Kira gegen den Rest der Welt von Riyuri ================================================================================ Kapitel 8: Faces ---------------- Still umklammerte ich meine Beine. Ich lehnte mit dem Rücken gegen irgendeine Wand in meinem Zimmer. Erst vor Kurzem war ich hier eingetreten und das Erste, was ich getan hatte, war aus einem Blatt Papier viele kleinere zu schnippeln, um diese anschließend mit einiges an Klebestreifen vorne an den Überwachungskameras zu fixieren. Zwar waren nicht alle Bildschirme verklebt, aber es reichte, um eine ganze Ecke unbeobachtet lassen zu können. Ein Seufzer entwich meiner Kehle. Was jetzt tun? Ich konnte mich hier nicht ewig aufhalten – und würde es schon gar nicht tun dürfen. Spätestens wenn ich Hunger bekam musste ich raus. In mein Verderben. Das traf doch auf meine Situation ganz gut zu. L wusste, wer ich war, wieso ich hier war, wie ich hieß… Moment mal. Tat er doch gar nicht! Er hatte mir nur erklärt, weshalb er wusste, dass ich nicht die war, die ich vorgab zu sein. Aber weder wusste er meinen wahren Namen noch irgendetwas anderes. Mal ganz abgesehen davon, dass ich mich in einem von innen abgeriegelten Raum befand und am Liebsten im Erdboden versunken wäre, konnte ich nicht einfach auf ihn zugehen und sagen: „Hallo! Ich komme aus Deutschland und habe irgendwie ohne mein Zutun mein Aussehen verändert. Also nicht wundern, dass ich wie eine Japanerin aussehe und auch so spreche.“ Lächerlich. Anfangs hatte ich mir das einfache Ziel gesetzt, ihm unter vier Augen alles ganz schnell und einfach zu verklickern. Aber mittlerweile war das alles andere als einfach. Würde mir überhaupt noch jemand glauben? Nach alledem, was ich erzählt, getan und erfunden hatte? Vielleicht war es einen Versuch wert. Schließlich hatte ich noch immer keinen blassen Schimmer, wie ich diesem Dilemma entkommen konnte. Einerseits musste ich doch nach Hause zurück, oder? Zu meiner Familie, meinem Leben. Andererseits gefiel es mir hier auch recht gut, wenn man von der Tatsache absah, dass ich es mir mit einigen Leuten extrem versaut hatte. Wahrscheinlich konnte selbst L mir nicht helfen, bestimmt konnte niemand das. Ob es wohl irgendwo den Beleg gab, dass ich hier sein musste und warum? Sicher nicht in einer normalen Bibliothek, aber wer weiß, vielleicht in einem speziellen Labor, in welchem ich gerade ein paar Tests unterzogen wurde…? … So ein Schwachsinn! Als ob so etwas möglich wäre…! Viel zu realistisch, es erschien ja alles ganz normal und wirklich. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber in diesem Fall war nicht einmal eines von beidem zu finden. Weder sah irgendetwas zu unrealistisch aus, noch war es stinknormaler Alltag. Wo verflucht noch mal bin ich da nur reingeraten!? „Akio?“ Die hohe Stimme schreckte mich aus meinen verworrenen Gedanken. Ehe ich sie jemandem zuordnen konnte, stellte sich die gutmütige Frau ein zweites Mal vor. „Ich bin’s, Kathrin. Deine Psychotherapeutin.“ Ach ja, die. Brauchte ich doch überhaupt nicht. Jemanden, den ich wirklich gebrauchen konnte, war entweder eine Hexe oder ein allwissender Wissenschaftler. Wie in Trance löste ich meine Arme aus der mittlerweile eigentlich unbequemen Haltung, drückte mich ohne zu Zögern vom Boden ab und trat wieder in den Schein der Überwachungskameras. Bildlich konnte ich mir vorstellen, wie Matsuda zu erst gelangweilt vor einem der Bildschirme saß, mich dann entdeckte und plötzlich aufgeregt den Stuhl gerade rückte, den anderen mit lauter Stimme „Sie ist wieder zu sehen!“ mitteilte und sich weit nach vorne über die Tastatur beugte, um jedes noch so winzige Detail des Geschehens auf keinen Fall zu übersehen. Ohne ihn jedoch eines Blickes zu würdigen schritt ich auf die Tür zu, entriegelte mit einer Handgelenk verdrehenden Bewegung das erste Schloss. Die kurze Kette oberhalb der Türklinke war die zweite Hürde; das Metallstück um diese, welches ebenfalls mit einer Stahlkette an der Wand angekettet war, die dritte. Zusätzlich gab es noch zur Sicherheit einen Türspion, obwohl es sowieso niemand unbeobachtet so weit ins Gebäude geschafft hätte. Zögernd hielt ich die Klinke in der Hand. Warum hatte ich überhaupt so reagiert? Sanft drückte ich sie herunter, öffnete die Tür einen kleinen Spalt weit und lugte hindurch. „Was?“ Meine Stimme klang mehr genervt als ich wollte. Innerlich brachte ich kaum einen Ton heraus vor Erleichterung, dass doch noch jemand auf meiner Seite war – wenn auch rein beruflich. Nur ihr Lächeln gab mir den Mut dazu, überhaupt etwas zu sagen. „Darf ich reinkommen, Akio?“ Wieder zögerte ich, nickte dann aber schüchtern. Ich machte die Tür weiter auf, trat beiseite und ließ Kathrin passieren. „Wow, du hast es aber schön hier.“ Keine Antwort meinerseits. Ich stand weiterhin einfach stumm an der gleichen Stelle, während Kathrin den Raum näher inspizierte. „Und du wohnst hier drin ganz alleine?“ Scheinbar wollte sie wieder keine Antwort haben, aber selbst wenn sie eine haben wollte, sie hätte sie nicht bekommen. „Warum bist du hier?“ Das Einzige, was ich endlich schaffte zu sagen. „Längere Geschichte.“ „Erzähl sie.“ „Setz dich zu erst hin.“ Mir schien, als wüsste sie von der ganzen Situation. Von all dem Leid, was mir in kürzester Zeit widerfahren war. Von meinem gebrochenen Inneren, das keine Ahnung hatte, was als Nächstes geschah. „Nun“, begann sie. „Ich stelle dir jetzt eine Frage. Bitte beantworte sie ehrlich, ja?“ Ich nickte zaghaft. „Erkennst du mich nicht wieder?“ Hö? Fassungslos starrte ich sie an. „Wie meinen?“ Seufzend ließ sie den Kopf hängen. „Schon okay, ich hab auch meine Zeit gebraucht, um mich an Gesichter zu erinnern.“ Um ehrlich zu sein verstand ich in diesem Augenblick nur Bahnhof. Was für Gesichter? War ich bei irgendeinem Mord anwesend und hab das Gesicht des Täters gesehen, aber jetzt vergessen, oder wie? Kopfschüttelnd verscheuchte ich die Gedanken. „Versuch bitte, dich zu erinnern. Ich kann dir dabei nicht helfen, du musst es selbst schaffen. Was du nicht weißt, kann ich dir nicht erzählen. Aber ich habe was, um deiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.“ Sie griff zur Seite in eine Tasche, die erst vor Kurzem von ihr dort abgestellt wurde, und zog einen mickrigen Stapel Papier heraus. Auffordernd hielt sie ihn mir hin. Auf den Blättern waren Zeichnungen zu sehen. Ein guter Zeichenstil, vielleicht an einigen Stellen verbesserbar. Ansonsten gefiel mir der Einsatz vom Kohlestift äußerst gut. Abgesehen davon konnte ich eigentlich nichts Außergewöhnliches daran feststellen. Außer vielleicht, dass jedes Bild entweder ein oder zwei Mädchen darstellte, es waren auf allen Bildern die gleichen beiden. Das eine hatte hübsche helle Haare, die seitlich zu einem Zopf geflochten waren und nach vorne über die Schulter hingen. Das andere Mädchen war wie ein Kontrast dazu. Relativ dunkle Haare – mit Farbe wären sie wahrscheinlich dunkelblond gewesen – und ihr Lächeln war nicht annähernd so bezaubernd wie das der anderen Person. Es dauerte eine Weile, bis es Klick machte. Gerade in dem Moment, als ich auf dem letzten Bild noch eine dritte Person entdeckte, ebenfalls ein Mädchen, mit feinen schwarzen Haaren, die ihr vorne knapp bis zur Schulter reichten und hinten deutlich kürzer wurden. Stella, schoss es mir durch den Kopf. Verblüfft drehte ich mich zur Seite, bis ich in das strahlende Lächeln von Kathrin blickte. Trotz dieses Lächelns sah ihr Blick von Traurigkeit getrübt aus. „Weißt du es wieder?“ „Du…“ Ich schluckte schwer. „Du lebst.“ „Oder du bist tot.“ „Warum hast du das damals getan?“ „Wir sollten dich irgendwie zurückbringen.“ Sie wich mir ganz klar aus. Versuchte es zumindest. „Wieso hast du dich umgebracht, Kathrin?“ „Das tut nichts zur Sache.“ „Wieso hast du mich im Stich gelassen?!“ Völlig außer Fassung starrte ich sie an. Einige Blätter rutschten mir aus der Hand, während mir Tränen aus den Augen flossen. „Sechs Jahre…! Weißt du eigentlich, was für ein Horror das für Stella und mich war?“ Das Lächeln auf ihrem Gesicht erstarb. Sie hatte es gewusst, natürlich hatte sie das. Wie gut musste ihr Grund gewesen sein, um trotz ihres Wissens so zu handeln? „Sie ist beinahe daran kaputt gegangen! Stella hatte vor, sich auch das Leben zu nehmen. Sie wollte dir folgen…!“ Zwar dauerte es eine Weile, aber letztendlich bekam ich eine Antwort. Kathrins Kopf hing leblos nach unten, als sie sprach. „Ich weiß…“ Klatsch! Tränenüberströmt sprang ich auf, ihre Wange glühte sofort rot. „Wie konntest du nur?!“ Kathrin hielt sich zur Gegenwehr lediglich die Wange. Ihr Blick sah verstört aus, als hätten die Ereignisse von damals auch sie mitgenommen. Vielleicht konnte sie einfach gut schauspielern, aber ihre Emotionen sahen einfach zu real aus, als dass dies hätte wahr sein können. „Lass mich dir erzählen“, bat sie mich. Stumm ließ ich mich von ihr am Ärmel runterziehen, bis wir uns schweigend gegenüber saßen und sie endlich anfing zu erzählen. Ich konnte es kaum abwarten, endlich den Grund zu erfahren, den sie der restlichen Welt verschwiegen hatte. „Vor acht Jahren habe ich mich in einen Jungen verliebt. Er… kannte mich nicht, aber ich habe ihn oft beobachtet. Ein Jahr später hatte ich endlich den Mut gefunden, ihm meine Gefühle zu gestehen – auch dank der Hilfe von Stella. Aber als der Tag dann kam, hatte Stella plötzlich einen Unfall und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Du erinnerst dich bestimmt noch daran, als sie von dem schwarzen Auto angefahren wurde und der Fahrer dann Fahrerflucht begangen hatte?“ Zur Bestätigung nickte ich. Ich erinnerte mich nur zu gut. Damals war ich zwölf gewesen. Es war ein Schock zu erfahren, dass die eigene Schwester in Lebensgefahr auf der Intensivstation lag. Ich hatte erst wieder einen Fuß aus dem Krankenhaus gesetzt, als klar war, dass es Stella gut ging. Ob ich davon wohl die Angewohnheit hatte, mich in Zimmern einzuschließen? „Deswegen konnte ich meinen Schwarm nicht treffen, obwohl ich ihn extra gebeten hatte zu kommen. Natürlich hat er auf mich gewartet, aber als ich nicht kam wurde er sauer. Als ich ihm am nächsten Tag die Situation erklären wollte, sah ich ihn zusammen mit einem anderen Mädchen wie sie Händchen haltend durch die Schule spazierten. Ich war am Boden zerstört und weinte jeden Tag in mich hinein. Ein ganzes Jahr ging das so. Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten. Kurz vor meinem Vorhaben rief ich Stella an und habe ihr die ganze Geschichte erzählt. Und dass niemand sonst sie erfahren sollte. Als ich fertig war, legte ich einfach auf… und habe mich erhängt.“ Ihre Leidensgeschichte erzählte sie fast emotionslos. An einigen Stellen brauchte sie etwas länger oder legte Pausen ein, aber es kam mir dennoch nicht so vor, als würde sie ihre Tat bereuen. „Es tut mir Leid, wirklich. Aber dem Ganzen verdanke ich auch meinen Neuanfang.“ Ich nickte. Hatte also Recht gehabt. Und nun? Dass ich Kathrin wieder traf hieß also, dass ich ebenfalls tot war? Ich brauchte noch immer Antworten. Antworten auf Fragen, von denen ich bis jetzt nicht wusste, wie ich sie formulieren sollte. „Ich kenne den Grund, weshalb du hier bist nicht“, sagte sie. „Hast du dich umgebracht?“ Sie fügte ihre Frage leise hinzu, als hätte sie Angst vor einer Bestätigung. Für einen kurzen Moment überlegte ich, was ich als Michelle erlebt hatte, bevor ich Akio geworden war, aber mir fiel beim besten Willen nichts ein. Es war, als wären meine Erinnerungen gelöscht worden. „Ich… habe keine Ahnung. Das einzige, was ich weiß, ist, wie ich von der Schule mit dem Fahrrad nach Hause fuhr.“ Um ehrlich zu sein fürchtete ich mich auch vor der Wahrheit. Es war auszuhalten, hier zu bleiben, aber die Sehnsucht nach meiner Heimat wuchs in jedem Moment, in dem ich mich hier befand. Ich stand vor einem neuen Rätsel: Aus welchem Grund war Kathrin hier? Statt die Antworten zu finden, taten sich neue Abgründe von Fragen auf. Ob es wohl ewig so weitergehen würde? Saß ich hier fest? Meine Gedanken bissen sich an den Fragen fest, während Kathrin ohne ein weiteres Wort aufstand und durch die Tür ins zukünftige Unbekannte trat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)