Noch eine Chance von Niekas ================================================================================ Kapitel 11: Falsch verstanden ----------------------------- Nach einer Weile bedächtigen Kauens hatte Yekaterina sich erschöpft gegen einen der Säcke gelehnt und war eingeschlafen. Ivan saß neben ihr, doch er konnte nicht schlafen. Der Zug ruckelte über die Schienen und noch immer war er nicht ganz beruhigt. Wenn es nun an der Grenze eine Inspektion des Wageninhalts geben würde, bei der man sie entdeckte? Er sprach seine Sorge nicht laut aus, hauptsächlich, um eine erneute Panikattacke von Raivis zu vermeiden. Im Moment saß Raivis mit Toris und Eduard in einer anderen Ecke des Waggons. Durch die Dunkelheit hörte man ihre flüsternden Stimmen. „Du hast es nicht geschafft, sie zurückzuhalten“, sagte Eduard gerade. „Ich habe es nicht versucht“, erwiderte Toris leise. „Nicht?“ „Sie wollte gehen. Ich wollte sie nicht aufhalten. Ich wollte mich nur... verabschieden.“ „Weißt du“, flüsterte Raivis ungläubig, „dass du am wenigsten traurig darüber bist, dass sie weg ist?“ „Wie sollte ich traurig sein?“, fragte Toris und lachte leise. „Sie hat mich geküsst.“ „Ja“, bestätigte Eduard trocken. „Weil sie eingesehen hat, dass das die einzige Möglichkeit war, dich loszuwerden.“ „Und wenn schon“, beharrte Toris. „Dass sie mich loswerden wollte, bedeutet doch, dass sie mich in Sicherheit bringen wollte.“ „Sie wollte nur verhindern, dass Ivan noch ein Mitglied seiner Familie verliert. Immerhin liebt sie ihn über alles.“ „Sei nicht so... pessimistisch, Eduard.“ „Und du werde ein bisschen realistischer. Du musst doch...“ „Ich will nichts mehr davon hören“, unterbrach Toris ihn. „Nichts mehr von Natalia.“ „Entschuldige, aber du hast damit angefangen.“ „Wenn Natalia zur Familie gehört“, sagte Raivis besorgt, „ist das dann nicht aber Inzucht, Toris?“ „Ach was. Natalia und ich sind weder blutsverwandt noch angeheiratet irgendwie verwandt, also ist es kein Problem.“ „Und Toris ist Katholik, der weiß schon, was er tut.“ „Lass das, Eduard.“ „Apropos... ich dachte, du wärst mit Feliks verheiratet.“ „Das ist ein paar Jahrhunderte her. Und außerdem sind wir nie mehr als Freunde gewesen.“ „Verzeihung, aber ihr wart verheiratet.“ „Es war eine politische Ehe, nichts weiter. Und jetzt gib endlich Ruhe.“ Ivan schloss die Augen und lehnte sich neben Yekaterina gegen die Wand. Vor dem kleinen Fenster in der Tür des Zuges war es vollständig dunkel. Wo sie wohl gerade waren? Ob dieser Zug auch wirklich nach Polen fuhr, oder ob Eduard sich geirrt hatte? „Ich bin müde“, hörte er Raivis sagen und musste lächeln. Hoffentlich würden wenigstens alle gut schlafen. Schlafen war das Nützlichste, was man tun konnte, wenn man sonst nichts zu tun hatte. Den ganzen Tag lang war Ivan nicht aus seinem Zimmer gekommen. Er hatte sich geweigert, mit irgendjemandem zu sprechen oder etwas zu essen. Als es am Abend an der Tür klopfte, beschloss er, es zu ignorieren. Nach einigen Sekunden klopfte es erneut. Ivan hob den Kopf von der Schreibtischplatte, auf der er ihn abgelegt hatte. „Ich will allein gelassen werden“, sagte er laut und war erschrocken, wie heiser er war. Die kurze Stille, die folgte, wurde von einer leisen Stimme unterbrochen, gedämpft durch die hölzerne Tür. „Ivan? Ich bin es. Toris.“ „Was gibt es?“ „Bitte lassen Sie mich rein“, sagte Toris nur. Er klang sehr niedergeschlagen, dachte Ivan. Kein Wunder. „Also gut“, sagte er, obwohl er selbst nicht genau wusste, warum. Toris öffnete die Tür und schloss sie hinter sich sofort wieder. Er war sehr blass und seine Augen waren gerötet, als habe er geweint. Ivan sah ihn nur kurz an und wandte den Blick dann wieder ab. „Was willst du also?“ Unsicher betrachtete Toris den Boden. „Ich möchte mich entschuldigen“, murmelte er. „Ach ja? Wofür denn?“ „Dafür, dass ich gestern so unhöflich zu Ihnen war. Das hätte ich mir nicht erlauben dürfen. Ich hätte Ihnen verzeihen müssen.“ Ivan lachte freudlos auf. Darum ging es? Aber das war doch so lange her. Das war gestern gewesen, bevor er Raivis weggeschickt hatte, also praktisch in einem anderen Leben. Heute hatte er ganz andere Sorgen. „Lachen Sie nicht“, flüsterte Toris. „Ich meine es ernst.“ „Das glaube ich nicht, Toris“, sagte Ivan mit einem Lächeln. „Du wolltest mir gestern nicht vergeben, und du willst es auch heute nicht. Wie du gestern schon sagtest, ist das dein gutes Recht.“ Toris schwieg. „Also. Was willst du hier?“ „Warum machen Sie es mir so schwer?“, flüsterte Toris. „Was mache ich dir schwer?“, fragte Ivan und zog die Augenbrauen hoch. „Was soll ich noch tun? Ich... ich bitte Sie wirklich...“ „Du hast dir nichts vorzuwerfen, Toris“, sagte Ivan und stand kopfschüttelnd auf, wobei er ihm noch immer den Rücken zudrehte. „Du hast das Richtige getan. Ich bin es, der einen Fehler gemacht hat.“ „Das haben Sie nicht!“, rief Toris und schluchzte auf. „Sie... Sie haben nicht... es war alles meine...“ Verwirrt drehte Ivan sich um und sah, dass Tränen über Toris' Gesicht liefen. „Toris? Was...“ „Ich weiß, dass es meine Schuld war“, brachte Toris hervor, fiel plötzlich auf die Knie und umklammerte Ivans Mantel. „Es... es tut mir so furchtbar Leid.“ „Toris?“, fragte Ivan perplex, der die Situation lächerlich und gleichzeitig alles andere als lustig fand, weshalb er nicht wusste, ob er lachen sollte. „Was...“ „Bitte verzeihen Sie mir. Bitte... ich will alles wieder gut machen. Bitte seien Sie nicht böse, und... und bitte holen Sie Raivis wieder zurück.“ „Raivis?“, wiederholte Ivan tonlos. Toris sah mit Tränen in den Augen zu ihm auf. „Sie können doch nicht einfach... nicht einfach Raivis wegschicken, nur weil ich... es war meine Schuld. Wenn Sie jemanden nach Sibirien schicken, dann mich. Aber nicht Raivis!“ Einer von ihnen, dachte Ivan und starrte Toris an, hatte hier etwas grundlegend falsch verstanden. „Ich wollte das nie!“, brachte Toris hervor. „Ich wollte doch nie, dass Sie meinetwegen Raivis wegschicken! Ich verzeihe Ihnen alles, was Sie wollen, wenn Sie nur Raivis zurückholen!“ Langsam schüttelte Ivan den Kopf. „Du kannst mir nicht verzeihen, Toris“, murmelte er. „Das ist dein gutes Recht, und das hast du gestern klar genug gemacht.“ „A-aber... ich sage doch, ich werde alles tun! Ich werde...“ „Ich kann Raivis nicht zurückholen, Toris“, unterbrach Ivan ihn. „Ich will es gern, glaub mir, aber ich kann es nicht. Du kannst an meinem Mantel zerren, so viel du willst – er kommt nie wieder zurück.“ Und aus irgendeinem Grund musste er lachen, lachen über die Absurdität dieser Situation, während Toris sich zu seinen Füßen zusammenkauerte und in Tränen ausbrach. Sie konnten beide eine ganze Weile lang nicht damit aufhören. Einer von ihnen hatte etwas grundlegend falsch verstanden, dachte Ivan. Vielleicht sogar sie beide. Sein Rücken, mit dem er sich gegen die metallene Wand des Waggons lehnte, war so kalt geworden, dass er schmerzte. Ivans Beine waren verspannt. Seufzend setzte er sich etwas anders hin und sah nach dem Fenster in der Tür. Trübes Licht drang hindurch. „Vanya?“, fragte Yekaterina leise. „Guten Morgen, Katyusha.“ „Guten...“, begann sie, brach aber ab und hustete heiser. „Geht es dir gut?“, fragte Ivan besorgt. „Ich weiß nicht“, murmelte sie und rieb sich die Augen. „Mir ist ein bisschen unwohl.“ „Vielleicht solltest du noch mehr Körner essen.“ „Oh, nein. Ich habe keinen Appetit.“ „Vielleicht sind sie verdorben?“, fragte Ivan und betrachtete den geöffneten Sack. „Ich denke nicht. Sie haben noch eine weite Reise vor sich... es würde mich wundern, wenn sie jetzt schon schlecht geworden wären.“ „Da ist was dran. Vielleicht solltest du dann einfach noch ein wenig schlafen.“ „Ich werde es versuchen“, murmelte Yekaterina. „Ist bei den anderen alles in Ordnung?“ Durch das gedämpfte Licht konnte Ivan sehen, dass Toris, Raivis und Eduard ein Stück näher heran gerückt waren. Der Zug rumpelte über die Schienen und Raivis' Kopf stieß gegen den Boden, doch er wachte nicht auf. Fürsorglich streckte Ivan die Hand aus und zog ihm die Kapuze über den Kopf, damit er es wenigstens etwas weicher hatte. Yekaterina beobachtete ihn dabei und runzelte leicht die Stirn. „Fragst du dich eigentlich nicht, warum Raivis zurückgekommen ist?“ Überrascht wandte Ivan sich um und sah sie an. „Er ist zurückgekommen“, sagte er. „Alles andere ist doch nicht wichtig.“ „Nicht wichtig?“, murmelte sie. „Vielleicht. Aber erstaunlich ist es trotzdem.“ „Manchmal passieren Wunder. Und manchmal braucht man diese Wunder, um etwas zu verändern.“ „Glaubst du, dass es ein Wunder ist?“ „Was denn sonst?“ Yekaterina lächelte ihn an. „Ein Geschenk.“ „Ein Geschenk von wem?“ „Von wem? Nun, das ist die Frage... der einzige, der dir dieses Geschenk überhaupt hätte machen können, wäre wohl...“ „Onkelchen“, fiel Ivan ihr ins Wort. „Aber er war es selbst, der gesagt hat, ich müsste Raivis wegschicken. Warum sollte er ihn jetzt wieder zurückholen?“ „Warum sollte er das tun?“, murmelte Yekaterina und schüttelte leicht den Kopf. „Warum nur? Vielleicht, weil er der Meinung war, Raivis habe seine Zeit abgesessen. Vielleicht wollte er auch... aufräumen.“ „Aufräumen?“, wiederholte Ivan. „Das klingt wie ein seltsamer Grund für eine Entscheidung über Leben und... anderes Leben, das des Lebens kaum wert ist.“ Yekaterina zog die Schultern hoch. „Ich wundere mich nur“, murmelte sie. „Ich mich nicht“, gab Ivan zu und betrachtete Raivis, der ein Stück weiter lag. „Ich bin nur froh, dass er wieder da ist. Wirklich froh.“ Er betrachtete Raivis' geschlossene Augen und streckte die Hand aus, um über seinen Kopf zu streichen. Seine Haare waren etwas gewachsen. In spätestens drei Monaten, schätzte Ivan, würden sie wieder genauso lang sein wie vorher. „Ich habe ihn lieb“, murmelte er und tätschelte Raivis' Kopf. „Wirklich.“ Yekaterina lächelte schwach. „Das ist schön, Vanya.“ Sie setzte sich etwas anders hin, seufzte und schloss die Augen. Ivan für seinen Teil saß noch eine ganze Weile lang da, lächelte in sich hinein und genoss es, dass er Raivis' Kopf streicheln konnte, ohne dass der Junge zitterte oder in Tränen ausbrach. Dass sollte er öfter tun, dachte er. Es tat seiner Seele gut. Er döste einige Male kurz ein, während es immer heller wurde. Nachdem er einmal die Augen geschlossen und gleich wieder geöffnet hatte (so war es ihm zumindest vorgekommen), sah er, dass jemand an den Tür stand. Einen Moment lang wurde ihm eiskalt, bis er die Gestalt erleichtert erkannte. „Hast du ausgeschlafen, Toris?“ Toris zuckte zusammen und sah sich um an. „Ja“, antwortete er leise und lächelte. „Ich fühle mich zwar ein bisschen zerschlagen, aber dafür ausgeschlafen.“ Obwohl er nicht klang, als lüge er, sah er müde aus, fand Ivan. Im Licht, das durch das trübe Fenster fiel, konnte er Toris' Gesicht erkennen. Es hatte noch immer diese weichen, androgynen Züge, die Ivan seit Jahrhunderten kannte. Aber etwas hatte sich in letzter Zeit an seinem Ausdruck verändert. Vielleicht lag es am Mund. Es war, als hätte Toris sich zu oft auf die Lippen gebissen, um etwas, das dringend aus ihm heraus wollte, nach drinnen zu zwingen. „Geht es dir gut?“ „Natürlich“, antwortete Toris überrascht und lachte ein wenig unsicher. „Warum fragen Sie?“ „Weil ich nicht glaube, dass du glücklich bist“, sagte Ivan. Toris wollte wohl etwas dazu sagen, doch dann tat er es doch nicht. Schweigend löste er sich von der Tür, machte einige Schritte durch den Waggon und ließ sich in einigem Abstand zu Ivan nieder, gleich neben Eduard, der die Augen geschlossen hatte. Dort blieb er sitzen und betrachtete die gegenüberliegende Wand, an der es gar nichts zu sehen gab. „Es hat sich etwas verändert“, murmelte Ivan. „Nicht wahr, Toris?“ „Sie sagen das, als hätten Sie nichts damit zu tun“, sagte Toris. „Wie meinst du das?“ Er biss auf seine Lippe, da. Er tat es schon wieder. „Es ist nicht einfach, den Anforderungen gerecht zu werden. Besonders denen, die mein Boss an mich stellt“, sagte Ivan leise. „Du weißt, dass ich keine Wahl hatte.“ „Aber jetzt haben Sie offenbar eine.“ „Wie meinst du das?“ Toris verengte die Augen leicht und sah Ivan von der Seite her an. „Jetzt haben Sie eine Wahl getroffen“, stellte er fest. „Dass Sie mit uns das Haus verlassen haben, wird Ihr Boss Ihnen wohl kaum aufgetragen haben.“ „Nein“, sagte Ivan und lachte unsicher. „Genau das ist das Problem bei der Sache...“ „Also haben Sie doch eine Wahl.“ „Was meinst du damit, Toris?“, fragte Ivan verständnislos. „Worauf willst du hinaus?“ Langsam wandte Toris den Blick wieder ab. „Warum erst jetzt?“, fragte er leise. „Warum schaffen Sie es erst jetzt, sich gegen Ihre eigene Regierung durchzusetzen? Was einmal passiert ist, können Sie jetzt auch nicht mehr gutmachen. Sie hätten sich früher dafür entscheiden müssen, etwas zu tun.“ Ivan blinzelte ihn an. „Aber...“, begann er. „Sie hatten die ganze Zeit über eine Wahl!“, unterbrach Toris ihn und biss die Zähne zusammen. „Sie hätten Raivis nicht nach Sibirien schicken müssen, wenn Sie damals schon mit uns weggelaufen wären. Und Sie hätten mich nicht...“ Er verstummte und schloss kurz die Augen. „Aber ich habe es getan, um dich zu beschützen“, murmelte Ivan mit großen Augen. „Das haben Sie aber nicht geschafft!“, rief Toris und starrte ihn an. „Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was Sie da reden? Um mich zu beschützen...! Sie können sich nicht damit rechtfertigen, dass Sie... Sie können sich überhaupt nicht für so etwas rechtfertigen, Ivan, und eigentlich halte ich Sie für klug genug, das zu wissen! Warum versuchen Sie es trotzdem?“ Erschrocken wich Ivan ein Stück vor ihm zurück. Sein Herz raste. War das noch immer der sanfte, liebe Toris, den er gekannt hatte, oder war er längst durch jemand anderen ersetzt worden und er hatte es nur nicht bemerkt? Es war möglich, dass er eine solche Veränderung nicht bemerkt hatte, dachte er. Seit damals war so viel Distanz zwischen ihnen beiden. „Verzeihen Sie“, flüsterte Toris, dessen Wut genauso schnell verflogen zu sein schien, wie sie gekommen war. Er sah sehr müde aus, als er die Beine anzog und die Arme darum schlang. Seine Hände zitterten. „Verzeihen Sie meinen Ausbruch gerade. Ich wollte nicht... ich dachte...“ „Was sonst soll ich tun?“, unterbrach Ivan ihn. „Was soll ich tun, anstatt mich zu rechtfertigen, Toris? Einfach so zu tun, als wäre das Ganze nie passiert, scheint mir einfach nicht das Richtige zu sein.“ „Sie könnten Reue zeigen.“ „Ich bereue es“, sagte Ivan und bemerkte, dass er ebenfalls zitterte. „Das musst du doch wissen, Toris. So gut musst du mich wenigstens kennen.“ Toris hob den Kopf und betrachtete ihn einige Sekunden lang stumm. „Nein“, widersprach er leise und schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass Sie es bereuen. Sie sehen sich selbst als Opfer, Ivan, als Opfer der Umstände. Aber Sie sollten wissen, dass Sie alles, was Sie getan haben, freiwillig getan haben. Oder... oder zumindest willig getan haben. Verstehen Sie? Sie hätten jederzeit die Chance gehabt, nach Ihrem Gewissen zu handeln anstatt nach dem, was Ihre Regierung wollte. Dass Sie Ihre Chance nie genutzt haben, ist ganz allein Ihre Schuld.“ Ivan wollte schlucken, doch er konnte nicht. Irgendetwas sehr Großes schien in seiner Kehle zu sitzen und ihn daran zu hindern. „Was soll ich tun?“, brachte er nach einer Weile hervor. „Einsehen, dass Sie einen Fehler gemacht haben“, antwortete Toris, ohne nachzudenken. „Sie sollen mir zeigen, dass Sie bereuen, was Sie mir angetan haben... und Raivis übrigens auch.“ „Raivis verzeiht mir.“ „Ich bitte Sie, er ist ein Kind. Er hat keine hohe Moralvorstellung, also macht er sich nicht viele Gedanken über das, was man tun darf und was nicht. Außerdem...“ Toris verzog die Lippen. „Er hat zwei Jahre im Arbeitslager verbracht, lieber Himmel. Gott weiß, was er dort alles erlebt hat. Es ist doch selbstverständlich, dass er erleichtert ist, wieder bei Ihnen zu sein – und das, obwohl Sie es waren, der ihn weggeschickt hat. Alles ist besser, als wenn er noch länger dort geblieben wäre. Im Vergleich zu einigen anderen Männer, die er kennengelernt haben dürfte, müssen Sie ihm ja wie ein Engel vorkommen.“ Ivan spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. „Aber er verzeiht mir“, murmelte er. Toris seufzte kaum hörbar und wandte den Blick ab. „Denken Sie nach“, sagte er beinahe sanft. „Denken Sie einfach darüber nach, Ivan. Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen verzeihe, geben Sie sich ein wenig Mühe. Wenn nicht... dann lassen Sie es bleiben. Mir ist es gleich, was Sie tun.“ „Das ist doch Unsinn“, sagte Ivan und lachte kurz, obwohl ihm nicht zum Lachen war. „Du hättest dieses Gespräch nicht begonnen, wenn es dir gleich wäre, ob du mir verzeihst oder nicht.“ Schweigend betrachtete Toris die Wand und biss erneut auf seiner Lippe herum. Diesmal schaffte er es nicht, das zurückzuhalten, was aus ihm heraus wollte. „Ich habe es angesprochen, weil ich nichts anderes im Kopf habe. Seit sechs Jahren weiß ich nicht mehr, was ich von Ihnen halten soll, Ivan. Vorher habe ich gedacht, Sie wären im Grunde nur ein Kind, das man an die Hand nehmen muss. Aber mittlerweile weiß ich nicht mehr, wer Sie sind. Was Sie sind. Und jetzt... jetzt werde ich bald Feliks wiedersehen und weiß nicht einmal, ob ich mich darauf freuen soll. Er ist mein bester Freund. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen und vermisse ihn wahnsinnig. Aber ich weiß nicht, wie ich ihm gegenüber treten soll. Ich weiß nicht mehr, wie ich ihn behandeln soll, nachdem...“ Er suchte nach Worten, fand keine und schüttelte müde den Kopf. „Und dabei ist er mein bester Freund.“ Ivan legte den Kopf schief. „Aber was passiert ist, hat dich nicht verändert, Toris“, sagte er verständnislos. „Was ist dein Problem? Du bist immer noch genau der Alte.“ „Genau der Alte?“, fragte Toris leise. „Es wäre schön, wenn es so wäre, Ivan. Das wäre wirklich schön.“ Eine Stille legte sich zwischen sie, die Ivan um jeden Preis durchbrechen wollte, doch ihm fiel nichts mehr zu sagen ein. Wieso war es nur so still? Was sollte er zu alledem sagen? Und wie konnten überhaupt die anderen noch schlafen, nach Toris' Ausbruch? „Vanya?“, erklang eine sehr leise Stimme hinter ihm und er fuhr heftig zusammen. „Was ist denn?“ Seine Stimme klang zu laut. Er drehte sich um und bemerkte, dass Yekaterina nach seinem Arm gegriffen hatte. Ihr Gesicht war blasser, als er es je gesehen hatte. „Um Himmels Willen, Katyusha! Was ist denn los?“ Sie versuchte, zu lächeln. „Nichts. Mir ist nur ein wenig... ein wenig schwindlig.“ „Du bist krank“, sagte Ivan und tastete nach ihrer Stirn, auf der der Schweiß stand. „Vielleicht ist es dasselbe, was mir auch passiert ist. Vielleicht...“ „Wir nähern uns der Grenze“, unterbrach Yekaterina ihn leise. „Was... wie meinst du das?“ „Sie hat Recht“, sagte Eduard und Ivan zuckte erneut zusammen, stärker, als er es sich vernünftig erklären konnte. „Woher weißt du das?“, fragte Toris verblüfft. „So hell, wie es ist, dürfte es schon Nachmittag sein. Ich wüsste nicht, dass wir zwischenzeitlich angehalten hätten. Wenn der Zug eine halbwegs gerade Route nimmt, dürften wir wirklich bald die Grenze passieren.“ „Wenn wir da sind“, sagte Ivan und griff nach Yekaterinas Hand, „müssen wir so schnell wie möglich zu Feliks. In ein öffentliches Krankenhaus können wir nicht gehen, sie würden nur dumme Fragen stellen und könnten wahrscheinlich letztendlich auch nichts tun... aber bei Feliks kannst du dich ausruhen, Katyusha.“ „Bist du sicher?“, fragte Yekaterina leise. „Wir werden morgen in Warschau sein“, sagte Eduard. „Ich kenne den Weg zu Feliks“, fügte Toris hinzu, was Ivan einerseits überraschte, andererseits auch wieder nicht. „Es ist nicht mehr weit vom Bahnhof aus. Glaubst du, das schaffst du noch, Yekaterina?“ „Glaubst du?“, fragte Ivan leise. Yekaterina sah ihn an, holte tief Luft und nickte. „Es wird schon gehen“, murmelte sie auf diese ergeben Art und lächelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)