Noch eine Chance von Niekas ================================================================================ Kapitel 16: Ein Mitglied der Familie ------------------------------------ Die Sonne schien durch das vergitterte Fenster. Ungläubig hob Ivan den Kopf. Es gab die Sonne also tatsächlich noch, obwohl er seit Tagen nichts mehr von ihr gesehen hatte. Es gab sie noch. „Du bist wach.“ Er zuckte zusammen und stützte sich hastig auf die Ellbogen hoch. Sein Boss saß neben seinem Bett und betrachtete ihn so, als tue er es schon seit einer ganzen Weile. „Guten Morgen“, sagte Ivan. Ein Lächeln zuckte um die Lippe des Mannes. „Es ist schon zwei Uhr am Nachmittag. Bist du ausgeschlafen?“ „Ja“, antwortete Ivan und lächelte. „Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.“ Er setzte sich auf, zupfte an seinem Hemd und strich über seine Haare, damit sie halbwegs glatt lagen. Sein Boss ging nicht auf seine Worte ein. „Wir müssen über das reden, was passiert ist“, sagte er und klang plötzlich ernster, als Ivan ihn bisher kennengelernt hatte. „Ja“, antwortete Ivan und senkte den Blick. „Das müssen wir.“ „Ich habe mit dem Rest deiner Familie gesprochen. Und ich habe...“ „Wie geht es ihnen?“, unterbrach Ivan ihn angespannt. Sein Boss verengte die Augen leicht. „Du scheinst deine Familie sehr zu lieben“, stellte er fest. „Ja“, antwortete Ivan, ohne nachzudenken. „Sie ist immer für mich da, damit ich nicht allein bin. Ich bin nicht gern allein.“ „Du hast zu Protokoll gegeben, du hättest die Flucht nur unternommen, um deine Familie in Sicherheit zu bringen.“ „Ja.“ „Einer der Männer, sein Name ist Boris oder so ähnlich...“ „Toris“, verbesserte Ivan und dachte, sein Boss müsse schon ein viel beschäftigter Mann sein, wenn er sich die Vornamen seiner Nationen nicht merken konnte. „Du weißt, von wem ich spreche. Er hat mir jedenfalls die abenteuerlichsten Dinge erzählt. Ihr wärt mit dem Auto liegen geblieben und hättet während eines Schneesturms eine Nacht in einer verlassenen Hütte verbracht...“ „Ja, das haben wir. Es gab keine andere Möglichkeit.“ „Es war gefährlich. Jemand hätte zu Schaden kommen können.“ „Es war recht anstrengend für uns alle“, gab Ivan betreten zu. „Ja. Und wozu das Ganze? Wenn du deine Familie so liebst, wieso bringst du sie dann in Gefahr?“ „Ich wollte sie beschützen! Ich wollte...“ „Beschützen?“, wiederholte sein Boss und runzelte die Stirn. „Aber es ging euch sehr gut in eurem Haus. Ihr hattet alles, was ihr brauchtet.“ „Aber...“ „Willst du deine Familie wirklich beschützen, Ivan? Willst du das tun, was am Besten für sie ist?“ „Natürlich“, antwortete Ivan hilflos. „Ich wollte nie etwas anderes.“ „Dann schlage ich vor, du sorgst dafür, dass ein solcher Fluchtversuch nie wieder vorkommt. Wenn du je wieder deine Familie in Gefahr bringst oder zulässt, dass sie selbst es tut...“ „Was ist mit Raivis?“, fragte Ivan mit wild schlagendem Herzen. „Der Junge, der noch fehlt? Wir werden ihn finden und ihn nach Hause bringen.“ „Das meine ich nicht. Raivis war in Sibirien.“ Sein Boss zog die Augenbrauen hoch. „War er das? Es wird wohl eine gerechtfertigte Maßnahme gewesen sein. Wenn er seine Strafe verbüßt hat, kann er wieder zurückkommen.“ „Aber...“, begann Ivan. „Glaubst du nicht, du hast ihn noch mehr in Gefahr gebracht, indem du ihn zu dieser gefährlichen Flucht verführt hast?“ „Aber...“, versuchte Ivan es noch einmal. „Schluss damit“, schnitt der Mann ihm das Wort ab und wirkte plötzlich nicht mehr so freundlich, wie Ivan ihn kennengelernt hatte. „Wenn du dich noch einmal völlig unnötig so in Gefahr begibst, wird das Konsequenzen haben.“ „Was für Konsequenzen?“, wagte Ivan zu fragen. Sein Boss schwieg einen Moment lang. „Diesmal wird deine Familie noch zusammen bleiben“, sagte er. „Wir werden euch alle wieder nach Hause schicken. Du liebst deine Familie sehr, nicht wahr, Ivan?“ „Mehr als alles andere“, flüsterte Ivan. „Dann solltest du auf sie Acht geben und dich nicht mehr gegen uns stellen. Beim nächsten Mal wird deine Familie mindestens ein Mitglied verlieren. Vielleicht auch mehr.“ Ivans Herz raste. „Du darfst wählen, wen du wegschickst.“ „Ich weiß nicht, wen“, sagte Ivan und tastete nach seinem Schal, auf der Suche nach ein wenig Trost. Der Schal war nicht mehr da. Wahrscheinlich hatten sie ihn ihm abgenommen, um zu verhindern, dass er sich damit erhängte. Als ob Ivan das jemals getan hätte – der Schal war ein Geschenk von Yekaterina gewesen. „Bitte... ich will niemandem von ihnen wehtun.“ „Dann solltest du vernünftig sein und tun, was wir sagen.“ Ivan schluckte und senkte den Blick. Er hatte verloren. Entweder gab er klein bei, oder er riskierte, dass ein Mitglied seiner Familie für den Ungehorsam aller bezahlen würde. Letzteres wollte er um alles in der Welt verhindern. Es gab niemanden in seiner Familie, dem er es zumuten wollte, stellvertretend für alle anderen irgendeine Strafe auf sich zu nehmen. Oder? „Die Wachen um dein Haus herum werden verstärkt werden. Es ist selbstverständlich alles zu deinem Schutz. Deine Sicherheit und die deiner Familie ist das höchste, was es zu beschützen gilt. Wir sorgen dafür, dass kein Feind von außen euch gefährdet, und deine Aufgabe ist es, die Feinde von innen auszuschalten. Bist du damit einverstanden?“ Ivan nickte, doch er fühlte sich seltsam taub. Als sein Boss aufstand und die Zelle ohne ein weiteres Wort verließ, fiel ihm plötzlich auf, dass er seit dem Beginn seiner Flucht immer, wenn er geschlafen hatte, auch geträumt hatte. Er hatte so viele Träume gehabt in letzter Zeit, dachte Ivan. Aber jetzt gerade hatte er mehr als einen ganzen Tag lang geschlafen und gar nichts geträumt. Es war, als seien seine Träume restlos aufgebraucht. „Willst du nicht langsam zu Bett gehen, Vanya?“ Es war genau dasselbe, dachte Ivan. Genau wie vorher. Das Wohnzimmer, das leise Knacken des Feuers, die Dunkelheit vor den Fenstern. Der Zaun und die Wächter draußen am Tor. Der hässliche Teppich vor dem Kamin. „Ich bin nicht müde, Katyusha. Ich werde noch eine Weile hier sitzen.“ Yekaterina senkte den Blick, streckte die Hand aus und drückte seine Schulter. Sie sagte nichts, aber ihre Hand war warm. Ivan tastete nach ihren Fingern, ließ den Arm dann wieder sinken und seufzte tief. „Geht ins Bett und lasst mich allein.“ „Gute Nacht“, murmelte Yekaterina, und Natalia nickte. Sie gingen hinaus und ließen ihn allein, wie er es gewollt hatte. Nein: Wie er es gesagt hatte. Wollen war etwas anderes. Die letzten Wochen waren schnell und gleichzeitig quälend langsam vergangen. Sie sprachen weniger miteinander als vorher, überlegte Ivan. Yekaterina war unheimlich still geworden, ähnlich wie Natalia, die er kaum noch zu Gesicht bekam. Erst vor vier Tagen war Eduard wieder zu ihnen gestoßen, nachdem die Kugel, die ihn angeschossen hatte, seine Lunge beschädigt hatte. Er hatte zu hastig versucht, wieder auf die Beine zu kommen, geriet oft außer Atem und wechselte kaum ein Wort mit Ivan. Unter dem Dach dieses Hauses hielt er sich mit jeder Kritik zurück. Toris gab als Einziger sein Bestes, um die Stimmung ein wenig aufzulockern, war geduldig und fleißig und einfühlsam und konnte nachts nicht schlafen. In der letzten Nacht hatte Ivan ihn sehr lange beten hören. Was ihn selbst anging, so vergingen seine Tage wie schlechte Träume, einer nach dem anderen. Nachts, wenn er schlief, träumte er nicht. Ivan wünschte sich, er könnte die Zeit zurückdrehen. Er wünschte, er könnte gleich in die Küche gehen und Raivis würde neben der Hintertür sitzen. Er würde diesen furchtbaren Mantel tragen und völlig abgemagert sein, aber wenigstens wäre er da. Er vermisste Raivis, sogar mehr als in den zwei Jahren zuvor. Damals hatte er gewusst, dass es für Raivis gar nicht noch schlimmer kommen konnte, als es ohnehin schon war. Diesmal fürchtete er sich jeden Tag vor der Nachricht, die er bekommen könnte. Was, wenn sie Raivis wieder aufgriffen? Selbst wenn sie ihm nichts tun würden, was Ivan inständig hoffte, würde er völlig verängstigt sein. Schon das war etwas, was Ivan ihm lieber ersparen würde. Wenn er selbst Raivis Angst machte, war das etwas anderes, als wenn andere es taten. Und wenn sie Raivis nun doch irgendetwas antaten... Er liebte seine Familie, hatte er seinem Boss gesagt – dabei hatte er einige von ihnen verletzt, natürlich. Aber wenn jemand anderes seiner Familie wehtun würde, hätte er keinen Einfluss mehr darauf, und das konnte er nicht zulassen. Er würde nicht die Schuld einem von ihnen zuschieben, einem einzelnen, der die Konsequenzen für das Handeln von allen tragen müsste. Und deswegen konnte er nichts tun, dachte Ivan. Er konnte nicht noch einmal weglaufen. Es gab kein Mitglied der Familie, das diese Verantwortung tragen könnte. Oder, überlegte er und legte die Stirn in Falten, gab es da eines? Er zuckte zusammen, als er ein Geräusch hörte. Es klang, als wäre es aus der Küche gekommen. Langsam stand Ivan auf und stellte seine Teetasse auf einem kleinen Tisch neben sich ab. Hatte er wirklich etwas gehört, oder hatte er es sich eingebildet? Der Flur war so dunkel, dass man gerade so die Türen erkennen konnte. Ivan betrat die Küche und tastete atemlos nach dem Lichtschalter. Die Lampe unter der Decke flammte auf. „Raivis?“ Hastig suchte er den Raum mit den Augen ab, den Tisch, den Herd, bis in die hinterste Ecke. Zuerst war niemand zu sehen, doch dann erkannte er eine Bewegung. Aufgeregt machte er einen Schritt in die Küche hinein, blieb dann aber enttäuscht wieder stehen. Es war nur sein Spiegelbild gewesen, das sich bewegt hatte. Aus der dunklen Fensterscheibe heraus blinzelte er sich selbst an. Er sah, wie sich seine Augen weiteten, als sei ihm gerade ein Gedanke gekommen. Langsam, sehr langsam zog ein Lächeln über sein Gesicht. Er öffnete die Tür, ohne sich zu bemühen, leise zu sein. „Toris, Eduard. Steht auf.“ Eduard setzte sich auf und starrte Ivan an. Sein Gesicht war noch immer schmal und blass. „Was ist passiert?“ Ivan lächelte nur und legte den Finger auf die Lippen. „Nicht so laut. Ihr müsst leise sein.“ „Warum?“, fragte Toris. „Ist Raivis wieder da?“ „Nein.“ In dem wenigen Licht, das vom Flur herein fiel, konnte er sehen, dass Toris und Eduard ihn anstarrten. „Nein“, wiederholte Ivan und lächelte. „Und das ist auch gut so. Ihr müsst gehen. Ihr werdet noch einen Fluchtversuch unternehmen, und diesmal wird er gelingen.“ „Wieso sollte es diesmal funktionieren?“, fragte Eduard fassungslos. „Warum“, fragte Toris etwas leiser, „sagen Sie, ihr müsst gehen?“ „Weil es das ist, was ihr tun werdet“, antwortete Ivan. „Ich werde hier bleiben und so tun, als wäre alles in Ordnung. So schnell wird niemand bemerken, dass ihr nicht mehr hier seid, dafür werde ich sorgen.“ „Aber...“, begann Eduard mit großen Augen. „Tut, was ich euch sage“, unterbrach Ivan ihn. „Weckt Natalia und Yekaterina. Ihr kennt das Spiel noch vom letzten Mal.“ Eduard nickte, schlüpfte aus seinem Bett und verließ hastig das Zimmer. Toris blieb noch einen Moment sitzen, bevor er die Decke beiseite schob und aufstand. „Meinen Sie das ernst?“, fragte er leise. „Natürlich meine ich das. Es ist die einzige Möglichkeit.“ Toris legte den Kopf schief. „Wir könnten alle zusammen fliehen“, sagte er. „Wir könnten noch einmal versuchen...“ „Nein“, sagte Ivan und schüttelte den Kopf. „Onkelchen hat sich klar genug ausgedrückt. Für den nächsten Fluchtversuch wird ein Mitglied dieser Familie büßen müssen. Ich darf entscheiden, wer.“ „Und?“, fragte Toris. „Für wen werden Sie sich entscheiden?“ Ivan lächelte. „Du bist doch sonst so ein kluges Köpfchen, Toris. Ich habe mich längst entschieden.“ Toris' Augen weiteten sich leicht. Er sah Ivan an, als sähe er ihn zum ersten Mal, und suchte anscheinend nach Worten. „Und jetzt geh“, sagte Ivan und deutete auf die Tür. „Ihr müsst hier weg. Ich übernehme die volle Verantwortung.“ „Das haben Sie beim letzten Mal auch gesagt“, erwiderte Toris. „Nur hatte ich damals das Gefühl, Sie wüssten nicht recht, was Verantwortung überhaupt bedeutet.“ Er dachte kurz nach, gab sich dann einen Ruck und ging an Ivan vorbei. An der Tür hielt er noch einmal inne. „Was ist los, Toris? Beeil dich.“ „Wissen Sie...“, murmelte Toris und sah sich zu ihm um. Plötzlich wirkte er unsicher. „Ja?“ „Wissen Sie noch, dass ich Ihnen gesagt habe, bevor ich Ihnen verzeihen kann, müssten Sie sich ein wenig Mühe geben?“ „Ja“, antwortete Ivan leise. „Ich erinnere mich.“ Vielleicht wollte Toris lächeln, aber vielleicht war es auch nur ein Zucken um seine Mundwinkel, ein Zittern in der Kälte. Er nickte Ivan zu, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging. (An alle, die bis hierhin durchgehalten haben – herzlichen Glückwunsch und vielen, vielen Dank fürs Lesen dieser Fanfic. Ich hoffe sehr, ihr habt eine schöne Zeit gehabt. Liebe Grüße, vielleicht liest man sich ja nochmal. Ich verbeuge mich tief. Vorhang, bitte.) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)