Noch eine Chance von Niekas ================================================================================ Kapitel 15: Ein paar Sekunden Schlaf ------------------------------------ „Weil ich Angst um meine Familie hatte und sie in Sicherheit bringen wollte.“ „In Sicherheit wovor?“ Wäre es dreist, diese Frage ehrlich zu beantworten, oder wäre es noch dreister, gar nicht zu antworten? Ivan biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Der Mann vor ihm sah ihn reglos an. „Wohin wollten Sie sie bringen?“, fragte er. „Ich weiß nicht genau, wohin. Einfach weg.“ „Das glaube ich Ihnen nicht.“ „Wir sind bei Feliks gelandet, weil ich dachte, es wäre ein guter Ausgangspunkt“, erklärte Ivan und wünschte sich, sein Kopf würde nicht so dröhnen, damit er vorher über das nachdenken konnte, was er sagte. „Ich dachte, er könnte uns sicher helfen.“ „Und? Hat er eingewilligt?“ Ivan schwieg. „Hat er eingewilligt?“, fragte der Mann noch einmal und beugte sich vor. „Ich habe ihn überredet“, sagte Ivan. Da er seine Gedanken nicht mehr beisammen halten konnte, beschloss er, ab sofort jeden Satz mit ich zu beginnen. Er würde die volle Verantwortung übernehmen. Das hatte er von Anfang an gesagt. „Wo ist er jetzt?“, fragte der Mann. „Und wo ist...“ Er warf einen kurzen Blick in die Akten vor sich. „Dieser lettische Junge, wo ist der?“ Ivan schwieg. „Sind sie zusammen unterwegs?“ Er sagte nichts, zuckte nur heftig zusammen, als der Mann auf den Tisch schlug. „Antworten Sie!“ „Ich weiß nicht, wo die beiden sind“, antwortete Ivan wahrheitsgemäß. „Wir wurden getrennt.“ Der Mann legte die Stirn in tiefe Falten. „Sicher gab es irgendeinen Plan. Wohin wollten Sie als nächstes fliehen?“ „Es gab keinen Plan.“ „Das glaube ich Ihnen nicht.“ „Es ist die Wahrheit.“ „Haben Sie irgendeine Vermutung, wo die beiden jetzt sein könnten?“ „Nein.“ „Denken Sie nach“, sagte der Mann scharf. „Ich kann nicht“, antwortete Ivan wütend, bevor er die Worte zurückhalten konnte. „Wenn ich nicht seit zwei Tagen nicht geschlafen hätte, könnte ich vielleicht auch noch klar denken.“ Der Mann sah ihn an, und Ivan gab sich Mühe, seinem Blick stand zu halten. Seine Augen brannten vor Müdigkeit. „Versuchen Sie, trotzdem nachzudenken“, sagte der Mann langsam und stand auf. „Das Verhör ist beendet“, erklärte er dem Gehilfen, der im Hintergrund saß und mitschrieb. „Wir sprechen uns später wieder.“ „Warten Sie!“, sagte Ivan, bevor der Mann den Raum verließ. Mit etwas wie Belustigung auf dem Gesicht drehte er sich wieder um. „Ja?“ Ivan schluckte einige Male, bevor er die Frage stellen konnte. „Wie geht es den anderen?“ „Den anderen?“, wiederholte der Mann und tat, als würde er nicht verstehen. „Wo ist Natalia?“, platzte Ivan heraus. „Und was ist mit den anderen passiert? Sind sie hier? Geht es ihnen gut?“ Der Mann zog eine Augenbraue hoch. Er würde ihm nichts sagen, dachte Ivan verzweifelt, gar nichts. Seit zwei Tagen, seitdem sie Natalia von seinem Bett abgeführt hatten, war es dasselbe: Niemand sagte ihm etwas. Die Zeit fühlte sich nicht an wie zwei Tage, weil sie ihm seitdem nicht mehr erlaubt hatten, zu schlafen. Sie fühlte sich an wie eine Ewigkeit, isoliert von allen, die er liebte. Langsam begannen die Einsamkeit und die Müdigkeit ihren Tribut zu fordern. „Das können Sie später erfahren“, sagte der Mann nur und drehte ihm wieder den Rücken zu. „Wenn Sie sich bereit erklären, mit uns zusammen zu arbeiten.“ „Ich tue mein Bestes, um mit Ihnen zusammen zu arbeiten!“, rief Ivan und spürte, wie ihm die Tränen kamen. Ungewöhnlich hohe Emotionalität war eine weitere unangenehme Folge seines Schlafmangels. Der Mann zog die Augenbrauen hoch. „Einer von ihnen“, sagte er dann, in einem Ton, als sei es ihm zufällig gerade eben eingefallen. „Der Este. Er wollte sich seiner Verhaftung entziehen und wurde dabei niedergeschossen.“ Ivan riss die Augen auf. „Eduard? Aber... w-wie geht es ihm? Wo ist er jetzt?“ Doch der Mann antwortete nicht mehr, drehte ihm den Rücken zu und verließ den Raum. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Ivan nahm kaum wahr, wie jemand ihn an den Armen packte und von seinem Stuhl hochzog. Sein Herz raste so sehr, dass ihm immer wieder schwarz vor Augen wurde. Eduard. Niedergeschossen. Aber warum? Stimmte es überhaupt, was der Mann ihm erzählte? Konnte er ihm glauben? Oder hatten sie sich diese Geschichte nur ausgedacht, um ihn unter Druck zu setzen? Ein beängstigend logischer Gedanke wühlte sich durch das Durcheinander in seinem Kopf: Wenn sie beschlossen hätten, ihn anzulügen, hätten sie von Natalia oder Yekaterina erzählt. Die beiden waren immerhin Ivans Schwestern. Sich etwas über Eduard auszudenken, ergab keinen Sinn, also war es wahrscheinlich die Wahrheit. Die Männer konnten nicht wissen, wie tief Ivans Familiengefühl ging. So tief, dass er keinen Unterschied mehr zwischen seinen Schwestern und seinen Butlern machte? Er konnte sich diese Frage selbst nicht beantworten. Eine Tür wurde geöffnet und jemand schob ihn in die kleine Zelle dahinter. Es gab kein Bett, und sie machten sich nicht die Mühe, ihm die Handschellen abzunehmen. Die Neonröhre unter der Decke flackerte. Die Tür wurde unter einigem Scharren von außen verschlossen, dann war es still. Ivan lehnte sich mit dem Rücken gegen die kahle Wand und rutschte daran herunter, bis er auf dem Boden saß. Er zog die Knie an, legte den Kopf darauf und schloss die Augen gegen das Licht, das in kurzen Abständen grell aufleuchtete und wieder erlosch. Nichts sehen, im Dunkel sein, zur Ruhe kommen. Nur zwei Minuten, nur ein paar Sekunden Schlaf, bevor jemand kam und ihn weckte. Nur ein paar Sekunden Schlaf. „Warum haben Sie das getan?“ „Es war ein Befehl von meinem Boss. Es war seine Idee, Eduard.“ Eduards Augen weiteten sich leicht und er senkte den Kopf. „Ach“, sagte er leise. „Ihr Boss also.“ „Was überrascht dich daran?“, fragte Ivan müde. „Er hat schon vorher bewiesen, dass er skrupellos ist, wenn es darum geht, seine Ziele zu erreichen.“ Eduard wiegte den Kopf hin und her. „Aber das war nicht derselbe“, sagte er zögernd. „Nicht derselbe?“, wiederholte Ivan verdutzt. „Ihre Herrscher wechseln doch von Zeit zu Zeit. Ich hatte eigentlich gehofft, dieser hier wäre... anders.“ „Anders?“, fragte Ivan, lachte leise und schüttelte den Kopf. „Nein. Sie sind alle gleich, Eduard, einer wie der andere. Sie mögen feine Unterschiede haben, aber letztendlich läuft es immer auf dasselbe hinaus.“ Eduard senkte den Blick, ohne noch etwas dazu zu sagen. Ivan seufzte leise und nahm einen Schluck von seinem Tee. „Es ist schon so spät. Sag Toris und...“ Er hatte Raivis sagen wollen, verbiss es sich aber im letzten Moment. „Sag Toris, dass ihr ins Bett gehen dürft. Gute Nacht.“ „Gute Nacht, Ivan“, murmelte Eduard. „Schlafen Sie gut.“ Er wollte schlafen, er wollte nicht aufwachen, aber jemand rüttelte grob an seinen Schultern, sodass sein Kopf hin und her geworfen wurde. Eine Stimme redete mit ihm, laut und barsch, aber er konnte sie nicht verstehen. Sie sollten nur aufhören, mit ihm zu sprechen und ihn zu schütteln. Er wollte schlafen. Jemand schlug ihn ins Gesicht und Ivan riss die Augen auf. Vor sich sah er nichts als eine weitere kahle Wand der Zelle, doch das Bild war verschwommen. Angst durchflutete ihn und er fühlte sich noch schutzloser, als er es sowieso immer direkt nach dem Aufwachen tat. Sein Kopf war von dem Schlag zur Seite geworfen worden, seine Wange brannte. Es war so hell, schoss es ihm durch den Kopf. Das Licht flackerte nicht mehr. „Was soll das?“, erklang eine Stimme ein Stück weit über ihm, die er nicht kannte. Sie klang wütend. Ivan wollte nicht, dass jemand wütend auf ihn war. Das war nicht gut. „Er ist jetzt wach“, antwortete eine andere Stimme näher bei ihm. Diese Stimme kannte er. Es war irgendeiner der Männer, die hier arbeiteten. Die, die ihn nicht schlafen ließen. Die erste Stimme erklang wieder, doch Ivan verstand nicht, was sie sagte. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Sein Kopf schwamm. Müde war er zwar nicht mehr, aber noch immer konnte er vor Angst nicht klar denken. Wie schön wäre es, endlich seine Gedanken wieder ordnen zu können. Endlich ausschlafen zu können und an einem Ort aufzuwachen, an dem es keine bösen Männer gab und an dem man keine Angst haben musste. „Sie wissen genau, wer er ist“, sagte die fremde Stimme ungehalten. „Wie wäre es mit ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl?“ Ivan blinzelte und drehte vorsichtig den Kopf, um die beiden Männer anzusehen. Der eine von ihnen stand auf und entfernte sich ein Stück. Stattdessen kam der zweite näher, der, den Ivan nicht kannte. Er ging vor ihm in die Hocke, und Ivan wäre zurückgewichen, wenn er nicht ohnehin schon mit dem Rücken zur Wand gesessen hätte. „Guten Morgen“, sagte der Mann. Ivan blinzelte ihn an. Morgen? Aber er war so müde. Es war doch mitten in der Nacht. „Kannst du mich verstehen?“ „Ja“, antwortete Ivan langsam. Er hörte die Stimme und verstand die Worte, aber er musste sich sehr konzentrieren, um ihnen einen Sinn entnehmen zu können. „Es freut mich, dich kennenzulernen“, sagte der Mann. „Mich freut es auch, Vä...“ Er hatte Väterchen sagen wollen, weil der Mann ihn dunkel an irgendjemanden erinnerte, konnte sich aber im letzten Moment beherrschen. Es war ihm ein absolutes Rätsel, welche Beziehung er zu diesem Mann hatte und wie er ihn ansprechen sollte. Wieso duzte er ihn überhaupt? „Es wäre mir lieber gewesen, unser erstes Treffen hätte unter angenehmeren Umständen stattgefunden.“ Der Mann wirkte ehrlich bedauernd. „Dass es ausgerechnet hier sein muss...“ Ivan sah ihn an und verstand nicht recht, was er meinte. „Wer sind Sie?“, fragte er zögernd. Der Mann zog die Augenbrauen hoch. „Entschuldige, dass ich mich nicht vorgestellt habe. Aber ich hatte gedacht, du würdest deinen eigenen Regierungschef auch so erkennen.“ „Meinen...“, begann Ivan und riss die Augen auf. Sein Herz setzte einen Schlag aus. „Aber... ich dachte, er wäre... er wäre...“ „Es ist viel passiert, während du weggelaufen bist“, erklärte der Mann knapp. „Das erste, was ich nach meinem Amtsantritt erfahren musste, war das, was du getan hast. Ich hätte mir einen schöneren Einstand vorstellen können.“ „Es tut mir Leid“, murmelte Ivan automatisch, konnte aber den Blick nicht von dem Mann vor ihm lassen. Das sollte sein neuer Boss sein? Er war so müde, dass er nicht wusste, was er von dieser Entwicklung halten sollte. Wenn er doch nur hätte nachdenken können. Sein neuer Boss betrachtete ihn eine Weile lang prüfend und stand dann auf. „Du siehst wirklich müde aus“, sagte er. „Du solltest dich ausruhen. Danach können wir reden.“ „Worüber reden?“ „Ich sollte dich persönlich kennenlernen. Natürlich bin ich sehr beschäftigt und hatte bisher nicht viel Zeit, mich um dich zu kümmern... das ist bedauerlich. Ich hätte früher nach dir sehen müssen.“ „Kein Problem“, murmelte Ivan. Der Mann lächelte dünn. „Ich komme morgen wieder“, sagte er und wandte sich ab. „Warten Sie!“, sagte Ivan hastig. „Was ist mit den anderen? Was ist mit meiner Familie?“ „Deine Familie“, wiederholte sein Boss nachdenklich. „Sind sie das? Ich habe mich noch nicht nach ihnen erkundigt, aber ich kann es jetzt tun, wenn du es willst.“ „Ja“, sagte Ivan und nickte stürmisch. „Bitte.“ „Ich werde mich um alles kümmern. Du wirst dich jetzt erst einmal ausruhen. Lauf nicht wieder weg und tu, was man dir sagt, dann wird dir niemand etwas tun. Hast du gehört?“ Ivan nickte. Sein Boss wandte sich ab und rief irgendetwas durch die Tür auf den Gang hinaus. Kurz darauf kamen einige der Männer, die Ivan schon kannte. Sie führten ihn in einen anderen Raum, der wenig größer war als der vorherige und nur ein winziges, vergittertes Fenster hatte – dafür aber ein Bett. Jemand nahm ihm die Handschellen ab und Ivan ließ sich fallen, einfach nach vorn auf das Bett fallen. Er hörte nicht einmal mehr, wie die Tür hinter ihm verriegelt wurde. Das Kissen roch ein wenig muffig, aber es gab ein Kissen. Es gab eine Decke, die er nicht einmal über sich zog, weil er zu müde dafür war. Später, dachte er, als seine Gedanken sich schon verabschiedeten. Später vielleicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)