Noch eine Chance von Niekas ================================================================================ Kapitel 3: Im eigenen Interesse ------------------------------- Nachdem Ivans Wunde versorgt war, verstummten sie wieder. Raivis hatte sich in seiner Ecke auf der Rückbank zusammengekauert. Von Zeit zu Zeit schaute Eduard sich nach ihm um, während Toris den Blick nicht von der Straße löste. Yekaterina sah aus dem Fenster und hing ihren Gedanken nach. Natalia hatte sich an Ivans noch unverletzte Schulter gelehnt und war anscheinend eingenickt. Nach dem vorangegangen Beweis schwesterlicher Fürsorge hatte Ivan nichts dagegen, jedenfalls nicht, solange sie ihre Finger und Messer bei sich behielt. Er lächelte und legte einen Arm um Natalia, als der Wagen durch ein Schlagloch rumpelte. „Raivis“, sagte Yekaterina plötzlich und griff nach seiner Schulter. „Ist dir nicht gut?“ Raivis blinzelte zu ihr auf und schüttelte zaghaft den Kopf. Er war blass wie ein Laken. Im nächsten Moment ging ein Ruck durch seinen Körper und er schlug die Hand vor den Mund. „Toris!“, sagte Yekaterina hastig. „Halt an, sofort!“ „Was ist los?“, fragte Toris erschrocken, trat auf die Bremse und hielt. Yekaterina zerrte die Tür auf und zog Raivis aus dem Wagen. Sie standen auf einer Landstraße mitten im Nirgendwo. Die Lichter der Stadt leuchteten nur noch trübe hinter ihnen am Horizont. Die Luft war kalt. „Komm“, sagte Yekaterina, zog ihr Tuch zurecht und führte Raivis an der Hand ein Stück die Böschung hinauf.„Tief durchatmen, dann ist es gleich besser. Du musst nur...“ Raivis krümmte sich, beugte sich vor und übergab sich vor seine Füße in den Schnee. Erschrocken blieb Yekaterina stehen und rieb über seinen Rücken. „Ist ja gut... lass es raus, gut so...“ „Ich dachte mir gleich, dass er zu viel auf einmal gegessen hat“, sagte Ivan. „Das wird wieder“, murmelte Yekaterina, half Raivis dabei, sich in den Schnee zu setzen, und hockte sich selbst daneben. „Ruh dich ein wenig aus, Raivis. Tief durchatmen. Komm her...“ Sie verstummte und wischte mit einem Taschentuch sein Kinn ab. Raivis hatte die Augen halb geschlossen und atmete schwer. Zögernd stieg Ivan ebenfalls aus dem Wagen, nachdem er Natalia behutsam beiseite geschoben hatte, und blieb vor ihnen stehen. Yekaterina sah zu ihm auf und lächelte flüchtig, bevor sie sich wieder Raivis zu wandte. „Es wird alles gut, Raivis. Jetzt, da du endlich wieder da bist... ich habe dich noch gar nicht richtig gedrückt, oder? Wie dumm von mir...“ Also holte sie es nach, schlang beide Arme um Raivis und zog ihn an ihren Busen. Ivan für seinen Teil wusste, so obszön es vielleicht klang, dass Raivis sich dabei wohlfühlte. Es entspannte ihn, den Kopf an Yekaterinas weiche Brust zu legen und ein wenig zu träumen. Von einer Mutter vielleicht, dachte Ivan. Kaum jemand von ihnen hatte seine Mutter jemals kennengelernt, wenn er denn überhaupt eine gehabt hatte. Er selbst hatte noch Glück im Unglück gehabt und war bei Yekaterina aufgewachsen, und obwohl sie bei aller Liebe schwach und ständig den Tränen nahe gewesen war, war sie der beste Mutterersatz gewesen, den er sich hatte wünschen können. Er bedauerte es leise, dass jetzt nicht genug Zeit blieb, damit Raivis seine Kindheit nachholen konnte. Nach einigen Momenten räusperte er sich vernehmlich. „Wir sollten wieder einsteigen und weiterfahren, Katyusha. Hier draußen können wir nicht bleiben.“ Yekaterina nickte leicht, sagte aber nichts. Ivan legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die kleine weiße Wolke seines Atems, die in den nächtlichen Himmel stieg und bald nicht mehr zu sehen war. Sein Gesicht fror schon nach dieser kurzen Zeit in der Kälte. Über ihm spannte sich der dunkle Nachthimmel, der mit zahllosen Sternen übersät war. „Glaubst du, es geht wieder?“, fragte Yekaterina leise. Raivis nickte, obwohl er sich offensichtlich nur widerwillig von ihr löste. Sie stand auf, half ihm auf die Beine und klopfte ein wenig Schnee von seinem Mantel. „Gehen wir“, sagte Ivan, ging wieder zum Wagen und drehte sich an der Tür noch einmal um. „Wenn dir wieder schlecht wird, sag Bescheid, Raivis.“ Erneut nickte Raivis stumm, als er hinter Yekaterina ins Auto kletterte. „...und deswegen müsst ihr euch morgen benehmen. Es werden eine Menge wichtiger Männer zum Essen kommen, nicht zu vergessen mein Boss höchst persönlich. Wenn ihr morgen einen schlechten Eindruck macht, könnte das gravierende Folgen haben. Für euch oder für eure Kinder.“ Raivis und Eduard schwiegen und nickten. Toris nickte ebenfalls. „Machen Sie sich keine Sorgen, Ivan. Wir werden uns schon allein in unserem eigenen Interesse benehmen.“ „Ihr werdet euch ausschließlich in eurem eigenen Interesse benehmen, mein lieber Toris.“ Toris lächelte stumm und senkte den Blick. Ivan mochte es nicht, dass er durchschaute, welchen an Furcht grenzenden Respekt er vor den Beratern seines Bosses hatte, auch vor Onkelchen, wie er seinen Regierungschef in einer grotesken Mischung aus Zuneigung und Angst nannte. Toris wusste es. Eduard wusste es vermutlich auch, obwohl er es niemals ausgesprochen hätte. Aber es war doch, wie Ivan gesagt hatte: Die drei wollten sich keine Schwierigkeiten einhandeln. Sie würden nichts Dummes tun, nur, um zu sehen, ob Ivan deswegen auch Probleme bekommen würde. Sie konnten es sich nicht leisten, mächtige Männer zu verärgern. Wer konnte das schon? Ivan seufzte leise, als er aufstand. „Das war soweit alles“, sagte er. „Seid morgen nicht zu steif. Höflich, aber nicht aufgesetzt, hört ihr? Und achtet auf die Sitzordnung und darauf, dass das Essen reibungslos abläuft. Eduard, sieh noch einmal nach, ob das Silber poliert werden muss. Und Raivis, achte morgen bloß auf deine Aussprache. Dein Akzent ist grauenhaft, wenn du nervös bist.“ Raivis wurde etwas blasser und nickte. „Ihr könnt gehen.“ Sie senkten die Köpfe und gingen im Gänsemarsch hinaus. Toris blieb noch kurz in der Tür stehen und sah sich nachdenklich zu Ivan um. Ivan zog fragend die Augenbrauen hoch, und Toris lächelte auf eine Art, die fast mitfühlend war. „Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird alles gut gehen.“ „Das will ich hoffen“, erwiderte Ivan, und Toris verneigte sich andeutungsweise und schloss die Tür hinter sich. Es war beängstigend, dass Toris seine Sorgen so durchschaute, dachte Ivan und ließ sich seufzend wieder auf seinen Stuhl sinken. Unter Umständen konnte er ihm dadurch gefährlich werden. Noch beängstigender war aber die Tatsache, dass Ivan manchmal glaubte, es sei ihm ganz recht so. Es tat einfach gut, jemanden zu haben, der ihn verstand. Vielleicht tat es sogar gut, nicht immer der zu sein, der unbegrenzte Macht über alle anderen ausübte. Ivan erwachte langsam aus seinem Traum. Es war seltsam, dass er gerade jetzt von etwas träumte, das sich vor mehr als sechs Jahren zugetragen hatte. Aber vielleicht war es auch ein Zeichen, dachte er. Damals hatten die Geschehnisse ihren Anfang genommen, die letztendlich zu seiner Flucht geführt hatten. Jetzt würde all das ein Ende haben. Er würde nie wieder etwas tun, von dem er schon im Voraus wusste, dass er es bereuen würde. Er saß noch immer auf der Sitzbank, auf der er eingeschlafen war. Die Wunde an seiner Schulter pochte dumpf. Alles war ruhig und nichts bewegte sich, woraus er schloss, dass der Wagen gehalten hatte. Wieso war Toris nicht weitergefahren? Langsam gewöhnten seine Augen sich an das Dunkel um ihn herum. Das erste, was ihm auffiel, war Toris, der sich zu Yekaterina und Raivis auf die Bank gegenüber gequetscht hatte und schlief, den Kopf auf die Brust gesunken. Also hatte er einfach ein wenig Schlaf gebraucht, dachte Ivan mit einem Lächeln. Das war nur verständlich. Neben Ivan saß Natalia. Im Schlaf hatte sie sich ein wenig von ihm abgewandt und den Kopf stattdessen gegen Eduard sinken lassen, der neben ihr saß. Warum, dachte Ivan verwirrt, hatte Toris sich die Gelegenheit entgehen lassen, neben Natalia zu sitzen? Sogar neben ihr zu schlafen, was doch das sein musste, wovon Toris nachts träumte. Seine verklärte und tragisch unerwiderte Liebe zu Natalia war unmöglich zu übersehen. Es musste einen sehr guten Grund geben, damit Toris sich eine solche Gelegenheit entgehen ließ. Vielleicht, dachte Ivan seufzend, hatte Toris nicht so nahe bei ihm sitzen wollen. Manche Dinge waren einfach eine Schande. Draußen wurde der Horizont langsam heller, aber bis zum Sonnenaufgang würde es noch eine gute Weile dauern. Ivan holte tief Luft, streckte die Beine aus und schloss die Augen. Besser, er schlief, soviel er konnte, solange er die Gelegenheit dazu hatte. Auf einer Flucht konnte man ja nie wissen, wann die nächste Gelegenheit kommen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)