Noch eine Chance von Niekas ================================================================================ Kapitel 5: Der Teppich vor dem Kamin ------------------------------------ (Sicherheitshalber wiederhole ich die Warnung vom Anfang noch einmal: Obwohl ich nicht damit rechne, dass dieses Kapitel als adult gesetzt werden muss - vielleicht lesen zart besaitete Leser jetzt lieber weg, oder fangen erst beim zweiten Absatz an zu lesen. Die Story versteht ihr trotzdem, vielleicht nur etwas später. Danke.) Um zu dem vorzudringen, was im Innersten war, brauchte man Liebe. Und um das zu zerstören, was im Innersten war, vielleicht eine zerstörerische Art von Liebe? Es war Abend. Sie saßen im Wohnzimmer, ein gemütliches Feuer brannte im Kamin. Ivan hatte den ganzen Tag gebraucht, um alles vorzubereiten. Die Vorbereitung an sich hätte nicht so viel Zeit in Anspruch genommen, aber er brauchte auch Zeit, um das Ganze mit seinem Gewissen zu klären. Jetzt war er bereit, dachte Ivan. Nein, war er nicht. Aber bereiter als jetzt würde er nicht mehr werden. „Eduard, Raivis?“ Eduard zuckte zusammen und sah von seinem Buch auf. Neben ihm auf dem Sofa legte Raivis den Kopf schief. „Was ist denn?“ „Geht ins Bett“, sagte Ivan und deutete auf die Tür. Die beiden tauschten erschrockene Blicke mit Toris, standen aber auf, ohne etwas zu sagen. Toris blieb sitzen, wo er war, auf einem Stuhl vor dem Kamin. Er sah den anderen beiden nach, regte sich aber nicht. Das war gut so, dachte Ivan und schloss die Tür hinter Eduard und Raivis. „Toris?“ „Ja?“, fragte Toris und setzte sich etwas gerader hin. Er sah erstaunt aus, aber nicht direkt ängstlich. Höchstens verwirrt. Ivan trat in den hinteren Teil des Raumes und hob das kleine Tablett hoch, das dort stand. Die beiden Gläser sahen beinahe gleich aus, aber nur beinahe. Sorgfältig drehte er das Tablett so, dass das Glas mit der Macke am oberen Rand zu ihm zeigte. Das war wichtig. Nicht auszudenken, wenn er die Gläser verwechseln würde. „Ich möchte mit dir anstoßen, Toris.“ „Worauf?“, fragte Toris überrascht. Ivan setzte sich wortlos auf einen zweiten Stuhl ihm gegenüber und hielt ihm mit einem ermutigenden Lächeln das Tablett hin. Zögernd griff Toris nach einem der Getränke. Er wählte das richtige. Ivan atmete innerlich auf. „Auf die Zukunft, Toris. Auf dass wir noch lange in diesem Haus zusammen bleiben.“ Ivan griff nach dem anderen Glas, lächelte und erhob es. Toris blinzelte, beschloss dann aber, mitzuspielen. Mit einem leisen Klirren stießen die Gläser aneinander. Den ersten Teil hatte er geschafft, dachte Ivan. Der zweite würde wesentlich schwerer werden. Teils, um ihn hinauszuzögern, teils, um den Schein zu wahren, nahm er selbst einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Als er es absetzte, bemerkte er, dass Toris noch immer reglos auf seinem Stuhl saß und ihn ansah. „Was ist los, Toris?“, fragte Ivan und blinzelte. Toris sah ihn an, dann wieder die klare Flüssigkeit in dem Glas. Er ahnte etwas, schoss es Ivan durch den Kopf. Aber nein, wie sollte er? Die Droge war geschmacks- und geruchlos. Er hatte lange überlegt, was er tun sollte, falls er die Dosis zu hoch oder zu niedrig berechnet hatte – aber was er tun sollte, falls Toris sich weigerte, zu trinken, hatte er nicht überlegt. „Ist etwas, Toris?“ „Verzeihen Sie“, sagte Toris höflich und zwang sich zu einem Lächeln. „Aber mir ist heute Abend nicht nach Alkohol.“ Ivan starrte ihn an und hörte sein Herz rasen. Toris wusste genau, was er vorhatte, und er wollte es verhindern. Es kam Ivan sogar so vor, als wolle er ihn vor sich selbst beschützen, oder vor dem, was er tun wollte. Es gab noch eine Chance, die Sache abzubrechen. Eine Chance, Toris gehen zu lassen und Onkelchens Unzufriedenheit zu riskieren. „Trink es, Toris“, sagte Ivan fest. „Das ist besser für uns beide.“ In Toris' Augen flackerte Angst auf und das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Er hob das Glas, holte tief Luft und sah Ivan direkt in die Augen. Ivan erwiderte seinen Blick. „Wollen Sie das wirklich?“, fragte Toris leise. Ivan hätte ihm gern gesagt, dass es längst keine Rolle mehr spielte, was er wollte, doch er schwieg. Toris nickte sehr langsam. Ebenso langsam streckte er die Hand mit dem Glas aus, kippte es und ließ den Inhalt sorgfältig in einen Blumentopf laufen, der ein Stück weiter stand. Ivans Blick hing wie hypnotisiert an der klaren Flüssigkeit, die in der dunklen Erde versickerte, bis nichts mehr zu sehen war. „Ich werde jetzt gehen“, sagte Toris und stand auf. Noch immer versuchte er, ruhig zu bleiben, aber seine Hände zitterten. Er stellte das Glas auf seinem Stuhl ab und ging einen Schritt rückwärts, ohne Ivan aus den Augen zu lassen. Und dann? Er erinnerte sich an den Teppich, denn alles andere hatte er fleißig zu vergessen versucht. Toris' Anblick hatte er verdrängt oder ihn von vornherein nicht recht ansehen können – gar nichts ansehen können, was Toris war. Er hatte den Boden angesehen, auf dem sie gelegen hatten, Toris und er. Den Teppich vor dem Kamin. Zuvor hatte Ivan das Muster recht hübsch gefunden, zumindest annehmbar für einen Teppich. An diesem Abend lernte er es zu hassen. Der Teppich vor dem Kamin war der hässlichste, den es gab. Ivan hatte Toris immer ein kleines bisschen geliebt, vielleicht auch nur lieben wollen. Er hatte nicht gewollt, dass das eines Tages in etwas so Zerstörerischem enden würde. Aber was er wollte oder nicht wollte, tat schon lange nichts mehr zur Sache. „Woran es nur liegt?“ Er spürte eine Hand auf seiner schweißnassen Stirn, die seine Haare beiseite strich. „Hat die Wunde sich entzündet?“ „Ein wenig.“ Jemand hob den Verband an seinem Arm an, um darunter zu sehen, und Ivan wimmerte leise. „Ich verstehe trotzdem nicht, warum es ihn so mitnimmt“, erklang Yekaterinas hilflose Stimme neben ihm. „Wenn er sich früher verletzt hat, war er immer nach ein paar Tagen wieder darüber hinweg. Er ist von Natur aus robust, und solange es seinem Land nicht schlecht ging, sind seine Wunden immer schnell verheilt. Beängstigend schnell sogar...“ Sie verstummte und strich erneut über seine Stirn. „Vielleicht tut es ihm nicht gut, sich gegen seinen Boss gewandt zu haben“, sagte Eduard. „Glaubst du?“ „Ich weiß es nicht. Es wäre eine Theorie.“ „Vielleicht könnten wir ihn gesund pflegen, wenn die Voraussetzungen nicht so schlecht wären“, sagte Yekaterina verzweifelt. „Aber hier... bei dieser Kälte, und mitten in der Wildnis?“ „Wir sind nicht mitten in der Wildnis“, widersprach Eduard ernst. „Mit einem Tagesmarsch würden wir es auf jeden Fall in die nächste Stadt schaffen.“ „Aber nicht mit Vanya. Selbst laufen kann er jedenfalls nicht... sollen wir ihn vielleicht tragen?“ Yekaterina lachte, aber es klang nicht fröhlich. Eduard schwieg eine Weile lang. „Yekaterina?“, sagte er dann zögernd. „Ja?“ „Du weißt, dass es uns alle entkräftet, zu lange hier zu bleiben. Wenn wir noch länger warten, wird niemand von uns mehr in der Lage sein, es zu Fuß in die nächste Stadt zu schaffen. Es wäre besser, wenn zumindest einige von uns gehen würden, um... Hilfe zu holen.“ Yekaterina schwieg einen Moment lang. „Ich weiß genau, was du eigentlich sagen willst, Eduard“, sagte sie dann leise. Eduard schwieg. „Und die Antwort lautet nein. Ich werde Vanya nicht hier zurücklassen und allein weiter fliehen.“ Sie seufzte tief. „Allerdings kann ich niemanden von euch aufhalten, wenn ihr gehen wollt.“ „Wir werden nicht ohne dich gehen“, sagte Eduard knapp. „Das müsst ihr aber, wenn ihr nicht hier erfrieren oder verhungern wollt. Ich werde bei Vanya bleiben.“ „Und hier mit ihm erfrieren oder verhungern?“ „Ich kann ihn nicht zurücklassen“, sagte Yekaterina fest. „Er ist mein Bruder. Du magst es können, Eduard, denn dir liegt nichts an ihm... obwohl du es ihm zu verdanken hast, dass du fliehen konntest.“ „Bitte verlange nicht von mir, dankbar zu sein“, erwiderte Eduard scharf. „Das Argument zieht schon seit Jahrzehnten nicht mehr.“ „Schade. Dabei wäre es gerade jetzt angebracht.“ „Ivan hat es uns ermöglicht, zu fliehen, aber das hier kann er nicht geplant haben. Weder seine Krankheit, die er nicht voraussehen konnte, noch die Panne mit dem leeren Tank. Glaubst du nicht, es wäre ihm lieber, wenn wir die Flucht ohne ihn fortsetzen, so gut wir eben können?“ „Wo sollen wir denn hin?“, fragte Yekaterina. „Das weißt du auch nicht, Eduard.“ „Glaubst du, Ivan weiß es?“ Sie seufzte tief. „Ich hindere dich an nichts, Eduard, weil ich es ohnehin nicht könnte. Frag Toris und Raivis, ob sie mit dir gehen wollen, und wenn sie es nicht wollen, geh allein. Natalia wird mit mir hier bleiben, das weiß ich jetzt schon. Sie liebt Vanya viel zu sehr.“ „Ich will nicht ohne dich gehen“, sagte Eduard leise. „Ich weiß“, antwortete Yekaterina. „Aber du musst.“ „Du bist die gute Seele der Familie. Wenn wir dich verlieren...“ „Und du bist die Stimme der Vernunft, Eduard. Die Familie kann im Moment besser auf mich verzichten als auf dich.“ „Ich will nicht ohne dich gehen“, flüsterte Eduard noch einmal. Sie waren eine Familie, dachte Ivan, und alle wussten das. Er fragte sich, ob Eduard, wenn ihm an Ivan nichts lag, doch wenigstens auf Yekaterina Rücksicht nehmen würde. Sie war die Mutter der Familie. Einige Sekunden lang blieb Ivan liegen, wie er war, verschwitzt trotz der Kälte, mit einem Kopf, der sich so schwer und voll anfühlte, dass er glaubte, er müsse gleich platzen. Erst nach einer Weile öffnete er mühsam die Augen. Es war dunkler, als er angenommen hatte. „Eduard?“ Eduard zuckte zusammen und sah ihn an. Yekaterina, die immer noch seinen Kopf in ihrem Schoß hielt, riss die Augen auf. „Vanya! Wie geht es dir?“ Ivan lächelte ihr flüchtig zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Eduard richtete. „Du hast völlig recht“, sagte er heiser. „Wir müssen so schnell wie möglich gehen. Wenn wir in der Stadt sind, können wir weitersehen.“ „Aber Vanya!“, sagte Yekaterina erschrocken. „Wie willst du das schaffen?“ „Ich habe gar keine andere Wahl, als es zu schaffen, Katyusha. Wenn ich Eduard gerade richtig zugehört habe, können wir nicht weiterfahren, weil der Tank leer ist. Tragen könntet ihr mich nicht, also muss ich wohl laufen.“ Yekaterina sah ihn mit großen Augen an. Dann schüttelte sie den Kopf und legte eine Hand auf Ivans Stirn. „Vielleicht geht das Fieber bald wieder herunter.“ „Vielleicht auch nicht“, sagte Eduard, biss sich im nächsten Moment auf die Lippe und sah Ivan schuldbewusst an. „Wir können nicht sagen, wie es sich entwickelt“, sagte Ivan, ohne weiter auf ihn einzugehen. „Aber ich werde nicht hier bleiben. Wir müssen hier weg.“ „In deinem Zustand schaffst du es nicht, Vanya.“ „Ich sagte doch gerade, dass ich gar keine andere Wahl habe, als es zu schaffen“, sagte Ivan schroffer, als er gewollt hatte. „Ich warte noch bis morgen früh“, erwiderte Yekaterina kurz entschlossen. „Wenn es dir bis dahin besser geht, Vanya, werden wir zusammen gehen. Wenn nicht... dann müssen wir weitersehen.“ Eduard sah sie an und nickte langsam. „Bis morgen können wir noch warten“, sagte er. „Es ist ohnehin besser, am Morgen loszugehen, um das Tageslicht auszunutzen.“ „Das ist ein Kompromiss“, erwiderte Yekaterina mit einem müden Lächeln. Eduard nickte erneut. „Ich werde den anderen Bescheid sagen“, sagte er und zog die Tür des Wagens auf. „Wo sind die anderen?“, fragte Ivan leise. „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen rausgehen“, antwortete Yekaterina. „Damit du deine Ruhe hast, und damit sie sich nicht anstecken.“ „Sie werden frieren, im Schnee...“ „Hier drinnen ist es mittlerweile auch nicht mehr wärmer“, erwiderte Yekaterina sanft und zog die Decke fester um ihn. „Aber wenigstens ist es trocken. Du musst dich jetzt ausruhen, Vanya, damit es dir morgen früh besser geht.“ Ivan nickte, doch er fragte sich, ob Yekaterina daran glaubte, dass er wieder gesund werden würde. Daran, dass er sich so schnell erholen würde, dass er morgen früh im Stande wäre, mit den anderen zu gehen. Mit einem Tagesmarsch konnte man es in die nächste Stadt schaffen, hatte Eduard gesagt... aber sicher war er davon ausgegangen, dass alle gut zu Fuß waren. Aufhalten würde er die anderen auf jeden Fall, selbst wenn er morgen im Stande wäre, aufzustehen, dachte Ivan. So schnell konnte sein Fieber gar nicht verschwinden. „Mach dir nicht so viele Gedanken, Vanya“, sagte Yekaterina sanft. „Schlaf jetzt.“ Sie legte eine Hand über seine Augen und Ivan musste lächeln. Dasselbe hatte Yekaterina getan, als er noch ein Kind gewesen war und sie ihn dazu hatte bringen wollen, endlich die Augen zu schließen. Es gab noch die Möglichkeit, dass die anderen allein gingen und ihn einfach zurück ließen, dachte Ivan, als seine Gedanken schon träger wurden und sich auf den Schlaf vorbereiteten. Natürlich gab es diese Möglichkeit, aber sie stand außer Frage. Er war es, der die Verantwortung für die Familie übernommen hatte. Er musste mitkommen, ohne ihn ging es nicht. Er würde die anderen nicht gehen lassen, dachte er mit einem Anflug von Trotz. Das war nicht Sinn der Flucht gewesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)