‚nicht‘. Leider erkannte er das Glucksen. Er hatte die beiden Brüder selbst gezeugt. Dummerweise wunderte ihn ihre Anwesenheit weniger, als sie es hätte tun sollen. „Hermes?“, begann Apollo erneut. „Du weißt, dass du meinen Beifahrersitz vollblutest?“ „Den und deinen Fußraum, wenn du den Pfeil nicht aus meiner Brust holst.“ „Sie fand das ganze nicht witzig, oder?“ „Ich schon.“ „Das sehe ich.“ „Also? Soll ich deinen Sitz weiter vollbluten oder tust du mir den Gefallen, den du mir schuldest, weil ich deiner liebreizenden Schwester in die Pampa gefolgt bin, um mich von ihr beschießen zu lassen?“ Das waren vermutlich die falschen Worte, die Hermes da wählte. Er sah, wie Apollo über die Aufforderung nachdachte. Die verschiedenen Gedanken, die durch sein wirres, Götterhirn waberten, spiegelten sich auf seiner Miene wider. Mindestens einer davon implizierte das aktuelle Orakel von Delphi und den Sonnengott persönlich und war nicht jugendfrei. Tief durchatmend – zumindest versuchte er das, sah dann aber davon ab, als ihn ein Pfeil daran erinnerte, dass er nach wie vor in seiner göttlichen Lunge steckte – schloss er die Augen und verfluchte sich dafür, dass Apollo zuweilen in seiner Miene lesen ließ, als sei sie ein offenes Buch. Ihm gefiel ohnehin keine der Optionen. „Nun-“, begann Apollo. Hermes hörte, wie er auf seinem Sitz herumrutschte. Skeptisch öffnete er die Augen einen Spalt. Da fläzte sich Apollo bereits, nur noch eine Hand am Lenkrad, so lässig auf die Rückenlehne, dass Hermes sich fragte, wer diesen Spinner dafür bezahlte. „Sicher, dass du das willst?“, fragte er, Schalk in den Augen. „Ich könnte auch eine Ode auf dich schreiben. ‚Der Bote getroffen vom Pfeil des Mondeszorns‘ - hey, wie klingt das?“ „Kitschig.“ Während Connor und Travis hinter ihm jetzt definitiv unterdrückt lachten, begann Apollo zu schmollen. Nicht lang genug, um es wirklich ernst zu meinen, aber nicht weniger ausdrucksstark – wobei es sich bei ‚ausdrucksstark‘ in diesem Fall um ein Synonym für „absolut übertrieben“ handelte. Einen Augenblick lang wirkte der Gott wie der Dreijährige, der er geistig möglicherweise war, im nächsten hellte sich seine Miene schlagartig auf. „Wie du willst, dann eben nicht. Wie wäre es mit einem Haiku?“ Dieses mal konnte Hermes ihn nicht rechtzeitig unterbrechen. Kaum ahnte er, was ihm bevorstand, räusperte sich sein Gegenüber bereits. „Silberne Schwester da ist sie schon rot vor Zorn Der Pfeil, sicher dich trifft.“ Apollo richtete sich auf, ohne seine lässige Attitüde gänzlich fallen zu lassen, und spätestens das wirkte seltsam. Selbst bei Mister Lässig, Lässiger, Sonnengott. Der auffordernde Blick, mit dem er Hermes bedachte, tat sein übriges. Der jedoch verdrehte nur die Augen. Immerhin hatte er mitgezählt. „Die dritte Zeile hatte sechs Silben.“ Das ‚du Versager‘, das eigentlich an das Ende dieses Satzes gehörte, verkniff er sich vornehmlich, weil er immer noch einen Pfeil in der Brust hatte und der langsam unangenehm weh tat. Außerdem saßen seine Jungs auf dem Rücksitz und die mussten nun wirklich nicht sehen, was passierte, wenn er Apollo Versager nannte. Für Apollo indes war das bereits genug, um theatralisch in sich zusammenzusacken. Einen Moment später strich blondes Haar über seine Schulter. Die Stirn des anderen berührte die Haut seines Oberarms – und das war definitiv viel zu nah. Nicht unangenehm, aber definitiv viel zu nah dafür, dass er sich gerade im Dienst befand. Dementsprechend verdrehte er darüber nur die Augen. Genauso, wie über die Bewegung, mit der der Gott seinen Kopf drehte, um seine Wange gegen seinen Oberarm zu drücken und an ihm vorbei zu schielen. Die Geste sah er nämlich ganz gut. Was er nicht sah, war die Hand, die von der Sitzlehne gegelitten war. „Du bist eine Spaßbremse, Hermes“, verkündete Apollo, doch der letzte Teil des Satzes ging in einem Schrei unter. Hermes Schrei, um genau zu sein. Es geschah nicht oft, dass einem Gott schwarz vor Augen wurde – doch der Schmerz in seiner Brust brachte ihn so weit. Als das Cabrio vor seinen Augen wieder Formen annahm, war das Lachen in der hinteren Reihe verstummt. Apollo hatte seine Finger von der Pfeilspitze genommen, aber das wusste Hermes nur, weil er eben diese Finger nun viel zu warm auf seiner heißen Brust spürte. „So schlimm?“, hörte er Apollos Stimme. „Na, das krieg ich schon wieder hin.“ Einen Augenblick später saß er immer noch – allerdings nicht mehr in einem Cabrio. Stattdessen blutete er die Rückbank eines Busses voll. „Jungs, wie wäre es, wenn ihr euch um mein Baby kümmert, während ich mich um euer Baby kümmere? Der Schlüssel steckt und zündet mir nicht Las Vegas an.“ Zwei paar Füße entfernten sich eilig, ohne das Hermes sich dazu genötigt sah, seinen Söhnen hinterherzublicken. „Das war keine gute Idee“, sagte er nur mit gepresster Stimme. Apollo winkte ab. „Ach quatsch. Die beiden wissen schon, was sie tun.“ „Das ist es ja. AH! Hör auf, an der Spitze herumzuspielen!“ „Sicher?“ Einige Augenblicke und mindestens genauso viele Schreie, die den ganzen Sonnenbus erschütterten, später drückte Apollo ihm einen golden-blutigen Pfeil und einen ebenso golden-blutigen Pfeilschaft in seine klammen Hände, als sei er ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk. Das Atmen fiel ihm schwer, doch Apollos Stimme, mit der er leise, altgriechische Hymnen sang, beruhigte ihn langsam. Zumindest tat es das, bis er realisierte, dass Apollos eine Hand zwar um seine Wunde strich, die unter seinen Fingern verheilte, die andere allerdings nicht. Die war nämlich, nun, überall, und das ohne ersichtlichen medizinischen Grund. Das war der Moment, an dem er aufhörte, nur Apollos Stimme Beachtung zu schenken und stattdessen damit begann, auf den Text zu hören. Im Nachhinein hätte er das besser nicht getan. Augenblicklich versteifte er sich, vermutlich nicht nur unmerklich, immerhin war er immer noch im Dienst – nicht, dass Apollo das nicht egal gewesen wäre. Der senkte seinen Kopf nur ein wenig, bis Hermes seinen Atem auf seiner Schulter spürte. Dünne Finger glitten die lockigen Haare in seinem Nacken hinunter und die Linie zwischen seinen Schulterblättern entlang. Es fiel ihm schwer, im Hinterkopf zu behalten, dass ihm Apollos Treiben nicht gefiel. Nicht gefallen durfte. Dass er keine Zeit dazu hatte, den Pfeil loszulassen und auszuprobieren, wohin er seine eigenen Hände gleiten lassen konnte und dass er einen Grund hatte, warum ihm der Inhalt des altgriechischen Gesangs und die Hände auf seiner Haut nicht gefallen durften. Grimmig zwang er sich dazu, die Augen zu öffnen und in den vorderen Bereich des Busses zu spähen. Da vorne sah er seine Jungs, die ihn vermutlich auch sahen und nur so höflich waren, nicht zu eindeutig zu gaffen. Peinlich war ihnen das, was sie sahen, sicher nicht – es waren seine Kinder. Und nach allem, was er den beiden zutraute, flambierten sie gerade Las Vegas. Der Gedanke half. „Apollo“, krächzte er und ignorierte die Andeutungen, die der andere möglicherweise in seiner Stimme – für die er nach der Sache mit dem Pfeil herzlichst wenig konnte – hörte. „Ich habe einen Pfeil in der Hand.“ „Oh, keine Sorge, ich werde mich nicht darauf setzen. Nicht auf diesen“, antwortete er, ohne seinen Melodie zu unterbrechen. Fingerkuppen strichen seinen Nacken hinauf. Die Hand, die bis dato über seine Wunde gestrichen war, von der nicht mehr blieb, als ein goldener Schorf, glitt tiefer. Die Einladung mochte nicht laut ausgesprochen sein, doch sie schwang tonlos zwischen ihnen, bekräftigt durch warme Lippen und ein leichtes Kribbeln auf seiner Haut. Irgendwo ganz weit entfernt opferte er einer Mutter, die gottseidank nicht die seine war, die Taschentuchvorräte, die die Aphrodite-Hütte für den monatlichen Filmabend geordert hatte. Noch etwas weiter entfernt schlug eine alte Dame mit einem Regenschirm auf ihn ein. Das zeigte Wirkung. Schlagartig ließ er ihre Tasche los. Er blinzelte. Vorne im Bus hörte er Connor lachen. Vermutlich rösteten sie wirklich gerade Las Vegas. Außerdem war er die Maschinengewehre nach wie vor nicht los. Er seufzte halb, knurrte halb und erinnerte sich daran, warum er auf dieser Rückbank saß. Es gelang ihm, bevor Apollo auf die dumme Idee kam, ihn auf eben jene zu drücken oder, noch schlimmer, er selbst auf die noch dümmere Idee kam, ihn einfach machen zu lassen. Oder es gleich selbst zu tun. „Apollo, ich bin im Dienst“, versuchte er es erneut. Nicht, dass Apollo das ernsthaft interessierte. „Und?“, fragte er nur, ohne in seinem Tun inne zu halten. Doch dieses Mal ließ Hermes nicht locker, da mochte er das, was Apollos Finger auf seinem Oberschenkel taten, so gut finden, wie er wollte. „Ich habe immer noch einen Pfeil in der Hand.“ Endlich sah der andere Gott auf. „Das ist zugegebenermaßen ein Argument.“ „Ein spitzes“, stimmte Hermes zu, „und ich bin gewillt, es notfalls auch auf unorthodoxe Arten und Weisen zu verwenden. Außerdem verkohlen meine Jungs gerade Las Vegas.“ „Nein, tun sie nicht.“ Apollo winkte ab und senkte den Blick wieder auf die göttliche Haut vor ihm. „Nicht?“ Apollos Grinsen wurde, auch wenn er es nicht sehen und stattdessen nur hören konnte, breit genug, um eine gute Zielscheibe zu bieten. „Nö. Sie verkohlen gerade Henderson.“ Henderson. Ah ja. Schnaubend verdrehte er die Augen. „Apollo? Was, denkst du, wird Vater mit dir machen, wenn dein Sonnenwagen eine Stadt mit 257.729 Einwohnern verglüht?“ Hermes wusste – diese Frage war eine gute. Tatsächlich schaffte sie es, Apollo so sehr zu verunsichern, dass er nicht nur für einen Augenblick schwieg, sondern auch den Kopf hob. Die Hände auf seinem Körper schwiegen. Ihre Blicke trafen sich und dieses Mal war es Hermes, der in seiner Miene lesen ließ, wie in einem offenen Buch. Und jede Seite sagte in einer sehr deutlichen Sprache, die auch ein Dreijähriger verstehen würde: Ja. Das wird weh tun. Genauso wie das und das. Und das hier natürlich auch. Oh und hast du das hier schon gesehen? Aua, sag ich da nur! „Oh“, antwortete Apollo leise. „Ich – ähm – bin gleich wieder da. Jungs? Wie wäre es mit einem Haiku? Die Sonne strahlt rot, die Heimat ist wohl in Not. Lasst den Gott fahren.“ Skeptisch blickte er Apollo hinterher. Er hatte nicht vor, darauf zu warten, dass er zu ihm zurückkehrte. Die Lieferbestätigung auf seinem Sitz zurücklassend, verschwand er eilig. Dieses Mal stand er auf dem Päckchen. Langsam setzte er den Fuß von dem grünen Karton, der sich nicht beeindrucken ließ. Sein Deckel hatte sich unter seinem Turnschuh kaum verdellt und seine Schildchen verkündeten nach wie vor: Für Hermes. und Nicht vor Weihnachten öffnen! 8-D Nur etwas schmutzig, das war es mittlerweile geworden. Lag vermutlich an seinem nach wie vor nicht ganz trockenen Blut. Mit der gleichen Behutsamkeit beugte er sich hinab und strich mit dem Daumen über die verdreckte Schleife. Ja. Definitiv sein Blut. Mit spitzen Fingern umfasste er das umlaufende Band, um das Päckchen anzuheben. Genauso leuchtend wie die beiden Schildchen war auch die Aura, die das Ding ausstrahlte – eine Aura, die er sehr genau kannte und hinter der er das dreckige Grinsen des Schenkers spüren konnte. Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein, denn ein Echo von Apollos Gesang klang immer noch über seine Haut. Entschlossen warf er das Päckchen über seine Schulter. Mit einem dumpfen Aufschlag blieb es irgendwo in den Bergen von Päckchen stecken, die er noch zu liefern hatte. Missmutig warf er eben jenen einen Blick zu. Weihnachten, das Fest von Liebe, Ruhe und Besinnlichkeit. Hah! Von wegen. Apollo fand er zuweilen seltsam, manchmal auch seltsam anziehend. Ares beäugte er kritisch, besonders wenn dieser sich mit Aphrodite umgab. Aber Getreide? Das machte ihm Angst. Zumindest dann, wenn es das Getreide, das um Demeters Tempel wuchs, war, denn das nahm den Spruch mit dem ‚Auch Pflanzen haben eine Seele!‘ vielleicht etwas zu wörtlich. Wie jedes Mal, wenn er den Weg durch die Felder, hinauf zu dem Gewächshaus, in dem Demeter residierte, entlang schlich, war es ihm, als folgten ihm tausend Ähren mit finsterem Blick. Womöglich dazu bereit, sich auf ihn zu stürzen, wenn er einen Kaugummi auf den Boden spuckte, das Papier eines Schokoriegels fallen ließ oder gar auf eine Ameise oder einen wild wuchernden Löwenzahn trat. Alle Haare in seinem Nacken stellten sich auf. Der Schorf über den Wunden, die noch von Artemis Pfeil und Apollos Heilmagie gereizt waren, kribbelten unter der Magie dieses Ortes. Selbst mit neuem T-Shirt fröstelte er und das lag nicht daran, dass außerhalb von Demeters direktem Einflussgebiet gerade ein Blizzard tobte. Vorsichtig darauf bedacht, allen Pflanzen, Tieren und Löwenzähnen, die es wagten, ihm in den Weg zu springen, auszuweichen, schlich er zum Tempel. Immerhin bevorzugte die Göttin des Getreides natürliche Weihnachtsdekorationen. Lichterketten, die sich wie Stacheldraht um ihren Tempel zogen, blieben ihm erspart und vor den Strohsternen und -tieren hatte er keine Angst. Basta. Auch wenn ihn dieses Reh dort drüben- Nein. Es beobachtete ihn nicht und es bleckte auch nicht die Zähne. Es hatte die Zähne nicht zu blecken. Erleichterung durchflutete ihn, als er die Tür zum Gewächshaus aufstieß. Zumindest so lange, bis ihm der modrige, schwere Geruch entgegen schlug, der davon kündete, dass der Empfänger dieser Lieferung schlechte Laune hatte. Göttlich-schlechte Laune. Wie ein normaler Postbote angesichts eines kläffenden Köters hatte er das Bedürfnis, zu verschwinden, und das möglichst schnell. Wie ein tapferer Postbote biss er die Zähne zusammen und zwang sich dazu, trotzdem zuzustellen. Pflanzen räkelten sich im Innern an ihren Haltestangen – die für ihn mehr Ähnlichkeiten mit todbringenden Waffen hatten, als mit Pflanzutensilien. Den dunklen Pfad entlang stapfend, ignorierte er Monstertomaten, Dämonenmais und Werwolfzuccini. Zwischen finsteren Kürbissen vom letzten Herbst fand er die Göttin schließlich. Mehr in ihrem Weizenthron liegend, als sitzend und in tiefster Mitwinterdepression verfallen. Sie sah nicht einmal auf, als er näher trat, und zupfte stattdessen gedankenverloren an ein paar Ähren. Urgh. So hatte er sie nicht mehr erlebt, seit Persephone sich über die Geburt dieser Di Angelos ausgeheult hatte und danach in die Unterwelt verschwunden war – aber vielleicht kam ihm das auch nur so vor. Demeter war zu dieser Zeit des Jahres immer ein wenig eigen. Dennoch würde er sich wohler dabei fühlen, würde sie ihn beachten. „Was willst du?“, ertönte da ihre Stimme doch noch. Unter ihr erzitterten die Pflanzen um sie herum und Hermes kam nicht umhin, seine Meinung zu revidieren. Vielleicht war es ihm doch lieber, wenn sie ihn nicht beachtete. Das Schicksal des Boten verfluchend, antwortete er, stark darauf bedacht, nicht noch weiter in ihre Griffnähe zu gelangen – und sich von den Tomaten fernzuhalten. „Du weißt, welcher Tag heute ist?“ Unbarmherzig zupfte sie eine der Ähren aus ihrem Thron – ein Verhalten, dass selbst Hermes falsch erschien und der hatte grundsätzlich selbst Probleme mit der Kategorisierung von ‚richtig‘ und ‚falsch‘, was bei ihm mit Problemen bezüglich des ‚Meins‘ und ‚Deins‘ einher ging. „Der dritte Tag nach der Wintersonnenwende.“ „Richtig. Und das bedeutet, dass morgen welcher Tag ist?“ „Der vierte Tag nach der Wintersonnenwende.“ „Das meine ich nicht.“ „Der fünfundachtzigste Tag vor dem Frühlingsäquinoktium.“ „Nicht ganz“, gab er zurück und schluckte. Konnte der Tag wirklich noch schlimmer werden? Eine hochgradig depressive Demeter – das hatte ihm gerade noch gefehlt. Zu spät fiel ihm ein, dass man sich so etwas besser nicht fragte. Darauf hoffend, dass die Moiren ihm nicht zugehört hatten oder ihn zumindest gnädig ignorierten, fuhr er fort: „Ich weiß schon, der Tag passt dir nicht. Mir passt er auch nicht. Aber trotzdem ist morgen Weihnachten. Und schau mal, ich hab hier ein Geschenk für dich. Frisch aus der Unterwelt und pünktlich obendrein.“ Um seine Worte zu unterstreichen, materialisierte Hermes das Päckchen, das Persephone bei ihm aufgegeben hatte. Im Gegensatz zu dem grün-roten … Ding, dass man ihm geschickt hatte, bewies Persephone deutlich mehr Geschmack. Gut, das farbenfrohe Papier wirkte vielleicht ein wenig verwaschen, aber das schwarze Band mit den Edelsteinen, das sich zweimal um das Geschenk wickelte, war hübsch und glänzte. Seine Augen von den kostbaren Steinen abwendend, zog er nun auch sein Smartphone aus der Tasche, dass noch in der Bewegung zum Notepad wurde. Enthusiastischer, als Hermes sich fühlte, wedelte er damit. „Du musst nur hier und hier unterzeichnen und schon gehört es ganz allein dir und wir beide können so tun, als wäre ich nie da gewesen. Na, wie ist das?“ „Oh, oh“, hörte er George und Martha noch flüstern, dann erwischten ihn die Tomatenranken aus dem Hinterhalt. Aufschreiend ließ er fallen, was er in Händen hielt. Päckchen und Caduceus schlitterten in verschiedene Richtungen davon, während sich zornige Striemen über seine Finger zogen, dort, wo die Ranken ihn erwischt hatten. Er hielt sich nicht damit auf, sich die schmerzenden Hände zu reiben. Er entschied sich für seinen Caduceus und setzte dem Notepad nach. Sich abrollend, wie es ein Judoka nicht besser gekonnt hätte, schlossen sich seine Finger um Georges Hals, ohne die Bewegung zu verlangsamen. Auf eine Pause verzichtend drehte Hermes sich zur viel zu weit entfernt liegenden Tür. Der Mais war schneller. Einen Augenblick später hing Hermes zappelt in einem grünen Labyrinth. George und Martha waren irgendwo unter ihm. Zumindest, wenn ‚unter ihm‘ wirklich das war, von dem er glaubte, dass es das war. „Ach komm schon!“, rief er und spuckte Mais. „Ich bin nur der Bote! Sehe ich aus wie Pheidippides?“ Keine Antwort. Mist. Vorsichtig versuchte Hermes, eine Hand nach dem Caduceus auszustrecken, den er zwischen diversen Maisblättern ausfindig gemacht hatte. Goldenes Blut tropfte nach unten, oben oder wohin auch immer, während sich der Griff der Pflanzen um sein Handgelenk verstärkte. Frustriert ließ er den Kopf hängen. „Demeter- Ich bin mir sicher, dass du einen bescheidenen Tag hattest und alles Recht des Pantheons dazu hast, mürrisch und depressiv und so zu sein. Aber mein Tag war auch nicht der beste. Weißt du, wie viele Götter, Halbgötter und Nymphen irgendwelche Päckchen von A nach B geliefert wissen wollen? Und als wäre das nicht genug, hätte mich Ares Stacheldraht beinahe erwürgt. Der leuchtet übrigens. Leuchtet! In rot! Also komm schon. Lass mich runter, ja?“ Keine Antwort. Stattdessen fühlte er nur, wie sich sich ein Maiskolben gegen seine Wange schmiegte, so als hätte er böses vor. Hermes beäugte das Ding finster – und der Kolben äugte finster zurück. Ohne überhaupt Augen zu haben. Das wiederum ließ ihn hart schlucken. Er seufzte vorsichtig. „Demeter. Ich weiß ja, dass du kein großer Freund des Winters bist, aber schau mal – Persephone hat an dich gedacht! Und sie hat sich wirklich Mühe-“ „Sie hasst mich!“ Mais erzitterte um ihn her und vibrierte vor Zorn. Unwillkürlich vibrierte er mit. Der Caduceus rutschte außer Sicht. Gegen seine Fesseln anzukämpfen brachte dennoch nichts. Stattdessen schnitten sich nur Maisblätter in seine göttliche Haut, als hätte er an diesem Tag nicht schon genug geblutet. Immerhin passte der Schmerz zu seiner aktuellen Situation. „Sie hasst dich nicht und das weißt du.“ „Darum geht sie auch jedes Jahr in die Unterwelt und hat ihren Spaß dabei!“ „Erstens: Sie muss. Zweitens: Sie ist eben in diesem Alter. Drittens-“ „Sie ist seit Jahrtausenden in diesem Alter!“ „Zugegeben, ja.“ Der Maiskolben näherte sich seinem Mund, doch dieses Mal war er schneller. Ohne groß darüber nachzudenken, schnappte er nach dem gelben Gold. Einen Augenblick später kaute Hermes zufrieden auf Körnern und Blättern, während der Kolben sich eilig zurück zog. Wenn er nicht gewusst hätte, dass es unmöglich war, er hätte geschworen, der Mais würde winseln. „Hör auf damit!“ Den Brei in seinen Mund ausspuckend, riss er erneut an den Maisblättern um seine Gliedmaßen. „Dann lass mich gehen, Demeter“, forderte er, bereit erneut zuzubeißen, doch kein Maiskolben traute sich erneut in die Nähe seiner Zähne. „Ich kann das Paket mit nem Stempel ‚Empfänger unbekannt verzogen‘ auch wieder mitnehmen-“ „Nein!“ Unter ihrer bebenden Stimme wurde der Griff des Maises fester. „Schon gut, schon gut! Ich lass es hier. Ich lass es hier“, antwortete er hastig. Göttinnen. Immer diese Göttinnen. Nie wussten sie, was sie wollten. „Und als Bonus heiter ich dich ein wenig auf. Weißt du, Hera ist auch nicht so gut drauf. Man hat ihr heute Scherben geschickt, weißt du?“ Dass er an dem Scherbenhaufen Schuld war, weil er eine Kiste Maschinengewehre in das Geschirr getreten hatte, würde Hermes auch Demeter nicht beichten. Es gab Dinge, die sagte man Göttinnen einfach nicht. Vor allem dann nicht, wenn sie ohnehin schon in einer Midgodcrisis steckten. „Warum?“, fragte Demeter und tat damit das, auf das er gehofft hatte. Dennoch gab er sich nicht die Blöße, erleichtert aufzuatmen – dafür war es zu früh. Stattdessen grinste Hermes den Maiskolben an, der über seinem Kopf pendelte. „Weil man die besser werfen kann“, antwortete er spitz. Er hätte schwören können, sie glucksen zu hören. „Das ist nicht nett“, hörte er Demeter trotzdem sagen. „Aber wahr. Ich meine, hast du mal eine Schale geworfen?“ „Warum sollte ich?“ Hermes zuckte mit den Achseln. „Weiß nicht. Weil man es mal gemacht haben sollte? Weil es befreit? Weil Zeus die Beule zuweilen einfach braucht? Such dir was aus. Aber ich sag dir: die Dinger liegen weder gut in der Hand, noch bieten sie eine ordentliche Flugbahn. Frag Apollo, der weiß das.“ Blätter raschelten um ihn her. Möglicherweise verdrehte Demeter gerade die Augen – oder überzeugte ihren Mais, dass er ein guter Snack für Zwischendurch sein würde. „Das war ein Diskus.“ „Schüssel, Diskus, wo ist der Unterschied? Getroffen hat er jedenfalls – und zwar den falschen.“ „Hermes-“ Der Tonfall war streng, aber selbst für Demeter nicht streng genug. Die Belustigung, die sie unterdrückte, hörte er, als sei er darauf geeicht. „Seine Schwester zielt übrigens keinen Deut besser. Die hat mich heute getroffen, mit ihrem Pfeil. Glaubst du das? Sie hat auf mich geschossen!“ „Also kann sie doch zielen?“ Er presste die Lippen aufeinander. „Vielleicht“, gab er zurück. „Lässt du mich runter?“ „Wenn du mir erzählst, warum sie auf dich geschossen hat“, antwortete sie langsam. „Vielleicht.“ Eines musste Hermes dem Besuch bei Demeter lassen: Danach war er satt. Pappsatt. Und das lag nicht an seinem Cerialiensnack, den er mehr oder minder freiwillig genommen hatte. Wenn er sich seine Hände ansah, sah er einen dünnen, goldenen Schorf, der sich in Striemen über seine Haut zog. Etwas höher hatten sich Maisblätter in seine Arme geschnitten und ebenso goldene Schnitte hinterlassen. Vermutlich zog sich ein ähnliches Band auch um seinen Hals. Frustriert spuckte er aus, bekam die letzten Maiskörner aber auch damit nicht aus seinen Zähnen. Musste an der Herkunft liegen – denn so oft er sich auch Maisblattstückchen aus den Haaren zupfte, er fand immer wieder neue. In seinem Tempel erwartete ihn kein Mais. Nur Berge voller Päckchen – und Maschinengewehre. Ein kurzer Blick auf seinen Caduceus, nun wieder in Handyform, verriet ihm, dass es mittlerweile nach Mitternacht war. Weihnachten. Wenn er sich die Berge so ansah, wusste er, dass er das nicht schaffen würde, auch nicht, wenn er zehn Päckchen gleichzeitig lieferte – denn das tat er längst. „Du solltest eine Pause machen“, zischelte Martha in seiner Hand, während George ihn beleidigt anschwieg. Für die Nummer mit dem Hals würde er wohl noch zahlen müssen. Vorzugsweise in Ratten. Skeptisch blickte er erst zu den beiden Schlangen, dann zu den Päckchen. Mittlerweile war er so erschöpft, er verzichtete sogar darauf, mit Martha zu streiten. „Und wie soll ich das tun?“, fragte er und gähnte dabei. „Irgendwer muss den ganzen Plunder doch ausliefern. Und irgendwer bin ich.“ „Du nimmst deinen Job zu ernst.“ „Nein, die anderen nehmen meinen Job zu ernst.“ „Argument“, gab sie zurück. „Dennoch – du solltest dir auch mal eine Pause gönnen.“ Er nickte knapp, während Martha den Kopf hängen ließ, um ihm gegen das wunde Handgelenk zu züngeln. Die Berührung brannte ein wenig, doch er wusste die tröstende Geste trotzdem zu schätzen. Statt auch noch die zweite Schlange seines Caduceus zu verärgern, seufzte er nur ergeben und ließ das Smartphone zurück in die Tasche seiner Jogginghose gleiten. Gedanklich war er bereits wieder bei seinen Lieferungen. Seine anderen Teile waren zugegebenermaßen gut vorangekommen, bis auf zwei von ihnen. Der eine tröstete nach wie vor eine schniefende Mutter, der andere räkelte sich auf einem DHL-Fahrzeugsitz, der nicht ihm gehörte. Ein wenig neidisch – auf letzteren, nicht auf den ersten – schielte er die Berge von Paketen empor. Eines war klar: Alle würde er nicht rechtzeitig liefern können. Zeus, Poseidon und Hades hatte er erledigt, da war er sich sicher, auch wenn er sich nur vorbeigeschickt hatte. Hera schluchzte gerade in Taschentücher, auf die eigentlich eine Horde heulender Mädchen wartete. Artemis – an Artemis dachte er nicht und an Demeter besser auch nicht. Blieben die Maschinengewehre und seltsame Backmischungen, die bei seinem letzten Besuch in seinem Tempel noch nicht dagewesen waren. Das und diverse andere Geschenke. Ein Maschinengewehr über den Boden kickend schritt er durch die Päckchen hindurch und überlegte, welchen Gott seine Nerven noch vertragen würden. Beinahe wünschte er sich, er hätte die Lieferungen an Camp Half-Blood nicht schon erledigt, aber die einzige, die da noch wartete, durfte nicht ankommen. Ein finsteres Grollen wies ihn freundlich darauf hin, dass er das Maschinengewehr in die falsche Richtung gekickt hatte. Skeptisch blickte er den Berg hinauf und erkannte zu spät, dass auch das ein Fehler war. Der Haufen schwankte bedrohlich und die Bewegung verstärkte sich nach oben. Das Päckchen, das obenauf lag, hielt eine instabile Balance, die ein gewisses Maschinengewehr negativ beeinflusst hatte. Wie in Zeitlupe sah er es fallen. Das grüne Papier mit der hässlichen roten Schleife wirkte auf ihn wie die Scheinwerfer eines DHL-Wagens auf Artemis Lieblingstiere. Das nächste, woran er sich erinnerte, waren Kopfschmerzen. Der Tempelboden unter ihm war so hart und kalt, wie er unbequem war. Hinter ihm hörte er Marthas besorgte Stimme, seltsam gedämpft, doch ihre Worte interessierten ihn nicht. Ihn interessierte nur die Beule, die sich langsam unter seinen Fingern bildete, als er seine Stirn betastete und das ekelhafte Grün in seinem Augenwinkel, mit dem noch viel schlimmeren Rot drum herum. Für Hermes., konnte er nach mehrmaligem Blinzeln lesen. Nicht vor Weihnachten öffnen! 8-D Nicht vor Weihnachten öffnen. Ha. Das Lachen, das seine Kehle hinaufstieg, schmeckte bitter und versagte rasch. Grimmig schloss er die Augen. Für einen Moment gelang es ihm, das Paket zu ignorieren. Dann gewann der Gedanke daran, dass es beim nächsten Mal vielleicht tatsächlich versuchen würde, ihm ernsthaft weh zu tun, wenn er es nicht öffnete. Diesem Gedanken folgte die Neugier. „Ach, scheiß drauf“, murrte er zu sich selbst. Einen Augenblick später ließ Hermes seine Hand von seiner Stirn gleiten und griff blind nach dem verdrehten Band, um das Ding zu sich zu ziehen. Ruckartig setzte er sich auf und öffnete die Augen. Mit der Schleife machte er fachmännisch kurzen Prozess. Tatsächlich spürte er Anspannung in ihm kribbeln, als er vorsichtig den Deckel hochschob. Seine Neugierde war noch vor ihm enttäuscht, als er in das Innere spähte. Hermes sah nichts, nur ein leerer grüner Karton. Das Gesicht verziehend, schnippte er den Deckel davon. Diesen Idioten würde er- Er blinzelte. Ein kleiner leuchtender Ball glomm auf, flackerte und warf einen hellen Schein auf sein Gesicht. Dann explodierte Licht um ihn herum. Als Hermes die Augen wieder öffnete, stach ihm der Geruch von angeschmorter Kleidung in die Nase und ließ ihn husten. Er fühlte sich wie ein Brathähnchen. Dann realisierte er, dass der Schaden an seinem T-Shirt und seiner Hose nur ein Kollateralschaden war. Er konnte nicht behaupten, dass sein Tempel sauber war – denn das war er mit der Asche, die durch die Luft rieselte, nicht – aber eines war er sehr wohl: Leer. Hermes blinzelte irritiert. Keine Maschinengewehre. Keine Backmischungen. Kein Geschirr, das er vergessen hatte und auch keine Schokolade. Nichts. Nur Asche, die in feinen Flocken durch die Luft schwebte und die er ewig nicht aus dem Raum bekommen würde, weil sie sich überall festsetzte. Unter seinen Fingerkuppen spürte er Pappe. Das Päckchen ruhte noch immer in seinen Händen, unversehrt. Der Lichtball war verschwunden und hinterließ, neben der Aschewolke, nur eine Weihnachtskarte. Er spürte die Struktur der Ölfarbe, als er das Kärtchen aus dem Paket zog. Dem Motiv schenkte er nur einen kurzen Blick. Das Gesicht des Weihnachtsmanns, der in seinem Schlitten über den Himmel glitt, kam ihm zu bekannt vor. Der Schlitten selbst übrigens auch. Statt sich mit der reichlich kreativen Anatomie auseinander zu setzen, schlug er die Karte auf. In weitausladenden Buchstaben hatte jemand vier Zeilen auf das Papier gebracht. Die Tinte glitzerte golden. Frohes Fest und Jahr, Schnee und Zimt und Päckchenpest. Auch dein Tag soll es sein. Die vierte Zeile folgte dem Haiku – dessen Silbenzahl definitiv nicht aufging – mit einigem Abstand. Hermes konnte das unverschämte Grinsen in ihren Worten förmlich sehen. Es glitzerte in der Tinte und strahlte in den Ascheflöckchen, die so sacht wie Schnee auf das Papier rieselten. Ich muss dir nicht sagen, was du jetzt zu tun hast, oder? „Arschloch“, knurrte er. Einen Augenblick später segelten Päckchen und Karte in hohem Bogen durch den Tempel. Sie brachten die schwebende Asche durcheinander und wirbelten sie dort auf, wo sie aufschlugen. Doch das hinderte sein Bewusstsein genauso wenig wie seine harschen Worte daran, sich mit der Idee anzufreunden, die sich langsam durch seinen Hinterkopf fraß. Vermutlich hatte dieser Trottel sie bereits beim Packen impliziert, genauso wie bei ihren letzten Begegnungen. Bastard, verdammter. Er überschlug noch, welcher Stress auf ihn wartete, wenn er jetzt damit begann, für pulverisierte Päckchen im Staub zu kriechen und um Vergebung zu flehen, doch sein Unterbewusstsein hatte da den Entschluss schon längst gefasst und er war bereits halb auf dem Weg. Immerhin biss Apollo ihn nur, wenn er darum bat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)