Kira gegen den Rest der Welt von Riyuri ================================================================================ Kapitel 11: Guilty ------------------ Voller Erwartungen stand ich vor der Einfahrt irgendeines Hauses. Mittlerweile hatte ich mich zurück in die Innenstadt begeben, an den Ort, wo ich mein Opfer finden würde. Inzwischen musste Light schon aufgewacht sein – vor etwa einer Viertelstunde. Wenn ich richtig lag mit meinen Gedankenspielen, hatte er seine Besitzrechte direkt nach dem Aufwachen schon abgegeben. Gut so. Denn eigentlich waren die Schlaftabletten für nichts anderes als Zeit schinden gut gewesen. Lights Abtreten wurde nach hinten verschoben und die Sonderkommission war mit etwas anderem als der Jagd nach mir beschäftigt. Nebenbei hatte ich Light beinahe einen Gefallen getan: Durch mich hatte er noch so lange wie möglich mit seinen wahren Erinnerungen leben können. Wiederbekommen würde er sie, wenn es nach mir ginge – was es bisher Gott sei Dank tat – nämlich nicht. Nie mehr. Ich lehnte an einer der beiden halbhohen Säulen, die das Tor an den Angeln festhielt. In meinen Ohren tickten die Sekunden. Das nervenaufreibende Geräusch schien immer schneller und schneller zu werden. Die Welt um mich herum verblasste, stattdessen sah ich nur noch eine weiße Uhr, die aus dem farblosen schwarzen Hintergrund heraus stach. Der Zeiger rannte weiter, ohne Unterbrechung. Würde er sich noch weiter drehen, würde er womöglich aus der Halterung fallen. Doch das tat er nicht. Stattdessen wurde er noch schneller und schneller. Dann, auf einmal, hielt er an. Kein Laut war mehr zu hören. Genau auf der Zwölf stehend verweilte das Bild vor mir. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann fing das Ticken wieder an. Doch der Zeiger bewegte sich nicht. Träumte ich etwa? Ich schloss meine Augen und wunderte mich für einen Moment. Als ich sie wieder aufschlug, war meine seltsame Einbildung verschwunden. Trotzdem ging das Ticken weiter. So als ob es einfach nicht aufhören wollte, egal aus wie vielen Träumen ich aufzuwachen vermochte. Irritiert starrte ich den Boden an. Wie in Zeitlupe liefen ein paar Beine, mit dunklem Anzug bekleidet, an mir vorbei. Gleichzeitig hatte sich auch das Ticken verlangsamt. Lange Abstände prangten jetzt zwischen den einzelnen Lauten, die gemeinsam mit dem Auftreten der Füße ertönten. Direkt in meinem Blickfeld setzte die Person den Fuß auf. Und nach einem letzten ‚Klack’ lief die Zeit plötzlich normal weiter. Erschrocken riss ich den Kopf hoch. Benommen ließ ich den Mann passieren, bis mir seine Ähnlichkeit mit meinem Opfer auffiel. Moment, dass war keine Ähnlichkeit…! Higuchi lief da gerade tatsächlich an mir vorbei! Überstürzt und mit zittrigen Händen holte ich den Zettel aus der Hosentasche. Dabei riss er an der einen Seite leicht ein, so heftig hatte ich reagiert. Mit einem Stift aus meiner Jackentasche setzte ich auf das Papier auf. Tief durchatmen, ruhig bleiben. Du schaffst das, Akio! Nun musste es schnell gehen. Mit viel Mühe kritzelte ich das erste der vier Zeichen aufs Papier. Higuchi war mittlerweile fast an der Ecke angekommen, bei der er auf dem Weg nach Hause in die rechte Seitenstraße einbog. Hastig schrieb ich auch noch die restlichen Zeichen aufs Papier. Ob das Death Note bei mir überhaupt funktionierte? Immerhin gehörte ich gar nicht in diese Geschichte. Was, wenn mein ganzer Plan deswegen nicht klappte? Saß ich dann hier auf ewig fest? Und warum zum Teufel hatte ich mir darum nicht schon früher Gedanken machen können?! Die Sorge erwies sich allerdings als völlig unberechtigt. Ungeduldig wartete ich die schier ewig dauernden vierzig Sekunden ab, Higuchi bog schon fast um die Ecke. Noch ein paar Meter… Auch mein Herz blieb für einen Moment stehen, als der habgierige Mann sich plötzlich an die Brust packte. Schockiert starrte ich ihn aus der Ferne an, obwohl ich ja längst gewusst hatte, dass es so kommen würde. Schlimmer noch, ich hatte es herbeigeführt. „He, Sie da!“, rief ich eilig. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“ Selbstverständlich war die Frage vollkommen überflüssig. Für mich und für Higuchi, aber meine Umwelt schaute noch immer bei all meinen Taten zu. Das tat sie auch, als ich eilig auf den Zusammengebrochenen zu rannte: Ein paar Passanten schauten mich schief von der Seite an, wie ich dort auf dem Boden hockte und an dem schlaffen Körper herumrüttelte. Zwar wussten sie nicht, dass er schon längst tot und vor ihren Augen ermordet worden war, dennoch setzte sich keiner neben mich an den Wegrand um zu helfen. Oh Gott, gingen die etwa immer so mit ihren Mitmenschen um?! Ich verstellte meine Mimik, so als ob ich voller Trauer um den Toten wäre. Panik musste ich nicht mit einbringen, die war schon von selbst vorhanden. Mit zitternden Fingern tastete ich die Brust des Mannes ab. Flink stibitzte ich aus der Jackettinnentasche ein ganz gewöhnlich aussehendes, schwarzes Notizbuch und fischte anschließend im Rucksack herum, auf der vermeintlichen Suche nach einer Flasche Wasser, wobei ich das Buch unbemerkt in der Tasche verschwinden ließ. Nun griff ich nach der nebenbei gefundenen Flasche und zog sie aus der möglichst klein gelassenen Öffnung heraus. Nach dem zweiten Anlauf gelang es mir erst, den Schraubverschluss ab zu bekommen und tröpfelte etwas von der lauwarmen Flüssigkeit in Higuchis Mund. Trotz meiner schäbigen Bemühungen regte sich der Körper nicht. Oh, welch Wunder. Endlich wagte ich es aufzustehen. Nun sollte auch für die Passanten um mich herum klar sein, dass der Mann dort am Boden tot war und man konnte mich nicht wegen unterlassener Hilfeleistung anklagen. Zumal ich ja sowieso schon auf der Flucht war und die Sache nur unnötig komplizierter gemacht hätte. Während ich mich ein Stückchen vom ‚Tatort’ entfernte, kramte ich mein Handy aus der Hosentasche. Mit einem kurzen Blick nach hinten vergewisserte ich mich, dass niemand plötzlich um die Ecke schießen würde, hinter der ich mich jetzt versteckte. Alibimäßig hielt ich mir das kalte Gerät ans Ohr. Im Notfall würde ich behaupten, die Polizei anrufen zu wollen, ohne dabei die Leiche anstarren zu müssen. Ein kleinen Moment der Angst verharrte ich an dieser Stelle, eine winzige Pause um mich zu beruhigen, dann noch ein weiteres Kopfdrehen und ich rannte los. Einfach weg, irgendwo hin. Dahin, wo man mich nicht direkt finden würde. Aber wo war das schon? Letztendlich fand ich mich in einem kleinen Park wieder. Hinter den sattgrünen Bäumen prangten trotz Bemühungen und Anpflanzungen immer noch die Hochhäuser von der den Park umschließenden Stadt. Für meine innere Aufregung genau das Richtige. Womöglich wäre ich noch total depressiv geworden, wäre meine Umgebung nun zu ruhig gewesen. So schlenderte ich gerade zwischen den Bäumen, die in regelmäßigen Abständen auf beiden Seiten angepflanzt worden waren, über den hellbraunen Weg. Ich hatte es tatsächlich getan. Einen Menschen umgebracht. Ich, Akio Noteshitsu, hatte einen Menschen umgebracht! Scheiße… Hatte ich wirklich so weit gehen wollen? …Jetzt war es zu spät. Meine Situation verwirrte mich immer wieder aufs Neue. Mit einem meiner Sätze hatte ich nämlich voll ins Schwarze getroffen. Ich war Akio. Es jagte mir beinahe Angst ein, dass ich meine Rolle schon so sehr angenommen hatte. Trotzdem blieb es Akio, die einen Menschen umgebracht hatte. Und es war Akio, die weder Himmel noch Hölle betreten konnte. Galt das auch für Michelle? Waren Akio und Michelle ein und dieselbe Person? Ich verstand einfach gar nichts mehr. Je mehr ich unternahm, desto mehr Fragen taten sich auf. Wo war das Ende meiner Reise? Oder würde es erst mit meinem Tod zu Ende sein? Weder in Himmel noch Hölle – wo dann? Beide, und wirklich nur diese beiden Orte, bestimmten das richtige Ende, die Endgültigkeit. Doch kam der Schluss meiner Reise erst mit dem Tod, musste noch ein weiteres endgültiges Ende geben. Eines, das weder Himmel noch Hölle war. Eines, das man nur dann erlangte, wenn man einen Menschen mithilfe des Death Notes umgebracht hatte. Gab es neben den beiden noch einen weiteren Schluss? Ein richtiges Ende? Oder aber meine Reise würde noch vor meinem Tod enden. Moment! Alles nacheinander. Higuchi war tot, also sollte das vorerst die gewöhnliche Reihenfolge etwas durcheinander bringen. Aber schließlich erfuhr Misa vom Death Note bei einem Vorstellungsgespräch von Higuchis Firma, Yotsuba. Wenn sie es dort nicht erfuhr, wo dann? Spätestens nach dem Ausgraben des Death Notes im Wald kämen ihre Erinnerungen zurück. Dann würde sie den Augenhandel noch ein weiteres Mal mit Ryuk machen und sofort L’s Namen eintragen, sobald sie ihn erfuhr. Da L kein Death Note bekommen hatte und würde, hatte Rem nie einen Grund ihn umzubringen. Also stellte nur noch das zweite Death Note eine Gefahr für ihn da… Ich musste es irgendwie in die Finger kriegen! Doch wo war es bloß vergraben? Im Anime war immer nur von einem Wald die Rede gewesen. Leider gab es in Japan mehr als nur einen Wald; immerhin waren etwa siebenundsechzig Prozent der Gesamtfläche Japans besiedelt von den dicht aneinanderliegenden Bäumen, Büschen und Sträuchern. Außerdem wurde nie genau erwähnt, wo Misa von Light hingeschickt worden ist. Wie kam ich nur an die richtige Stelle? Hach, warum machte ich es mir nur immer wieder so schwer? Statt einfach mal ein bisschen nachzudenken und gleich die richtige Lösung zu finden… Selbst wenn ich den Ort nicht erfuhr, so musste sich Misa dort immer noch hin begeben. Einen Menschen hatte ich sowieso schon umgebracht, einmal noch Diebstahl mehr oder weniger machte auch keinen Unterschied mehr. Zumal es nicht einmal richtig gestohlen wäre, wenn sie sich nicht an das Gestohlene erinnert, oder? Schreckliche Gedanken, die ich langsam entwickelte. Na ja, was hieß da langsam? Ich wurde mehr und mehr zu einem der Verbrecher, die Light so dringend eliminieren wollte. Ein Mörder, Dieb, Flüchtling und es würde mich nicht mal wundern wenn auch noch geistesgestört. Möglicherweise war all das ja nur meine Einbildung? Allein die Vorstellung, irgendwo in Deutschland in einer weißen Gummizelle zu sitzen und dass alles Geschehene nur Wahnvorstellungen gewesen waren, erschien mir angenehmer als die Tatsache, dass es real war. Allerdings war all dies zu detailliert, zu wirklich, als dass es nur Wahnvorstellungen sein könnten. Vielleicht eher ein Traum? Ein Albtraum, möchte man meinen. Eigentlich träumte ich nie etwas; also eine künstlich herbeigeführte Träumerei? Nein. Wäre es nur Einbildung oder Traum, dann würde kein Blut an meinen Händen kleben. Es würde mir nicht dieser scheußliche Geruch von totem Fleisch in der Nase liegen. Mein Gewissen würde mich nicht so verschlingen wollen, mit spitzen Zähnen zerfleischen und qualvoll dahinvegetieren lassen. Dann wäre das alles nur ein vorübergehender Zustand, der ein Ende fand, sobald ich aufwachte. Aber ich würde nicht aufwachen. Und selbst wenn ich es letzten Endes doch tat, so würde sich der Traum mit grauenvoller Genauigkeit in meinem Gedächtnis festgebrannt haben – zusammen mit dem Fluch der Schuld, solche Dinge auch nur geträumt zu haben. Und umherlaufen könnte ich nur mit dem Angst einflößenden Hintergedanken, ob nicht doch eines der Ereignisse tatsächlich passiert war. Viele Philosophen hatten früher behauptet, jedenfalls laut unserem Lehrer, dass man nichts wissen konnte, außer dass man selbst existierte. Denn wenn man nicht existieren würde, könnte man nicht darüber nachdenken, ob man es tat. Nun konnten die Augen uns täuschen, so wie auch alle anderen Sinne. Ohne diese blieben uns nur noch unser Inneres, unsere Gedanken und unsere Seele. Doch wurden nicht auch diese Dinge durch das Handeln und Denken von uns und anderen bestimmt? Schottete man sich von der Umwelt ab, blieb vermutlich nur noch Leere. Ein unbeschriebenes, weißes Blatt. Ein Leben ohne Vorgeschichte, Gegenwart und das stetige Wiederholen von Nichts. In diesem Augenblick verstand ich exakt, was all diese Schüler quälenden Schwachköpfe aus der Vergangenheit damit gemeint hatten. Ich war die Person, die ich sein wollte. Entweder ich akzeptierte meine bisherigen Handlungen oder ich musste etwas durch weitere Handlungen ändern. Und wenn ich meine Taten, ob ich sie nun für gut oder schlecht hielt, als abgeschlossen betrachtete und nicht weiter daran rumrüttelte, hatte ich ein Teil von mir Selbst geformt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)