Kira gegen den Rest der Welt von Riyuri ================================================================================ Kapitel 5: Study ---------------- Der nächste Morgen war erstaunlich entspannt. Obwohl ich ausschlafen konnte, wachte ich bereits um zehn Uhr auf. Normalerweise war ich ein Langschläfer. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte gedankenverloren die Decke an. L war gestern fast sofort wieder abgehauen. Den Grund, den er mir genannt hatte, hatte ich ehrlich gesagt vergessen. Unwillkürlich musste ich darüber schmunzeln. Allgemein über den ganzen gestrigen Tag. Wo war ich bloß den ganzen Tag mit meinen Gedanken gewesen? Ehe ich mich versah, war es schon Abend. Schwungvoll richtete ich mich auf und ließ meine Beine am Bettrand baumeln. Ich hatte Zeit – oder auch nicht. Schließlich hatte ich mein Hauptziel noch immer nicht erreicht. Stattdessen hatte ich mich an Light rangemacht. Bei diesem Gedanken schüttelte ich mich. Er hatte mich tatsächlich geküsst…! Scheiße, ich war doch nicht Misa!? Oder hatte ich ihre Rolle etwa eingenommen…? Meine Beine hörten auf zu wackeln, mein Blick war starr geradeaus gerichtet. Theoretisch konnte Light Misa nicht treffen, aber nun? Ich sollte mir wirklich angewöhnen, alle Möglichkeiten durchzugehen, bevor ich irgendetwas tat. So langsam ging mir das wirklich auf die Nerven. Seufzend stand ich auf und zog mein weißes Nachthemd über den Kopf. Während ich mir frische Sachen aus dem Kleiderschrank anzog, überlegte ich, was mir der heutige Tag so alles bringen würde. Spaß? Angst? Trauer? Vielleicht sogar… Tod. Das war es, was ich am Liebsten nicht gedacht hätte, aber es stimmte. Ich war nicht nur durch die Ermittlungen, in die ich nun endgültig mit einbezogen worden war, gefährdet, sondern auch dadurch, dass ich wusste, wer Kira war und ihn sogar noch persönlich kannte. Schweigend schlich ich die Treppe runter, heute hatte ich keine Lust, den Fahrstuhl zu benutzen. Wie hieß es so schön? Jeder Gang macht schlank. Während ich über die Fortsetzung dieses Spruchs ‚und jeder zweite in die Breite’ lachte, trat ich durch die Glastür in den Hauptraum. Links von mir führte die nächste und letzte Treppe hinab. Von meiner Position aus konnte man den ganzen Raum überblicken. Unter dem Gehweg vor mir befanden sich die Computer, am Fuß der Treppe befanden sich ein kleiner Glastisch und zwei Sofas. Nicht besonders viel, aber genug, um auf mich äußerst gemütlich zu wirken. Ich war noch nie besonders viel Luxus gewohnt gewesen. „Guten Morgen!“ Mit meiner gutgelaunten, normalerweise nur abends angewandten Stimme ging ich die letzten Stufen hinunter. Erstaunlicherweise – oder auch nicht, immerhin war es erst Viertel nach zehn – war kaum jemand anwesend. L saß ausnahmsweise mal nicht vor dem Computer, sondern in der Ecke auf der Couch, Watari daneben. Außerdem saß ihm Herr Yagami gegenüber, aber das waren auch die einzigen. Watari und Herr Yagami unterhielten sich angeregt über etwas, was ich aus der Entfernung locker hätte verstehen können, wenn es mich interessiert hätte, während L nur da rumhockte und einen Stapel Papiere durchging, während er drei Kugeln Eis verdrückte. Außer L schauten alle – folglich zwei Leute – auf. „Akio, guten Morgen. Wir haben uns gerade über dich unterhalten.“ Verdattert zeigte ich auf meine Nase.* „Über mich…?“ Liebevoll nickte Watari, irgendwie konnte ich ihn verdammt gut leiden. „Wieso?“, hakte ich nach. Lights Vater tauschte mit Watari Blicke aus, woraufhin Herr Yagami aufstand und mir zu berichten anfing. „Du bist erst neunzehn, nicht wahr?“ Ich nickte zwar, aber er schien dies nicht mal wirklich zu beachten und sprach gleich weiter. „Wir können nicht verantworten, dass du deine Bildung abbrichst, nur um im Fall Kira zu ermitteln. Daher wollen wir dich mit deiner Einverständnis auf eine Uni schicken, damit du dein Wunschstudium absolvieren kannst.“ Okay, okay, okay. Immer mal langsam. Ich sollte studieren? Darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Gut, meine Noten waren noch nie schlecht gewesen, aber was sollte ich denn bitteschön studieren?! „Äh... Und was genau sollte ich Ihrer Meinung nach studieren?“ Scheinbar hatten die beiden erwartet, dass ich eigentlich um jeden Preis hätte studieren wollen, aber Pech gehabt. Ich hatte diese Lebensplanung nicht einmal in Erwägung gezogen…! „Nun“, begann Watari. „Einen Platz an der Touou Universität könnten wir sicherlich bekommen. Diese Uni ist die Beste in ganz Japan, was Jura angeht.“ Aha, mhm… Ich konnte also Jura studieren. Jura… So weit ich wusste, dauerte ein Jura-Studium so um die sechs Jahre. Und eigentlich war Jura nicht so mein Fall. Allerdings war ich jetzt schon mittendrin, also warum denn nicht? Ausprobieren konnte ja nicht schaden – hoffte ich jedenfalls…! „Hört sich gut an.“ Ich stutzte. Warum redete ich eigentlich immer bevor ich nachdachte? Hirn an Realität, Hirn an Realität! Touou Uni! Das war die Universität, an der auch Light studierte! Folglich würde ich ihm verdammt oft begegnen und das Schlimmste daran war, dass dies in meiner Freizeit passieren würde. Während mir all dies einfiel, überlegte ich, wie ich meine Aussage von vorhin wieder rückgängig machen konnte. „Äh, aber ist das nicht die Uni an der Light studiert? Bestimmt würde ich ihn nur verhindern.“ Kaum hatte ich zu Ende gesprochen, fing Herr Yagami herzhaft an zu lachen. „Du magst meinen Sohn, oder? Keine Sorge, er würde sich sicher freuen, dich jeden Tag sehen zu können.“ Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. „N-Nein! So meinte ich das nicht! Es ist nur… Ich würde auch gerne etwas machen, ohne dabei gleich an die Kira Mordfälle denken zu müssen.“ Peinlich berührt starrte ich zu Boden. Eigentlich stimmte es ja, was ich sagte, also warum zum Teufel wurde ich rot!? Die beiden Erwachsenen sagten nichts, weshalb ich beschloss, mit der Wahrheit rauszurücken. „Eigentlich hab ich mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht. Um ehrlich zu sein ist es mir egal, was genau ich studiere.“ Ich gab’s ja zu, eine normale Antwort war das nicht. Jeden würde es interessieren, was er später mit seinem Leben anfing, aber mein Fall war ja so was von nicht normal! Es war wahrscheinlich sowieso egal, was ich tat. Später würde ich einfach wieder Michelle Hedley werden, oder? Immerhin konnte ich als Akio Noteshitsu nicht einmal mehr meine Muttersprache sprechen, von daher: Was würde es mir bringen, etwas zu studieren, woran ich mich später womöglich nicht einmal mehr erinnern kann?! Seufzend ging ich die letzten Schritte auf die Couch zu, um mich anschließend auf die rechte Armlehne zu setzen. Nachdenklich starrte ich meine Beine an. Wollte ich wirklich an der gleichen Uni wie er studieren? Wenn ich mich recht entsandte, tauchte L insgesamt zwei Tage dort auf. Aber deswegen gleich sechs Jahre dort zu studieren war mehr als nur übertrieben. „Wie hast du dich entschieden?“ Vorerst antwortete ich nicht, sondern blickte weiterhin auf meine tiefschwarze Hose. An einigen Stellen war sie ein wenig heller geworden, wahrscheinlich vom Waschen. Aber… Wurde diese Hose überhaupt schon mal gewaschen? Was war denn eigentlich mit Akio, bevor ich sie wurde? Und warum zum Teufel machte ich mir in dieser Situation um meine – nein, Akios – Hose Gedanken?! Ich war echt kein Stück mehr zu retten… „Vielleicht… Ein Probetag wäre wahrscheinlich nicht schlecht. Obwohl… Weiß auch nicht so genau.“ Jurastudium – ja oder nein? Vielleicht gab es ja auch andere interessante Sachen. Ich konnte zum Beispiel eine Lehre bei der Polizei machen oder Lehramt studieren. Beides mochte ich echt gern. Oder ich fing gleich mit einer Anstellung hier in der Sonderkommission an. Zu verlieren hatte ich ja nichts und mein Leben würde ich auch behalten. Das heißt, normalerweise, wenn alles glatt läuft. Ein Fehler und ich könnte dran sein. Ach, verdammt! Entscheide dich, zum Teufel! Warum hatte ich eigentlich so ein Entscheidungsdefizit? Musste wohl vererbt sein. Red nicht um den heißen Brei herum! Ja oder [/style]nein! Zögerlich setzte ich zum Sprechen an. „J…“ Gut so, rede weiter. „…ura? Eigentlich interessiert mich Jura nicht.“ Bam, bam, bam, baaam! Entscheidende Aussage gemacht. Damit kein Jurastudium. Ich danke für ihr Verständnis… Unschuldig lächelnd – oder besser mit einem extrem erzwungenen Lächeln – schaute ich L in die Augen, welcher das erste Mal seit dem Gespräch aufgeblickt hatte. „Aber wie gesagt, ein Probetag wäre bestimmt trotzdem nicht schlecht. Vor allem, bis ich mir was anderes überlegt habe.“ Das würde sich gut treffen. Dann wäre ich nämlich an dem Tag in der Uni, an dem L Misas Handy klaute und sie gleich danach verhaftet wurde. Hehe, geschah ihr Recht! Apropos Misa… Light hatte sie doch gar nicht getroffen, also wie wollte L ihr da bitteschön das Telefon klauen?! Ich seufzte über diesen verflixten Gedankenknoten. „Wann genau würde ich denn dann da anfangen?“ Ich zuckte zusammen, als kaum zwei Sekunden später eine selten gehörte Stimme die Antwort durch den Raum rief. „Wenn du willst, heute oder morgen. Du kannst natürlich auch erst nächste Woche beginnen.“ Nachdenklich blickte ich L an. Und schon hatte ich eine leider etwas weniger geniale Idee. Um genau zu sein war es mir im Nachhinein fast peinlich. „Allerdings… Die Uni ist bestimmt groß, oder? Wie finde ich denn da die richtigen Räume?“ Nervös spielte ich an einem losen Faden meiner dunkelblauen Strickjacke herum. Normalerweise hatte ich nicht einmal Abitur gemacht und schon sollte ich in einer Universität herumlaufen. Das Schicksal meinte es echt nicht gut mit mir. Eine Weile sagte keiner etwas, dann warf Watari dem Jungen zu seiner Rechten einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ryuzaki wird dich an deinem ersten Tag begleiten.“ Obwohl im gerade eine nervige Aufgabe aufgehetzt wurde, verzog L keine Miene. Er schien Wataris Aussage regelrecht zu ignorieren. „Watari.“, begann er nun. „Wir müssen ins Maruko Gefängnis.“ Stille. Eisige Stille. Alle waren so beschäftigt mit dem Studium gewesen, dass keiner auf die Papiere von L geachtet hatte. Scheinbar hatte er bereits den ganzen Stapel durchgeblättert. „Sehr wohl.“ Watari stand auf und begab sich zum Ausgang. Kurz vor dem Gang, der beinahe direkt rechts neben der Sitzecke war, blieb er stehen und öffnete einen metallenen Kasten. Daraus nahm er einen von vielen Schlüsseln heraus und drehte sich anschließend zu L um. „Soll Akio auch mitkommen?“ Springend stand L auf und krümmte sogleich wieder seinen Rücken. Die Hände vergrub er wie immer in den Hosentaschen. „Meinetwegen.“, meinte er trocken und verschwand durch den Gang. Ich selbst blieb einen Moment verdutzt sitzen, rappelte mich dann sofort auf. Selbstverständlich war ich nach kurzer Zeit komplett fertig, immerhin musste ich an der Tür nur noch meine Jacke überziehen. L brauchte einen Tick länger, weil er noch keine Schuhe anhatte. Insgeheim dachte ich, dass es vielleicht besser ausgesehen hätte, wenn er sie nicht angezogen hätte, so abgelatscht sahen seine aus. Als wir im Auto saßen, fragte ich L die grundlegendsten Dinge für unseren Ausflug. „Wie viele sind da gestorben?“ Gemeint waren Verbrecher. Das war zwar mein erstes Mal in einem Gefängnis, aber ich hatte schon mitbekommen, dass L und Watari vor allem dann Gefängnissen einen Besuch abstatteten, wenn dort besonders viele Verbrecher in den letzten Tagen oder Wochen gestorben waren. „Sechsunddreißig innerhalb von acht Tagen.“ Ich stutzte. Wie konnte Light nur so viele Verbreche innerhalb ungefähr einer Woche töten? Schließlich war es nur ein Gefängnis, überall auf der restlichen Welt starben ebenfalls Verbrecher durch seine Hand. Wie konnte man nur so grausam sein? Die Fahrt dauerte nicht wesentlich länger als meine letzte und erste Fahrt in diesem Wagen. Die meiste Zeit hatte ich gedankenverloren aus dem Fenster geschaut. Zwischendurch hatte es einen Schauer gegeben, wie an meinem allerersten Tag hier. Wie lange war dieser jetzt schon her? Ich hatte nicht mitgezählt. War wahrscheinlich auch besser so, sonst hätte ich vermutlich noch Heimweh nach Deutschland bekommen. Und Sehnsucht nach mir selbst. Seufzend stieg ich durch die von Watari aufgehaltene Tür aus. Lächelnd bedankte ich mich bei ihm dafür und schaute mir danach das riesige Gebäude vor mir an. Ein Zaun umrandete den gesamten Hof und am oberen Ende der unzähligen Stäbe prangte Stacheldraht. Achtung! Starkstrom! stand auf einem gelben Warnschild am Eingangstor. L hatte gemerkt, dass ich davon etwas verunsichert wurde. „Das hier ist ein Hochsicherheitsgefängnis.“ Unwillkürlich riss ich die Augen auf. Hochsicherheitsgefängnis!? „Was?“, keuchte ich. Ein normales Gefängnis mit kleineren Verbrechern wäre mir definitiv lieber gewesen. Schweigend trat ich durch das Tor, welches von zwei Polizisten offen gehalten wurde. Auch hier merkte man, was für Leute in diesem Gebäude stecken mussten. Alle beide trugen einen schweren Motorradhelm, dicke Jacken, einen Knüppel am Gürtel und ich entdeckte sogar eine Luftpistole ebenfalls am Gurt. Schluckend ging ich an ihnen vorbei und wartete mitten auf dem Kiesweg auf Watari und L. Nachdem beide ebenfalls durchs Tor gegangen waren, liefen sie stumpf an mir vorbei. Zwar hatte ich keine Mühe mit ihnen mitzuhalten, aber dennoch watschelte ich vollkommen überflüssig hinter ihnen her. An der Eingangstür erwartete uns bereits ein vornehm gekleideter Mann. „Willkommen, Herr Wateji. Wie ich sehe, haben Sie wieder Begleitung mit dabei. Bitte folgen Sie mir.“ Der Mann ging voraus, wir folgten ihm. Wir gingen durch eine weitere Tür auf den rechten Seite, auf welcher dick und fett ‚B-Trakt’ stand. Vorsichtshalber fragte ich lieber nicht nach der Bedeutung. Auf beiden Seiten reihten sich Türen aneinander. In jeder einzelnen befand sich eine Sichtscheibe aus Panzerglas. Ab und zu stellte ich mich auf Zehenspitzen und lugte hindurch. Überall hockten verzweifelt aussehende Leute zusammengesackt am Boden. „Wir haben einen Versuch unternommen.“, erklärte der Mann, der sich letztendlich als Herr Takahito vorgestellt hatte. „Was für ein Versuch?“ Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen, während Watari und L schier mühelos ihr Pokerface bewahrten. Plötzlich blieb Herr Takahito stehen. „Der Versuch dreht sich um diese Person hier.“ Er deutete halbherzig auf eine Tür links von uns. Wieder stellte ich mich auf Zehenspitzen, um etwas sehen zu können. Dass die Sichtfenster so weit oben lagen, lag schlicht und einfach daran, so hatte Herr Takahito es uns eben erklärt, dass die Verbrecher nicht dauernd rausgucken konnten, wenn ein Wärter vorbei ging. Ein wenig überflüssig, wie ich fand. In der Zelle saß ein relativ junger Mann, ich schätzte ihn ungefähr auf fünfundzwanzig, also sechs Jahre älter als ich. Theoretisch sah er ganz gut aus; er war rasiert, mittellange, dunkelblonde Haare und hatte einen leicht traurigen Blick aufgesetzt, als er mich durch das Fenster hindurch bemerkte. Sofort stellte ich mich wieder normal hin. Das sollte ein schwerer Verbrecher sein? „…sollte diesen Mann umbringen, darum hatten wir vor einigen Wochen öffentlich gebeten. Bisher ist jedoch noch nichts geschehen, weshalb der zweite Teil unseres Versuchs begann. Leider hatten wir noch keinen Erfolg damit, ihn zu befragen, da er sich strikt geweigert hatte, auf unsere Fragen bezüglich seines Befindens zu antworten. Andere Fragen die wir ihm stellten waren unter anderem, ob er noch einmal Verbrechen begehen würde oder ob er Kira für seine Taten hasst. Außerdem…“ Ich hielt es nicht mehr länger aus. Ich packte Herrn Takahito am Kragen, hob ihn ein Stückchen hoch und hätte ihm am Allerliebsten noch eine geklatscht. Voller Wut schrie ich ihn an. „Wie können Sie nur mit den Gefühlen anderer Menschen spielen! Sie gehören doch in die Psychiatrie! Egal ob Straftäter oder nicht, man kann doch nicht einfach…“ Behutsam legte mir Watari eine Hand auf die Schulter. Ich wollte sie abschütteln, gleich darauf stellte sich jedoch L zwischen mich und Herrn Takahito. „Lass gut sein.“ Langsam ließ ich meine Hand wieder sinken. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich Herrn Takahito gewürgt hatte, indem ich ihn ein Stück vom Boden gehoben hatte. Betreten schaute ich zur Seite. „Verzeihung.“ Noch immer war ich wütend auf den Mann, denn egal wie sehr ich es auch drehte und wendete, ich verabscheute Kira und konnte ihm nie verzeihen, was er den Menschen antat. Und dieser Mann hier nutzte dies aus und opferte dafür auch noch ein Menschenleben…! „Dann… lasst mich mit ihm reden.“ Schüchtern blickte ich zu Boden, ich hatte keine Ahnung, wie ich in solch einer Situation reagieren sollte. „Das können wir nicht verantworten, Fräulein. Tut mir Leid.“ Zwar dachte ich in diesem Moment eigentlich an etwas anderes, aber dennoch schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass niemand heutzutage mehr Fräulein sagte. Dabei kam mir jedoch die Idee, wie ich mir diese Anrede zu Nutze machen konnte. „Aber… ich bin mir sicher, er würde mir zuhören. Ich schätze, er ist nicht so viel älter als ich und jemandem im gleichen Alter hört man doch eher an, als jemanden, der das eigene Alter bei Weitem überschreitet.“ Inständig hoffte ich, dass das nicht zu persönlich oder gar beleidigend klang. „Bitte… Lassen Sie es mich wenigstens versuchen.“ Scheinbar ging es Herrn Takahito nur um die Verantwortung, die er trug, denn als Watari sich bereit erklärte, die volle Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen, stimmte er letztendlich doch zu. Glücklich stand ich vor der Tür. Ein Hauch von Angst und starke Nervosität überkam mich. Nach alledem war der Junge dort drin immer noch ein Verbrecher, und um in dieses Gefängnis gekommen zu sein, musste er ganz schön was angestellt haben. Ein Schlüssel wurde drei Mal im Schloss gedreht, dann klackte es und mir wurde die Tür von einem Polizisten aufgehalten. Dieser wollte mir gerade in den Raum folgen, als ich ihn ein Stückchen zurückdrängte und die Tür vor seiner Nase zuschlug. Man musste mir wirklich nicht so extrem zuhören, oder? Schweigend ging ich auf den Jungen zu; er hocke noch immer am anderen Ende der Zelle. „Hallo.“ Er antwortete mir nicht, schaute nicht einmal hoch. Die ganze Zeit, als wir vor der Tür gestanden hatten, hatte er mich nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Nur dieses eine Mal, als ich mich aus Neugier auf Zehenspitzen gestellt hatte, hatte er mich angesehen. Warum jetzt nicht mehr? „Wie heißt du?“ Ich setzte mich ebenfalls hin, direkt vor ihn. Ich nahm wahr, wie seine Hände, welche um seine Knie geschlungen waren, leicht zitterten. Erneut verspürte ich tiefes Mitleid mit diesem Jungen. Behutsam legte ich meine Hand auf seine. Erschrocken blinzelte er mich an, ich versuchte zu lächeln. „Ich bin Akio. Nennst du mir auch deinen Namen?“ Er ließ sich leicht anmerken, wie unruhig und verwirrt er sich fühlte. „Sh-Shouta.“ Ich schenkte ihm wieder ein freundliches Lächeln. „Ich arbeite hier nicht, musst du wissen. Wenn du also nicht willst, dass ich etwas anderen nicht erzähle, dann musst du es mir sagen. Okay?“ Zaghaft nickte er. Ich rutschte um ihn herum, sodass ich zu seiner Rechten saß und mich wie er an die Wand anlehnte. „Darf ich fragen, weshalb du hier bist?“ Ich hatte mich ein wenig nach vorne gelehnt, damit ich ihm ins Gesicht blicken konnte. Seine Stimme bebte, als er mir antwortete. „Ich… habe zwei Mitschüler von mir umgebracht.“ Während ich leicht schockiert war, drehte er seinen Kopf weg. Klar, so etwas zu sagen war nicht einfach. „Warum?“, hakte ich nach, bereute es aber sofort wieder. Shouta starrte seine Beine an, hatte seine Augen weit aufgerissen und ich sah eine Träne seine Wange hinunterlaufen. Mitfühlend griff ich nach seiner Hand und hielt sie fest, um ihn möglichst zu beruhigen. Scheinbar war ich gut darin. Hastig erklärte ich ihm, dass er mir nicht antworten musste, wenn er nicht wollte. Doch kaum hatte ich ihm dies gesagt, rückte er mit der Wahrheit raus. „Sie haben mich erpresst. Ich wurde in eine Prügelei verwickelt, als ich ihnen das Geld nicht geben wollte. Und dabei… hab ich… ihn aus Angst mit dem Kopf auf den Boden geschlagen… Er… war sofort tot. Danach ist der Zweite auf mich losgegangen…“ Bedrückt schaute ich zu Boden. Vielleicht wäre der Junge in einer Psychiatrie besser aufgehoben gewesen, als hier im Hochsicherheitsgefängnis. Shouta erzählte mir von den Verhältnissen, die bei ihm zu Hause herrschten. Sein betrunkener Vater, seine davongelaufene Mutter. Er zitterte am ganzen Leib, als er sich daran erinnerte, dass er auch einmal versucht hatte, Selbstmord zu begehen. Sein Kumpel hatte ihn in letzter Sekunde davon abgehalten, doch niemand sonst wusste bisher davon. Definitiv, er sollte mit einem Profi darüber reden können. Nachdem wir uns eine ganze Weile unterhalten hatten und ich ihm mehrmals einreden musste, er hätte eine verminderte Strafe bekommen müssen und ich würde mit einem Anwalt darüber reden, schweiften meine Gedanken zurück zu dem Thema, weshalb ich überhaupt neben ihm saß. „Shouta, weißt du, was für ein Versuch mit dir unternommen wurde?“ Schweigend nickte er. „Ich kann dich solche Sachen einfach nicht fragen.“, stellte ich seufzend fest. „Wie du dich fühlst, okay. Aber nichts anderes.“ „Ich verstehe Kira.“ Erstaunt schaute ich ihn an. Ich murmelte ein leises „Was?“, weshalb er mir seine Gedankengänge offenlegte. „Ich bin ein Verbrecher, ich habe etwas Schlimmes getan. Wäre ich nicht da gewesen, hätten nicht zwei Leute sterben müssen.“ Ich war zutiefst erschüttert, solche Wörter aus seinem Mund zu hören. „Das stimmt nicht!“ Ich hatte mich zu ihm rüber gebeugt und funkelte ihn an. „Wenn einer der beiden nicht da gewesen wäre, hätte sich auch der Zweite anders entwickelt. Du warst das Opfer, du hast dich gewehrt. Es ist richtig, dass du bereust, sie umgebracht zu haben. Aber angenommen du hättest es nicht getan. Dann hätten sie dich noch in den Selbstmord getrieben und anschließend hätten sie sich jemand anders gesucht, den sie hätten erpressen können. Hättest du gewollt, dass noch jemand hätte leiden müssen? Dadurch, dass du dich zur Wehr gesetzt hast, wurde dein Leben und womöglich das von anderen gerettet.“ Während meines Vortrags hatte er mich erstaunt angesehen. Ich wollte den Mord von ihm nicht rechtfertigen, es war schließlich auch keine Notwehr gewesen, weil der Junge bereits bewusstlos gewesen war, als Shouta ihn erschlug. Er wollte gerade etwas anmerken, als plötzlich mit einem Ruck die Tür aufsprang. „Akio, die Zeit ist um!“ Erschrocken sprang ich auf. Als ich die Situation realisiert hatte, wandte ich um, um mich zu verabschieden. „Auf Wiedersehen, Sho-… “ Ich taumelte nach hinten. Vor meinen Augen schlug sich Shouta plötzlich auf die Brust, fing fürchterlich an zu husten. Ich rannte nach einigen Sekunden auf ihn zu, um ihm zu helfen, da begann er schon, Blut zu spucken. Ich kniete mich vor ihn, rüttelte ihn an beiden Schultern. „Hey, Shouta!“ Sein Kopf wankte vor und zurück, seine Augen halb geschlossen. Ich konnte seine Iris nicht mehr sehen. „He! Nicht bewusstlos werden!“ Ich brüllte ihn förmlich an, half ihm beim Husten so gut es ging. Von Weitem hörte ich einen Arzt kommen, er setzte sich neben mich, versuchte mich von Shouta zu lösen. Das alles passierte nur weit von mir entfernt. Die Stimmen waren gedämpft, ich spürte die Berührung nicht, als L mich von hinten festhielt. Ich konnte Shouta nur noch verschwommen wahrnehmen, meine Hände waren nur noch warm. Als ich sie aus den Augenwinkeln beäugte, waren sie durch und durch mit einer roten Flüssigkeit verschmiert. „-io!“ Es kam mir vor, als würde jemand mich rufen, aber ich war nicht in der Lage zu antworten. Hätte ich einen klaren Gedanken fassen können, hätte ich es nicht für möglich gehalten, doch es kam mir vor, als würde ich den Tod hinter mir spüren. In seinem eiskalten, schwarzen Gewand. Wie er ein silbrig leuchtendes Licht in der Hand hielt, dann auf mich runterschaute. Wie in Trance wankte ich, hatte kein Gleichgewichtssinn mehr. Es machte kaum einen Unterschied, als ich dort hockte und anschließend benommen zusammensackte. Mir wurde schwarz vor Augen, als ich sah, wie Shouta mit einem weißen Laken überdeckt und auf eine Liege gelegt wurde. * Bei den Japanern ist es üblich, auf seine Nase zu zeigen, wenn man das Ich betonen möchte. In Deutschland würde man stattdessen z.B. die flache Hand auf die Brust legen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)