Noch eine Chance von Niekas ================================================================================ Kapitel 1: Rückkehr ------------------- Du hast gedacht: "Ach, ich werde niemals das Licht sehen" – aber du hattest Unrecht. Du bist einfach zu Licht geworden. (ein bisschen frei übersetzt nach Gabriel Rios, "Ghostboy") „Willst du nicht langsam zu Bett gehen, Vanya?“ Überrascht hob Ivan den Kopf und sah Yekaterina an. Ihr Gesicht wirkte sehr müde im Licht des Feuers. Die Falten, für die sie eigentlich viel zu jung war, warfen scharfe Schatten. „Nein“, sagte Ivan und lächelte. „Ich bin nicht müde, Katyusha. Geht ihr ruhig schlafen. Morgen ist wieder ein langer Tag.“ „Bist du sicher?“ „Natürlich. Geht ihr nur.“ Yekaterina nickte und wandte sich ab. Hinter ihr stand Natalia, die die Stirn gerunzelt hatte. „Geht es dir gut, Vanya?“ „Es geht mir ausgezeichnet“, erwiderte Ivan munter. „Gute Nacht.“ „Gute Nacht“, sagte Yekaterina. Natalia murmelte ebenfalls etwas und bedachte Ivan mit einem nachdenklichen Blick, bevor sie sich umdrehte und den Raum verließ. Seufzend streckte Ivan die Beine aus und nahm einen Schluck von seinem Tee. Das Feuer im Kamin war schon fast herunter gebrannt. Er würde kein Holz nachlegen, dachte er. Er würde warten, bis das Feuer erlosch. Vielleicht würde er sich danach endlich überwinden können, ins Bett zu gehen. „Geht es Ihnen gut?“ Diese Frage bekam er heute Abend entschieden zu oft gestellt, dachte Ivan. Es wurde Zeit, dass das ein Ende hatte. „Ich sagte schon, dass es mir gut geht, Eduard. Geht jetzt ins Bett, Toris und du.“ Eduard schob seine Brille zurecht, nickte stumm und zog sich wieder von der Tür zurück. Sollten sie doch alle schlafen gehen, dachte Ivan. Er selbst würde hier sitzen bleiben. Er wollte nicht schlafen gehen. Wenn er einschlief, würde er am nächsten Morgen wieder aufwachen und ein neuer Tag würde beginnen. Ivan wollte nicht, dass ein neuer Tag begann. Natürlich wusste er, dass so oder so ein neuer Tag kommen würde, egal, ob er schlief oder nicht. Aber müde war er ohnehin nicht. Warum sollte er es also nicht ausprobieren, den neuen Tag noch ein wenig aufzuschieben? Ja, er würde lieber hier sitzen bleiben und den hässlichen Teppich vor dem Kamin betrachten. Er leerte seine Tasse, stand auf und ging in die Küche, um nachzusehen, ob es dort noch mehr Tee gab. Zu seiner Enttäuschung war die Kanne auf dem Herd schon leer. Da er noch immer kein bisschen müde war, beschloss er, neuen Tee zu kochen. Der Abend würde noch lang werden. Als das Wasser gerade kochte und er den Tee aufgoss, hörte er etwas hinter sich. Es klang beinahe, als würde eine Tür geöffnet. Im Glauben, sich das Geräusch eingebildet zu haben, legte er den Deckel auf die Kanne und drehte sich um, um eine kleine Gestalt zu sehen, die neben der Tür auf einem Hocker saß. Ivan zuckte zusammen. Also hatte er doch die Tür gehört? Die Hintertür in der Küche war nie abgeschlossen, denn das Haus wurde ohnehin gut genug bewacht. Niemand, der hier nichts zu suchen hatte, kam auch nur auf das Grundstück. Aber jetzt saß jemand in seiner Küche. Jemand, der nicht hierher gehörte. „Wer da?“, fragte er und tastete vorsorglich nach dem Nudelholz. Die kleine Gestalt erhob sich hastig von dem Hocker, der mit einem Quietschen über den Boden rutschte. Sie zitterte leicht. „Ich bin es nur. Raivis.“ Ivan riss die Augen auf. Seine Hand wich langsam wieder von dem Nudelholz zurück. „Raivis? Aber... wie kommst du denn hierher?“ „Sie haben mich gehen lassen“, erklärte Raivis hastig. „Ich bin nicht weggelaufen, Sie brauchen mich also nicht zu melden oder so! Ich... sie haben gesagt, ich könnte jetzt gehen.“ Noch immer nicht sicher, ob das hier ein Traum war, schaltete Ivan die Lampe über dem Küchentisch an und trat auf Raivis zu. Raivis blinzelte in das plötzliche Licht und hob einen Arm als Schutz vor seine Augen. Er trug einen viel zu großen Mantel, den Ivan nicht an ihm kannte. Sein Gesicht war dreieckig und eingefallen, wodurch seine Augen unnatürlich groß wirkten. „Was ist passiert?“, flüsterte Ivan und streckte eine Hand nach ihm aus, um seinen Kopf zu tätscheln. „Was... hast du mit deinen Haaren gemacht?“ Das war nur eine der unzähligen Fragen, die wirr seinen Kopf füllten, aber es war die erste, die sich aus dem Durcheinander löste und die er formulieren konnte. Ungläubig betastete er die kurzen, sandbraunen Stoppeln auf Raivis' Kopf. Raivis beäugte seine Hand. „Ab“, antwortete er schlicht. Ivan starrte ihn an. „Wegen der Läuse“, erklärte Raivis. „Denke ich mal. Haben sie jedenfalls gesagt.“ Langsam ließ Ivan die Hand wieder sinken. In seinem Kopf war Raivis der kleine Junge von vor zwei Jahren geblieben, lockig, ein wenig pausbäckig, ein verträumtes Leuchten in den Augen, wenn er nicht gerade zitterte wie Espenlaub. Der Raivis, der jetzt vor ihm stand, wirkte so fremd. „Möchtest du etwas essen?“, fragte er. „Ja“, sagte Raivis, ohne nachzudenken. „Bitte“, fügte er hastig hinzu. Ivan lächelte, kramte ein Stück Brot und eine halbe Wurst aus dem Vorratsschrank, legte beides auf einem Brettchen auf den Tisch und zog einen Stuhl heran. „Setz dich und iss.“ Raivis kam zögernd näher, anscheinend nicht sicher, ob er Ivan trauen konnte. Er bewegte sich angespannt, als sei er ständig bereit, im nächsten Moment die Flucht zu ergreifen. Nachdem er sich allerdings auf dem Stuhl niedergelassen hatte, beanspruchte das Essen seine gesamte Aufmerksamkeit und er vergaß seine Vorsicht. Das Brot riss er mit den Fingern in Stücke. Es war so schnell in seinem Mund verschwunden, dass Ivan kaum blinzeln konnte. „Nicht so hastig“, sagte er und überlegte, ob er amüsiert sein sollte. Raivis hob ertappt den Kopf, die Backen noch voll. Seine Hand tastete schon nach der Wurst. Seine Finger sahen aus, als würden sie nur noch aus Haut und Knochen bestehen, dünn und steif wie die Beine eines großen Insektes. Ivan riss sich mühsam von dem Anblick los und winkte ab. „Vergiss, was ich gesagt habe. Iss nur.“ Nur wenig langsamer nahm Raivis sein Mahl wieder auf. Hoffentlich überfraß er sich nicht, dachte Ivan besorgt. Aber er konnte das Essen sicher gebrauchen, so mager, wie er zu sein schien. Ivan hatte gedacht (oder versucht, zu denken), Raivis' Mantel sei so groß, dass er ihn einfach nicht ausfüllen konnte. Wenn er allerdings genauer hinsah, war der Mantel gar nicht so groß. Trotzdem hing er an Raivis wie ein Sack und warf überall Falten. „Bist du satt?“, fragte er, als Raivis die Wurst ebenfalls verputzt hatte. Raivis leckte seine Finger ab und biss auf seiner Unterlippe herum. Er überlegte offenbar, wie er sein nein am besten diplomatisch verpackte, dachte Ivan. „Du solltest nicht so viel auf einmal essen“, sagte er sanft und trat auf Raivis zu. „Sonst kommt es doch nur wieder raus. Würdest du diesen Mantel ausziehen?“ Raivis nickte wortlos, rutschte von seinem Stuhl und schlüpfte aus dem Mantel. Er war alt und an einigen Stellen geflickt, wie Ivan bemerkte, als er ihn entgegen nahm. Ein hässliches Ding. Darunter trug Raivis eine Hose, die ihm an den Knöcheln etwas zu kurz war, und ein Hemd, das im Gegensatz dazu wieder zu groß war und das er deswegen in den Hosenbund gestopft hatte. An der Seite hatte das Hemd einen etwa handlangen Riss. Ivan glaubte, etwas Rotes auf der Haut darunter zu erkennen. Du willst es nicht wissen. Du willst es wirklich nicht wissen. „Ist dir nicht kalt, kleiner Raivis?“, fragte Ivan, warf den Mantel über die Stuhllehne und ging hinüber zum Herd, auf dem noch immer der Tee stand. „Wir gehen besser ins Wohnzimmer. Das Feuer dürfte noch brennen, da kannst du dich ein wenig aufwärmen.“ „In Ordnung“, sagte Raivis, aber Ivan war sich nicht sicher, ob er wirklich dafür war oder ob er glaubte, das eben sei ein Befehl gewesen. Herausfinden konnte er es nicht, dachte er, füllte zwei Tassen mit Tee und drückte eine davon Raivis in die Hand. Danach machte er sich auf den Weg zurück ins Wohnzimmer. Raivis folgte ihm, ohne etwas zu sagen. Folgsam war er, dachte Ivan. Vielleicht sogar mehr als vorher. „Bist du müde?“ „Nein“, antwortete Raivis und baumelte mit den Beinen. Er saß so nah am Feuer, dass Ivan beinahe Angst hatte, er könne sich verbrennen. Aber wer wusste schon, wann Raivis das letzte Mal warm gewesen war. Ivan wollte nicht fragen. Stattdessen nahm er noch einen Schluck von seinem Tee. „Ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass du zurückkommst“, sagte er leise und betrachtete das Familienfoto über dem Kamin. Ein Foto, auf dem auch Raivis zu sehen war. Er hatte es in den letzten zwei Jahren viel zu oft angesehen. „Sie haben mich gehen lassen“, sagte Raivis hastig und klang plötzlich, als habe er Angst. „Sie müssen mich nicht wieder zurückschicken, wirklich nicht! Ich darf hier sein!“ „Natürlich darfst du das“, sagte Ivan beruhigend. „Du gehörst doch hierher.“ Raivis nickte heftig. „Ich durfte gehen“, murmelte er. „Durfte ich.“ Ivan lächelte ihm zu, aber er wusste nicht, ob er froh war. Er sollte es sein, jetzt, da Raivis wieder da war. Er hatte es nicht mehr zu hoffen gewagt, aber jetzt war er wieder da, atmend und absolut lebendig. Es war fast schon ein Wunder. Vielleicht möchte irgendjemand dir hiermit noch eine Chance geben, Ivan. Ivan richtete sich auf seinem Stuhl auf. Erschrocken sah Raivis ihn an. „Du bist wirklich nicht müde, Raivis?“ „Nein.“ „Gut“, sagte Ivan und stand auf. „Ich bin gleich wieder zurück. Warte hier und lauf nicht weg.“ „In Ordnung“, erwiderte Raivis unsicher und nahm noch einen Schluck von seinem Tee. Er öffnete die Tür, ohne sich zu bemühen, leise zu sein. Ein Lichtstrahl fiel vom Flur aus auf eines der drei Betten. Ivan ging hinüber und zog die Decke beiseite. „Eduard. Wach auf.“ Eduard schreckte hoch und setzte sich kerzengerade auf. „Was ist los?“, fragte er und schaffte es kaum, seine Angst zu verbergen. Immerhin kam es nicht oft vor, dass Ivan einen von ihnen mitten in der Nacht aus dem Bett warf. Der letzte, mit dem er das getan hatte, war wohl Raivis gewesen. „Steht auf, alle beide“, sagte Ivan, trat an den Schrank an einer Wand des Zimmers und öffnete ihn. „Du auch, Toris. Macht euch fertig zum Ausgehen.“ „Ausgehen?“, wiederholte Eduard tonlos. Toris in seinem Bett stütze sich ebenfalls auf die Ellbogen hoch. Ivan ignorierte sie beide, zog ein paar Kleider aus dem Schrank und hielt sie kritisch hoch. „Kann ich diese hier für Raivis mitnehmen? Ist das seine Größe?“ „Für Raivis mitnehmen? Aber er... er ist in Sibirien.“ „Nein, ist er nicht. Er ist gerade eben zurückgekommen. Wir gehen sofort hier weg.“ „Hier weg?“, keuchte Eduard. „Raivis ist zurück?“, flüsterte Toris. „Weckt Natalia und Yekaterina. Wir treffen uns so bald wie möglich unten bei der Eingangstür. Sagt den beiden, sie sollen sich warm anziehen. Es ist kalt draußen.“ „In Ordnung“, sagte Eduard, während Toris nur mit großen Augen ins Leere starrte. Die Situation war durchaus ungewöhnlich, stellte Ivan fest. Aber damit mussten die beiden zurecht kommen. „Ich sehe euch dann. Beeilt euch.“ Kapitel 2: Nächtlicher Aufbruch ------------------------------- „Zieh das an, Raivis. Ich würde dir auch anbieten, ein Bad zu nehmen, aber wir haben sehr wenig Zeit.“ „Wenig Zeit?“, fragte Raivis ängstlich. „Warum?“ Ivan lächelte. „Es wird alles gut, kleiner Raivis. Geh ins Bad und zieh dich um.“ Raivis sah hinunter auf das Bündel Kleider, das Ivan ihm gegeben hatte. Vorsichtig betastete er den roten Pullover, der zuoberst lag. „Ich soll das anziehen?“, fragte er leise. „Natürlich. Das sind deine Kleider, Raivis.“ Noch immer machte Raivis keine Anstalten, sich zu rühren. Stattdessen kaute er auf seiner Unterlippe und blinzelte einige Male. Ivan runzelte leicht die Stirn und bemerkte plötzlich, dass Raivis Tränen in den Augen hatte. „Was ist los?“, fragte er bestürzt. „Es ist...“, brachte Raivis hervor und schluchzte auf. „Es sind m-meine Kleider. A-als ob ich wieder ich selbst sein könnte. Als ob... als ob nie etwas passiert wäre.“ Behutsam tätschelte Ivan seinen Kopf. „Es kann alles wieder wie früher sein, kleiner Raivis.“ „N-nein“, widersprach Raivis und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich g-glaube nicht, dass es wie früher sein kann. N-nicht mehr.“ Ivan sah auf ihn hinunter und wusste nicht, was er tun sollte. „Mal sehen, kleiner Raivis“, sagte er leise. „Wir werden noch sehen, ob es wieder wie früher wird. Aber jetzt geh und zieh dich um, ja?“ Raivis nickte, zog die Nase hoch und verließ den Raum. Ivan sah ihm nach und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er ging hinüber zu dem kleinen Tisch, auf dem die Teetassen standen, die Raivis und er benutzt hatten. Aus irgendeinem Grund widerstrebte es ihm, sie hier stehen zu lassen. Andererseits, was sonst hätte er damit anfangen sollen? Es blieb beileibe nicht mehr genug Zeit, um den Abwasch zu machen. Wozu denn auch? „Vanya?“ Hastig trat er hinaus auf den Flur. Yekaterina kam gerade die Treppe herunter und knotete ein Tuch unter ihrem Kinn fest. Sie sah noch älter und besorgter als sonst aus. „Was ist passiert? Toris hat gesagt, Raivis wäre wieder hier und wir müssten alle weg...“ „Wir werden gehen“, sagte Ivan. „Bist du dick genug angezogen?“ „Ja, aber...“ „Ich werde meinen Mantel holen gehen.“ „Wann erklärst du uns, was du vorhast, Vanya?“, rief Yekaterina ihm hilflos nach. Ivan blieb noch einmal kurz stehen und sah sich über die Schulter zu ihr um, um ihr zuzulächeln. „Wir werden gehen. Was gibt es da noch zu erklären?“ Damit machte er sich auf den Weg die Treppe nach oben. Als Ivan die Treppe wieder hinunter stieg, dick in seinen Mantel und einen Schal eingepackt, standen die anderen schon unten vor der Eingangstür. Yekaterina und Natalia sprachen leise miteinander. Eduard trat nervös von einem Bein aufs andere. Toris trug irgendein Kleidungsstück über dem Arm. „Ein Mantel für Raivis“, erklärte er atemlos, als er Ivans fragenden Blick bemerkte. „Sie hatten ihm ja keinen mitgenommen, und ich dachte...“ „Du denkst mit, Toris“, sagte Ivan und lächelte. „Das gefällt mir.“ Toris konnte nicht lächeln vor Anspannung. „Ist er wirklich wieder da?“, flüsterte er. „Er ist im Bad und zieht sich um. Ich dachte nicht, dass er so lange brauchen würde...“ „Da“, unterbrach Eduard ihn und hob die Hand. „Da ist er.“ Alle drehten sich um. Raivis war gerade den Flur hinunter gekommen. In seinen gewohnten Kleidern sah er gleich weniger fremd aus, dachte Ivan. Andererseits war jetzt eindeutig, wie sehr er abgenommen hatte. Früher hatten die Kleider ihm wesentlich besser gepasst. Die anderen starrten Raivis an, als sei er eine Erscheinung. Unsicher, wie er mit all der Aufmerksamkeit umgehen sollte, hob Raivis eine Hand und winkte ihnen zaghaft. „Raivis?“, flüsterte Toris und schüttelte den Kopf. „Nein... das kann nicht...“ Ungläubig trat er näher auf ihn zu. Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht, als wolle er weinen. Er rannte die paar Schritte zu Raivis hinüber, schlang die Arme um ihn und drückte ihn so fest an sich, dass Raivis einen überraschten Laut von sich gab. „Verzeih mir“, brachte Toris hervor und schüttelte den Kopf. Tränen liefen durch sein Gesicht. „Verzeih mir... dass du wieder da bist, Raivis... dass du wirklich...“ „Es geht mir gut“, sagte Raivis gedämpft, weil sein Gesicht an Toris' Brust gedrückt wurde. Yekaterina schluchzte auf und presste die Hand vor ihren Mund. Ivans Blick wanderte von ihr zu Toris, der noch immer Raivis an sich drückte, und er räusperte sich leise. „Es tut mir Leid, euch unterbrechen zu müssen, aber ich habe euch nicht nur wegen Raivis geweckt. Wir sind hauptsächlich hier, weil wir gehen werden.“ Es dauerte eine Weile, bis die anderen darauf reagierten. Toris ließ Raivis sehr langsam los und wischte sich über die Augen. „Wohin denn?“, fragte Natalia. Ivan zog die Schultern hoch und lächelte. „Irgendwohin. Zuerst einmal weg von hier.“ „Aber wieso denn?“, fragte Yekaterina ängstlich. „Weil ich es sage, Schwesterherz“, erwiderte Ivan und lächelte sie an. „Ich sage, wir gehen. Ich übernehme die volle Verantwortung.“ „Aber...“, begann Eduard fassungslos. „Tut, was ich euch sage“, unterbrach Ivan ihn und trat auf die Haustür zu. „Habt ihr alle eure dicksten Kleider an?“ „Aber Vanya... wollen wir gar nichts sonst mitnehmen?“ „Wir haben keine Zeit, Katyusha. Hauptsache, wir kommen hier raus.“ Seine Worte brachten Eduard und Toris dazu, ratlose Blicke zu tauschen. Ivan ignorierte sie, öffnete die Tür und fröstelte, als ihm Schnee entgegen stob. „Es ist nicht ganz einfach, hier herauszukommen, aber ich weiß, wie wir es schaffen können. Ihr werdet ganz genau tun, was ich euch sage, bis wir das Grundstück verlassen haben.“ „Und danach?“, murmelte Eduard so leise, dass niemand es verstand. Hintereinander traten sie hinaus in die Dunkelheit. Niemand sagte ein Wort. Ivan schloss die Tür ab, nachdem sie alle draußen waren, und atmete tief durch. Durch die Dunkelheit sah er nichts, doch er wusste, dass der Zaun aus Maschendraht sich zwei Meter hoch um das gesamte Grundstück zog. Sie hatten keine Chance, hinüber zu klettern. Vor ihnen führte der Weg durch den Schnee, den Toris und Eduard am Morgen freigeräumt hatten. Seitdem hatte es nicht noch einmal geschneit. „Wir werden dem Weg folgen“, flüsterte Ivan den anderen zu, die sich um ihn versammelt hatten. „Ihr werdet zurückbleiben, bevor wir das Tor erreichen. Ein paar Meter neben dem Tor könnt ihr den Draht hochheben und darunter hindurch kriechen. Ihr müsst sehr leise sein, damit der Wächter euch nicht bemerkt.“ „Aber der Wächter ist da, um uns vor Feinden von draußen zu beschützen“, sagte Natalia und runzelte die Stirn. „Ach ja?“ Ivan lächelte ihr zu. „Wieso steht er dann immer so, dass er nicht die Umgebung, sondern unser Haus beobachten kann?“ Niemand antwortete ihm und er fuhr fort. „Ich werde zu dem Mann gehen und versuchen, ihn abzulenken. Ihr werdet alle durch das Loch unter dem Zaun entkommen. Wem von euch kann ich...“ Er verstummte. Eigentlich hatte er wem von euch kann ich am meisten vertrauen? fragen wollen, aber plötzlich wurde ihm klar, dass er niemandem von ihnen wirklich vertrauen konnte. „Toris“, sagte er kurz entschlossen und hielt ihm seinen Schlüsselbund hin. „Nimm du die. Ihr wisst, wo der Parkplatz ist? Die Schlüssel passen zu dem Wagen ganz rechts unter dem Baum. Du gehst zuerst, Toris, läufst vor und schließt die Türen auf. Du setzt dich ans Steuer, aber warte, bis alle anderen dich eingeholt haben und im Auto sitzen, verstanden? Sobald alle da sind, startest du den Motor.“ „Und was machst du, Vanya?“, fragte Yekaterina mit großen Augen. „Ich lenke weiter die Wache ab. Sobald ich den Motor höre, laufe ich zu euch. Fahr nicht los, bevor ich nicht da bin, hörst du, Toris?“ „Verstanden“, sagte Toris leise und umklammerte die Schlüssel fest. „Aber dann kannst du Vollgas geben.“ „Was, wenn der Wächter dich aufhält, Vanya?“, fragte Yekaterina ängstlich. „Was, wenn er auf dich schießt?“ „Das Motorengeräusch wird ihn ablenken. Ich schaffe das schon, Katyusha“, sagte Ivan und lächelte. „Er wird keine Möglichkeit haben, auf mich zu schießen. Es wird alles gut.“ Yekaterina nickte unschlüssig. „Also los“, sagte Ivan und holte tief Luft. „Gehen wir.“ „Guten Abend.“ Der Wächter fuhr herum, das Gewehr im Anschlag. Als er erkannte, dass Ivan unbewaffnet war, nahm er den Finger vom Abzug, ließ den Lauf aber nicht sinken. „Ich bin Ivan“, stellte Ivan sich vor und bemühte sich um ein höfliches Lächeln. „Ich wohne da.“ Er deutete über die Schulter zurück, versuchte aber, sich nicht zu hastig zu bewegen. Der Wächter musterte ihn kritisch. „Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen“, plauderte Ivan einfach drauflos. „Sind Sie öfters hier?“ Misstrauisch sah den Wächter ihn an. „Nein“, sagte er knapp. „Ah, also sind Sie zum ersten Mal hier eingeteilt? Das erklärt natürlich, warum ich Sie hier noch nie gesehen habe.“ „Ja“, sagte der Wächter. „Ich komme manchmal raus und unterhalte mich mit den Wächtern, wenn ich abends noch Lust auf einen Spaziergang bekomme. Sie sind immer so... gesprächig.“ „Tatsächlich?“ „Aber ja!“, nickte Ivan und strahlte den Mann an. „Und ich muss immer wieder Ihre Arbeit loben, weil Sie uns so gut beschützen. Solange Sie hier stehen, können wir alle im Haus ganz unbesorgt sein. Sie lassen niemanden durch, der nicht hierher gehört.“ „Heute hatte ich Befehl, jemanden durchzulassen“, sagte der Wächter. „Einen Jungen.“ „Ach, Sie meinen sicher Raivis! Ja, ich bin froh, dass er wieder bei uns ist. Er ist ein netter Junge. Haben Sie mit ihm geredet?“ „Nein.“ „Oh, das ist schade... machen Sie sich nichts daraus. Raivis ist nun einmal ein wenig schüchtern, so etwas kommt vor. Es lag sicher nicht an Ihnen, dass kein Gespräch zustande kommen wollte.“ „Nein“, schnarrte der Wächter. Mittlerweile hatte er das Interesse an Ivan verloren (vielleicht hielt er ihn für einen harmlosen Trottel, überlegte Ivan) und ließ den Blick wieder über die Umgebung schweifen. Wie lange die anderen wohl brauchen würden, bis sie draußen waren? Ob sie den Parkplatz und den richtige Wagen fanden? Hatte er Toris auch ganz sicher die richtigen Autoschlüssel gegeben? „Ich bin immer wieder überrascht“, fuhr Ivan schnell fort, um die Aufmerksamkeit des Wächters wieder auf sich zu lenken, „über... über all die...“ Er wusste überhaupt nicht, was er sagen sollte. „Über all den... Schnee.“ Jetzt hatte der Wächter offenbar beschlossen, gar nicht mehr zu antworten. „Ich meine, jetzt, da es so kalt geworden ist, friert der Schnee fest“, fuhr Ivan einfach fort, „und das ist sehr unangenehm beim... Schnee räumen. Ja, weil man den Schnee kaum vom Gehweg abbekommt... nicht, dass ich selbst den Schnee schippen müsste, eigentlich machen das Toris und Eduard, aber unangenehm ist es trotzdem, glauben Sie nicht auch? Und die Kälte... und... wissen Sie, einmal bin ich aus einem Flugzeug in den Schnee gesprungen, aber ich hatte keinen Fallschirm dabei, und da...“ In diesem Moment durchbrach ein entferntes, aber deutlich zu vernehmendes Motorengeräusch die Stille der Nacht. Der Wächter hob erneut sein Gewehr. „Halt! Was ist da los?“ Er hatte erkannt, dass es vom Parkplatz kam, dachte Ivan. Wenn er jetzt los liefe, liefe er direkt in die Schusslinie des Gewehrs. Kurz entschlossen warf er sich auf den Mann, der den Fehler gemacht hatte, ihm den Rücken zuzudrehen. Der Wächter schrie auf, als sie beide zu Boden gingen. Ivan packte das Gewehr und versuchte, es an sich zu reißen. Einige Sekunden lang rangen sie miteinander, bis die Waffe beiden aus den Händen rutschte und ein Stück weiter in der Dunkelheit landete. Ivan fluchte leise. Das Gewehr jetzt zu suchen, würde zu lange dauern. Vielleicht würde der Wächter bald Verstärkung bekommen. Kurz entschlossen rappelte er sich aus dem Schnee auf, versetzte dem Mann einen Tritt in die Magengrube und hoffte, dass ihn das lange genug am Aufstehen hinderte, damit er entkommen konnte. „H-halt! Stehen bleiben!“ Er war schon einige Meter weit gerannt, als Schüsse hinter ihm erklangen und neben ihm in den Schnee einschlugen. Dieser Wächter war ein wahres Stehaufmännchen, dachte Ivan grimmig. Ein kurzer Schmerz durchzuckte seinen Oberarm, nicht schlimmer als ein Insektenstich. Ivan versuchte, sich ganz auf sein Ziel zu konzentrieren und alles andere zu verdrängen. Er musste den Parkplatz erreichen, wo alle anderen waren. Er musste zu ihnen. Der Wagen war nicht das neuste Modell, schon etwas verbeult und in den hässlich grau-grünen Tarnfarben der Armee bemalt. Die Scheinwerfer leuchteten und die Schiebetür an einer Seite stand offen. Vorne konnte Ivan Eduard auf dem Beifahrersitz erkennen, der seine Tür ebenfalls noch geöffnet hatte und hinaussah. Einen Moment lang durchströmte ihn Erleichterung, weil sie gewartet hatten. Sie hätten einfach ohne ihn fahren können. „Schnell!“, keuchte Ivan, obwohl er der einzige war, der sich noch beeilen musste. Alle anderen mussten schon da sein. Er erreichte den Wagen, stieg ein und stieß sich prompt den Kopf am oberen Türrahmen. „Vanya?“, fragte Natalia. „Ist alles in Ordnung?“ „Es geht mir gut“, brachte Ivan hervor, griff beherzt nach der Tür und zog sie von innen zu. „Fahr los, Toris.“ Toris nickte stumm und schluckte noch einmal, bevor er die Handbremse löste. Ivan sah sich um. Auf den zwei Sitzbänken im hinteren Teil des Wagens hatten seine Schwestern und Raivis es sich bequem gemacht, wenn man denn von bequem sprechen konnte. Yekaterina saß hinten, eine Hand behutsam auf Raivis' Schulter gelegt, der aus dem Fenster in die Dunkelheit sah und zitterte. Ob vor Kälte, vor Anspannung oder Angst, wusste Ivan nicht zu sagen. Er ließ sich aus Mangel an Alternativen auf die zweite Sitzbank neben Natalia fallen. Sie musterte ihn prüfend. „Geht es dir gut, Vanya?“ „Ja“, sagte Ivan und versuchte, zu lächeln. „Ich bin...“ Er verstummte, als Toris um eine Kurve bog und sie alle auf eine Seite des Wagens gedrückt wurden. „Du hättest theoretisch auch den Blinker setzen können“, murmelte Eduard vorne. „Ich habe gerade viel anderes im Kopf“, erwiderte Toris. „Und außerdem sieht es ja doch keiner. Ivan... wo wollen wir eigentlich hin?“ „Erst einmal in Richtung Süden“, erwiderte Ivan und lachte leise. „An einen wärmeren Ort.“ „In Ordnung.“ Ivan lächelte und lehnte sich zurück. Sie hatten es geschafft, dachte er. Der erste Schritt war gemacht. Er sah sich um, soweit er das im Halbdunkel im Wagen konnte. Natalia neben ihm war blass, wirkte aber gefasst und ruhig. Sie hatte starke Nerven, dachte Ivan. Einmal musste das ja auch zu etwas gut sein. Raivis hatte die Augen geschlossen und die Stirn gegen die Scheibe gelehnt. Anscheinend war er doch müder, als er zugegeben hatte. „Vanya?“ Überrascht zog Ivan die Augenbrauen hoch. „Ja, Katyusha?“ Yekaterina ihm gegenüber hob die Hand, deutete auf ihn und starrte fassungslos ein Stück an ihm vorbei. „Ist das Blut?“, flüsterte sie. „Wo?“, fragte Ivan erschrocken und wollte sich umdrehen, um zu sehen, was sie ansah. Als er sich bewegte, bemerkte er, dass ein Ärmel seines Mantels an seinem Arm klebte. Etwas Warmes, Flüssiges hatte ihn durchtränkt und war schon in einem Rinnsal bis zu seinem Handgelenk gelaufen. „Lieber Himmel!“, brachte Yekaterina hervor. „Wurdest du angeschossen, Vanya?“ „Offensichtlich wurde er das“, sagte Natalia harsch und nahm kurzerhand ihren Schal ab. „Wir können das hier zum Verbinden nehmen, Vanya. Komm her.“ „Ist die Wunde tief?“, fragte Yekaterina hastig, während Ivan etwas unsicher zuließ, dass Natalia ihn halb aus dem Mantel schälte und seinen Oberarm begutachtete. „Glatter Durchschuss“, stellte sie fest, ohne mit der Wimper zu zucken. „Das heißt, keine Kugel, die man entfernen müsste.“ „Tut es weh, Vanya? Geht es dir gut?“ „Ich spüre gar nichts“, antwortete Ivan verwirrt. „Es muss wohl am Adrenalin liegen...“ Natalia zog den Schal ruckartig fest. Ein stechender Schmerz breitete sich von der Wunde aus und Ivan zuckte zusammen. „Verzeih mir, Vanya“, sagte Natalia sofort und fuhr wesentlich behutsamer fort, die Wunde zu verbinden. „Wir müssen sehen, dass die Blutung gestoppt wird. Aber es sieht gar nicht schlecht aus. Wahrscheinlich nur eine Fleischwunde.“ „Danke, Bela“, sagte Ivan und sah ihr zu, wie sie das letzte Ende des Schals um seinen Arm schlang. „Katyusha? Könntest du uns eine Haarnadel leihen?“ Yekaterina griff unter ihr Kopftuch und zog eine Haarnadel heraus. Natalia nahm sie entgegen und steckte den improvisierten Verband damit fest. „Und das, Vanya, ist schwesterliche Fürsorge.“ Ivan musste lachen, obwohl die Wunde mittlerweile dumpf pochte. „Danke, Bela“, sagte er. „Danke, Katyusha. Ich verspreche, dass ich mein Bestes geben werde, um unsere Familie zu beschützen. Und ganz besonders euch beide.“ Kapitel 3: Im eigenen Interesse ------------------------------- Nachdem Ivans Wunde versorgt war, verstummten sie wieder. Raivis hatte sich in seiner Ecke auf der Rückbank zusammengekauert. Von Zeit zu Zeit schaute Eduard sich nach ihm um, während Toris den Blick nicht von der Straße löste. Yekaterina sah aus dem Fenster und hing ihren Gedanken nach. Natalia hatte sich an Ivans noch unverletzte Schulter gelehnt und war anscheinend eingenickt. Nach dem vorangegangen Beweis schwesterlicher Fürsorge hatte Ivan nichts dagegen, jedenfalls nicht, solange sie ihre Finger und Messer bei sich behielt. Er lächelte und legte einen Arm um Natalia, als der Wagen durch ein Schlagloch rumpelte. „Raivis“, sagte Yekaterina plötzlich und griff nach seiner Schulter. „Ist dir nicht gut?“ Raivis blinzelte zu ihr auf und schüttelte zaghaft den Kopf. Er war blass wie ein Laken. Im nächsten Moment ging ein Ruck durch seinen Körper und er schlug die Hand vor den Mund. „Toris!“, sagte Yekaterina hastig. „Halt an, sofort!“ „Was ist los?“, fragte Toris erschrocken, trat auf die Bremse und hielt. Yekaterina zerrte die Tür auf und zog Raivis aus dem Wagen. Sie standen auf einer Landstraße mitten im Nirgendwo. Die Lichter der Stadt leuchteten nur noch trübe hinter ihnen am Horizont. Die Luft war kalt. „Komm“, sagte Yekaterina, zog ihr Tuch zurecht und führte Raivis an der Hand ein Stück die Böschung hinauf.„Tief durchatmen, dann ist es gleich besser. Du musst nur...“ Raivis krümmte sich, beugte sich vor und übergab sich vor seine Füße in den Schnee. Erschrocken blieb Yekaterina stehen und rieb über seinen Rücken. „Ist ja gut... lass es raus, gut so...“ „Ich dachte mir gleich, dass er zu viel auf einmal gegessen hat“, sagte Ivan. „Das wird wieder“, murmelte Yekaterina, half Raivis dabei, sich in den Schnee zu setzen, und hockte sich selbst daneben. „Ruh dich ein wenig aus, Raivis. Tief durchatmen. Komm her...“ Sie verstummte und wischte mit einem Taschentuch sein Kinn ab. Raivis hatte die Augen halb geschlossen und atmete schwer. Zögernd stieg Ivan ebenfalls aus dem Wagen, nachdem er Natalia behutsam beiseite geschoben hatte, und blieb vor ihnen stehen. Yekaterina sah zu ihm auf und lächelte flüchtig, bevor sie sich wieder Raivis zu wandte. „Es wird alles gut, Raivis. Jetzt, da du endlich wieder da bist... ich habe dich noch gar nicht richtig gedrückt, oder? Wie dumm von mir...“ Also holte sie es nach, schlang beide Arme um Raivis und zog ihn an ihren Busen. Ivan für seinen Teil wusste, so obszön es vielleicht klang, dass Raivis sich dabei wohlfühlte. Es entspannte ihn, den Kopf an Yekaterinas weiche Brust zu legen und ein wenig zu träumen. Von einer Mutter vielleicht, dachte Ivan. Kaum jemand von ihnen hatte seine Mutter jemals kennengelernt, wenn er denn überhaupt eine gehabt hatte. Er selbst hatte noch Glück im Unglück gehabt und war bei Yekaterina aufgewachsen, und obwohl sie bei aller Liebe schwach und ständig den Tränen nahe gewesen war, war sie der beste Mutterersatz gewesen, den er sich hatte wünschen können. Er bedauerte es leise, dass jetzt nicht genug Zeit blieb, damit Raivis seine Kindheit nachholen konnte. Nach einigen Momenten räusperte er sich vernehmlich. „Wir sollten wieder einsteigen und weiterfahren, Katyusha. Hier draußen können wir nicht bleiben.“ Yekaterina nickte leicht, sagte aber nichts. Ivan legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die kleine weiße Wolke seines Atems, die in den nächtlichen Himmel stieg und bald nicht mehr zu sehen war. Sein Gesicht fror schon nach dieser kurzen Zeit in der Kälte. Über ihm spannte sich der dunkle Nachthimmel, der mit zahllosen Sternen übersät war. „Glaubst du, es geht wieder?“, fragte Yekaterina leise. Raivis nickte, obwohl er sich offensichtlich nur widerwillig von ihr löste. Sie stand auf, half ihm auf die Beine und klopfte ein wenig Schnee von seinem Mantel. „Gehen wir“, sagte Ivan, ging wieder zum Wagen und drehte sich an der Tür noch einmal um. „Wenn dir wieder schlecht wird, sag Bescheid, Raivis.“ Erneut nickte Raivis stumm, als er hinter Yekaterina ins Auto kletterte. „...und deswegen müsst ihr euch morgen benehmen. Es werden eine Menge wichtiger Männer zum Essen kommen, nicht zu vergessen mein Boss höchst persönlich. Wenn ihr morgen einen schlechten Eindruck macht, könnte das gravierende Folgen haben. Für euch oder für eure Kinder.“ Raivis und Eduard schwiegen und nickten. Toris nickte ebenfalls. „Machen Sie sich keine Sorgen, Ivan. Wir werden uns schon allein in unserem eigenen Interesse benehmen.“ „Ihr werdet euch ausschließlich in eurem eigenen Interesse benehmen, mein lieber Toris.“ Toris lächelte stumm und senkte den Blick. Ivan mochte es nicht, dass er durchschaute, welchen an Furcht grenzenden Respekt er vor den Beratern seines Bosses hatte, auch vor Onkelchen, wie er seinen Regierungschef in einer grotesken Mischung aus Zuneigung und Angst nannte. Toris wusste es. Eduard wusste es vermutlich auch, obwohl er es niemals ausgesprochen hätte. Aber es war doch, wie Ivan gesagt hatte: Die drei wollten sich keine Schwierigkeiten einhandeln. Sie würden nichts Dummes tun, nur, um zu sehen, ob Ivan deswegen auch Probleme bekommen würde. Sie konnten es sich nicht leisten, mächtige Männer zu verärgern. Wer konnte das schon? Ivan seufzte leise, als er aufstand. „Das war soweit alles“, sagte er. „Seid morgen nicht zu steif. Höflich, aber nicht aufgesetzt, hört ihr? Und achtet auf die Sitzordnung und darauf, dass das Essen reibungslos abläuft. Eduard, sieh noch einmal nach, ob das Silber poliert werden muss. Und Raivis, achte morgen bloß auf deine Aussprache. Dein Akzent ist grauenhaft, wenn du nervös bist.“ Raivis wurde etwas blasser und nickte. „Ihr könnt gehen.“ Sie senkten die Köpfe und gingen im Gänsemarsch hinaus. Toris blieb noch kurz in der Tür stehen und sah sich nachdenklich zu Ivan um. Ivan zog fragend die Augenbrauen hoch, und Toris lächelte auf eine Art, die fast mitfühlend war. „Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird alles gut gehen.“ „Das will ich hoffen“, erwiderte Ivan, und Toris verneigte sich andeutungsweise und schloss die Tür hinter sich. Es war beängstigend, dass Toris seine Sorgen so durchschaute, dachte Ivan und ließ sich seufzend wieder auf seinen Stuhl sinken. Unter Umständen konnte er ihm dadurch gefährlich werden. Noch beängstigender war aber die Tatsache, dass Ivan manchmal glaubte, es sei ihm ganz recht so. Es tat einfach gut, jemanden zu haben, der ihn verstand. Vielleicht tat es sogar gut, nicht immer der zu sein, der unbegrenzte Macht über alle anderen ausübte. Ivan erwachte langsam aus seinem Traum. Es war seltsam, dass er gerade jetzt von etwas träumte, das sich vor mehr als sechs Jahren zugetragen hatte. Aber vielleicht war es auch ein Zeichen, dachte er. Damals hatten die Geschehnisse ihren Anfang genommen, die letztendlich zu seiner Flucht geführt hatten. Jetzt würde all das ein Ende haben. Er würde nie wieder etwas tun, von dem er schon im Voraus wusste, dass er es bereuen würde. Er saß noch immer auf der Sitzbank, auf der er eingeschlafen war. Die Wunde an seiner Schulter pochte dumpf. Alles war ruhig und nichts bewegte sich, woraus er schloss, dass der Wagen gehalten hatte. Wieso war Toris nicht weitergefahren? Langsam gewöhnten seine Augen sich an das Dunkel um ihn herum. Das erste, was ihm auffiel, war Toris, der sich zu Yekaterina und Raivis auf die Bank gegenüber gequetscht hatte und schlief, den Kopf auf die Brust gesunken. Also hatte er einfach ein wenig Schlaf gebraucht, dachte Ivan mit einem Lächeln. Das war nur verständlich. Neben Ivan saß Natalia. Im Schlaf hatte sie sich ein wenig von ihm abgewandt und den Kopf stattdessen gegen Eduard sinken lassen, der neben ihr saß. Warum, dachte Ivan verwirrt, hatte Toris sich die Gelegenheit entgehen lassen, neben Natalia zu sitzen? Sogar neben ihr zu schlafen, was doch das sein musste, wovon Toris nachts träumte. Seine verklärte und tragisch unerwiderte Liebe zu Natalia war unmöglich zu übersehen. Es musste einen sehr guten Grund geben, damit Toris sich eine solche Gelegenheit entgehen ließ. Vielleicht, dachte Ivan seufzend, hatte Toris nicht so nahe bei ihm sitzen wollen. Manche Dinge waren einfach eine Schande. Draußen wurde der Horizont langsam heller, aber bis zum Sonnenaufgang würde es noch eine gute Weile dauern. Ivan holte tief Luft, streckte die Beine aus und schloss die Augen. Besser, er schlief, soviel er konnte, solange er die Gelegenheit dazu hatte. Auf einer Flucht konnte man ja nie wissen, wann die nächste Gelegenheit kommen würde. Kapitel 4: Die Frage nach dem Innersten --------------------------------------- „Eduard hat auf mich einen sehr ruhigen Eindruck gemacht.“ „Er ist unauffällig“, bestätigte Ivan und lächelte. „Ich kann nicht über ihn klagen, überhaupt nicht. Er ist ein helles Köpfchen und macht die Buchführung, wenn ich es ihm sage. Ansonsten... mehr als das, was ich ihm sage, tut er nicht.“ An der Miene seines Bosses hinter dem großen Schreibtisch war nicht zu erkennen, was er von dieser Antwort hielt. Er blätterte in einigen Unterlagen, und Ivan fragte sich, ob er sich am vergangenen Tag beim Essen Notizen über das Verhalten von Ivans Familienmitgliedern gemacht hatte. Er hatte nichts dergleichen beobachten können. „Was die Sprache angeht, hat nur einer von ihnen sich diesen einen Ausrutscher erlaubt...“ „Aber Raivis hat schon große Fortschritte gemacht“, warf Ivan hastig ein. „Er gibt sein Bestes, um sich anzupassen, aber er ist leider nicht der Hellste. Und wenn er die Nerven verliert, vergisst er manchmal sein Russisch. Wir arbeiten noch daran, das zu verhindern.“ Onkelchen nickte langsam. „Das hoffe ich. Abgesehen davon ist auch er ein eher unauffälliger Junge.“ „Er tut immer, was man ihm sagt. Er käme nie auf die Idee, etwas anderes zu tun.“ „Er ist es auch nicht, der mir Sorgen macht.“ „Nein“, sagte Ivan und zögerte kurz. „Darf ich fragen, wer Ihnen stattdessen Sorgen macht?“ Dabei wollte er es gar nicht wissen. „Toris“, antwortete der Mann, ohne eine Miene zu verziehen. „Definitiv.“ Ivan blinzelte. Er hatte es erwartet, sich aber gleichzeitig einzureden versucht, es sei nicht wahr. „Warum Toris? Ich habe auch über ihn keine Klagen. Er ist...“ „Er bewahrt sich irgendwo hinter seiner unterwürfigen Fassade einen Kern, zu dem du nicht gelangen kannst. Einen dickköpfigen, kritischen Kern, der fähig ist, einen Aufstand vom Zaun zu brechen. Und weißt du, warum du nicht dorthin gelangen kannst, Ivan?“ „Warum nicht?“ „Weil du es gar nicht erst versuchst.“ Ivan rang nach Luft. „Aber ich sorge dafür, dass niemand in meiner Familie auf die Idee kommt, sich von uns zu trennen! Wenn Toris einen solchen Kern hätte, würde ich sofort dafür sorgen, dass er beseitigt wird!“ „Du weißt genau, dass das nicht stimmt“, erwiderte sein Boss ernst. „Das Essen gestern hat genügt, um zu sehen, dass Toris sich dein Vertrauen erschlichen hat. Er macht dich blind für die Gefahr, die von ihm ausgeht.“ „Toris ist keine Gefahr“, sagte Ivan hilflos und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Ich weiß, dass du es nicht einsehen möchtest und auch nicht sehen kannst. Es ist nicht deine Schuld, Ivan. Er hat dich mit seiner Freundlichkeit hinters Licht geführt, aber er ist eine Gefahr für dich.“ Sein Boss sah ihn ernst an. „Eine Gefahr, vor der wir dich beschützen müssen. Wir werden Toris so schnell wie möglich aus diesem Haus entfernen.“ Ivan spürte, wie sein Herz zu rasen begann. „Nein. Das können Sie nicht...“ „Es war klar, dass du dagegen sein würdest. Er hat dich um seinen Finger gewickelt.“ „Das hat er nicht! Ich... bitte nehmen Sie mir Toris nicht weg! W-wohin würden Sie ihn bringen?“ „Dorthin, wohin alle feindlichen Objekte ausgesiedelt werden.“ „Toris ist kein feindliches Objekt!“, rief Ivan. „Bitte... geben Sie mir noch eine Chance. Noch eine Chance!“ „Eine Chance wofür?“, fragte sein Boss. Ivan holte tief Luft. „Ich werde diesen... diesen kritischen Kern, den Toris hat, finden. Und ich werde ihn beseitigen. Das werde ich wirklich! Dann... dann müssen Sie mir Toris nicht wegnehmen, und er kann weiter hier wohnen bleiben. Oder?“ Sein Boss sah ihn einige endlos lange Sekunden lang an. „Drei Tage“, sagte er dann langsam. „In drei Tagen werde ich deinem Haus noch einmal einen Besuch abstatten und überprüfen, wie sich die Dinge bis dahin entwickelt haben. Wenn ich dann nur noch eine Spur von konterrevolutionärem Denken in Toris erkennen kann, werden wir ihn von dir trennen, Ivan. Zu deinem eigenen Schutz.“ „Drei Tage?“, fragte Ivan hoffnungsvoll. „Gib dein Bestes.“ „Das werde ich!“, sagte Ivan und nickte stürmisch. „Das werde ich wirklich!“ Er erwachte, weil es plötzlich hell war. Träge öffnete Ivan die Augen. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen, ihr blendendes Licht wurde von dem Schnee reflektiert. Es war so hell, dass er Kopfschmerzen bekam. „Bist du wach, Vanya?“ Er drehte den Kopf, um Natalia neben sich sitzen zu sehen. „Ja“, erwiderte Ivan, lächelte und gähnte. Seine Kopfschmerzen wollten nicht mehr verschwinden. Er zuckte zusammen, als er mit der Schulter gegen die Scheibe stieß und seine Wunde wieder zu pochen begann. „Guten Morgen“, sagte Yekaterina, die auf der Bank gegenüber saß und lächelte. „Gut, dass du wach bist“, sagte Natalia, die anscheinend nichts von seinem Unwohlsein bemerkte. „Wir wollten nicht weiterfahren, solange du noch schläfst. Toris“, es war fast amüsant, mit welcher Verachtung sie diesen Namen ausspuckte, „wusste nicht, welche Abzweigung er nehmen sollte, also mussten wir warten, bis du es uns sagen kannst.“ „Wir fahren zu Feliks“, sagte Ivan. „Zu Feliks?“, wiederholte Yekaterina mit großen Augen. „Warum denn das?“ „Zu wem sollten wir sonst fahren? Feliks steht auf unserer Seite, er wird uns aufnehmen.“ Nachdenklich nickte Natalia. Yekaterina schien noch immer ihre Zweifel zu haben. „Vanya... wir sind immerhin ohne Erlaubnis weggelaufen. Glaubst du nicht, wenn Onkelchen erfährt, dass wir bei ihm sind...“ „Von wem sollte er es erfahren, wenn nicht von Feliks selbst?“, fragte Ivan und lächelte. „Und wenn ich eins von Feliks weiß, dann, dass er ein Dickkopf ist. Wenn wir es schaffen, ihn davon zu überzeugen, uns zu helfen, kann sein Boss sich auf den Kopf stellen und er wird uns nicht verraten.“ Er überlegte kurz. „Feliks mag mich nicht ausstehen können, aber wir haben einige dabei, die er sogar sehr gern mag. Er wird uns helfen.“ „Also gut“, murmelte Yekaterina. „Ich steige aus und sage Toris, dass wir weiterfahren können“, verkündete Natalia, stand auf und sprang aus dem Wagen. „Wo sind die anderen?“, fragte Ivan und fürchtete einen Moment lang, sie hätten ihn verlassen und sich allein auf den Weg durch den Schnee gemacht. „Draußen“, sagte Yekaterina. „Ich denke, sie essen Schnee...“ Sie lachte nervös. „Wir sollten so schnell wie möglich in die nächste Stadt kommen und uns Vorräte zulegen.“ Ivan hörte seinen Magen knurren, doch er schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfen. „Wir sollten so bald keine Stadt aufsuchen. Sicher werden wir gesucht.“ „Vanya?“, fragte Yekaterina und sah ihn verblüfft an. „Ist dir nicht gut?“ „Es geht sicher gleich wieder“, murmelte Ivan. „Nur Kopfschmerzen.“ Yekaterina stand auf, kam zu ihm hinüber und drückte die Hand auf seine Stirn. Ihre Augen wurden groß. „Ein bisschen warm. Vielleicht bekommst du Fieber.“ „Ach was“, sagte Ivan, obwohl die seltsame Schwere in all seinen Gliedmaßen etwas anderes sagte. „Ich doch nicht. Doch nicht jetzt.“ Sie sah ihn unsicher an. „Katyusha“, sagte Ivan, um das Thema zu wechseln. „Ich habe etwas Seltsames geträumt.“ „Tatsächlich?“ Er nickte langsam. „Weißt du noch, wie ich dich gefragt habe, wie man zum Kern von jemandem vordringt... zum Innersten, was man hat?“ Sie legte den Kopf schief. „Ich weiß nicht...“, sagte sie unschlüssig. „Du hast gelächelt und gesagt: Durch Liebe. Und ich habe gesagt, aber wenn es gefährlich ist, dass ich denjenigen liebe, und ich das zerstören will, was in seinem Innersten ist?“ Yekaterina kniff leicht die Augen zu. „Ich erinnere mich nicht“, sagte sie ratlos. „Schade“, murmelte Ivan und lächelte traurig. „Nein... vielleicht ist es auch gar nicht so schade. Es genügt, dass ich mich erinnere...“ „Vanya“, sagte Yekaterina besorgt und griff nach seinem Arm. „Du bist ganz blass. Geht es dir wirklich gut?“ Ihr Gesicht flackerte vor ihm. Ivan rieb sich die Augen, doch es änderte nichts. Sein Kopf pochte. „Du wirst krank“, sagte Yekaterina und griff nach seiner Schulter. „Leg dich hin. Ich sehe nach, ob wir irgendetwas im Wagen haben, das du als Decke nehmen kannst.“ „Ich bin nicht krank“, murmelte Ivan. „Es bringt nichts, dir das einzureden, Vanya“, erwiderte sie sanft. „Ruh dich aus, dann ist es sicher bald wieder in Ordnung.“ Wie schon am vorherigen Tag stiegen Toris und Eduard vorne ein. Raivis kletterte auf die hintere Bank und betrachtete Ivan unsicher. „Ist Ihnen nicht gut?“ „Nur ein wenig Unwohlsein, kleiner Raivis. Wie geht es dir?“ „Gut“, antwortete Raivis und zögerte dann. „Was?“ „Gut... und ausgeschlafen.“ Ivan lächelte. „Das ist schön.“ Yekaterina stampfte draußen den Schnee von ihren Stiefeln, kam herein und drückte Ivan eine zusammengerollte Decke in die Hand. „Die kannst du nehmen.“ „Ich blockiere die ganze Bank“, murmelte Ivan und lächelte entschuldigend. „Ach was“, sagte Yekaterina, setzte sich ans äußere Ende und legte seinen Kopf in ihren Schoß. „Geht es so?“ „Von mir aus schon...“ „Dann ist es gut.“ Ivan sah zu, wie Natalia als letzte herein kam, die Tür schloss und sich neben Raivis setzte. Ihre Lippen waren schmal. „Wie geht es dir, Vanya?“ „Es wird bald wieder gehen“, sagte Ivan und versuchte, zu lächeln. „Es wird alles gut.“ Von vorne hörte er, wie Toris unterdrückt fluchte. „Der Tank ist bald leer“, murmelte er Eduard zu. „Wenn wir nicht bald eine Tankstelle finden...“ „Halte an der nächsten, die du siehst, Toris“, sagte Ivan und hustete im nächsten Moment. Raivis zuckte zusammen. „In Ordnung“, sagte Toris. „Hoffentlich gibt es hier überhaupt Tankstellen“, murmelte Eduard. „Mitten im Schnee.“ Kapitel 5: Der Teppich vor dem Kamin ------------------------------------ (Sicherheitshalber wiederhole ich die Warnung vom Anfang noch einmal: Obwohl ich nicht damit rechne, dass dieses Kapitel als adult gesetzt werden muss - vielleicht lesen zart besaitete Leser jetzt lieber weg, oder fangen erst beim zweiten Absatz an zu lesen. Die Story versteht ihr trotzdem, vielleicht nur etwas später. Danke.) Um zu dem vorzudringen, was im Innersten war, brauchte man Liebe. Und um das zu zerstören, was im Innersten war, vielleicht eine zerstörerische Art von Liebe? Es war Abend. Sie saßen im Wohnzimmer, ein gemütliches Feuer brannte im Kamin. Ivan hatte den ganzen Tag gebraucht, um alles vorzubereiten. Die Vorbereitung an sich hätte nicht so viel Zeit in Anspruch genommen, aber er brauchte auch Zeit, um das Ganze mit seinem Gewissen zu klären. Jetzt war er bereit, dachte Ivan. Nein, war er nicht. Aber bereiter als jetzt würde er nicht mehr werden. „Eduard, Raivis?“ Eduard zuckte zusammen und sah von seinem Buch auf. Neben ihm auf dem Sofa legte Raivis den Kopf schief. „Was ist denn?“ „Geht ins Bett“, sagte Ivan und deutete auf die Tür. Die beiden tauschten erschrockene Blicke mit Toris, standen aber auf, ohne etwas zu sagen. Toris blieb sitzen, wo er war, auf einem Stuhl vor dem Kamin. Er sah den anderen beiden nach, regte sich aber nicht. Das war gut so, dachte Ivan und schloss die Tür hinter Eduard und Raivis. „Toris?“ „Ja?“, fragte Toris und setzte sich etwas gerader hin. Er sah erstaunt aus, aber nicht direkt ängstlich. Höchstens verwirrt. Ivan trat in den hinteren Teil des Raumes und hob das kleine Tablett hoch, das dort stand. Die beiden Gläser sahen beinahe gleich aus, aber nur beinahe. Sorgfältig drehte er das Tablett so, dass das Glas mit der Macke am oberen Rand zu ihm zeigte. Das war wichtig. Nicht auszudenken, wenn er die Gläser verwechseln würde. „Ich möchte mit dir anstoßen, Toris.“ „Worauf?“, fragte Toris überrascht. Ivan setzte sich wortlos auf einen zweiten Stuhl ihm gegenüber und hielt ihm mit einem ermutigenden Lächeln das Tablett hin. Zögernd griff Toris nach einem der Getränke. Er wählte das richtige. Ivan atmete innerlich auf. „Auf die Zukunft, Toris. Auf dass wir noch lange in diesem Haus zusammen bleiben.“ Ivan griff nach dem anderen Glas, lächelte und erhob es. Toris blinzelte, beschloss dann aber, mitzuspielen. Mit einem leisen Klirren stießen die Gläser aneinander. Den ersten Teil hatte er geschafft, dachte Ivan. Der zweite würde wesentlich schwerer werden. Teils, um ihn hinauszuzögern, teils, um den Schein zu wahren, nahm er selbst einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Als er es absetzte, bemerkte er, dass Toris noch immer reglos auf seinem Stuhl saß und ihn ansah. „Was ist los, Toris?“, fragte Ivan und blinzelte. Toris sah ihn an, dann wieder die klare Flüssigkeit in dem Glas. Er ahnte etwas, schoss es Ivan durch den Kopf. Aber nein, wie sollte er? Die Droge war geschmacks- und geruchlos. Er hatte lange überlegt, was er tun sollte, falls er die Dosis zu hoch oder zu niedrig berechnet hatte – aber was er tun sollte, falls Toris sich weigerte, zu trinken, hatte er nicht überlegt. „Ist etwas, Toris?“ „Verzeihen Sie“, sagte Toris höflich und zwang sich zu einem Lächeln. „Aber mir ist heute Abend nicht nach Alkohol.“ Ivan starrte ihn an und hörte sein Herz rasen. Toris wusste genau, was er vorhatte, und er wollte es verhindern. Es kam Ivan sogar so vor, als wolle er ihn vor sich selbst beschützen, oder vor dem, was er tun wollte. Es gab noch eine Chance, die Sache abzubrechen. Eine Chance, Toris gehen zu lassen und Onkelchens Unzufriedenheit zu riskieren. „Trink es, Toris“, sagte Ivan fest. „Das ist besser für uns beide.“ In Toris' Augen flackerte Angst auf und das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Er hob das Glas, holte tief Luft und sah Ivan direkt in die Augen. Ivan erwiderte seinen Blick. „Wollen Sie das wirklich?“, fragte Toris leise. Ivan hätte ihm gern gesagt, dass es längst keine Rolle mehr spielte, was er wollte, doch er schwieg. Toris nickte sehr langsam. Ebenso langsam streckte er die Hand mit dem Glas aus, kippte es und ließ den Inhalt sorgfältig in einen Blumentopf laufen, der ein Stück weiter stand. Ivans Blick hing wie hypnotisiert an der klaren Flüssigkeit, die in der dunklen Erde versickerte, bis nichts mehr zu sehen war. „Ich werde jetzt gehen“, sagte Toris und stand auf. Noch immer versuchte er, ruhig zu bleiben, aber seine Hände zitterten. Er stellte das Glas auf seinem Stuhl ab und ging einen Schritt rückwärts, ohne Ivan aus den Augen zu lassen. Und dann? Er erinnerte sich an den Teppich, denn alles andere hatte er fleißig zu vergessen versucht. Toris' Anblick hatte er verdrängt oder ihn von vornherein nicht recht ansehen können – gar nichts ansehen können, was Toris war. Er hatte den Boden angesehen, auf dem sie gelegen hatten, Toris und er. Den Teppich vor dem Kamin. Zuvor hatte Ivan das Muster recht hübsch gefunden, zumindest annehmbar für einen Teppich. An diesem Abend lernte er es zu hassen. Der Teppich vor dem Kamin war der hässlichste, den es gab. Ivan hatte Toris immer ein kleines bisschen geliebt, vielleicht auch nur lieben wollen. Er hatte nicht gewollt, dass das eines Tages in etwas so Zerstörerischem enden würde. Aber was er wollte oder nicht wollte, tat schon lange nichts mehr zur Sache. „Woran es nur liegt?“ Er spürte eine Hand auf seiner schweißnassen Stirn, die seine Haare beiseite strich. „Hat die Wunde sich entzündet?“ „Ein wenig.“ Jemand hob den Verband an seinem Arm an, um darunter zu sehen, und Ivan wimmerte leise. „Ich verstehe trotzdem nicht, warum es ihn so mitnimmt“, erklang Yekaterinas hilflose Stimme neben ihm. „Wenn er sich früher verletzt hat, war er immer nach ein paar Tagen wieder darüber hinweg. Er ist von Natur aus robust, und solange es seinem Land nicht schlecht ging, sind seine Wunden immer schnell verheilt. Beängstigend schnell sogar...“ Sie verstummte und strich erneut über seine Stirn. „Vielleicht tut es ihm nicht gut, sich gegen seinen Boss gewandt zu haben“, sagte Eduard. „Glaubst du?“ „Ich weiß es nicht. Es wäre eine Theorie.“ „Vielleicht könnten wir ihn gesund pflegen, wenn die Voraussetzungen nicht so schlecht wären“, sagte Yekaterina verzweifelt. „Aber hier... bei dieser Kälte, und mitten in der Wildnis?“ „Wir sind nicht mitten in der Wildnis“, widersprach Eduard ernst. „Mit einem Tagesmarsch würden wir es auf jeden Fall in die nächste Stadt schaffen.“ „Aber nicht mit Vanya. Selbst laufen kann er jedenfalls nicht... sollen wir ihn vielleicht tragen?“ Yekaterina lachte, aber es klang nicht fröhlich. Eduard schwieg eine Weile lang. „Yekaterina?“, sagte er dann zögernd. „Ja?“ „Du weißt, dass es uns alle entkräftet, zu lange hier zu bleiben. Wenn wir noch länger warten, wird niemand von uns mehr in der Lage sein, es zu Fuß in die nächste Stadt zu schaffen. Es wäre besser, wenn zumindest einige von uns gehen würden, um... Hilfe zu holen.“ Yekaterina schwieg einen Moment lang. „Ich weiß genau, was du eigentlich sagen willst, Eduard“, sagte sie dann leise. Eduard schwieg. „Und die Antwort lautet nein. Ich werde Vanya nicht hier zurücklassen und allein weiter fliehen.“ Sie seufzte tief. „Allerdings kann ich niemanden von euch aufhalten, wenn ihr gehen wollt.“ „Wir werden nicht ohne dich gehen“, sagte Eduard knapp. „Das müsst ihr aber, wenn ihr nicht hier erfrieren oder verhungern wollt. Ich werde bei Vanya bleiben.“ „Und hier mit ihm erfrieren oder verhungern?“ „Ich kann ihn nicht zurücklassen“, sagte Yekaterina fest. „Er ist mein Bruder. Du magst es können, Eduard, denn dir liegt nichts an ihm... obwohl du es ihm zu verdanken hast, dass du fliehen konntest.“ „Bitte verlange nicht von mir, dankbar zu sein“, erwiderte Eduard scharf. „Das Argument zieht schon seit Jahrzehnten nicht mehr.“ „Schade. Dabei wäre es gerade jetzt angebracht.“ „Ivan hat es uns ermöglicht, zu fliehen, aber das hier kann er nicht geplant haben. Weder seine Krankheit, die er nicht voraussehen konnte, noch die Panne mit dem leeren Tank. Glaubst du nicht, es wäre ihm lieber, wenn wir die Flucht ohne ihn fortsetzen, so gut wir eben können?“ „Wo sollen wir denn hin?“, fragte Yekaterina. „Das weißt du auch nicht, Eduard.“ „Glaubst du, Ivan weiß es?“ Sie seufzte tief. „Ich hindere dich an nichts, Eduard, weil ich es ohnehin nicht könnte. Frag Toris und Raivis, ob sie mit dir gehen wollen, und wenn sie es nicht wollen, geh allein. Natalia wird mit mir hier bleiben, das weiß ich jetzt schon. Sie liebt Vanya viel zu sehr.“ „Ich will nicht ohne dich gehen“, sagte Eduard leise. „Ich weiß“, antwortete Yekaterina. „Aber du musst.“ „Du bist die gute Seele der Familie. Wenn wir dich verlieren...“ „Und du bist die Stimme der Vernunft, Eduard. Die Familie kann im Moment besser auf mich verzichten als auf dich.“ „Ich will nicht ohne dich gehen“, flüsterte Eduard noch einmal. Sie waren eine Familie, dachte Ivan, und alle wussten das. Er fragte sich, ob Eduard, wenn ihm an Ivan nichts lag, doch wenigstens auf Yekaterina Rücksicht nehmen würde. Sie war die Mutter der Familie. Einige Sekunden lang blieb Ivan liegen, wie er war, verschwitzt trotz der Kälte, mit einem Kopf, der sich so schwer und voll anfühlte, dass er glaubte, er müsse gleich platzen. Erst nach einer Weile öffnete er mühsam die Augen. Es war dunkler, als er angenommen hatte. „Eduard?“ Eduard zuckte zusammen und sah ihn an. Yekaterina, die immer noch seinen Kopf in ihrem Schoß hielt, riss die Augen auf. „Vanya! Wie geht es dir?“ Ivan lächelte ihr flüchtig zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Eduard richtete. „Du hast völlig recht“, sagte er heiser. „Wir müssen so schnell wie möglich gehen. Wenn wir in der Stadt sind, können wir weitersehen.“ „Aber Vanya!“, sagte Yekaterina erschrocken. „Wie willst du das schaffen?“ „Ich habe gar keine andere Wahl, als es zu schaffen, Katyusha. Wenn ich Eduard gerade richtig zugehört habe, können wir nicht weiterfahren, weil der Tank leer ist. Tragen könntet ihr mich nicht, also muss ich wohl laufen.“ Yekaterina sah ihn mit großen Augen an. Dann schüttelte sie den Kopf und legte eine Hand auf Ivans Stirn. „Vielleicht geht das Fieber bald wieder herunter.“ „Vielleicht auch nicht“, sagte Eduard, biss sich im nächsten Moment auf die Lippe und sah Ivan schuldbewusst an. „Wir können nicht sagen, wie es sich entwickelt“, sagte Ivan, ohne weiter auf ihn einzugehen. „Aber ich werde nicht hier bleiben. Wir müssen hier weg.“ „In deinem Zustand schaffst du es nicht, Vanya.“ „Ich sagte doch gerade, dass ich gar keine andere Wahl habe, als es zu schaffen“, sagte Ivan schroffer, als er gewollt hatte. „Ich warte noch bis morgen früh“, erwiderte Yekaterina kurz entschlossen. „Wenn es dir bis dahin besser geht, Vanya, werden wir zusammen gehen. Wenn nicht... dann müssen wir weitersehen.“ Eduard sah sie an und nickte langsam. „Bis morgen können wir noch warten“, sagte er. „Es ist ohnehin besser, am Morgen loszugehen, um das Tageslicht auszunutzen.“ „Das ist ein Kompromiss“, erwiderte Yekaterina mit einem müden Lächeln. Eduard nickte erneut. „Ich werde den anderen Bescheid sagen“, sagte er und zog die Tür des Wagens auf. „Wo sind die anderen?“, fragte Ivan leise. „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen rausgehen“, antwortete Yekaterina. „Damit du deine Ruhe hast, und damit sie sich nicht anstecken.“ „Sie werden frieren, im Schnee...“ „Hier drinnen ist es mittlerweile auch nicht mehr wärmer“, erwiderte Yekaterina sanft und zog die Decke fester um ihn. „Aber wenigstens ist es trocken. Du musst dich jetzt ausruhen, Vanya, damit es dir morgen früh besser geht.“ Ivan nickte, doch er fragte sich, ob Yekaterina daran glaubte, dass er wieder gesund werden würde. Daran, dass er sich so schnell erholen würde, dass er morgen früh im Stande wäre, mit den anderen zu gehen. Mit einem Tagesmarsch konnte man es in die nächste Stadt schaffen, hatte Eduard gesagt... aber sicher war er davon ausgegangen, dass alle gut zu Fuß waren. Aufhalten würde er die anderen auf jeden Fall, selbst wenn er morgen im Stande wäre, aufzustehen, dachte Ivan. So schnell konnte sein Fieber gar nicht verschwinden. „Mach dir nicht so viele Gedanken, Vanya“, sagte Yekaterina sanft. „Schlaf jetzt.“ Sie legte eine Hand über seine Augen und Ivan musste lächeln. Dasselbe hatte Yekaterina getan, als er noch ein Kind gewesen war und sie ihn dazu hatte bringen wollen, endlich die Augen zu schließen. Es gab noch die Möglichkeit, dass die anderen allein gingen und ihn einfach zurück ließen, dachte Ivan, als seine Gedanken schon träger wurden und sich auf den Schlaf vorbereiteten. Natürlich gab es diese Möglichkeit, aber sie stand außer Frage. Er war es, der die Verantwortung für die Familie übernommen hatte. Er musste mitkommen, ohne ihn ging es nicht. Er würde die anderen nicht gehen lassen, dachte er mit einem Anflug von Trotz. Das war nicht Sinn der Flucht gewesen. Kapitel 6: Die Geschichte schreibt uns -------------------------------------- „Aber warum?“ „Wir haben eindeutige Beweise für klassenfeindliche Aktivitäten.“ „Das muss ein Irrtum sein. Es...“ „Ich sagte eindeutige Beweise, Ivan. Es ist wahr. Es ist eine schmerzhafte Erkenntnis für uns alle, aber wir müssen Maßnahmen ergreifen.“ „Aber wieso gleich solche Maßnahmen? Ich verstehe nicht...“ „Es ist eine Abschreckung für alle anderen. Es wird ähnliche Aktivitäten in Zukunft verhindern, Ivan. Es geschieht alles, um deine große Familie zusammen zu halten.“ „Ich soll einen von ihnen wegschicken, um die Familie zusammen zu halten? Das ist doch paradox!“ „Du wirst es tun, Ivan. Es ist zu deinem eigenen Besten. Wenn du es nicht freiwillig tust...“ Ivan atmete schwer und entschied, dass er nicht wissen wollte, was in diesem Fall passieren würde. „Wer von ihnen?“, fragte er stattdessen und schluckte. „Wer?“ Er wartete noch auf eine Antwort seines Bosses, ohne zu bemerken, dass er schon wach war. Halb wollte er, dass der Traum weiterging, doch die letzte Schläfrigkeit rieselte wie Sand durch seine Finger und er lag da, reglos im Dunkeln, aber wach. Er fühlte sich seltsam nackt dabei, als sei der Traum ein schützender Panzer gewesen, der nun von ihm abgelöst worden war. Selbst ein Traum, in dem sich eine reale Begebenheit wiederholte, war noch besser als die Realität. Jetzt, da er wach war, kannte er die Antwort auf seine Frage, ohne sie erhalten zu haben. Ivan blinzelte und hatte das Gefühl, als seien Yekaterinas Beine, auf denen sein Kopf lag, plötzlich wesentlich knochiger geworden. Seine Augen brannten leicht trotz der Dunkelheit, als er sie vollständig öffnete und versuchte, etwas zu erkennen. Draußen schien der Mond auf den Schnee und ließ ein schwaches, gespenstisch wirkendes Licht durch die Fenster dringen. Auf der gegenüberliegenden Bank hockten Yekaterina, Natalia, Toris und Raivis so eng zusammen gedrängt, dass Ivan sich fragte, wie sie schlafen konnten – doch sie taten es. Zwar wurde Yekaterina so sehr an die Wand gedrückt, dass sie aussah, als würde sie kaum Luft bekommen, und Raivis konnte jeden Moment von Toris' Schoß rutschen, aber noch schliefen sie. „Ivan?“ Eduards Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Langsam drehte Ivan den Kopf und erkannte sein Gesicht über sich. „Du hast...“, begann er, doch er war so heiser, dass seine Stimme versagte. Du hast Yekaterina abgelöst, hatte er sagen und Eduard dafür danken wollen, dass er seine Schwester entlastet hatte. Sie war ohnehin immer so gestresst. Sie konnte jede Erleichterung gebrauchen, die sie bekommen konnte. Eduard sah stumm zu ihm hinunter. „Es ist alles in Ordnung“, flüsterte er. „Sie werden bald wieder gesund.“ Dazu fiel Ivan nichts zu sagen ein, erst recht nicht, weil er nicht wusste, wie sehr und ob Eduard selbst glaubte, was er sagte. Sie schwiegen eine Weile lang. „Was glaubst du, woran es liegt?“, fragte Ivan leise. „Woran was liegt? Ihre Krankheit?“ Er nickte wortlos. Eduard schloss kurz die Augen und zog die Decke weiter über ihn. „Sie sind durch Ihre Schussverletzung sowieso entkräftet. Und dazu die Kälte und die Anspannung in dieser... ungewöhnlichen Situation.“ Er lächelte dünn. „Vielleicht war das einfach zu viel für Sie. Aber sicher kommen Sie bald wieder darüber hinweg.“ Einen Moment lang starrte Ivan ihn nur an. Er wollte lachen, aber es endete in einem heiseren Husten, von dem er sich erst nach einer ganzen Weile wieder beruhigen konnte. Eduard hielt mit einer Hand unsicher seine Schulter fest und beobachtete ihn mit großen Augen. „Noch liege ich nicht im Delirium, Eduard“, sagte Ivan leise, nachdem er sich endlich beruhigt hatte. „Ich weiß ganz genau, dass du Yekaterina heute Mittag noch etwas anderes gesagt hast, was die Gründe meiner Krankheit angeht.“ Eduard wandte nervös den Blick ab. „Es war nur eine Theorie. Sie kann falsch sein.“ „Ich dachte, du würdest dich mit Naturwissenschaften auskennen. Eine Theorie ist nicht falsch, solange sie niemand widerlegen kann.“ Da Eduard schwieg, fuhr Ivan fort. „Du hast gesagt, es liege daran, dass ich mich gegen meine Regierung gestellt habe. Glaubst du das etwa nicht mehr?“ „Ich habe nachgedacht“, sagte Eduard und runzelte die Stirn. „Vielleicht liegt es nicht direkt an Ihrer Regierung, nicht direkt daran, was ein paar Menschen von Ihnen wollen. Auch nicht an dem, was ein einzelner Mensch, nämlich Ihr Boss, von Ihnen will.“ „Aber?“, fragte Ivan leise. „Aber was Sie getan haben, geht über eine einfache Befehlsverweigerung hinaus“, fuhr Eduard fort, und plötzlich leuchteten seine Augen eifrig, wie immer, wenn er irgendeine Theorie darlegte. „Sie haben etwas getan, was Sie einfach nicht hätten tun dürfen, weil es keinen Grund dafür gab. Keinen anderen Grund als Emotionen, meine ich. Es war eine emotionale, vielleicht auch moralisch motivierte Entscheidung. Aber Sie sind eine Nation, Sie haben weder Emotionen noch Moral zu haben. Sie haben das zu tun, was Ihre Kinder von Ihnen erwarten, was Ihre Regierung will. Sie haben sich gegen die Geschichte gestellt, und das hätten Sie nie tun dürfen. Dafür wurden Sie nicht geschaffen. Wir sind alle nur dazu da, uns den Launen der Geschichte zu beugen. Wir schreiben keine Geschichte. Die Geschichte schreibt uns.“ Er holte tief Luft und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Zumindest“, fügte er hinzu, „könnte es so sein.“ Ivan sah ihn mit großen Augen an. „Das klingt, als seien wir alle nur Marionetten in einem Spiel“, murmelte er. „Und ich dachte immer, die Marionettenspieler wären Politiker – Menschen. Aber jetzt ist es irgendeine nicht greifbare Macht... das, was du Geschichte nennst.“ „Die Menschen machen die Geschichte“, sagte Eduard. „Ja. Aber die Geschichte wird von allen Menschen gemacht, während die Politik ein paar Männern in Anzügen vorbehalten ist. Vor ein paar Männern hätte ich noch weglaufen können. Aber wie kann ich vor Menschen weglaufen?“, fragte Ivan leise. „Wie kann ich vor dem einzigen fliehen, was mir die Erlaubnis gibt, überhaupt zu existieren?“ Eduard schüttelte leicht den Kopf und wandte den Blick ab. „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“ Ivan seufzte leise und schloss die Augen. Er hatte verstanden, was Eduard gesagt hatte, als könne es gar nicht anders sein, als habe er es selbst schon die ganze Zeit über gewusst. Dennoch hatte er das Gefühl, die Vorstellung würde ihn erschlagen. „Was ist mit euch?“, fragte er plötzlich und öffnete die Augen wieder. „Stellt ihr euch etwa nicht gegen die Geschichte?“ Eduard sah ihn an und verzog die Lippen zu etwas, das an ein Lächeln erinnerte. „Bei uns habe ich ohnehin manchmal das Gefühl, die Geschichte habe uns vergessen. Wir sind doch nur ein paar Einzelne, die auf das hören, was Sie sagen. Und das tun wir noch immer, nicht wahr? Sie haben uns befohlen, zu gehen. Es war Ihre Idee. Sie haben gleich zu Anfang gesagt, Sie würden die volle Verantwortung übernehmen. Wir haben nur das getan, was wir seit Jahrzehnten tun: Wir haben Ihnen gehorcht. Und hier sind wir nun.“ „Das ist ganz schön viel Verantwortung, die ich da übernommen habe“, murmelte Ivan. „Ja. War Ihnen das nicht von Anfang an bewusst?“ „Nicht so richtig“, gab Ivan zu und lächelte Eduard an. „Aber ich denke, es ist gut so. Ich bin das Familienoberhaupt. Ich sorge dafür, dass es uns gut geht und dass die Familie zusammen bleibt.“ Eduard legte den Kopf schief. „Was wollen Sie tun“, fragte er langsam, „wenn Sie morgen nicht wieder auf den Beinen sein sollten?“ „Ich werde morgen wieder gesund sein und mit euch gehen“, sagte Ivan entschieden. „Du hast völlig Recht, wenn du sagst, dass wir nicht länger bleiben können. Wir müssen in die Stadt, so schnell es geht. Morgen früh werden wir aufbrechen.“ „Und wenn Sie es nicht schaffen sollten?“ „Ich sagte, ich werde morgen früh wieder gesund sein.“ „Aber...“ „Kein aber“, sagte Ivan und sah Eduard scharf an. „Ich werde morgen früh gehen. Hör auf, mir zu widersprechen, Eduard.“ Sein Herz schlug schnell, aber er hoffte, seine Angst verbergen zu können. Seine Unsicherheit darüber, was ihm von seiner alten Stellung geblieben war. Den Rückhalt seines Bosses hatte er verloren, seitdem er vor ihm weggelaufen war. Eigentlich hatte er keine Macht mehr, schon gar nicht, weil er aufgrund seiner Krankheit nicht mehr seine frühere Kraft hatte. Aber wenigstens seine Autorität musste ihm geblieben sein, dachte Ivan verbissen. Irgendetwas musste da doch noch sein. Wenigstens genug Respekt, genug Furcht... zur Not auch genug Macht der Gewohnheit, damit ihm niemand widersprach. „Verzeihen Sie bitte“, sagte Eduard leise und wandte den Blick ab. „Selbstverständlich werden wir alle zusammen gehen.“ Ivan holte tief Luft und schloss die Augen. Er hatte gewonnen, dachte er. Obwohl er mit dem Kopf in Eduards Schoß lag und dieser ihn in seinem Zustand wahrscheinlich überwältigen könnte, wenn er es darauf anlegte... trotz allem hatte er gewonnen. Er hatte noch immer Macht, und er würde sie verwenden, um seine Familie bei sich und zusammen zu halten. Egal, dachte er verbissen, ob Eduard wollte oder nicht. Egal, ob die Familie wollte oder nicht. Wieder war es Abend. Wieder saßen sie im Wohnzimmer, mit einem gemütlichen Feuer im Kamin. Und schon wieder hatte Ivan einen Befehl von Onkelchen bekommen, den er ausführen musste, ob er wollte oder nicht. Aber er konnte es nicht, dachte Ivan. Er konnte es nicht tun, bevor er mit der letzten Sache abgeschlossen hatte, die er auf Onkelchens Befehl hin getan hatte. Vier Jahre war es mittlerweile her. „Eduard, Raivis?“ Eduard zuckte zusammen und sah von seinem Buch auf. Neben ihm auf dem Sofa legte Raivis den Kopf schief. „Was ist denn?“ Ivan lächelte leicht und nickte zur Tür. „Geht ins Bett.“ Er sah, wie Toris in seinem Sessel zusammen zuckte und sein Blick plötzlich leer wurde. Eduard schlug sein Buch zu und stand langsam auf, genau wie Raivis. Sie wollten nicht gehen, dachte Ivan, aber bleiben wollten sie auch nicht. Sie glaubten, zu wissen, was geschehen würde. Ivan stand auf und schloss die Tür hinter ihnen. „Toris?“ Er erhielt keine Antwort und drehte sich um. Toris saß noch immer in seinem Sessel. Er hatte leicht zu zittern begonnen. Langsam ging Ivan hinüber und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Toris. Es ist alles in Ordnung.“ Toris presste die Lippen zusammen und zitterte heftiger. „Bitte“, flüsterte er. „Was?“, fragte Ivan überrascht. „Diesmal trinke ich es“, sagte Toris und schloss die Augen. Es dauerte einen Moment, bis Ivan begriffen hatte, was er meinte. „Oh nein, nein“, sagte er dann und versuchte, nicht zu lachen. „Diesmal gibt es nichts zu trinken, Toris. Ich bin nicht hier, um...“ Er fand nicht die richtigen Worte. Unsicher nahm er die Hand von Toris' Schulter und zog sich in seinen eigenen Sessel zurück. Eine Weile lang saßen sie nur stumm da und blickten in die Flammen, wobei Ivan sich nicht sicher war, ob Toris sie auch sah. „Ich muss dir etwas erklären, Toris“, sagte er leise. Toris reagierte nicht. „Es war ein Befehl von meinem Boss“, fuhr Ivan fort, brachte es aber nicht über sich, Toris dabei in die Augen zu sehen. „Nun ja... indirekt zumindest. Er meinte, du hättest etwas Aufständisches in deinem Inneren, das ich dir nicht austreiben könnte, weil ich es nicht versuchen würde. Und vielleicht hatte er ein Stück weit Recht damit, Toris. Ich wollte nicht dein Innerstes verletzen.“ Noch immer sagte Toris nichts dazu, aber seine Augen weiteten sich leicht. „Aber etwas musste ich tun, Toris“, sagte Ivan und sah ihn jetzt doch an. „Onkelchen hat gesagt, wenn ich es nicht schaffe, dich zu erziehen, dann nehmen sie dich mir weg. Und das konnte ich nicht zulassen. Ich konnte nicht zulassen, dass andere Menschen dir wehtun, Toris, also... musste ich es selbst tun. Dir wehtun, meine ich. Weißt du was? Ich glaube, das war alles, was Onkelchen sehen wollte. Dass ich im Ernstfall doch dazu im Stande bin, dir wehzutun.“ Toris holte tief Luft und hob den Kopf. Der Ausdruck in seinen Augen war nicht zu deuten. „Sie wollen mir also erklären“, flüsterte er, „dass Sie es mir zuliebe getan haben?“ Ivan senkte den Blick. „Ich weiß, dass es dich... verletzt hat, Toris. Aber genau das war der Punkt, verstehst du? Ich musste dich verletzen, weil sonst andere gekommen wären, die dich noch mehr verletzt hätten. Verstehst du?“ „Sie haben mich also beschützt“, sagte Toris. „Ja.“ „Und? Was erwarten Sie jetzt von mir?“ Ivan lächelte ihn zaghaft an. „Ich dachte, wenn du es weißt... wenn du es verstehst... vielleicht kannst du mir -“ „Vergeben?“, unterbrach Toris ihn. „Wollten Sie gerade vergeben sagen?“ „Ja“, antwortete Ivan unsicher. Toris' Lippen zitterten, aber diesmal war es nicht die Angst, die sie zum Zittern brachte. Es sah eher aus wie Wut. „Wie können Sie es wagen.“ „Was?“, fragte Ivan verblüfft. „Wie können Sie es wagen, mich um Verzeihung zu bitten!“, kreischte Toris plötzlich und Ivan zuckte zusammen. „Wie können Sie von mir verlangen, Ihnen zu vergeben, ohne auch nur ein es tut mir Leid in den Mund zu nehmen? Soll das alles sein? Sie hatten keine andere Wahl, und deswegen kann ich Ihnen nicht böse sein?“ „Aber ich hatte keine Wahl“, murmelte Ivan. „Und selbst wenn! Sie können nichts wieder gut machen, egal, was Sie sagen! Selbst wenn Sie es bereuen würden, könnten Sie nichts durch Worte ungeschehen machen! Das Beste, was Sie tun können, ist, die Sache nie wieder zu erwähnen und mir vor allem nicht so eine verdammte Angst einzujagen!“, schrie Toris und rappelte sich auf. „Haben Sie keine Ahnung, wie es wirkt, dass Sie mich schon wieder hier behalten haben? Hier?“ „Bleib hier, Toris!“, sagte Ivan und hob die Hand. „Ich... es tut mir doch Leid! Ich bitte dich um Verzeihung!“ „Und ich lehne die Bitte ab, wie es mein gutes Recht ist“, brachte Toris zwischen den Zähnen hervor und starrte ihn so wütend an, dass Ivan zusammen zuckte. „Und zwar endgültig, Ivan. Sprechen Sie nie wieder davon.“ Er öffnete die Tür und ging hinaus. „Bleib hier! Das... das ist ein Befehl!“, sagte Ivan halbherzig. Natürlich hörte Toris ihn nicht mehr oder ignorierte ihn zumindest. Langsam ließ Ivan die Hand wieder sinken und bemerkte, dass er zitterte. Schlechter hätte es nicht laufen können, dachte er und schluckte. Und jetzt auch noch Onkelchens neuster Auftrag, für den Ivan genauso viele Gewissensbisse auf sich zukommen sah wie für den letzten. Wenn nicht sogar noch mehr. Warum lag eigentlich immer noch dieser verflucht hässliche Teppich vor dem Kamin? Kapitel 7: Klassenfeind an der Arbeit ------------------------------------- Die Morgensonne schien durch eines der Fenster direkt in sein Gesicht. Ivan öffnete blinzelnd die Augen und betrachtete eine Weile lang stumm das Licht. „Wieso habt ihr mich nicht geweckt?“ „Wir sind selbst erst seit gerade eben wach“, antwortete Yekaterina, die ihren Platz als sein Kissen wieder eingenommen hatte, und strich über seine Stirn. „Aber es ist Morgen. Das heißt, wir müssen gehen.“ „Das heißt, dass wir sehen müssen, ob er dir gut genug geht, damit wir gehen können“, korrigierte sie ihn sanft. Aber das stimmte überhaupt nicht, dachte Ivan und setzte sich auf. Das Blut sackte aus seinem Kopf und er brauchte einen Moment, um sein Gleichgewicht zu finden. Yekaterina sah ihm schockiert dabei zu. „Du schaffst das nicht, Vanya“, flüsterte sie. „Ich schaffe das“, widersprach Ivan, zupfte seinen Schal zurecht und stand auf. Er tat es zu hastig, sodass der Boden unter seinen Füßen einen Moment lang schwankte, bevor er sich wieder beruhigte. Noch immer flimmerte das Bild vor seinen Augen und machte ihn nervös. „Wir können sofort gehen“, sagte Ivan und versuchte, entschlossen zu klingen. Yekaterina rang die Hände, bevor sie nach seinem Arm griff. „Bitte übernimm dich nicht, Vanya.“ „Ach was“, sagte Ivan und streifte ihren Arm ab, als würde er ihre Hilfe nicht brauchen – in Wahrheit hätte er sie allzu gut gebrauchen können. Er sah Yekaterinas Gesicht, so besorgt, dass es an Verzweiflung grenzte. „Es wird alles gut, Katyusha. Heute Abend werden wir schon in Sicherheit sein.“ Sie nickte, aber sie wirkte nicht überzeugt. Ivan riss den Blick von ihrem Gesicht los und schob die Tür des Wagens auf. Draußen warteten die anderen. Eduard und Raivis sprachen über irgendetwas, Toris hielt sich im Hintergrund. Natalia kam auf Ivan zu, sobald sie ihn sah, und griff nach seinem Arm. „Geht es dir wieder besser, Vanya?“ „Es geht mir gut“, log er und streifte die anderen nur mit einem kurzen Blick. „Gehen wir. Je schneller, desto besser.“ „Gehen wir“, stimmte Natalia zu. „Wir werden einfach der Straße folgen.“ „Das einfach streichen wir einfach mal“, bemerkte Eduard sarkastisch. „Man sieht ja kaum, wo die Straße ist, bei diesem Schnee.“ Vor ihnen zog sich die Spur eines Autos durch den Schnee, doch sie war schon fast wieder zugeschneit oder vom Wind verwischt. Wenn es noch einmal schneien würde, dachte Ivan, würden sie sich verlaufen. Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Himmel, der voller Wolken hing. Wenigstens waren die Wolken weiß, nicht grau vor Schnee, aber sie zogen sehr schnell. „Wenn wir die Straße verlieren, müssen wir uns an der Stadt orientieren“, sagte Yekaterina und nickte nach vorn, wo sich die dunkle Silhouette der Stadt vom Horizont abhob. Sie war so schrecklich weit weg, dachte Ivan. Wie konnte Eduard so genau sagen, dass sie einen Tag dorthin benötigen würden? Vielleicht hatte er es auch nur gesagt, damit die anderen den Mut fanden, es zu versuchen. Die Aussicht, eine Nacht im Freien verbringen oder durchlaufen zu müssen, war nicht gerade ermutigend. „Eigentlich dürfte sie nicht zu verfehlen sein.“ „Nein“, sagte Natalia. „Also, wollen wir gehen oder lieber hier fest frieren?“ Schweigen antwortete ihr. Obwohl sie hier draußen früher oder später erfrieren würden, wollte es niemand wagen, sich von dem vermeintlichen Schutz des Wagens zu trennen. Ivan sah, dass Raivis einen traurigen Blick auf die nun geschlossene Tür warf. Einer von ihnen musste den ersten Schritt machen, dachte er. Er machte den ersten Schritt, trat unter dem Schnee auf eine Unebenheit und verlor beinahe das Gleichgewicht. Erschrocken folgte Yekaterina ihm und griff erneut nach seinem Arm. „Vanya! Ist etwas passiert?“ „Ja“, sagte Ivan. „Wir sind jetzt unterwegs, das ist passiert. Kommt.“ Niemand gab ihm Recht, niemand widersprach. Natalia hakte sich unter seinen anderen Arm, Eduard, Toris und Raivis folgten schweigend ein Stück weiter hinten. Er würde das Beste für seine Familie tun, dachte Ivan. Solange seine Beine ihn noch trugen, würde er voran gehen und genau das tun. Die Sonne stieg höher, bis sie blendend hell auf den Schnee schien. Ivans Magen knurrte. Einerseits versuchte er, deswegen hoffnungsvoll zu sein: Wenn er schon wieder Hunger hatte, hatte er seine Krankheit so gut wie hinter sich. Andererseits begann er zu bezweifeln, dass er es bis in die Stadt schaffen würde, entkräftet und zu allem Überfluss noch hungrig. Manchmal wurden seine Knie so weich, dass er fürchtete, sie würden ihn nicht mehr tragen wollen. Jedes Mal biss er sich auf die Unterlippe und lief weiter. Toris, Raivis und Eduard hatten versucht, etwas zu singen, um die Stimmung zu heben, es aber bald aufgegeben. Sie liefen schweigend weiter, durch den Schnee, immer der Straße folgend, die sie gerade so erahnen konnten. Yekaterina und Natalia waren an seiner Seite, Natalia noch immer bei ihm untergehakt, Yekaterina bereit, jederzeit zuzugreifen. Aber er würde nicht noch einmal stolpern, dachte Ivan. Wenn er einmal fiel, war es vorbei. Einmal am Boden würde er nicht mehr auf die Beine kommen. Galt das nicht für jeden von ihnen? „Ivan?“, erklang Toris' Stimme hinter ihm, als die Sonne schon begann, sich wieder zu senken. „Ja?“ „Können wir eine kurze Pause machen?“ Ivan wusste nicht, was er sagen sollte. Er schleppte sich schon so lange dahin, dass er jeden Gedanken an eine Pause verdrängt hatte. Wenn er sich hinsetzte, würde er nicht wieder aufstehen. „Warum?“ „Wir sind erschöpft“, antwortete Toris leise. „Ein paar Minuten Rast würden uns gut tun.“ Ob in diesem wir auch Ivan mit eingeschlossen war? Toris verstand sich darauf, so zu sprechen, dass jeder in seine Worte hinein interpretieren konnte, was ihm am liebsten war. Momentan war es Ivan am liebsten, wenn er nicht zu Toris' wir gehörte. Niemand brauchte zu wissen, dass er die Pause am nötigsten hatte. „Also gut“, sagte er und blieb stehen. „Aber nicht zu lange. Wir müssen heute noch ankommen.“ Kaum hatte er ausgesprochen, ließ Raivis sich fallen, wo er stand, kauerte sich zusammen und legte die Stirn auf seinen angezogenen Knien ab. Eduard hockte sich neben ihn in den Schnee und holte tief Luft. Leicht verwirrt sah Ivan sich um und bemerkte, dass auch die anderen mehr als erleichtert über die Pause schienen. Selbst Natalia schloss kurz die Augen, ließ seinen Arm los und massierte sich die Schläfen. Sie waren am Ende, dachte Ivan verblüfft, und er hatte es über seine eigene Entkräftung kaum bemerkt. „Ihr hättet früher sagen müssen, dass ihr eine Pause machen wollt“, sagte er. „Es ist in Ordnung“, murmelte Yekaterina und lächelte ihm zu, aber das Lächeln wirkte nicht ganz echt. „Wir müssen heute noch ankommen. Du hast ja Recht, Vanya.“ „Heute noch ankommen, ja“, sagte Ivan und betrachtete Raivis, der den Kopf wieder gehoben hatte, allerdings sehr blass aussah und noch immer nicht zu Atem gekommen war. „Aber nach Möglichkeit sollten wir auch lebendig ankommen.“ „Beides auf einmal ist vielleicht zu viel verlangt“, murmelte Eduard. „Was meinst du damit?“, fragte Ivan scharf. „Du warst es, der gesagt hat, dass wir die Stadt in einem Tag erreichen, Eduard. Hast du deine Meinung geändert?“ „Nein.“ „Dann schlage ich vor, du sparst dir deine Kommentare und hörst auf, unsere Moral zu untergraben. So etwas können wir nicht gebrauchen.“ „Verzeihung“, sagte Eduard leise, ohne Ivan anzusehen. Er tat es schon wieder, dachte Ivan. Schon wieder brachte Eduard die Ordnung ins Wanken, die es in ihrem Haus immer gegeben hatte. Seitdem sie das Haus verlassen hatten, gab es nichts mehr, was diese Ordnung stützte, dachte Ivan. Vielleicht war er nur deswegen noch das Familienoberhaupt, weil noch niemand bemerkt hatte, wie verletzlich er nach seiner Krankheit geworden war. Aber wenn Eduard so weitermachte, würden es bald alle wissen. Kritische Geister wie seiner waren gefährlich, dachte Ivan. Das Beste, was man mit einem solchen Geist tun konnte, war, ihm viel körperliche Arbeit zu tun zu geben, damit er nicht zum Denken kam. Tatsächlich hätte sein Boss besser Eduard nach Sibirien geschickt als Raivis. Im nächsten Moment biss er sich für diese Idee auf die Lippe, doch der Gedanke war aufdringlich und nicht mehr zu verdrängen. In seinem eigentlich machtlosen Zustand wusste er nicht mehr, was er mit Eduard tun sollte. Früher, dachte er, hatte es sich gut angefühlt, dass wenigstens Toris sich seinem Machtanspruch ein Stück weit entzog. Aber das war früher gewesen, als Ivans Stellung trotz allem noch unangetastet war. Die Erinnerungen an seine trostlose, hilflose Kindheit waren noch präsent, besonders diejenigen, die sich als Narben in sein Fleisch gegraben hatten. Er wollte diese Zeit nicht wiederholen, um keinen Preis. Ja, er wollte, dass seine Familie glücklich war, aber er wollte nicht verletzt und auf gar keinen Fall allein gelassen werden. Und genau das würde passieren, wenn Eduard allen klarmachte, wie schutzlos Ivan war. Zum ersten Mal seit langer Zeit bemerkte Ivan, dass er Angst hatte. „Wir gehen weiter“, sagte er knapp. Sie hoben die Köpfe und sahen ihn an. Eine Sekunde lang glaubte Ivan, sie würden sich weigern, ihm zu folgen. Dann jedoch stützte Raivis eine Hand in den Schnee und stand auf. Er stand wacklig auf den Beinen, seine Knie zitterten, doch er blieb stehen. Sicher hätte er eine längere Rast vertragen können, dachte Ivan, aber er würde sie nicht bekommen. Weil Ivan es so sagte. Auch die anderen waren aufgestanden und sahen ihn abwartend an. Er war der Anführer, dachte Ivan, fragte sich aber plötzlich, warum. Wieso folgten ihm alle? Er war entkräftet, sie waren viel mehr als er. Warum sahen sie nicht, dass sie ihm gar nicht zu folgen brauchten? „Gehen wir“, sagte er und Natalia hakte wieder den Arm unter seinen. „Gehen wir“, wiederholte Yekaterina leise und lächelte. „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“ Es wurde dunkler um sie herum, sodass der Schnee im Licht des Mondes zu schimmern begann. Nichts war zu hören bis auf das Knirschen ihrer Schritte im Schnee. „Die Stadt ist da vorn“, flüsterte Natalia neben Ivan und nickte nach vorn. Tatsächlich waren Lichter und eine undeutliche Silhouette gegen den Himmel zu erkennen. Ivan riss die Augen auf. „Das ist noch weit.“ „Und es beginnt zu schneien“, murmelte Yekaterina. „Ach ja? Woran merkst du das?“ „Noch gar nicht. Aber ich weiß es.“ Ivan runzelte die Stirn und sah in den Himmel, der jedoch schon zu dunkel war, um etwas zu erkennen. Den Mond sah man nur als undeutlichen Lichtfleck durch die Wolken. „Wenn es zu schneien anfängt“, fragte Toris zögernd, „was tun wir dann?“ Alle sahen Ivan an, wie immer, und er fragte sich, wieso es ihm gerade heute so auffiel. „In einem Schneesturm können wir auf keinen Fall hier draußen bleiben“, sagte er entschieden. „Wir müssen weitergehen.“ „Oder wir bleiben hier“, sagte Yekaterina plötzlich. „Hier? Aber Katyusha, ich sage doch...“ „Nicht draußen, Vanya. Sondern dort.“ Verwirrt sah Ivan in die Richtung, in die sie deutete, und riss die Augen auf. Einige Schritte von der Straße entfernt (oder waren sie von der Straße abgekommen?) ragte eine große, eckige Erhebung aus dem Schnee. Im Halbdunkeln war kaum etwas zu erkennen, aber Ivan wusste, dass es sich um ein Haus handeln musste. Eine kleine Hütte draußen vor der Stadt, vermutlich verlassen und seit Jahren nicht mehr beheizt. „Es wird kalt sein dort drinnen. Sicher ist die Hütte verschlossen, es sei denn, die Fenster sind eingeschlagen. Vielleicht ist sogar das Dach kaputt.“ „All das wäre immer noch besser, als die Nacht im Schneesturm draußen zu verbringen“, sagte Yekaterina sanft. „Denk doch nach, Vanya. Wir schaffen es nicht mehr in die Stadt, bevor der Sturm losgeht.“ „Woher weißt du...“, begann Ivan, doch in diesem Moment schwebte die erste Schneeflocke vor seinen Augen vorbei. Er sah in den Himmel und erkannte trotz der Dunkelheit die unzähligen Flocken, die lautlos auf ihn herunter fielen. Yekaterina hatte schon immer ein Gespür für Schnee gehabt, dachte er. „Was machen wir jetzt?“, jammerte Raivis leise, doch niemand antwortete ihm. „Sehr gut“, sagte Ivan, obwohl er wusste, dass nichts gut war. „Dann sehen wir doch mal, ob wir die Tür aufbekommen.“ Er verließ den Weg und hielt auf die Hütte zu. Die anderen folgten ihm mit einigem Abstand, bis auf Natalia, die sich noch immer an seinem Arm festhielt. „Sag mal, Bela“, flüsterte Ivan ihr zu und griff nach ihren kalten Fingern. „Was glaubst du, warum Menschen dazu neigen, einem Anführer zu folgen?“ Natalia schwieg einen Moment lang, doch zu Ivans Überraschung fragte sich nicht, wie er jetzt auf eine solche Frage kam. „Ich denke, man will nicht immer für sich selbst entscheiden“, antwortete sie nach einer Weile. „Es mag gut sein, für sich selbst denken zu können, aber es ist auch anstrengend. Einen Anführer zu haben, bedeutet, für nichts selbst verantwortlich zu sein, sondern von einem vermeintlichen Weisen geführt zu werden. Und es bedeutet Schutz. Das Gefühl, dass es jemanden gibt, der mächtiger ist als man selbst... es bedeutet Schutz.“ Ivan lächelte traurig. „Das klingt nicht nach einer sehr guten Lebensweise.“ „Vielleicht nicht“, murmelte Natalia und senkte den Kopf. „Aber sie ist menschlich, Vanya. Der Mensch ist nicht gut.“ Am liebsten hätte er noch etwas gesagt, weil ein Hauch von Verzweiflung in diesen Worten lag, von Bitterkeit und Abscheu, die er an Natalia nicht kannte. Aber in diesem Moment erreichten sie die Tür der Hütte, und Ivan sah gleich, dass sie aus den Angeln gebrochen und mehr schlecht als recht wieder gegen den Türrahmen gelehnt worden war. Zögernd streckte er die Hände aus und zog die Tür beiseite. Es bereitete ihm einige Mühe, doch er schaffte es. „Na also. Es hat zwar ein wenig herein geschneit, aber wenigstens haben wir so keine Probleme, ins Innere zu kommen.“ „Es ist kalt hier“, murmelte Natalia, die hinter ihm die Hütte betrat und sich umsah. Ein massiver Tisch stand unter einem kleinen Fenster, das von innen mit Brettern vernagelt war. Die beiden dazugehörigen Stühle lagen im Raum herum, einem fehlten drei Beine. Von dem schmalen Bett in der Ecke war die Decke herunter gezerrt worden, die Matratze war aufgerissen. „Sicher war jemand hier“, flüsterte Yekaterina und sah sich unbehaglich in dem verwüsteten Raum um. „Vielleicht wilde Tiere oder...“ „Wenigstens ist das Dach dicht“, entgegnete Ivan, der bis auf die kleinen Häufchen neben der Tür nirgendwo Schnee erkennen konnte. „Besonders warm werden wir es nicht haben, aber dafür trocken. Das ist wesentlich besser, als draußen im Schnee zu schlafen.“ „Schlafen?“, wiederholte Raivis, der gerade als letzter die Hütte betreten hatte. „Ja“, sagte Ivan und musste lachen, weil Raivis äußerst erleichtert aussah. „Wir werden die Nacht hier verbringen und uns morgen früh auf den Weg in die Stadt machen. Sobald der Sturm sich gelegt hat.“ „Hoffentlich fliegt uns das Haus nicht über den Köpfen weg“, sagte Yekaterina und lachte nervös. „Ach was“, winkte Ivan ab. „Es wird nicht der erste Sturm sein, den dieses Haus zu verkraften hat. Toris, Eduard, stellt die Tür wieder vor den Eingang. Katyusha, Bela – ihr könnt das Bett nehmen, wenn ihr wollt. Es ist ein bisschen ramponiert, aber besser, als auf dem Boden zu schlafen.“ „Und wir?“, fragte Raivis mit großen Augen. „Schlafen wir wieder auf dem Boden?“ Ivan wollte fragen, warum er wieder sagte, verbiss sich die Frage aber im letzten Moment. „Nein, kleiner Raivis“, sagte er stattdessen aufmunternd. „Ich schlafe auf dem Boden. Du kommst auf meinen Schoß.“ Er betrachtete den Teppich, der vor dem Bett lag, fand ihn zumindest gemütlicher als den nackten Boden und setzte sich. Toris und Eduard hatten die Tür wieder vor den Eingang gestellt, wie er es ihnen gesagt hatte. Das wenige Licht, das durch die Türöffnung ins Innere der Hütte gedrungen war, wurde abgeschnitten. Natalia ließ sich auf dem Bett nieder, rümpfte die Nase und zupfte ein Stück der Matratzenfüllung aus ihren Haaren. „Geht es so, Bela?“, fragte Yekaterina und legte sich neben sie. „Ja, sicher.“ „Kommt her“, sagte Ivan zu Toris und Eduard. „Am besten rücken wir so dicht zusammen wie möglich. Raivis, komm zu mir. Du siehst völlig durchgefroren aus.“ Raivis kam zögernd näher, ließ Ivan nicht aus den Augen und stolperte deswegen über die Kante des Teppichs. Beinahe wäre er geradewegs in Ivans Schoß gelandet. „Hast du es so eilig, kleiner Raivis?“, fragte Ivan amüsiert, griff nach seiner Hand und zog ihn zu sich herunter. „Komm her... du meine Güte. Du bist ja eiskalt.“ Er tastete suchend nach den dünnen Armen, die sich irgendwo in Raivis' Mantelärmeln verstecken mussten, und berührte die zitternden Finger, die tatsächlich kalt waren wie Eis. Eine plötzliche Angst ergriff von ihm Besitz, als er bemerkte, dass der Junge auf seinem Schoß fast nichts wog. Es war, als halte er ein Bündel zu dicker Kleider in den Armen. „Bist du müde, Raivis?“ „Ziemlich“, murmelte Raivis und begann, heftiger zu zittern. Vor Kälte, überlegte Ivan. Oder vor Angst. „Schlaf nur. Hier kann uns nichts passieren. Ich passe auf dich auf, kleiner Raivis.“ Er beobachtete, wie Raivis noch ein Weile lang unschlüssig aussah, dann die Augen flatternd schloss und ausatmete. Er entspannte sich nicht, sondern zitterte weiter vor sich hin. Eduard setzte sich neben Ivan, Toris daneben. „Je näher ihr kommt, desto wärmer ist es.“ Eduard rückte zögernd einen halben Zentimeter näher und Ivan seufzte leise. Dann eben nicht. Wer nicht wollte, hatte wohl schon. Wenigstens Raivis war schön nah bei ihm, dort, wo er ihn am besten warm halten konnte. „Gute Nacht“, sagte Yekaterina hinter ihm. Toris, Eduard und Natalia antworteten gedämpft, nur Raivis schwieg. „Gute Nacht“, sagte Ivan. „Schlaft gut.“ Er selbst schlief nicht, noch nicht. Er wartete, bis Yekaterinas Atmung hinter ihm sich beruhigt hatte und sie neben Natalia da lag, ruhig und reglos. Er wartete, bis Eduards Kopf gegen Toris' Schulter sank, der sich wiederum gegen die Wand lehnte. Er wartete so lange, bis Raivis auf seinem Schoß zu zittern aufgehört hatte und leise, kaum hörbar atmete. Noch immer waren seine Finger so kalt, dachte Ivan und tastete danach. So kalt. Er seufzte leise und schloss die Augen. Wenigstens war die Familie zusammen, und er war noch immer das Familienoberhaupt. Das war das Wichtigste. Kapitel 8: Im Großen und Ganzen ------------------------------- Ivan bemühte sich, leise zu sein, als er die Tür öffnete. Das Licht, das vom Flur herein fiel, musste ihm genügen, um sich zu orientieren. Eduard hatte ihm in seinem Bett den Rücken zugedreht und rührte sich nicht. Toris lag auf der Seite, eine schmale Hand ruhte neben seinem Kopf. Selbst im Schlaf war sein Gesicht noch angespannt. Ivan musste sich von dem Anblick losreißen. Wenn Toris ihm verziehen hätte, wäre das hier einfacher gewesen, dachte er. Langsam machte er einen weiteren Schritt in den Raum hinein. Raivis' Bett stand in der hinteren Ecke des Raumes, unter einem kleinen gerahmten Bild an der Wand. Das Bild war ein schlichtes Aquarell, das einen Strand zeigte, ein Ruderboot mit Löchern im Rumpf und das grün-graue Meer, das dagegen anrollte. Ein wenig optimistisches Motiv, dachte Ivan und überlegte, wer das Bild wohl aufgehängt hatte. „Raivis?“, fragte er leise und beugte sich über den Jungen. Raivis lag auf der Seite, zu einer kleinen Kugel zusammengerollt. Eine Hand umklammerte die Decke, die andere berührte seine leicht geöffneten Lippen. Im Gegensatz zu dem von Toris war sein Gesicht entspannt. „Raivis“, sagte Ivan noch einmal, streckte eine Hand nach der schmalen Schulter aus und rüttelte daran. „Wach auf.“ Raivis runzelte die Stirn und murmelte etwas Unwilliges. Blinzelnd öffnete er die Augen und riss sie im nächsten Moment weit auf. „Was ist los?“, flüsterte er, wich hastig ein Stück vor Ivan zurück und stützte sich auf die Ellbogen auf. Seine Augen waren groß vor Angst. Aber er hatte nicht genug Angst, dachte Ivan. Wenn er wüsste, was los war, wäre er sicher noch verängstigter. „Komm mit“, sagte er ebenso leise. Toris und Eduard mussten nicht geweckt werden. Wenn sie schliefen, umso besser. „Warum?“, fragte Raivis und schluckte. „Frag nicht, warum“, zischte Ivan. „Steh auf und komm mit.“ Noch immer sah Raivis ihn mit großen Augen an. „Soll ich mich anziehen?“, wagte er zu fragen. „Nicht nötig. Komm einfach mit.“ Als Raivis noch immer zögerte, griff Ivan nach seinem Arm und zog ihn einfach mit sich. Er wollte das hier hinter sich bringen. Warum sollte man es unnötig in die Länge ziehen? Raivis schrie kläglich auf, als er über seine eigenen Füße stolperte und beinahe hinfiel. Ivan riss ihn wieder hoch und presste eine Hand auf seinen Mund. „Still“, flüsterte er. „Wir wollen Toris und Eduard nicht wecken.“ Er bugsierte Raivis auf den Flur und schloss sorgfältig die Tür hinter ihnen. Raivis wehrte sich gegen seinen Griff, aber er zitterte so stark, dass seine Bewegungen kraftlos waren. „Was ist denn los?“, fragte er, sobald Ivan die Hand von seinem Mund nahm und ihn weiter den Flur hinunter zog. „Ich habe gar nichts gemacht!“ „Nicht?“, fragte Ivan und hörte sein Herz schlagen. „Onkelchen hat da aber etwas anderes erzählt.“ „A-aber was denn? W-was ist denn los? Ich habe wirklich nichts getan!“ „Vielleicht hast du das nicht... nicht direkt. Aber deine Kinder haben etwas getan, Raivis. Du musst es schon lange gespürt haben, aber du hast nichts davon gesagt. Kein Wort.“ „Was denn getan? Ich weiß nicht, wovon Sie reden!“, beteuerte Raivis. „Bitte... bitte lassen Sie mich gehen! Tun Sie mir nicht weh!“ „Ich werde dir nicht wehtun, Raivis“, flüsterte Ivan, erreichte die Treppe und schubste Raivis vor sich her. „Das werden andere übernehmen.“ „Aber warum? Was ist denn passiert? Ich weiß überhaupt nicht, was ich falsch gemacht habe!“ Das Problem war, dachte Ivan, dass er das auch nicht genau wusste. Aber was Onkelchen sagte, wurde getan. Etwas anderes kam nicht in Frage. Er musste tun, was er tun musste. „Sie tun mir weh!“, kreischte Raivis und umklammerte Ivans Arme. „Hören Sie auf! I-ich kann allein laufen!“ Ivan zwang sich, ihn zu ignorieren. Erst, als sie die Eingangstür erreichten, ließ er Raivis los. „Zieh deinen Mantel und die Stiefel an. Aber schnell.“ Zitternd tat Raivis, was er sagte. „Aber warum?“, fragte er verzweifelt und schlüpfte in seine Stiefel. „Warum denn?“ „Das wirst du noch früh genug sehen, Raivis.“ Mit einem Mal erstarrte Raivis in der Bewegung. „Sie schicken mich weg“, flüsterte er und drehte sich mit großen Augen zu Ivan um. „Sie schicken mich nach Sibirien.“ Warum hatte er darauf kommen müssen? Ivan hatte ihn für naiver gehalten. „Ich will das nicht“, flüsterte Raivis und schüttelte den Kopf. „Ich will das nicht.“ „Das hier ist nicht meine Entscheidung, Raivis. Und nun mach die Sache nicht kompliziert.“ „Ich will das nicht!“, kreischte Raivis auf und rannte plötzlich los, an ihm vorbei auf die Treppe zu. „Schicken Sie mich nicht weg!“ Hastig stellte Ivan sich ihm in den Weg. Raivis konnte nicht mehr bremsen und lief geradewegs in seine Arme, und Ivan hielt ihn fest und drückte ihn an sich. Panisch versuchte Raivis, sich loszureißen. „Sie können das nicht tun! Sie können mich nicht wegschicken! Sie... können nicht...“ Schweigend stand Ivan da und spürte, wie Raivis versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Ein ums andere Mal bohrte sich eine Faust oder ein Ellbogen in seine Brust oder seinen Bauch, aber durch den dicken Stoff seiner Kleider spürte er es kaum. Er fühlte kaum etwas bei dem, was er tat, dachte er und wusste nicht, ob er deswegen erleichtert sein oder sich schämen sollte. Nach und nach wurden Raivis' Bewegungen kraftloser und das beständige Zittern verdrängte sie, das er immer an sich hatte. Das Zittern, das ihn genauso lähmte wie seine Angst. „Es tut mir Leid... ich wollte nichts Falsches tun, wirklich nicht! Es tut mir Leid... bitte... tun Sie das nicht. S-sie können alles mit mir machen, was Sie wollen, aber nicht... n-nicht... ich...“ Er schluchzte auf und sein Zittern wurde so stark, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Behutsam, aber noch immer seltsam taub schob Ivan ihn ein Stück von sich weg, griff nach Raivis' Mantel und legte ihn ihm um die Schultern. „Den wirst du brauchen“, sagte er und war überrascht, wie normal seine Stimme klang. „Es ist nicht meine Entscheidung, was mit dir passiert. Und jetzt komm.“ Raivis sah zu ihm auf, und sein flehender Blick brannte sich auf ewig in Ivans Gedächtnis. In Raivis' Augen war Ivan die höchste Instanz, der mächtigste Mann auf der ganzen Welt. Wenn er von ihm begnadigt würde, wäre alles in Ordnung. Das war die Hoffnung, an die Raivis sich klammerte, aber wie so viele Hoffnungen war sie trügerisch. Es gab Männer, die mächtiger waren als Ivan. Und obwohl er nichts lieber getan hätte, als Raivis weiter in seiner Familie zu behalten, was auch immer er getan hatte, konnte er es nicht. Es lag nicht in seiner Macht, Gnade zu haben. Im Schatten entschieden darüber längst andere. Als er erwachte, tat er es, weil seine Füße froren. Zwar glaubte er nicht, dass die Stiefel gegen den Schnee undicht waren, aber die Kälte war langsam durch das Leder gedrungen und hatte seine Zehen so steif gemacht, dass er sie kaum noch spürte. Als er sie zu bewegen versuchte, schmerzten sie. Ivan sog scharf die Luft ein. Das letzte, was er gebrauchen konnte, waren abgefrorene Zehen. Davon würde er wieder ein paar Jahrzehnte etwas haben. In der Hütte war es dunkel und der Sturm tobte noch immer draußen. Noch immer saß Raivis auf seinem Schoß. Ivan tastete nach Yekaterinas Arm hinter sich und war beruhigt, als er ihn fand. Eduard und Toris kauerten als zwei unförmige Schatten neben ihm. Sie waren wirklich so weit zusammen gerückt, wie es möglich war, dachte Ivan. Nur von ihm hielten sie Abstand. Nun, Toris konnte er es nicht übel nehmen. Eduard eigentlich auch nicht. Bevor er sich entschließen konnte, die Augen zu schließen und wieder zu schlafen zu versuchen, bewegte sich Raivis auf seinem Schoß. Aufmerksam geworden sah er nach unten, obwohl er in der Dunkelheit nicht mehr als einen Umriss erkennen konnte. „Raivis?“, flüsterte er. „Bist du wach?“ Einen Moment lang schien Raivis zu überlegen, ob er sich schlafend stellen sollte, sich dann aber dagegen zu entscheiden. „Ja“, antwortete er und begann, zu zittern. „Ist dir sehr kalt?“, fragte Ivan besorgt. „Ziemlich“, murmelte Raivis. „Aber ich... nein, ich bin es nicht gewohnt, daran gewöhnt man sich nicht. Aber... man beschwert sich nicht. Das tut man nicht.“ Ivan schluckte und wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte. „Ich bin nicht böse, wenn du dich über die Kälte beschwerst.“ „Nicht?“, fragte Raivis und blinzelte. „Oh.“ Mein Königreich für einen Themenwechsel, dachte Ivan. Schade, dass er kein Königreich hatte. „Der Sturm hat immer noch nicht aufgehört“, sagte Raivis, und Ivan ging dankbar darauf ein. „Nein, aber es ist ja noch nicht einmal Morgen. Sicher wird er bis zum Morgengrauen abklingen, oder spätestens im Laufe des Vormittags.“ „Und dann gehen wir in die Stadt?“ „Sobald die anderen wach sind, ja.“ Raivis kaute unsicher auf seiner Lippe herum. „Vielleicht...“, murmelte er. „Was?“, fragte Ivan und zog die Augenbrauen hoch. „Was ist los, kleiner Raivis?“ „Vielleicht sind sie ja schon tot.“ „Wer?“ „Die anderen.“ Diese Idee klang für Ivan so grotesk, dass er einige Sekunden brauchte, um sie zu verarbeiten. „Aber... wie sollten sie denn?“, fragte er und lachte auf. „Es ist so kalt“, erklärte Raivis. „Und wenn es so kalt ist, ist das erste, was man macht, wenn man morgens aufwacht... nachsehen, ob die anderen noch leben. Oder ob sie in der Nacht erfroren sind.“ Das Lachen blieb Ivan im Hals stecken. „Ich denke nicht, dass sie erfroren sind, kleiner Raivis“, sagte er langsam. „Das ist gar nicht möglich. Sie können nicht sterben.“ „Nein“, sagte Raivis hastig, „natürlich nicht. Es war ein dummer Gedanke.“ Aber immerhin war es sein erster Gedanke gewesen, dachte Ivan. Das war schon erschreckend genug. Plötzlich hatte er den Drang, Raivis an sich zu drücken, so fest er konnte. Er beherrschte sich nur mühsam. Womöglich hätte er dem Jungen dabei alle Rippen gebrochen. „Es ist alles in Ordnung, kleiner Raivis“, sagte er stattdessen und versuchte, möglichst zuversichtlich zu klingen. „Es war damals nicht meine Entscheidung, dich wegzuschicken, das weißt du doch. Aber mich wird nie wieder irgendjemand zu irgendetwas zwingen. Ich werde das Beste für unsere Familie tun, Raivis, und niemand wird mir etwas anderes vorschreiben.“ „Aber was ist, wenn...“, begann Raivis, verstummte und biss auf seine Unterlippe. „Was denn, Raivis? Frag ruhig.“ „Was ist, wenn sie uns kriegen?“, platzte es aus Raivis heraus. „Wenn sie uns wieder einfangen? Sie werden uns doch nicht wieder in unser altes Haus zurück lassen, aus dem wir schon einmal weggelaufen sind. Vielleicht werden sie uns voneinander trennen. Vielleicht werde die Sie bestrafen, haben Sie daran schon gedacht? Oder vielleicht... ich meine, wahrscheinlich, oder? Es ist doch wahrscheinlich. Ich meine... dass sie uns allesamt wegschicken. Dass wir hierfür alle in Sibirien landen. Schlimm genug ist es doch, was wir getan haben, oder? Einfach wegzulaufen. Vor allem, dass Sie das getan haben...“ Ivan hatte weder gedacht, dass Raivis so viel nachdachte, noch hatte er ihn je so lange am Stück und ohne Stottern reden hören. Seine Überlegungen waren alles andere als dumm, dachte er, sie waren sogar sehr logisch. Aber das konnte er ihm schlecht sagen. „Es wird alles gut“, sagte er tröstend und strich über Raivis' Kopf. Glücklicherweise hatte sein Mantel eine Kapuze, die diese erschreckend kurzen Haare verdeckte. „Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich die volle Verantwortung für alles übernehme.“ „Aber was wird dann aus uns?“, flüsterte Raivis ängstlich. „Wenn die Sie wegschicken, was wird dann aus uns?“ „Was soll schon aus euch werden?“, fragte Ivan und lachte. „Ihr werdet jemand anderen bekommen, der euch Befehle erteilt. Als Vertretung, sozusagen. Vielleicht ist er dabei ja ein wenig nachsichtiger als ich. Wer kann es wissen...“ Raivis schwieg einen Moment lang. „Aber mit Ihnen ist es etwas anderes“, sagte er leise. „Ich meine... Sie kennen wir seit einer Ewigkeit. Und Sie... lieben uns. Ich weiß, Sie zeigen das manchmal auf ziemlich grausame Arten, aber ich glaube, Sie lieben ihre Familie wirklich sehr. Und auch wenn Sie manchmal ziemlich... ziemlich fies sind, glaube ich, im Großen und Ganzen meinen Sie es nicht böse. Im Großen und Ganzen sind Sie wohl nicht das Allerschlimmste, was uns hätte passieren können.“ Ivan lächelte und spürte, dass seine Augen feucht wurden. „Ich glaube, das war gerade das Liebste, was du mir je gesagt hast, kleiner Raivis.“ „Ich meine es aber ernst!“, beteuerte Raivis. „Umso besser.“ „Aber... was passiert denn nun? Wenn die Sie wirklich...“ „Mach dir keine Sorgen um mich, Raivis“, sagte Ivan und lachte. „Ich komme schon zurecht.“ „Ich mache mir keine Sorgen um Sie“, erklärte Raivis, „sondern um uns.“ „Ich werde alles für euch tun, Raivis. Wirklich alles. Mehr kann ich dir nicht versprechen.“ „Wird das reichen?“ Ivan zog die Schultern hoch. „Wir müssen abwarten“, sagte er. „Abwarten und das Beste hoffen.“ Kapitel 9: Flucht zurück ------------------------ Raivis auf seinem Schoß war mittlerweile wieder eingedöst, doch der Sturm draußen war kaum schwächer geworden. Ivan seufzte leise und betrachtete das kleine Häuflein Schnee, das sich neben der lose gegen den Rahmen gelehnten Tür gebildet hatte. Wenn es den ganzen Tag über schneite, würden sie es auch heute nicht in die Stadt schaffen. Er hatte seit Tagen nichts mehr gegessen. Zwar konnte ein Mensch es bis zu zwei Monate lang ohne Nahrung aushalten und eine Nation wie er theoretisch... nun, wie lange? Er hatte es noch nicht ausprobiert und hatte es auch eigentlich nicht vor. Sein Hunger war nicht so stark wie der, den er gespürt hatte, als es noch Hungersnöte unter seinen Kindern gegeben hatte. Das war noch gar nicht so lange her, wie es einem Menschen vorkommen mochte. Es gab Hunger, der vom Magen ausging, und solchen, der aus der Seele kam. Den aus dem Magen konnte er getrost ignorieren, dachte Ivan, zumindest so lange, bis sein Stoffwechsel ihn komplett im Stich ließ. Körperlicher Hunger war nicht so wichtig. Hinter sich hörte er ein leises Seufzen und Yekaterinas Stimme erklang. „Vanya?“ „Guten Morgen“, sagte Ivan und sah sich lächelnd zu ihr um. Yekaterina rieb sich die Augen und blinzelte ebenfalls in das Licht, das durch den Spalt neben der Tür fiel. „Schneit es immer noch?“ „Ja“, antwortete Ivan, folgte ihrem Blick und zog die Augenbrauen hoch. „Aber ich glaube, es ist weniger geworden.“ „Gegen Mittag wird es wohl aufhören.“ „Rätst du das, oder weißt du es?“, fragte Ivan schmunzelnd. „Ich bin recht gut im Raten“, erwiderte Yekaterina und lächelte. Sie setzte sich auf, betrachtete einen Moment lang Natalia neben sich und deckte sie zu. Natalia schüttelte leicht den Kopf, wachte aber nicht auf. „Wir sind alle mit unseren Kräften am Ende“, sagte Ivan leise und betrachtete Eduard und Toris, die sich noch immer im sicheren Abstand zu ihm auf dem Boden aneinander kauerten. „Ja“, sagte Yekaterina. „Aber bis in die Stadt werden wir es noch schaffen.“ „Und weiter?“ „Wenn du es weiter schaffst, werden wir dir folgen“, sagte Yekaterina und legte besorgt den Kopf schief. „Glaubst du, du schaffst es?“ „Ja“, sagte Ivan überzeugt. Ihm war kalt und sein Magen war leer, aber fiebrig fühlte er sich nicht mehr. Ein wenig Kraft war zu ihm zurückgekehrt, in der vergangenen Nacht oder schon über den letzten Tag, ohne dass er es bemerkt hatte. Es hatte zu viel anderes gegeben, um das er sich hatte kümmern müssen. „Das beruhigt mich“, sagte Yekaterina leise, aber für Ivans Geschmack sah sie noch immer zu besorgt aus. Das war Yekaterina, dachte er. Immer zu besorgt. Tatsächlich legte sich der Schneesturm gegen Mittag. Bis dahin waren alle aufgewacht und Raivis war von Ivans Schoß aufgestanden, um sich in der Hütte ein wenig die Beine zu vertreten. Es gefiel Ivan nicht richtig, ihn loszulassen, und er war froh, als sie wieder aufbrechen konnten. In der Nacht war so viel Schnee gefallen, dass die Straße endgültig nicht mehr zu erkennen war. Sie konnten sich gut an der Silhouette der Stadt orientieren und geradewegs darauf zu laufen, doch das Gehen war wesentlich beschwerlicher als auf der Straße. Wahrscheinlich liefen sie gerade über ein Feld oder eine unebene Wiese, dachte Ivan. Er sinnierte gerade darüber, wie lustig es eigentlich war, dass man unter dem Schnee nichts mehr davon erkennen konnte, als er hinter sich einen leisen Aufschrei hörte. „Was ist passiert?“, fragte Eduard. Ivan drehte sich um und sah, dass Natalia mit einem Bein fast bis zur Hüfte im Schnee versunken war. Yekaterina griff gerade nach ihrem Arm, um ihr wieder aufzuhelfen. „Was ist los, Bela? Hast du dir was getan?“ „Es geht schon“, erwiderte Natalia, klopfte Schnee von ihrem Mantel und versuchte, aufzutreten. Ihre Lippen wurden schmal, aber sie machte ohne größere Probleme einige Schritte vorwärts. „Verdammter Boden hier. Wir sollten die Straße wiederfinden.“ „Sie ist nicht zu sehen“, sagte Ivan. „Anstatt sie zu suchen, sollten wir lieber unsere Kräfte darauf verwenden, in die Stadt zu kommen. Geht es, Bela?“ „Alles in Ordnung“, sagte Natalia und nickte ihm kurz zu. „Ich könnte dich stützen“, schlug Toris ein wenig zu beiläufig vor. „Nicht nötig“, erwiderte Natalia und murmelte etwas, das wie „Schlappschwanz“ klang. „Gehen wir weiter?“ Ihr Ärger wirkte nicht echt, dachte Ivan. Nicht einmal ihre Abweisung Toris gegenüber hatte so kühl geklungen wie sonst. Sie hatte Angst, dachte er. Eine Verletzung in dieser Situation wäre das Schlimmste, was passieren konnte. Aber noch war nichts passiert. Noch kamen sie sehr gut voran, und solange sie vorsichtig waren, würden sie keine Probleme haben, die Stadt zu erreichen. „Passt auf, wo ihr hintretet“, sagte er, an alle gewandt. „Wir gehen weiter.“ Der Weg zog sich länger hin, als Ivan gedacht hatte. Als sie das erste Haus passierten und alle aufatmeten, begann die Sonne schon wieder zu sinken. Einige Meter weiter stießen sie wieder auf die Straße, die geräumt worden war. Das schien zwar bereits vor dem Schneesturm geschehen zu sein, aber immerhin war die Schneedecke so dünn, dass man die Straße wieder erkannte. Sie folgten dem Streifen, motiviert von dem ebenen Untergrund und der Aussicht, bald da zu sein. Die Häuser links und rechts wurden zahlreicher, die ersten Geschäfte und Straßenschilder tauchten auf. Andererseits wurde es zunehmend dunkler. Ivan war froh, als die Straßenlaternen angingen – sie spendeten Licht und waren für ihn ein eindeutiger Hinweis darauf, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. „Da sind wir“, murmelte er, eher an sich selbst als an irgendjemanden sonst gerichtet. „Ja“, sagte Yekaterina. „Was machen wir jetzt?“ „Es sind kaum Menschen auf den Straßen“, sagte Eduard leise zu Toris und sah sich um. „Nun, es ist schon fast dunkel und eiskalt. Ich wüsste nicht, warum jemand auf den Straßen sein sollte.“ „Das ist nicht gut“, murmelte Eduard. „In einer Menschenmenge hätten wir leicht untertauchen können. Wahrscheinlich werden wir gesucht.“ „Wenn nicht, ist das jedenfalls ganz schön dumm von ihnen“, stimmte Raivis zu und kaute besorgt auf seiner Unterlippe. „Das stimmt wohl“, sagte Ivan. „Ich würde ungern an eine Polizeistreife geraten, als Fremder ohne Papiere. Man weiß ja nie.“ „Polizeistreife?“, fragte Yekaterina erschrocken. „Glaubst du, hier gibt es...“ „Ja. Da vorne zum Beispiel.“ Er deutete auf zwei dunkle Gestalten, die am Ende der Straße näher kamen. „Lassen wir uns lieber nicht sehen. Wer weiß, was sie davon halten, dass wir zwielichtigen Gestalten uns nach Einbruch der Dunkelheit hier herumtreiben...“ „Können wir ja nichts dafür, dass es um fünf schon dunkel ist“, sagte Raivis und zupfte seine Kapuze zurecht. „Still jetzt. Kommt hier rein.“ Sie bogen in eine Seitengasse ab, liefen weiter in die Dunkelheit und blieben am hinteren Ende hinter einem geparkten Auto stehen. Ivan hörte die Schritte der beiden Männer in einiger Entfernung auf dem Pflaster. Sicher würden sie nichts bemerken, dachte er. Sie hatten es in die Stadt geschafft, das war das oberste Ziel gewesen. Jetzt sollten sie ein wenig verschnaufen und sich ein neues Ziel suchen. „Ich glaube, sie sind weg“, sagte Ivan leise, nachdem die Schritte verklungen waren. Er drehte sich um und machte einen Schritt in Richtung der Straße, als er plötzlich das Gleichgewicht verlor. Hastig streckte er die Arme aus und stützte sich an der Wand ab. „Vanya!“, sagte Yekaterina erschrocken. „Was ist denn los?“ Nachdem die akute Gefahr, zu erfrieren oder verhaftet zu werden, fürs Erste gebannt war, meldete sich Ivans Krankheit wieder zurück, als wolle sie sagen, dass er seinen Körper lange genug vernachlässigt hatte. Er schüttelte den Kopf und lachte atemlos. „Ich glaube, so fühlt es sich an, wenn einem das Adrenalin ausgeht.“ „Du bist krank, Vanya“, sagte Natalia und griff nach seinem Arm. In ihren Augen lag mehr als Sorge, dachte Ivan verblüfft. Es war ein Ausdruck, den er nicht kannte. Zumindest nicht an Natalia. „Ich schaffe es trotzdem“, sagte er beruhigend und lächelte. „Ich bringe uns in Sicherheit, Bela. Wir haben es doch in die Stadt geschafft, oder?“ „Und jetzt?“, fragte sie und schüttelte den Kopf. „Wo wollen wir jetzt hin? Wir sind noch immer auf der Flucht, Vanya. Wir können nirgendwo unterkommen. Wir können nirgendwo sicher sein.“ „Wir gehen zu Feliks, dort können wir sicher sein.“ „Bis zu Feliks schaffen wir es niemals!“, schrie Natalia und schlug sich im nächsten Moment die Finger vor den Mund. „Du schaffst das nicht, Vanya“, fuhr sie leiser fort, und Ivan bemerkte überrascht, dass ihre Stimme zitterte. „Wir alle schaffen das nicht. Onkelchen lässt uns sicher schon suchen. Wenn wir jetzt zurückgehen, wird er uns verzeihen, Vanya. Wenn wir es nur nicht mehr länger hinauszögern...“ „Wir werden uns nicht stellen, Bela“, sagte Ivan fassungslos. „Das können wir nicht!“ „Warum nicht? Diese Flucht führt zu nichts. Wir können doch nicht vor unseren eigenen Leuten weglaufen, Vanya. Wir sollten auf sie zugehen und uns entschuldigen.“ Natalia holte tief Luft und strich sich mit leicht bebenden Fingern eine Haarsträhne hinter das Ohr. „So kann es doch nicht weitergehen, Vanya. Unsere Leute werden uns nichts tun. Wir können wieder zurückgehen und alles kann wieder wie früher sein.“ „Wie früher? Aber genau das will ich verhindern, Bela! Ich will nicht mehr, dass alles wie früher ist. Ich will, dass sich etwas verändert!“ „Verändert! Und wenn diese Veränderung nicht zum Guten, sondern zum Schlechten ist, Vanya? Was dann?“ Ivan sah sie ratlos an. Noch immer war da dieser Ausdruck auf ihrem Gesicht, den er nicht kannte – doch, er kannte ihn, aber nicht bei Natalia. Es war etwas, das Yekaterina viel zu oft an sich hatte, auch Raivis oder Toris, wenn er einen schlechten Tag hatte... und plötzlich erkannte er, was es war. „Du bist schwach, Bela“, flüsterte er, immer noch in der Hoffnung, es wäre nicht wahr. „Du hast Angst vor Veränderungen.“ Natalia starrte ihn an und ballte die Fäuste an ihren Seiten. „Wir müssen uns stellen, Vanya. Es gibt keine andere Möglichkeit.“ „Du willst, dass alles bleibt, wie es ist“, sagte Ivan. „Nicht wahr? Du verkriechst dich in dem, was du kennst, und fürchtest dich davor, etwas Neues auszuprobieren.“ „Etwas Neues? Ja, hier haben wir etwas Neues, Vanya! Und? Gefällt es dir? Ständig auf der Flucht zu sein, ständig gehetzt, sich keine Sekunde lang entspannen zu können, gefällt dir das etwa? Was war so schlimm an dem, was wir vorher hatten?“ „Was so schlimm daran war?“, wiederholte Ivan fassungslos. „Es war erträglich, wie es war. Mehr muss es nicht sein.“ „Doch, Bela“, sagte Ivan. „Es geht besser als nur erträglich. Glaub mir.“ „Aber es geht auch wesentlich schlechter“, murmelte Natalia. „Bitte, Vanya. Du bist krank. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie uns kriegen. Warum sollten wir uns allen nicht den Stress ersparen? Wenn wir freiwillig zurückkommen, werden sie uns sicher verzeihen.“ „Uns verzeihen? Glaubst du, es wäre verzeihlich, was wir getan haben?“ „Ich weiß es nicht“, sagte Natalia und biss sich auf die Lippe. „Aber besser so als anders, Vanya. Du quälst dich doch nur, wenn du in diesem Zustand versuchst, weiter zu fliehen. Wenn man keine Chance hat, ist es besser, aufzugeben.“ „Erstens“, flüsterte Ivan, „ist es manchmal besser, etwas zu tun, obwohl es völlig nutzlos ist, obwohl man keine Chance hat – nur, damit man sich später nicht vor sich selbst schämen muss.“ „Und zweitens?“, fragte Natalia, ohne mit der Wimper zu zucken. „Zweitens haben wir eine Chance, Bela! Wir müssen es zu Feliks schaffen, er kann uns sicher helfen. So wie ich ihn kenne, weiß er, wo er uns verstecken kann. Und danach...“ „Irgendwann kriegen sie uns, Vanya“, unterbrach Natalia ihn. „Irgendwann kriegen sie uns doch sowieso.“ „Bist du mit dieser Einstellung auf die Flucht gegangen? Irgendwann kriegen sie uns ja sowieso?“ „Ich bin um deinetwillen mitgegangen, Vanya. Weil ich dich liebe. Und jetzt werde ich diese Flucht abbrechen... weil ich dich immer noch liebe.“ „Das kannst du nicht tun!“, rief Ivan und musste sich erneut an der Hauswand abstützen, um nicht hinzufallen. „Du kannst jetzt nicht alles hinwerfen, Bela! Wir sind so weit gekommen!“ „Aber weiter geht es nicht“, sagte Natalia. „Sieh es ein, Vanya. Wir hatten von Anfang an keine Chance.“ Ivan rang nach Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Warum Natalia? Warum war es ausgerechnet sie, die sich dagegen sträubte, ihm weiter zu folgen – sie, die er am wenigsten von allen verletzen konnte, um sie dazu zu zwingen, weiter mitzukommen? Natalia war sein schwächster Punkt, dachte Ivan, auf die eine oder andere Art. Bei ihr hatte er sich darauf verlassen, dass sie ihm immer und überall hin folgen würde. Sie war sehr fixiert auf Personen, die mächtiger waren als sie – zu sehr und auf die falschen Personen fixiert, dachte er. Auf andere als die, von denen er ausgegangen war. Er wusste nicht, was er tun sollte. Zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Flucht wusste er wirklich keinen Rat mehr. „Bela“, meldete sich Yekaterina schüchtern aus dem Hintergrund. „Was willst du tun?“ „Wir müssen zur nächsten Polizeiwache gehen und uns dort melden. Sie können uns wieder nach Hause bringen.“ „Natürlich können sie das!“, erwiderte Ivan aufgebracht, doch Yekaterina griff beruhigend nach seinem Arm. „Wir werden weitergehen, Bela“, sagte sie leise. „So weit, wie es geht. Du solltest mit uns kommen.“ „Ich werde nicht mitkommen“, erwiderte Natalia fest. „Ich werde...“ „Da kommt jemand“, flüsterte Raivis plötzlich. „Wo?“ Er deutete nach vorn zur Hauptstraße. Im Licht der Straßenlaternen kamen zwei Schatten langsam der Querstraße näher. Schon wieder die Polizisten auf Streife, dachte Ivan. „Keine Angst. Wenn wir wieder still sind, werden sie uns auch diesmal nicht...“ „Bela!“ Yekaterina wollte nach Natalias Ärmel greifen, doch sie zog ihn im letzten Moment aus ihren Fingern. Natalias Blick war kühl und zu allem entschlossen. „Es ist um deinetwillen, Vanya“, murmelte sie kaum hörbar und machte sich mit zügigen Schritten auf den Weg, auf die näher kommenden Schatten zu. „Bela!“, keuchte Yekaterina und wollte ihr nach, doch Ivan griff nach ihrem Arm und zog sie wieder neben sich. Sein Herz schlug schnell. Sie durften nicht gesehen werden, auf keinen Fall. „Haltet sie auf“, zischte er und sah zu, wie die Schatten näher kamen. „Eduard. Toris. Irgendjemand. Haltet sie auf.“ Selbst wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, hätte er Natalia nicht selbst zurückhalten können. Er hätte ihr nicht wehtun können. Eduard fingerte nervös an seiner Brille herum und drückte sich zusammen mit Raivis gegen die Wand, doch Toris kam dem Befehl nach. Er lief hinter Natalia her, rannte einige Schritte, um sie einzuholen, und erreichte sie. Sie fuhr herum, als er nach ihrem Arm griff, und funkelte ihn wütend an. Einen Moment lang fürchtete Ivan, sie würde schreien und die beiden Polizisten auf sich aufmerksam machen, doch sie tat es nicht. Toris drehte sie herum, drückte sie mit dem Rücken gegen die nächste Hauswand und küsste sie. „Der älteste Trick der Menschheit“, flüsterte Eduard irgendwo hinter ihm, und Ivan konnte nicht anders, als ihm stumm zuzustimmen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Jeden Moment rechnete er damit, dass Natalia Toris wegstoßen und ihn anschreien würde, doch sie tat es nicht. Sie hob die Hände, verschränkte die Finger in seinem Nacken und ließ ihre Lippen noch immer auf seinen. Erstaunlich, dass sie nicht langsam Luft holen musste, dachte Ivan. Und noch erstaunlicher, dass sie Toris, den sie so sehr verachtete, nicht die Augen auskratzte, was er eigentlich von ihr erwartet hatte. Die Schatten wurden von ihren Verursachern eingeholt. Die beiden Polizisten bemerkten das Paar in der Seitenstraße gar nicht, oder wenn sie es bemerkten, sahen sie diskret darüber hinweg, ohne eine Miene zu verziehen. Wenige Sekunden später waren sie mitsamt ihren Schatten wieder verschwunden. Natalia löste sich von Toris und sah ihn prüfend an. Es sah fast aus, als lächle sie, bevor sie ihm etwas zuflüsterte. Ivan spitzte die Ohren, doch er verstand kein Wort. Toris wollte anscheinend noch etwas sagen, doch sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab und nickte zu Ivan und den anderen hinüber, die sich noch immer im Dunkeln versteckt hielten. Langsam nickte Toris, gab sich einen Ruck und kam wieder zurück. „Was ist passiert?“, fragte Ivan atemlos, sobald er vor ihnen stand. „Was sollte das gerade?“ „Natalia sagt, dass sie gehen und sich stellen wird“, antwortete Toris mit überraschend fester Stimme. „Aber sie wird uns nicht verraten und versuchen, uns so viel Zeit wie möglich zu verschaffen. Ivan... ich soll Ihnen ausrichten, dass sie Sie liebt.“ Ivan riss den Kopf in die Höhe, um an Toris vorbei zu sehen. Er erkannte gerade noch, wie Natalia um die Ecke auf die Hauptstraße einbog. Ihre Schritte waren entschlossen. Im nächsten Moment war sie nicht mehr zu sehen. Neben ihm begann Yekaterina leise zu weinen. Kapitel 10: Augen zu und so tun, als wäre man woanders ------------------------------------------------------ „Wir sollten weg von hier“, sagte Eduard, dessen Blick im Halbdunkeln hastig zwischen den Anwesenden umher huschte. „Ich weiß nicht, was Natalia vorhat. Aber wenn sie sich selbst anzeigt, könnten die Polizisten sich daran erinnern, dass sie gerade noch in einer Seitenstraße einen Mann geküsst hat, und sie könnten diesen Mann suchen.“ „Richtig“, sagte Toris und nickte. „Wir sollten weitergehen.“ Alle sahen Ivan an, der ins Leere starrte und plötzlich zusammen zuckte. „Wie bitte?“ „Wir sollten gehen“, sagte Raivis und blinzelte. „Hat Toris doch gesagt.“ Ivan nickte. „Ja. Natürlich.“ Er legte Yekaterina, die mittlerweile ein Taschentuch vor ihr Gesicht drückte, einen Arm um die Schultern. „Katyusha? Es geht weiter.“ „Ohne Bela“, murmelte Yekaterina und schnäuzte sich geräuschvoll. „Warum... warum hast du sie nicht zurückgehalten, Toris? Du hättest... hättest...“ Sie brach ab. „Gehen wir“, sagte Ivan und nickte den anderen zu. „Wohin denn?“ „Ich frage mich, ob es in dieser Stadt einen Bahnhof gibt.“ „Sie ist recht groß“, erwiderte Eduard. „Ich glaube, es gibt sogar Industrie hier. Es würde mich sehr überraschen, wenn es keinen Bahnhof gäbe.“ „Was interessierst du dich jetzt für Bahnhöfe?“, fragte Yekaterina hoffnungslos. „Weil wir kein Auto mehr haben und weiter müssen, Katyusha“, antwortete Ivan geduldig. „Und jetzt gehen wir endlich.“ Die Straßen zogen sich endlos durch die Dunkelheit und schienen alle gleich auszusehen. Sie blieben vor einer schon verblichenen Straßenkarte an einer Wand stehen, auf der Ivan überraschend schnell den Bahnhof fand. Er widerstand der Versuchung, auch die Polizeistation zu suchen. „Wir müssen nur dieser Straße folgen, dann können wir es nicht verfehlen. Jedenfalls hat es auf der Karte den Anschein.“ Niemand sagte etwas, und Ivan seufzte leise. Er hatte nie jemanden gebraucht, der ihn bestätigte. Das hatte ohnehin selten jemand getan, und er hatte gelernt, ohne Bestätigung auszukommen. Aber jetzt, da er sich ohne Onkelchen ohnehin auf sich allein gestellt fühlte, wäre es schön gewesen, wenn die anderen wenigstens irgendeinen Kommentar zu seinen Entscheidungen abgegeben hätten. Das Schweigen war ihm zu kalt. Wenn sie geredet hätten, dachte er, wäre ihm Natalias Abwesenheit vielleicht nicht so extrem aufgefallen. Während sie der Straße folgten, ließ er seine Gedanken schweifen. Vielleicht hätte er Natalia zurückhalten sollen. Vielleicht hätte er sie beschützen sollen, bevor jemand anderes ihr wehtat. Wer konnte wissen, was ihr bevorstehen würde? Andererseits hätte er ihr schaden müssen, um sie vor Schaden zu schützen. Dabei war noch nie etwas Gutes herausgekommen, dachte Ivan und warf Toris einen flüchtigen Blick zu. „Da vorne ist es“, sagte Yekaterina und seufzte erleichtert. Vor ihnen ragte ein leicht heruntergekommenes, aber sehr großes Bahnhofsgebäude in den dunklen Himmel. Die Uhr über dem Eingang war auf fünf nach drei stehen geblieben. „Ob überhaupt Züge fahren?“, fragte Toris. „Mitten in der Nacht?“ Eduard runzelte die Stirn. „Es wirkt nicht wie ein Personenbahnhof. Wenn es ein Güterbahnhof ist, wer weiß, wie die Arbeitszeiten liegen...“ Raivis sagte nichts, sondern kaute auf seiner Unterlippe herum. Ivan überlegte einen Moment lang und fasste einen Entschluss. „Wir haben ohnehin kein Geld, um mit einem normalen Zug zu fahren. Am besten versuchen wir, uns als blinde Passagiere irgendwo einzuschleichen. Ich würde sagen, wir gehen und sehen nach, ob ein Zug fährt.“ Sie näherten sich dem Gebäude, dessen große Vordertür verschlossen schien. Die Fenster waren dunkel. Hinter dem Haus führten die Gleise entlang, die nach einigen Metern in der Dunkelheit verschwanden. Nur an einem Stück Bahnsteig hinter dem Gebäude beleuchteten Laternen die Strecke. „Steht da ein Zug?“, fragte Yekaterina ungläubig, als sie näher kamen. Zuerst hatte Ivan es für einen weiteren verwirrenden Schatten der Nacht gehalten, aber als sie näher kamen, erkannte er, dass es tatsächlich ein Zug war. Ein Güterzug, der so lang war, dass die hinteren Waggons in der Dunkelheit nicht einmal zu erahnen waren. „Gehen wir weiter“, murmelte er. „Tut so, als würden wir einen ganz normalen Spaziergang machen. Auf dem Bahnsteig. Mitten in der Nacht.“ Sie bogen um die Ecke des Gebäudes und liefen langsam weiter, mit großen Augen die Umgebung beobachtend. Einige Männer liefen stumm und beschäftigt hin und her und trugen Säcke oder Kisten, die sie in die Waggons verfrachteten oder ausluden. Ein einzelner Mann mit einem Klemmbrett stand da und beobachtet das Geschehen. Er bemerkte sie nicht, als sie leise hinter ihm vorbei gingen. „Der Zug fährt nach Westen“, meldete Eduard, der den Hals verdrehte, um einen Blick auf das Klemmbrett zu erhaschen. „Planmäßig ist er übermorgen in Warschau.“ „Polen“, murmelte Toris, und Ivan wusste nicht, ob es eine Frage, ein Ausdruck der Erleichterung oder einfach nur eine Feststellung war. „Das ist ideal“, sagte Ivan leise und versuchte gleichzeitig, für Außenstehende nicht allzu verdächtig zu klingen. Er war sich nicht sicher, ob es ihm gelang. „Wenn wir es irgendwie schaffen, an Bord zu kommen.“ Er atmete tief durch. „Gehen wir noch ein Stück“, murmelte er und nickte vorwärts. „Haltet Ausschau nach einer Mitfahrgelegenheit.“ Langsam gingen sie weiter. Der Zug war wirklich recht lang, wie Ivan feststellte. Einige der Waggons waren verschlossen, an anderen standen die Schiebetüren noch offen. Große Kisten oder Säcke waren in den Waggons aufgestapelt, aber hier und da schien noch Platz für einen blinden Passagier zu sein. Leider reichte das nicht für sie, dachte Ivan. Sie brauchten Platz für fünf blinde Passagiere. Einige der herumlaufenden Männer schleppten Säcke in einen Waggon, der fast ganz am Ende des Bahnsteiges stand. Als sie näher kamen, hörten sie, dass es offenbar Probleme gab. „Nein, nichts mehr in diesen! Diese müssen in Nummer 26.“ „Warum? Es ist doch noch genug Platz.“ „Ach was, Platz! Es muss alles nach Vorschrift gehen. Wir sind doch gut organisiert!“ „Das klingt für mich nicht nach guter Organisation. Nummer 26 ist schon fast voll.“ „Ich werde lieber noch einmal nachfragen“, sagte der Mann mit dem Klemmbrett, der sich eingeschaltet hatte. „So lange hört auf damit, hört ihr? He! Ihr sollt aufhören!“ Zwei Männer blieben verdutzt stehen, die Säcke noch auf den Schultern. Ein dritter, der mit dem Mann mit dem Klemmbrett diskutiert hatte, schüttelte den Kopf und spuckte aus. „Und sowas schimpft sich Ordnung.“ „Dieser Waggon wird nicht weiter beladen, bis ich mit den Anordnungen zurück bin“, sagte der andere Mann scharf, drehte sich um und eilte den Bahnsteig hinunter davon. „Und jetzt?“, fragte einer der Männer mit den Säcken und verzog das Gesicht. „Können wir die Dinger jetzt abladen oder nicht? Verflucht schwer sind sie ja...“ „Dann bringen wir sie in Nummer 26“, erwiderte der andere gleichgültig. „Hauptsache, wir werden sie los.“ „Gute Idee“, sagte der erste Mann und schleppte seine Last den Bahnsteig hinunter. Die anderen beiden folgten ihm. „Das ist es“, flüsterte Ivan und betrachtete den Waggon. „Vielleicht. Wir müssen es schaffen, dort hinein zu kommen, solange niemand hinsieht.“ „Und wenn nicht genug Platz ist?“, fragte Yekaterina. „Irgendwann müssen wir es wagen, Katyusha. Wir hoffen einfach, dass genug Platz ist und sie den Waggon gleich verschließen, ohne noch einmal nachzusehen.“ „Wir hoffen einfach“, murmelte Eduard. „Eine andere Wahl haben wir nicht“, erwiderte Toris, der von allen am meisten motiviert wirkte. Wahrscheinlich freute er sich darauf, Feliks zu sehen, dachte Ivan. Er wusste nicht genau, ob er deswegen erleichtert oder besorgt sein sollte. „Wenn ich jetzt sage, laufen wir“, flüsterte er und sah sich wachsam um. Rechts war niemand zu sehen. Einige Meter weiter links standen ein paar Männer herum und rauchten. Solange sich niemand von ihnen plötzlich umdrehte, dürfte niemand sie sehen. „Jetzt!“ Yekaterina stolperte beinahe, doch Ivan riss sie wieder auf die Beine, bevor sie fallen konnte. Toris und Eduard waren vor ihnen. Ivan zwang sich, nicht zur Seite zu sehen – wenn jemand ihnen zusah, war es jetzt zu spät, um unschuldig zu tun. Wenn sie es bei diesem Anlauf nicht schafften, unentdeckt in den Waggon zu gelangen, würden sie es nie schaffen. Toris und Eduard streckten die Hände aus, um Yekaterina in den Waggon zu helfen. Ivans Herz raste. Noch hatte niemand etwas bemerkt, noch nicht. Er packte einen Griff neben der offenen Tür und warf einen letzten Blick zurück. Ein paar Meter weiter stand Raivis und sah ihn mit großen Augen an, den Rücken gegen die Wand des Bahnhofsgebäudes gedrückt. Er machte keine Anstalten, sich zu rühren. Ivan schnappte nach Luft und zögerte. Seine Hand an dem Türgriff begann zu schwitzen. „Vanya?“, fragte Yekaterina erschrocken. „Was ist denn...“ „Ich hole ihn“, keuchte Ivan, ließ den Türgriff los, drehte sich wieder um und rannte zurück. Raivis wich ein Stück vor ihm zurück, als er näher kam, und wandte den Blick ab. „Was ist denn los, Raivis?“, brachte Ivan hervor, der von der kurzen Strecke bereits außer Atem war. „Hast du nicht gehört, wie ich jetzt gesagt habe? Warum bist du nicht losgelaufen?“ Raivis biss auf seiner Lippe herum und schwieg. „Du darfst keine Angst haben“, sagte Ivan und griff nach seinen Schultern. „Wir bleiben alle zusammen. Wir müssen jetzt zu den anderen, bevor der Zug losfährt. Und dann fahren wir zu Feliks, ja?“ Zitternd hob Raivis den Kopf und sah ihn einen Moment lang an. „Ich komme nicht mit“, sagte er leise. „Ich steige nicht in diesen Zug.“ „Aber warum denn nicht?“, fragte Ivan verständnislos. „Warum willst du nicht...“ „Ich steige in keinen Zug mehr“, sagte Raivis und zitterte noch heftiger. „Gar nicht mehr.“ Ivan sah ihn an und wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Langsam ging er vor Raivis in die Hocke. „Dieser Zug fährt nicht nach Sibirien, Raivis.“ „Woher wissen Sie das?“, fragte Raivis trotzig. „Sie wissen doch gar nicht, wohin er fährt.“ „Für Sibirien ist es die völlig falsche Richtung. Wir werden bei Feliks landen, Raivis, ganz sicher. Vertrau mir.“ „Vertrauen?“, wiederholte Raivis und kaute auf seiner Unterlippe. „Ihnen?“ „Ja, mir.“ „Ich vertraue Ihnen nicht. Ich tue vielleicht, was Sie sagen, aber vertraut habe ich Ihnen noch nie.“ Ivan lächelte schief. „Dann tu es wenigstens jetzt“, flüsterte er. „Die anderen sind schon drinnen. Du willst nicht, dass sie ohne uns fahren, oder? Wir müssen zu ihnen.“ Noch immer musterte Raivis den Zug mit offensichtlichem Widerwillen. „Ich bin nicht mit euch allen geflohen, um dich jetzt wieder nach Sibirien zu schicken, Raivis. Das wäre doch unlogisch, oder? Ich habe einen solchen Aufwand betrieben, so viel riskiert... ich werde nicht zulassen, dass unsere Flucht hiermit beendet ist. Wir müssen zusammen bleiben und weitermachen. Ich werde auf dich aufpassen, hörst du, Raivis? Das werde ich.“ Langsam wandte Raivis den Blick ihm zu. „Ich glaube“, sagte er nachdenklich, „Sie haben sich verändert, während ich weg war.“ „Vielleicht“, antwortete Ivan und lächelte. „Aber vielleicht habe ich mich auch erst verändert, als du zurückgekommen bist.“ Raivis' Lippen zuckten, als wollte er lächeln, doch dazu war er zu nervös. Er zitterte noch immer am ganzen Körper. „Ich will trotzdem nicht in den Zug. Züge sind... ich mag Züge nicht.“ „Dann mach die Augen zu“, sagte Ivan, der plötzlich einen Geistesblitz hatte, „und stell dir vor, du wärst ganz woanders. Irgendwo, wo es dir besser gefällt als in einem Zug. Kannst du das?“ „Das klingt dumm“, sagte Raivis verblüfft. „Aber es könnte funktionieren.“ Unsicher legte Raivis den Kopf von einer auf die andere Seite. „Also gut“, murmelte er und schloss die Augen. „Ich hebe dich hoch, kleiner Raivis. Nicht erschrecken.“ Behutsam hob Ivan ihn hoch (er wog fast nichts, wirklich beängstigend) und sah sich um. Zu seiner Überraschung waren die beiden rauchenden Männer auf dem Bahnsteig verschwunden. Wo konnten sie sein? Standen sie nur irgendwo anders, wo sie zufällig hersehen konnten? Oder war jemand anderes in der Nähe? Wachsam sah Ivan sich um, konnte aber zumindest in dem beleuchteten Teil niemanden sehen. Der Bahnhof war wie ausgestorben. „Was ist nur los?“, murmelte er. „Was ist?“, fragte Raivis, der die Augen zukniff und die Stirn leicht gerunzelt hatte. Ivan gab sich einen Ruck. „Nicht, gar nichts. Gehen wir.“ Er machte sich auf den Weg, die paar Meter über den steinernen Boden. Die Schritte seiner Stiefel schienen lauter als sonst zu sein. Unablässig sah er sich um, ob sich nicht doch jemand auf dem Bahnsteig rührte, doch nichts geschah. „Was ist los?“, flüsterte Yekaterina, die den Kopf aus der Tür des Waggons steckte. „Um Himmels Willen, bleib drinnen, Katyusha! Wenn uns nun jemand sieht!“ Ivan schob Raivis durch die Türöffnung und wartete, bis Yekaterina ihm ein Stück weiter ins Innere geholfen hatte, bevor er selbst hinterher kletterte. Er wollte die Tür schließen, beherrschte sich dann aber. Er durfte nichts verändern. Niemand durfte bemerken, dass jemand an diesem Waggon gewesen war – beziehungsweise noch immer darin war. „Was hast du, Raivis?“, fragte Toris verwirrt und griff nach Raivis' Schulter. „Ich mag Züge nicht“, antwortete Raivis, die Augen noch immer fest zugekniffen. „Also tue ich so, als wäre ich nicht in einem Zug.“ „Was für eine kindische Idee“, sagte Eduard und seufzte leise. „Das sieht dir ähnlich, Raivis.“ „Lass ihn nur“, murmelte Yekaterina und strich über Raivis' Kopf. „Er hat es nicht leicht.“ Raivis sagte nichts dazu, legte nur den Kopf schief und tastete nach dem Boden unter sich. Er bestand aus Metall, wie Ivan feststellte, wie der Rest des Waggons auch. „Was tun wir jetzt?“, fragte Toris leise und warf Ivan einen Seitenblick zu. „Wir müssen uns versteckt halten, bis der Zug losfährt. Danach dürften wir relativ sicher sein. Können wir uns hier drinnen verstecken?“ „Hinter den Kisten ist Platz für zwei“, sagte Eduard und deutete auf die hintere Wand des Waggons. „Höchstens für drei von uns.“ Ivan begutachtete die verschlossenen Holzkisten und die Säcke, die in einer anderen Ecke des kleinen Raumes standen. „Die anderen müssen sich dann wohl dort hinten verstecken.“ „Habt ihr noch mehr Arbeiter gesehen?“, fragte Yekaterina. „Nein, niemanden. Ich weiß nicht, warum niemand da war... vielleicht gibt es irgendwelche Probleme.“ „Hoffentlich nicht.“ „Je chaotischer die Zustände sind, desto einfacher ist es für uns, nicht aufzufallen“, sagte Ivan und lächelte sie an. „Sieh es positiv, Katyusha.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln, das allerdings gleich wieder verschwand. „Schafft ihr drei es, euch hinter die Kisten zu zwängen?“ „Sicher“, antwortete Toris, der noch einen Blick in die Ecke warf. „Dann geht und verhaltet euch ruhig. Ganz egal, was passiert, ihr kommt nicht raus, bevor der Zug nicht losfährt. Wir gehen hier hinüber, Katyusha.“ Ivan musterte einen der Stapel von Säcken und schob ihn mit einiger Mühe ein Stück von der Wand weg. Der Stapel verrutschte leicht, doch er fiel nicht um. Aus einem der unteren Säcke rieselte Getreide. „So müsste es funktionieren. Komm her, Katyusha. Mach dich schmal, ja?“ Wortlos drückte sie sich in die Ecke des Waggons. Ivan verrückte einen weiteren der Stapel und war überrascht, wie sehr er außer Atem geriet. Seine Krankheit schien noch lange nicht überwunden zu sein. „Komm schon, Raivis. Nein, in diese Richtung! Warum...“ „Ich hab die Augen zu.“ „Dann mach sie auf und komm.“ „Ich will nicht.“ „Hör auf, dich so anzustellen.“ Ivan setzte sich neben Yekaterina. Ihre Finger spielten nervös an einer Naht des Getreidesacks vor ihr. „Mach endlich die Augen auf, Raivis. Es ist so dunkel, du wirst sowieso kaum etwas sehen. Nur Kisten.“ „Ich will aber nicht. Ich lasse die Augen zu.“ „Wir werden eine ganze Weile fahren, Raivis. Auf die Dauer wirst du es sowieso nicht schaffen, die Augen geschlossen zu halten, also bring es besser jetzt hinter dich.“ Eine kurze Stille folgte. Yekaterina hatte die Naht an dem Sack ein Stück weit geöffnet und sah gerade fasziniert zu, wie ein dichter Strahl von Körnern in ihre Hand floss. „Ich bin in einem Zug“, erklang Raivis' ängstliche Stimme. „Ja, das bist du.“ „Wir sind da, Raivis. Kein Grund zur Panik.“ „Ich will nicht in einem Zug sein! Ich...“ „Still!“, zischte Ivan, wagte es aber kaum, laut zu sprechen oder sich zu rühren. Schritte kamen auf dem Bahnsteig näher. „Sind sie hier drin?“ „Ja, genau da.“ Wer war wo drin? Jemand erschien in der Tür, Ivan konnte seinen Schatten auf dem Boden des Waggons sehen. Er hielt es nicht aus, drehte sich um, schlang die Arme um Yekaterina und vergrub das Gesicht an ihrer Schulter. Sein Herz raste. „Ja, da hinten in der Ecke. Sehr gut. Der hier ist fertig.“ Einige Herzschläge lang passierte nichts. Ivan spürte, wie Yekaterina nach seiner Hand tastete und sie drückte. Ein lautes, ungewohntes Geräusch ließ ihn zusammenzucken, bevor er erkannte, dass es die Tür des Waggons gewesen war, die geschlossen worden war. Langsam hob er den Kopf und blinzelte in die Dunkelheit. „Die Tür ist zu“, flüsterte Raivis aus der hintersten Ecke. „Ja.“ „Ich will hier raus. Ich mag nicht in Zügen sein, wo die Tür zu ist!“ „Du musst durchhalten, Raivis“, sagte Eduard leise. „Wir sind doch da. Kein Grund zur Sorge.“ Behutsam ließ Ivan Yekaterina los und versuchte, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Durch ein winziges, trübes Fenster in der Tür fiel noch ein wenig oranges Licht. Er erkannte die Umrisse der Kisten in der hinteren Ecke, hinter denen sich jemand bewegte. „Komm raus, Raivis. Ich komme sonst nicht vorbei.“ „Wir fahren nach Sibirien“, sagte Raivis ängstlich. „Ach was“, versuchte Toris, ihn zu beruhigen. „Sicher nicht.“ „Und wenn doch?“ „Wir fahren in eine völlig andere Richtung, Raivis“, schaltete sich Eduard ein, der aufgestanden war. „Auf dieser Liste stand, die Lieferung geht nach Polen. Und jetzt steh auf, damit wir...“ In diesem Moment gab es einen heftigen Ruck und der Zug setzte sich in Bewegung. Eduard stolperte einen Schritt zur Seite. „Wir fahren“, sagte Raivis schockiert. „Ja. Aber wir fahren nicht nach...“ „Ich will nicht in einem Zug sein, der fährt!“ „Es ist nur irgendein Zug, Raivis“, sagte Toris, der beinahe müde klang. „Nur irgendein...“ „Nein, nicht irgendein Zug!“, widersprach Raivis schrill. „Wir haben keine Bänke, und wir haben keine richtigen Fenster und kein Klo, und wir sind zu viele, und wir haben...“ „Wir haben Essen“, unterbrach Yekaterina ihn sanft. „Komm hierher, Raivis. Hast du Hunger?“ „Wir haben kein Essen!“ „Doch, hier. Du brauchst nur herzukommen.“ Ivan sah sich zu Yekaterina um und erkannte im Halbdunkeln, dass sie die Hand voller Körner aus dem geöffneten Sack hatte. Bedächtig schob sie eines nach dem anderen in den Mund und kaute. Es war wenig, dachte Ivan. Aber andererseits lagen hier viele Säcke. „Wir haben Essen?“, fragte Raivis leise und kam etwas näher. Ivan rückte ein Stück beiseite, damit er sich neben Yekaterina setzen konnte. „Da, nimm welche. Es sind genug da.“ „Das ist unsere erste Mahlzeit seit...“, begann Toris, stockte dann und überlegte anscheinend, wie lange sie schon nichts mehr gegessen hatten. „Ja“, sagte Ivan und lächelte. Der Zug rumpelte über die Schienen, aber Raivis sagte nichts mehr. Er saß still neben Yekaterina und ließ sich die Hände mit Körnern füllen. Kapitel 11: Falsch verstanden ----------------------------- Nach einer Weile bedächtigen Kauens hatte Yekaterina sich erschöpft gegen einen der Säcke gelehnt und war eingeschlafen. Ivan saß neben ihr, doch er konnte nicht schlafen. Der Zug ruckelte über die Schienen und noch immer war er nicht ganz beruhigt. Wenn es nun an der Grenze eine Inspektion des Wageninhalts geben würde, bei der man sie entdeckte? Er sprach seine Sorge nicht laut aus, hauptsächlich, um eine erneute Panikattacke von Raivis zu vermeiden. Im Moment saß Raivis mit Toris und Eduard in einer anderen Ecke des Waggons. Durch die Dunkelheit hörte man ihre flüsternden Stimmen. „Du hast es nicht geschafft, sie zurückzuhalten“, sagte Eduard gerade. „Ich habe es nicht versucht“, erwiderte Toris leise. „Nicht?“ „Sie wollte gehen. Ich wollte sie nicht aufhalten. Ich wollte mich nur... verabschieden.“ „Weißt du“, flüsterte Raivis ungläubig, „dass du am wenigsten traurig darüber bist, dass sie weg ist?“ „Wie sollte ich traurig sein?“, fragte Toris und lachte leise. „Sie hat mich geküsst.“ „Ja“, bestätigte Eduard trocken. „Weil sie eingesehen hat, dass das die einzige Möglichkeit war, dich loszuwerden.“ „Und wenn schon“, beharrte Toris. „Dass sie mich loswerden wollte, bedeutet doch, dass sie mich in Sicherheit bringen wollte.“ „Sie wollte nur verhindern, dass Ivan noch ein Mitglied seiner Familie verliert. Immerhin liebt sie ihn über alles.“ „Sei nicht so... pessimistisch, Eduard.“ „Und du werde ein bisschen realistischer. Du musst doch...“ „Ich will nichts mehr davon hören“, unterbrach Toris ihn. „Nichts mehr von Natalia.“ „Entschuldige, aber du hast damit angefangen.“ „Wenn Natalia zur Familie gehört“, sagte Raivis besorgt, „ist das dann nicht aber Inzucht, Toris?“ „Ach was. Natalia und ich sind weder blutsverwandt noch angeheiratet irgendwie verwandt, also ist es kein Problem.“ „Und Toris ist Katholik, der weiß schon, was er tut.“ „Lass das, Eduard.“ „Apropos... ich dachte, du wärst mit Feliks verheiratet.“ „Das ist ein paar Jahrhunderte her. Und außerdem sind wir nie mehr als Freunde gewesen.“ „Verzeihung, aber ihr wart verheiratet.“ „Es war eine politische Ehe, nichts weiter. Und jetzt gib endlich Ruhe.“ Ivan schloss die Augen und lehnte sich neben Yekaterina gegen die Wand. Vor dem kleinen Fenster in der Tür des Zuges war es vollständig dunkel. Wo sie wohl gerade waren? Ob dieser Zug auch wirklich nach Polen fuhr, oder ob Eduard sich geirrt hatte? „Ich bin müde“, hörte er Raivis sagen und musste lächeln. Hoffentlich würden wenigstens alle gut schlafen. Schlafen war das Nützlichste, was man tun konnte, wenn man sonst nichts zu tun hatte. Den ganzen Tag lang war Ivan nicht aus seinem Zimmer gekommen. Er hatte sich geweigert, mit irgendjemandem zu sprechen oder etwas zu essen. Als es am Abend an der Tür klopfte, beschloss er, es zu ignorieren. Nach einigen Sekunden klopfte es erneut. Ivan hob den Kopf von der Schreibtischplatte, auf der er ihn abgelegt hatte. „Ich will allein gelassen werden“, sagte er laut und war erschrocken, wie heiser er war. Die kurze Stille, die folgte, wurde von einer leisen Stimme unterbrochen, gedämpft durch die hölzerne Tür. „Ivan? Ich bin es. Toris.“ „Was gibt es?“ „Bitte lassen Sie mich rein“, sagte Toris nur. Er klang sehr niedergeschlagen, dachte Ivan. Kein Wunder. „Also gut“, sagte er, obwohl er selbst nicht genau wusste, warum. Toris öffnete die Tür und schloss sie hinter sich sofort wieder. Er war sehr blass und seine Augen waren gerötet, als habe er geweint. Ivan sah ihn nur kurz an und wandte den Blick dann wieder ab. „Was willst du also?“ Unsicher betrachtete Toris den Boden. „Ich möchte mich entschuldigen“, murmelte er. „Ach ja? Wofür denn?“ „Dafür, dass ich gestern so unhöflich zu Ihnen war. Das hätte ich mir nicht erlauben dürfen. Ich hätte Ihnen verzeihen müssen.“ Ivan lachte freudlos auf. Darum ging es? Aber das war doch so lange her. Das war gestern gewesen, bevor er Raivis weggeschickt hatte, also praktisch in einem anderen Leben. Heute hatte er ganz andere Sorgen. „Lachen Sie nicht“, flüsterte Toris. „Ich meine es ernst.“ „Das glaube ich nicht, Toris“, sagte Ivan mit einem Lächeln. „Du wolltest mir gestern nicht vergeben, und du willst es auch heute nicht. Wie du gestern schon sagtest, ist das dein gutes Recht.“ Toris schwieg. „Also. Was willst du hier?“ „Warum machen Sie es mir so schwer?“, flüsterte Toris. „Was mache ich dir schwer?“, fragte Ivan und zog die Augenbrauen hoch. „Was soll ich noch tun? Ich... ich bitte Sie wirklich...“ „Du hast dir nichts vorzuwerfen, Toris“, sagte Ivan und stand kopfschüttelnd auf, wobei er ihm noch immer den Rücken zudrehte. „Du hast das Richtige getan. Ich bin es, der einen Fehler gemacht hat.“ „Das haben Sie nicht!“, rief Toris und schluchzte auf. „Sie... Sie haben nicht... es war alles meine...“ Verwirrt drehte Ivan sich um und sah, dass Tränen über Toris' Gesicht liefen. „Toris? Was...“ „Ich weiß, dass es meine Schuld war“, brachte Toris hervor, fiel plötzlich auf die Knie und umklammerte Ivans Mantel. „Es... es tut mir so furchtbar Leid.“ „Toris?“, fragte Ivan perplex, der die Situation lächerlich und gleichzeitig alles andere als lustig fand, weshalb er nicht wusste, ob er lachen sollte. „Was...“ „Bitte verzeihen Sie mir. Bitte... ich will alles wieder gut machen. Bitte seien Sie nicht böse, und... und bitte holen Sie Raivis wieder zurück.“ „Raivis?“, wiederholte Ivan tonlos. Toris sah mit Tränen in den Augen zu ihm auf. „Sie können doch nicht einfach... nicht einfach Raivis wegschicken, nur weil ich... es war meine Schuld. Wenn Sie jemanden nach Sibirien schicken, dann mich. Aber nicht Raivis!“ Einer von ihnen, dachte Ivan und starrte Toris an, hatte hier etwas grundlegend falsch verstanden. „Ich wollte das nie!“, brachte Toris hervor. „Ich wollte doch nie, dass Sie meinetwegen Raivis wegschicken! Ich verzeihe Ihnen alles, was Sie wollen, wenn Sie nur Raivis zurückholen!“ Langsam schüttelte Ivan den Kopf. „Du kannst mir nicht verzeihen, Toris“, murmelte er. „Das ist dein gutes Recht, und das hast du gestern klar genug gemacht.“ „A-aber... ich sage doch, ich werde alles tun! Ich werde...“ „Ich kann Raivis nicht zurückholen, Toris“, unterbrach Ivan ihn. „Ich will es gern, glaub mir, aber ich kann es nicht. Du kannst an meinem Mantel zerren, so viel du willst – er kommt nie wieder zurück.“ Und aus irgendeinem Grund musste er lachen, lachen über die Absurdität dieser Situation, während Toris sich zu seinen Füßen zusammenkauerte und in Tränen ausbrach. Sie konnten beide eine ganze Weile lang nicht damit aufhören. Einer von ihnen hatte etwas grundlegend falsch verstanden, dachte Ivan. Vielleicht sogar sie beide. Sein Rücken, mit dem er sich gegen die metallene Wand des Waggons lehnte, war so kalt geworden, dass er schmerzte. Ivans Beine waren verspannt. Seufzend setzte er sich etwas anders hin und sah nach dem Fenster in der Tür. Trübes Licht drang hindurch. „Vanya?“, fragte Yekaterina leise. „Guten Morgen, Katyusha.“ „Guten...“, begann sie, brach aber ab und hustete heiser. „Geht es dir gut?“, fragte Ivan besorgt. „Ich weiß nicht“, murmelte sie und rieb sich die Augen. „Mir ist ein bisschen unwohl.“ „Vielleicht solltest du noch mehr Körner essen.“ „Oh, nein. Ich habe keinen Appetit.“ „Vielleicht sind sie verdorben?“, fragte Ivan und betrachtete den geöffneten Sack. „Ich denke nicht. Sie haben noch eine weite Reise vor sich... es würde mich wundern, wenn sie jetzt schon schlecht geworden wären.“ „Da ist was dran. Vielleicht solltest du dann einfach noch ein wenig schlafen.“ „Ich werde es versuchen“, murmelte Yekaterina. „Ist bei den anderen alles in Ordnung?“ Durch das gedämpfte Licht konnte Ivan sehen, dass Toris, Raivis und Eduard ein Stück näher heran gerückt waren. Der Zug rumpelte über die Schienen und Raivis' Kopf stieß gegen den Boden, doch er wachte nicht auf. Fürsorglich streckte Ivan die Hand aus und zog ihm die Kapuze über den Kopf, damit er es wenigstens etwas weicher hatte. Yekaterina beobachtete ihn dabei und runzelte leicht die Stirn. „Fragst du dich eigentlich nicht, warum Raivis zurückgekommen ist?“ Überrascht wandte Ivan sich um und sah sie an. „Er ist zurückgekommen“, sagte er. „Alles andere ist doch nicht wichtig.“ „Nicht wichtig?“, murmelte sie. „Vielleicht. Aber erstaunlich ist es trotzdem.“ „Manchmal passieren Wunder. Und manchmal braucht man diese Wunder, um etwas zu verändern.“ „Glaubst du, dass es ein Wunder ist?“ „Was denn sonst?“ Yekaterina lächelte ihn an. „Ein Geschenk.“ „Ein Geschenk von wem?“ „Von wem? Nun, das ist die Frage... der einzige, der dir dieses Geschenk überhaupt hätte machen können, wäre wohl...“ „Onkelchen“, fiel Ivan ihr ins Wort. „Aber er war es selbst, der gesagt hat, ich müsste Raivis wegschicken. Warum sollte er ihn jetzt wieder zurückholen?“ „Warum sollte er das tun?“, murmelte Yekaterina und schüttelte leicht den Kopf. „Warum nur? Vielleicht, weil er der Meinung war, Raivis habe seine Zeit abgesessen. Vielleicht wollte er auch... aufräumen.“ „Aufräumen?“, wiederholte Ivan. „Das klingt wie ein seltsamer Grund für eine Entscheidung über Leben und... anderes Leben, das des Lebens kaum wert ist.“ Yekaterina zog die Schultern hoch. „Ich wundere mich nur“, murmelte sie. „Ich mich nicht“, gab Ivan zu und betrachtete Raivis, der ein Stück weiter lag. „Ich bin nur froh, dass er wieder da ist. Wirklich froh.“ Er betrachtete Raivis' geschlossene Augen und streckte die Hand aus, um über seinen Kopf zu streichen. Seine Haare waren etwas gewachsen. In spätestens drei Monaten, schätzte Ivan, würden sie wieder genauso lang sein wie vorher. „Ich habe ihn lieb“, murmelte er und tätschelte Raivis' Kopf. „Wirklich.“ Yekaterina lächelte schwach. „Das ist schön, Vanya.“ Sie setzte sich etwas anders hin, seufzte und schloss die Augen. Ivan für seinen Teil saß noch eine ganze Weile lang da, lächelte in sich hinein und genoss es, dass er Raivis' Kopf streicheln konnte, ohne dass der Junge zitterte oder in Tränen ausbrach. Dass sollte er öfter tun, dachte er. Es tat seiner Seele gut. Er döste einige Male kurz ein, während es immer heller wurde. Nachdem er einmal die Augen geschlossen und gleich wieder geöffnet hatte (so war es ihm zumindest vorgekommen), sah er, dass jemand an den Tür stand. Einen Moment lang wurde ihm eiskalt, bis er die Gestalt erleichtert erkannte. „Hast du ausgeschlafen, Toris?“ Toris zuckte zusammen und sah sich um an. „Ja“, antwortete er leise und lächelte. „Ich fühle mich zwar ein bisschen zerschlagen, aber dafür ausgeschlafen.“ Obwohl er nicht klang, als lüge er, sah er müde aus, fand Ivan. Im Licht, das durch das trübe Fenster fiel, konnte er Toris' Gesicht erkennen. Es hatte noch immer diese weichen, androgynen Züge, die Ivan seit Jahrhunderten kannte. Aber etwas hatte sich in letzter Zeit an seinem Ausdruck verändert. Vielleicht lag es am Mund. Es war, als hätte Toris sich zu oft auf die Lippen gebissen, um etwas, das dringend aus ihm heraus wollte, nach drinnen zu zwingen. „Geht es dir gut?“ „Natürlich“, antwortete Toris überrascht und lachte ein wenig unsicher. „Warum fragen Sie?“ „Weil ich nicht glaube, dass du glücklich bist“, sagte Ivan. Toris wollte wohl etwas dazu sagen, doch dann tat er es doch nicht. Schweigend löste er sich von der Tür, machte einige Schritte durch den Waggon und ließ sich in einigem Abstand zu Ivan nieder, gleich neben Eduard, der die Augen geschlossen hatte. Dort blieb er sitzen und betrachtete die gegenüberliegende Wand, an der es gar nichts zu sehen gab. „Es hat sich etwas verändert“, murmelte Ivan. „Nicht wahr, Toris?“ „Sie sagen das, als hätten Sie nichts damit zu tun“, sagte Toris. „Wie meinst du das?“ Er biss auf seine Lippe, da. Er tat es schon wieder. „Es ist nicht einfach, den Anforderungen gerecht zu werden. Besonders denen, die mein Boss an mich stellt“, sagte Ivan leise. „Du weißt, dass ich keine Wahl hatte.“ „Aber jetzt haben Sie offenbar eine.“ „Wie meinst du das?“ Toris verengte die Augen leicht und sah Ivan von der Seite her an. „Jetzt haben Sie eine Wahl getroffen“, stellte er fest. „Dass Sie mit uns das Haus verlassen haben, wird Ihr Boss Ihnen wohl kaum aufgetragen haben.“ „Nein“, sagte Ivan und lachte unsicher. „Genau das ist das Problem bei der Sache...“ „Also haben Sie doch eine Wahl.“ „Was meinst du damit, Toris?“, fragte Ivan verständnislos. „Worauf willst du hinaus?“ Langsam wandte Toris den Blick wieder ab. „Warum erst jetzt?“, fragte er leise. „Warum schaffen Sie es erst jetzt, sich gegen Ihre eigene Regierung durchzusetzen? Was einmal passiert ist, können Sie jetzt auch nicht mehr gutmachen. Sie hätten sich früher dafür entscheiden müssen, etwas zu tun.“ Ivan blinzelte ihn an. „Aber...“, begann er. „Sie hatten die ganze Zeit über eine Wahl!“, unterbrach Toris ihn und biss die Zähne zusammen. „Sie hätten Raivis nicht nach Sibirien schicken müssen, wenn Sie damals schon mit uns weggelaufen wären. Und Sie hätten mich nicht...“ Er verstummte und schloss kurz die Augen. „Aber ich habe es getan, um dich zu beschützen“, murmelte Ivan mit großen Augen. „Das haben Sie aber nicht geschafft!“, rief Toris und starrte ihn an. „Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was Sie da reden? Um mich zu beschützen...! Sie können sich nicht damit rechtfertigen, dass Sie... Sie können sich überhaupt nicht für so etwas rechtfertigen, Ivan, und eigentlich halte ich Sie für klug genug, das zu wissen! Warum versuchen Sie es trotzdem?“ Erschrocken wich Ivan ein Stück vor ihm zurück. Sein Herz raste. War das noch immer der sanfte, liebe Toris, den er gekannt hatte, oder war er längst durch jemand anderen ersetzt worden und er hatte es nur nicht bemerkt? Es war möglich, dass er eine solche Veränderung nicht bemerkt hatte, dachte er. Seit damals war so viel Distanz zwischen ihnen beiden. „Verzeihen Sie“, flüsterte Toris, dessen Wut genauso schnell verflogen zu sein schien, wie sie gekommen war. Er sah sehr müde aus, als er die Beine anzog und die Arme darum schlang. Seine Hände zitterten. „Verzeihen Sie meinen Ausbruch gerade. Ich wollte nicht... ich dachte...“ „Was sonst soll ich tun?“, unterbrach Ivan ihn. „Was soll ich tun, anstatt mich zu rechtfertigen, Toris? Einfach so zu tun, als wäre das Ganze nie passiert, scheint mir einfach nicht das Richtige zu sein.“ „Sie könnten Reue zeigen.“ „Ich bereue es“, sagte Ivan und bemerkte, dass er ebenfalls zitterte. „Das musst du doch wissen, Toris. So gut musst du mich wenigstens kennen.“ Toris hob den Kopf und betrachtete ihn einige Sekunden lang stumm. „Nein“, widersprach er leise und schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass Sie es bereuen. Sie sehen sich selbst als Opfer, Ivan, als Opfer der Umstände. Aber Sie sollten wissen, dass Sie alles, was Sie getan haben, freiwillig getan haben. Oder... oder zumindest willig getan haben. Verstehen Sie? Sie hätten jederzeit die Chance gehabt, nach Ihrem Gewissen zu handeln anstatt nach dem, was Ihre Regierung wollte. Dass Sie Ihre Chance nie genutzt haben, ist ganz allein Ihre Schuld.“ Ivan wollte schlucken, doch er konnte nicht. Irgendetwas sehr Großes schien in seiner Kehle zu sitzen und ihn daran zu hindern. „Was soll ich tun?“, brachte er nach einer Weile hervor. „Einsehen, dass Sie einen Fehler gemacht haben“, antwortete Toris, ohne nachzudenken. „Sie sollen mir zeigen, dass Sie bereuen, was Sie mir angetan haben... und Raivis übrigens auch.“ „Raivis verzeiht mir.“ „Ich bitte Sie, er ist ein Kind. Er hat keine hohe Moralvorstellung, also macht er sich nicht viele Gedanken über das, was man tun darf und was nicht. Außerdem...“ Toris verzog die Lippen. „Er hat zwei Jahre im Arbeitslager verbracht, lieber Himmel. Gott weiß, was er dort alles erlebt hat. Es ist doch selbstverständlich, dass er erleichtert ist, wieder bei Ihnen zu sein – und das, obwohl Sie es waren, der ihn weggeschickt hat. Alles ist besser, als wenn er noch länger dort geblieben wäre. Im Vergleich zu einigen anderen Männer, die er kennengelernt haben dürfte, müssen Sie ihm ja wie ein Engel vorkommen.“ Ivan spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. „Aber er verzeiht mir“, murmelte er. Toris seufzte kaum hörbar und wandte den Blick ab. „Denken Sie nach“, sagte er beinahe sanft. „Denken Sie einfach darüber nach, Ivan. Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen verzeihe, geben Sie sich ein wenig Mühe. Wenn nicht... dann lassen Sie es bleiben. Mir ist es gleich, was Sie tun.“ „Das ist doch Unsinn“, sagte Ivan und lachte kurz, obwohl ihm nicht zum Lachen war. „Du hättest dieses Gespräch nicht begonnen, wenn es dir gleich wäre, ob du mir verzeihst oder nicht.“ Schweigend betrachtete Toris die Wand und biss erneut auf seiner Lippe herum. Diesmal schaffte er es nicht, das zurückzuhalten, was aus ihm heraus wollte. „Ich habe es angesprochen, weil ich nichts anderes im Kopf habe. Seit sechs Jahren weiß ich nicht mehr, was ich von Ihnen halten soll, Ivan. Vorher habe ich gedacht, Sie wären im Grunde nur ein Kind, das man an die Hand nehmen muss. Aber mittlerweile weiß ich nicht mehr, wer Sie sind. Was Sie sind. Und jetzt... jetzt werde ich bald Feliks wiedersehen und weiß nicht einmal, ob ich mich darauf freuen soll. Er ist mein bester Freund. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen und vermisse ihn wahnsinnig. Aber ich weiß nicht, wie ich ihm gegenüber treten soll. Ich weiß nicht mehr, wie ich ihn behandeln soll, nachdem...“ Er suchte nach Worten, fand keine und schüttelte müde den Kopf. „Und dabei ist er mein bester Freund.“ Ivan legte den Kopf schief. „Aber was passiert ist, hat dich nicht verändert, Toris“, sagte er verständnislos. „Was ist dein Problem? Du bist immer noch genau der Alte.“ „Genau der Alte?“, fragte Toris leise. „Es wäre schön, wenn es so wäre, Ivan. Das wäre wirklich schön.“ Eine Stille legte sich zwischen sie, die Ivan um jeden Preis durchbrechen wollte, doch ihm fiel nichts mehr zu sagen ein. Wieso war es nur so still? Was sollte er zu alledem sagen? Und wie konnten überhaupt die anderen noch schlafen, nach Toris' Ausbruch? „Vanya?“, erklang eine sehr leise Stimme hinter ihm und er fuhr heftig zusammen. „Was ist denn?“ Seine Stimme klang zu laut. Er drehte sich um und bemerkte, dass Yekaterina nach seinem Arm gegriffen hatte. Ihr Gesicht war blasser, als er es je gesehen hatte. „Um Himmels Willen, Katyusha! Was ist denn los?“ Sie versuchte, zu lächeln. „Nichts. Mir ist nur ein wenig... ein wenig schwindlig.“ „Du bist krank“, sagte Ivan und tastete nach ihrer Stirn, auf der der Schweiß stand. „Vielleicht ist es dasselbe, was mir auch passiert ist. Vielleicht...“ „Wir nähern uns der Grenze“, unterbrach Yekaterina ihn leise. „Was... wie meinst du das?“ „Sie hat Recht“, sagte Eduard und Ivan zuckte erneut zusammen, stärker, als er es sich vernünftig erklären konnte. „Woher weißt du das?“, fragte Toris verblüfft. „So hell, wie es ist, dürfte es schon Nachmittag sein. Ich wüsste nicht, dass wir zwischenzeitlich angehalten hätten. Wenn der Zug eine halbwegs gerade Route nimmt, dürften wir wirklich bald die Grenze passieren.“ „Wenn wir da sind“, sagte Ivan und griff nach Yekaterinas Hand, „müssen wir so schnell wie möglich zu Feliks. In ein öffentliches Krankenhaus können wir nicht gehen, sie würden nur dumme Fragen stellen und könnten wahrscheinlich letztendlich auch nichts tun... aber bei Feliks kannst du dich ausruhen, Katyusha.“ „Bist du sicher?“, fragte Yekaterina leise. „Wir werden morgen in Warschau sein“, sagte Eduard. „Ich kenne den Weg zu Feliks“, fügte Toris hinzu, was Ivan einerseits überraschte, andererseits auch wieder nicht. „Es ist nicht mehr weit vom Bahnhof aus. Glaubst du, das schaffst du noch, Yekaterina?“ „Glaubst du?“, fragte Ivan leise. Yekaterina sah ihn an, holte tief Luft und nickte. „Es wird schon gehen“, murmelte sie auf diese ergeben Art und lächelte. Kapitel 12: Lauscher an der Wand hört die eigene Schand ------------------------------------------------------- „Liet!“ Feliks fiel Toris auf der Türschwelle um den Hals, sodass Toris einen Schritt zurück stolperte. „Feliks... bitte...“ „Ich habe dich ewig nicht gesehen, Liet! Was machst du hier? Und warum...“ „Feliks!“, sagte Toris hastig und versuchte, so laut zu flüstern, dass er Feliks übertönte. „Können wir reingehen? Schnell?“ Feliks lockerte seinen Griff leicht und betrachtete die anderen an Toris' Schulter vorbei. Er legte die Stirn in Falten, als er sah, wie viele sie waren. „Du hast ja die ganze Großfamilie mitgebracht.“ „Können wir reingehen, Feliks?“, fragte Toris noch einmal und sah sich angespannt um. Feliks nickte und zog ihn am Ärmel in den Flur. „Kommt rein und so“, rief er zu den anderen hinaus. „Füße abputzen!“ Bei Toris war es ihm anscheinend egal, ob er sich die Füße abputzte, denn er ließ seinen Ärmel keinen Moment lang los. Ivan betrat als letzter den Flur, Yekaterina behutsam vor sich her schiebend, und schloss die Tür hinter ihnen. Als sie ins Schloss fiel, atmete er unwillkürlich auf. „Also“, sagte Feliks und drehte eine Haarsträhne um seinen Finger. „Wollt ihr mir irgendwie erklären, was ihr hier macht, oder geht ihr gleich wieder?“ Toris schwieg und versuchte, seinen Arm aus Feliks' Griff zu ziehen, aber Feliks hielt ihn fest. „Wir sind abgehauen“, sagte Raivis, der noch dabei war, gehorsam seine Füße abzuputzen. „Abgehauen? So wie in... abgehauen? Vor wem, warum, wieso, und was zum Teufel macht ihr dann ausgerechnet bei mir?“ „Das können wir dir später erklären, Feliks“, warf Eduard ein. „Könnte Yekaterina sich erst einmal hinlegen? Es geht ihr nicht gut.“ Ivan war froh, dass Eduard es zuerst gesagt hatte, denn er wusste nicht, ob Feliks darauf eingegangen wäre, wenn er gesprochen hätte. Er bemerkte, dass Feliks sich halb hinter Toris versteckte und immer darauf zu achten schien, dass er sich zwischen ihm und Ivan befand. „Äh... klar“, sagte Feliks und wedelte aus seiner Deckung heraus mit der Hand in Richtung einer Tür. „Leg dich hin und so.“ „Könntest du uns vielleicht zeigen, was du meinst?“, fragte Toris gedämpft, warf ihm einen verwirrten Blick zu und versuchte erneut, seinen Arm zu befreien. „Du bist doch sonst so gastfreundlich, Feliks.“ „Bin ich ja auch, total!“ Feliks schnaufte und ließ ihn los. „Okay. Ich hab kein Gästezimmer, aber du kannst das Sofa nehmen. Oder mein Bett, wenn du lieber willst.“ „Das Sofa ist in Ordnung“, murmelte Yekaterina und lächelte etwas zittrig. „Ja? Okay. Komm mit.“ Feliks öffnete eine Tür auf der rechten Seite und deutete auf das Sofa, das an einer Wand des Raumes stand. „Ich hab auch Decken“, sagte er, trat an einen Schrank und öffnete ihn. „Leg dich hin. Was hast du denn?“ „Es ist eine Art Erkältung“, erklärte Yekaterina, während sie sich zögernd auf dem Sofa niederließ. „Vanya hatte auch schon so etwas Ähnliches.“ „Ah“, machte Feliks und warf Ivan einen Blick aus den Augenwinkeln zu. „Aber er ist nach ein paar Tagen von ganz allein darüber hinweg gekommen.“ „Du solltest dich trotzdem schonen“, sagte Ivan. „Hmm“, machte Feliks, zog zwei Decken aus dem Schrank und legte sie über die Armlehne des Sofas. „Hier. Was ist mit euch? Wenn ihr länger bleiben wollt, wird es verdammt schwierig, euch alle unterzubringen, das sag ich euch.“ „Ich muss mal“, sagte Raivis. „Die Tür am Ende vom Flur, nach hinten raus, da ist das Bad. Willst du dich waschen oder so? Weil, nehmt's mir nicht übel, aber ihr seht alle nicht mehr so ganz... frisch aus.“ „Wahrscheinlich nicht“, gab Ivan zu. „Ich zeig dir, wo Handtücher und sowas sind. Kann ich euch sonst nochwas anbieten? Paluszki? Wodka? Tee?“ „Tee wäre nicht schlecht“, sagte Yekaterina leise. Sie hatte mittlerweile eines der Sofakissen unter ihrem Kopf zurechtgelegt und die Augen geschlossen. „Alles klar. Komm, Liet, wir machen Tee.“ „Kannst du das nicht allein, Feliks?“, fragte Toris leise belustigt, ließ sich aber hinter Feliks her ziehen. „Eeej, ich kann viel! Ich kann alleine Glühbirnen wechseln, ja? Also sag nichts! Komm mit, Raivis!“ Die beiden verschwanden aus dem Zimmer, gefolgt von Raivis. Eduard sah Ivan ein wenig unsicher an und ging dann zu Yekaterina hinüber. „Wie geht es dir?“ „Es geht schon“, murmelte Yekaterina. „Ich werde versuchen, ein wenig zu schlafen, denke ich.“ „Tu das“, sagte Ivan und nickte. „Wie lange werden wir hier bleiben?“, fragte Eduard und sah sich zu ihm um. „Mal sehen. Höchstens so lange, bis Feliks uns über hat.“ „Das könnte noch eine Weile dauern“, erwiderte Eduard und zuckte die Achseln. „So schnell wird er Toris nicht gehen lassen.“ Ivan nickte und trat ans Fenster. Draußen wurde es langsam dunkel, und er zog aus einer Eingebung heraus die Vorhänge zu. Das war sicherer, dachte er. In ein erleuchtetes Zimmer konnte man zu leicht hinein sehen, wenn es dunkel war. Man konnte nie wissen, wer hinein sah. „Ich werde kurz gehen und nachsehen, was der Tee macht“, sagte er und drehte sich wieder um. „Bleibst du bei Yekaterina, Eduard?“ Eduard nickte nur und ließ sich auf der Armlehne nieder. Ivan lächelte und verließ das Zimmer. Jedenfalls ließ er Yekaterina in guter Obhut zurück, dachte er. Feliks' Haus war tatsächlich nicht groß. Falls es eine Treppe zu einem Obergeschoss oder einem Dachboden gab, hatte Ivan sie jedenfalls nicht bemerkt. Er überlegte, wo die Küche sich wohl befand, und merkte auf, als er Feliks' Stimme hörte. „Alles klar. Dürfte gleich fertig sein. Warten wir so lange hier?“ „Das wäre mir sehr lieb“, sagte Toris. Ivan trat näher und warf einen Blick durch die Tür. Die Küche war nicht groß, aber ziemlich modern eingerichtet. Auf dem Herd brodelte das Teewasser. Toris saß am Tisch, die Hände gefaltet und auf der Tischplatte abgelegt. Feliks ließ sich mit einem Schnaufen auf einen Stuhl ihm gegenüber fallen. „Also, erzähl, Liet. Was zum Teufel macht ihr hier?“ „Wir sind auf der Flucht“, antwortete Toris. „Ja, so viel hab ich schon mitbekommen. Vor wem und warum?“ „Das weiß ich auch nicht genau. Ivan läuft vor allem weg. Vor seiner Regierung, denke ich. Und vor... sich selbst?“ Er verstummte, und etwas an seinem Gesichtsausdruck hinderte Ivan daran, in das Gespräch hinein zu platzen. Stumm blieb er neben der Tür stehen und lauschte. „Was ist denn, Liet?“, fragte Feliks mit einer Art widerwilligen Besorgnis und beugte sich vor. „Du guckst so komisch.“ „Ich muss dir was sagen“, sagte Toris leise und sah auf seine Hände. „Was denn?“ „Aber du musst versprechen, dich nicht aufzuregen, ja?“ Misstrauisch legte Feliks den Kopf schief. „Ist es denn etwas, worüber ich mich aufregen sollte?“, fragte er gedehnt. Toris lachte nervös. „Bitte, Feliks. Hör mir einfach zu... ohne mich zu unterbrechen. Kannst du das?“ „Klar kann ich“, erwiderte Feliks und zuckte die Achseln. „Totalnie. Was ist los, Liet?“ Zögernd biss Toris auf seiner Unterlippe herum. Ivan stand neben dem Türrahmen und wusste nicht, ob er gehen sollte. Er wollte nicht gehen, aber er wollte auch nicht bleiben. Urplötzlich zerschnitt ein helles Klingeln die Stille. Feliks sah sich um, und Ivan schaffte es im letzten Moment, zurück zu weichen. „Was ist das?“ „Die Klingel. Seltsam, ich erwarte keinen Besuch... vielleicht irgendwer, der Zeitungsabos verkauft. Oder die Zeugen Jehovas oder so. Ich werde mal kurz nachsehen.“ Ein Stuhl wurde über den Boden gerückt. „Ich erledige das kurz“, erklang Feliks' Stimme und Schritte näherten sich der Tür. „Bin sofort wieder da. Und dann erzählst du mir, was du sagen willst, okay?“ „Okay“, murmelte Toris. Ivan zuckte leicht zusammen, als es erneut klingelte. Er fühlte sich ertappt, und er wollte nicht ertappt werden. Hastig wandte er sich um, öffnete die nächstbeste Tür am Ende des Flurs und schob sich hindurch. Mit wild klopfendem Herzen sah er durch den Türspalt zu, wie Feliks zur Haustür ging. „Ivan?“ Er fuhr zusammen und drehte sich um. Der Raum, in dem er sich befand, war ein Zwischending aus Badezimmer und Waschküche. Raivis stand vor ihm, ohne Hemd, die Haare ein wenig nass, und ließ gerade ein Handtuch von seinem Gesicht sinken. „Man klopft an, bevor man ins Badezimmer geht“, erklärte er in einem Ton, als frage er sich, ob er Ivan noch erziehen musste. „Ich weiß“, sagte Ivan ein wenig außer Atem. „Aber ich wusste nicht, dass es das Badezimmer ist. Es tut mir Leid, kleiner Raivis.“ Raivis zog die Schultern hoch. „Ist nicht so schlimm. Ich hätte ja auch nackt sein können.“ Ivan nickte und wandte diskret den Blick ab, weg von den Rippen, die sich deutlich durch die Haut drückten, weg von den Abschürfungen, den roten und blauen Flecken, weg von dem einzelnen flammend roten Striemen, der sich am unteren Ende des Brustkorbs entlang zog und hinter Raivis' Rücken verschwand. Mehr Wunden, als er selbst jemals verursacht hatte, dachte er. Oder war es nur das, was er glauben wollte? „Ich bin gleich wieder weg, Raivis. Sobald...“ In diesem Moment hörten sie den Schuss. „Was war das?“, fragte Raivis erschrocken, wühlte die Arme durch die Ärmel seines Hemdes und fuhr sich durch die Haare. Ohne nachzudenken, machte Ivan einen Satz von der Tür weg und sah sich nach Fluchtmöglichkeiten um. Die Hintertür, dachte er, war mit ein paar Schritten bei ihr und drückte die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen. „Komm mit, Raivis.“ „Wohin?“ „Ich sagte, komm mit!“ Erneut erklang ein Schuss und Feliks rief irgendetwas. Ivan griff nach Raivis' Arm und zog ihn hinaus auf einen gepflasterten Hinterhof. Mit wild schlagendem Herzen sah er sich um. „Was ist passiert? Wo wollen Sie hin?“ „Wir müssen... wir müssen...“, murmelte Ivan und suchte fieberhaft die Umgebung ab. An zwei Seiten Hauswände, an einer ein ziemlich lichtes Gebüsch, an der vierten die Straße. Was sollten sie tun? Wo sollten sie hin? Im nächsten Moment sah er das auffällig unauffällige Auto, das auf dem Hof parkte. Hinter den verdunkelten Scheiben war nichts zu erkennen, doch während er den Wagen noch fassungslos anstarrte, öffnete sich die Tür an der Seite. „Komm!“, brachte Ivan hervor, griff fester nach Raivis' Hand und zog ihn mit sich. Sie rannten hinüber zu der Seite des Hofes, die zur Straße offen war, doch jemand stieg aus dem Wagen aus und stellte sich breitbeinig davor auf. „Halt! Stehen bleiben!“ „Ivan!“, schrie Raivis. „Bleiben wir stehen!“ Doch Ivan hörte nicht auf ihn. Er würde nicht aufgeben, dachte er und verengte die Augen zu Schlitzen. Was, wenn es kam, wie Raivis es gesagt hatte, und sie alle in Sibirien landeten? Das würde er nicht zulassen. Er würde nicht zulassen, dass jemand Raivis je wieder ein Haar krümmte. „Stehen bleiben!“, rief der Mann noch einmal und ein Schuss erklang hinter ihnen. Raivis kreischte auf, doch Ivan zog ihn weiter. Beinahe wäre er gestolpert, doch im letzten Moment fing er sich wieder. „Stehen bleiben!“ „Er wird nicht mehr schießen“, keuchte Ivan. „Er ist allein, und wir sind mitten in einer Wohngegend. Ich denke nicht, dass er es riskieren wird...“ Sie erreichten die Straße und Ivan blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Raivis neben ihm schnappte nach Luft und jammerte vor sich hin. „Was ist passiert? Wo sind die anderen?“ „Das weiß ich nicht“, antwortete Ivan und zwang sich zur Ruhe. „Wir müssen jetzt erst einmal...“ Ein Auto machte direkt vor ihnen auf der Straße eine Vollbremsung und Ivan stolperte einen Schritt zurück. Er war schon kurz davor, sich umzudrehen und Raivis mit sich zu ziehen, als die Beifahrertür aufsprang. „Nach hinten mit euch“, sagte Feliks, der sehr blass war. Seine linke Hand umklammerte das Lenkrad. „Aber schnell.“ „Wo kommst du denn her?“, fragte Raivis erschrocken. „Wo ist Toris? Wo sind...“ „Ich hab gesagt, schnell!“, herrschte Feliks ihn an. Ivan klappte den Sitz nach vorn, schob Raivis auf die Rückbank und versuchte, sich nicht den Kopf zu stoßen, als er sich daneben setzte. Er zog die Tür zu und hatte sich kaum zurückgelehnt, als Feliks das Gaspedal durchtrat und er einen Satz nach hinten machte. „Wo sind die anderen?“, fragte Raivis noch immer. Seine Augen waren groß vor Sorge. „Feliks? Wo sind die anderen? Was ist mit ihnen passiert? Was...“ „Eduard war bei Yekaterina“, sagte Feliks knapp. „Hab nicht mehr nach ihnen sehen können, es ging alles zu schnell. Ich hab Liet gesagt, er soll mir folgen, aber auf einmal war er nicht mehr da. Mehr weiß ich auch nicht, also halt jetzt die Klappe.“ Selbst die Wut in seiner Stimme schaffte es nicht, die Angst darin zu überdecken. Raivis' Augen füllten sich mit Tränen und Ivan griff behutsam nach seiner Schulter. „Keine Sorge“, murmelte er und strich über Raivis' Arm. „Er meint es nicht so. Es wird alles wieder gut, hörst du? Ich bin ja noch da.“ Es war seltsam, dachte Ivan, dass er das als Beruhigung sagte, was er vor zwei Jahren noch gesagt hätte, um Raivis Angst zu machen. Ich bin ja noch da. Kapitel 13: Ein hässliches Wort ------------------------------- Feliks' Auto war klein, rot und überaus klapprig. Womöglich war es nur dem Einsatz des heiligen Christophorus, dessen Abbild vom Innenspiegel baumelte, zu verdanken, dass es noch nicht längst auseinander gefallen war. Feliks hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet, trommelte an jeder roten Ampel ungeduldig auf dem Lenkrad herum und murmelte irgendetwas vor sich hin, so leise, dass man kein Wort verstand. Kein einziges Mal sah er sich zu Raivis und Ivan auf der Rückbank um. „Ob sie uns folgen?“, unterbrach Ivan die Stille, die ihm schon wie eine Ewigkeit vorgekommen war. „Nee“, erwiderte Feliks knapp. „Sie hatten nicht viele Männer dabei. Wollten wohl, dass alles schön unbemerkt über die Bühne geht. Bloß keine Aufmerksamkeit und so... na ja, und außerdem denke ich, sie waren sich nicht einig. Meine Leute können ein bisschen eigen sein, wenn deine kommen und ihnen sagen, sie sollen gefälligst den und den verhaften. Da wird erst einmal diskutiert und nachgehakt und sich gegenseitig auf die Nerven gegangen...“ Ivan lächelte. „Es ist immer nur gut, wenn man Gegner hat, die sich nicht einig sind.“ „Natürlich umso mehr, wenn man selbst sich einig ist“, gab Feliks knapp zurück. Besorgt runzelte Ivan die Stirn. Solange sie Toris dabei gehabt hatten, war er sich sicher gewesen, Feliks uneingeschränkt vertrauen zu können. Aber jetzt, da Toris weg war, stand Feliks da überhaupt noch auf ihrer Seite? Ivan versuchte, ihm ins Gesicht zu sehen, schaffte es aber nicht. Bevor er etwas sagen konnte, um die erneute, diesmal aber viel unangenehmere Stille zu durchbrechen, bog Feliks in einen Hinterhof ein, hielt an und schaltete den Motor aus. „Folgt mir“, sagte er knapp und öffnete die Tür. „Schnell, und ohne Lärm zu machen.“ Sie stiegen aus. Raivis schniefte leise, fröstelte in der kalten Luft und trat von einem Bein aufs andere. Feliks schloss das Auto ab und machte sich dann zügig auf den Weg zu der schlichten Hintertür des grauen Reihenhauses. Es ragte in der Dunkelheit still vor ihnen auf. Kaum eines der zahlreichen Fenster war erleuchtet. „Wo sind wir hier?“, wisperte Ivan und spähte durch die Tür, die Feliks geöffnet hatte. „Psst!“, zischte Feliks. Seine Stimme hallte im Treppenhaus wieder, viel lauter, als Ivans es getan hatte. Es war beinahe vollständig dunkel, nur der Lichtschalter an der Wand leuchtete in trübem Orange. Feliks machte kein Licht, sondern begann, die Treppen hinauf zu steigen. Vor einer Tür im ersten Stock hielt er inne, suchte einen Moment lang den Schlüssel an seinem Bund, schob dann den richtigen ins Schloss und öffnete. „Na also“, murmelte er, trat in den Flur einer kleinen Wohnung und wartete, bis Ivan und Raivis ihm gefolgt waren, bevor er die Tür wieder schloss. Er drückte auf den Lichtschalter und eine nackte Glühbirne unter der Decke flackerte auf. Ivan sah sich um. Von dem schmalen Flur gingen drei Türen ab. Die Tapete an den Wänden hatte ein altmodisches Blumenmuster und der Teppich auf dem Boden sah abgenutzt aus. „Was ist das?“, fragte er. „Kleiner Schlupfwinkel“, antwortete Feliks und öffnete eine andere Tür. „Kommt hier rein.“ Sie folgten ihm in einen Raum, von dem Ivan nicht sagen konnte, ob er ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer oder eine Abstellkammer darstellen sollte. Eine Matratze mit einigen bunten Flickendecken darauf lag in der Ecke auf dem Boden. Neben einem Sofa, das als einziges Möbelstück im Raum ziemlich neu wirkte, diente eine Kiste mit Büchern als Tischchen, auf dem eine leere Teetasse stand. Einige weiß-rote Wimpel hingen an den Wänden und in einer schon vertrockneten Topfpflanze neben der Tür. In der hinteren Ecke des Zimmers befand sich ein Haufen Stoff, der bei näherem Hinsehen aus weißen Bettlaken zu bestehen schien. Ein geschlossener Farbeimer und ein mit schwarzer Farbe verklebter Pinsel lagen daneben. „Hast du vor, eine Demonstration zu veranstalten, Feliks?“, fragte Ivan belustigt. „Kann nie schaden, alte weiße Bettlaken aufzuheben“, erwiderte Feliks und ließ sich auf das Sofa fallen. „Man kann so viel damit machen.“ „Sind wir hier, um zu demonstrieren?“, fragte Raivis unsicher und setzte sich neben ihn. „Nee, natürlich nicht. Aber bei mir konnten wir ja wohl nicht bleiben, oder? Jetzt muss ich ein paar Leute anrufen und sehen, wo ihr unterkommen könnt.“ „Ein paar Leute?“, wiederholte Ivan, ließ sich auf einer Kante der Bücherkiste nieder und schob die Teetasse beiseite. „Ich hab Kontakte und so“, sagte Feliks schlicht und deutete flüchtig in Richtung der Bettlaken. „Mehr brauchst du nicht zu wissen.“ Raivis blinzelte. „Und warum rufst du sie nicht jetzt gleich an, bevor jemand uns hier findet?“, fragte er. Feliks schwieg einen Moment lang. „Liet wollte mir gerade was erzählen“, sagte er dann und sah Ivan an. Ivan blinzelte erschrocken und senkte den Kopf. „Es schien ihn ziemlich zu belasten“, fuhr Feliks mit leicht bebender Stimme fort. „Und irgendwie werd ich das Gefühl nicht los, es hatte was mit dir zu tun.“ Ivan warf ihm einen kurzen Blick zu und stellte fest, dass Feliks ihn nicht aus den Augen ließ. „Du weißt, worum es ging, Ivan. Oder?“ „Ja.“ Feliks wurde sehr blass, nickte aber. „Erzähl es mir“, verlangte er. Er würde keine Ruhe geben, dachte Ivan. Feliks wollte wissen, was passiert war, und er konnte ein verdammter Dickkopf sein. Er würde keinen Finger rühren, um ihnen zu helfen, wenn Ivan nicht tat, was er verlangte. Anscheinend musste er es ihm wohl oder übel sagen, dachte Ivan und senkte den Blick. Und davon abgesehen war es wohl endgültig an der Zeit, seiner Schuld ins Auge zu sehen. „In Ordnung“, sagte er leise. „Ich erzähle es dir. Raivis... würdest du für einen Moment vor die Tür gehen?“ Raivis hob überrascht den Kopf. „Ich will nicht rausgehen!“, sagte er ängstlich. „Ich will hier bleiben. Und außerdem weiß ich doch sowieso, was passiert ist.“ „Ach ja?“, fragte Feliks. „Ach ja?“, wiederholte Ivan und starrte Raivis an. Er hatte das Gefühl, in ein sehr tiefes Loch zu fallen. „Woher weißt du es? Hat... hat Toris es dir erzählt?“ „Nein“, antwortete Raivis schüchtern. „Er hat niemals davon gesprochen. Aber Eduard und ich haben an der Tür gelauscht. Wir haben es gehört. Es war...“ Er verstummte und begann, auf seiner Lippe herum zu kauen. „Was ist passiert?“, fragte Feliks tonlos und sah zwischen den beiden hin und her. „Was?“ Ivan holte tief Luft. „Es war vor sechs Jahren, glaube ich“, begann er leise. „Ich hatte... ich hatte diesen Befehl von meinem Boss. Nun, zumindest indirekt. Es ist nicht so, dass ich damit einverstanden gewesen wäre, aber...“ „Die Hintergründe interessieren mich überhaupt nicht“, zischte Feliks. „Ich will wissen, was du getan hast.“ Die Wut, aber auch die Angst in seinem Blick ließen Ivan das Gesicht abwenden. „Der Plan war, Toris ein starkes Beruhigungsmittel zu geben“, sagte er. „Nicht, damit er das Bewusstsein verliert, aber wenigstens so, dass er sich nicht mehr so viel wehrt... und danach wollte ich...“ Er verstummte, ballte die Fäuste und entspannte sie wieder. „Du hast ihn vergewaltigt“, flüsterte Feliks. Die Anklage blieb im Raum stehen. Raivis sah mit großen Augen zwischen Feliks und Ivan hin und her und betrachtete dann lieber seine Hände. Ivan schloss einen Moment lang die Augen, bevor er sich dazu zwang, Feliks anzusehen. „Das ist... ein sehr hässliches Wort, Feliks.“ „Ein hässliches Wort für eine hässliche Sache“, erwiderte Feliks tonlos. Ivan wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, zuckte unschlüssig die Achseln und wandte den Blick wieder ab. „Warum... warum zum Teufel...“ „Du hast gerade noch gesagt, die Hintergründe interessierten dich nicht.“ „Tun sie auch nicht.“ Feliks holte tief Luft. „Du hast gesagt... das war dein Plan. Und so hast du... hast du es gemacht, ja? Oder hat der Plan nicht funktioniert?“ „Nicht ganz“, gab Ivan zu. „Wieso nicht ganz?“ „Toris hat sich geweigert, das Beruhigungsmittel zu nehmen.“ Er sah nicht mehr rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Feliks ruckartig aufstand, den Raum verließ und die Tür hinter sich zuschlug. „Das ist nicht gut gelaufen“, murmelte er. „Wie hätte es Ihrer Meinung nach besser laufen sollen?“, fragte Raivis verblüfft. Ivan schüttelte den Kopf und lachte freudlos. „Du hast ja Recht. Wie hätte es besser laufen sollen.“ Unsicher betrachtete Raivis ihn. „Ich... ich habe absichtlich nichts gesagt.“ „Worüber gesagt?“ „Dass... ich weiß, dass Toris nach Feliks gerufen hat, die ganze Zeit über. Ich denke mal, er wollte, dass Feliks ihn retten kommt. Aber Feliks war ja nicht da.“ „Nein“, bestätigte Ivan gedankenverloren und schüttelte den Kopf. „Feliks war nicht da.“ (Sinnlose Nebeninformation, weil ich mich mal wieder nicht am Riemen reißen konnte: Die ersten zwei Sätze dieses Kapitels sind mir im Bus während der Rückfahrt aus Oxford eingefallen, wurden auf der Fähre Dover-Calais schnell auf Papier gekritzelt, und es sind meine Lieblingssätze in der gesamten Fanfic. Ich hab sie jedenfalls lieb.) Kapitel 14: Göttlich -------------------- Eine Weile lang hatte Raivis noch besorgt gefragt, was mit den anderen passiert war, und von Zeit zu Zeit in sich hinein geschnieft, ohne allerdings laut zu weinen. Da Ivan ihm keine seiner Fragen beantworten konnte, hatte er es nach einer Weile aufgegeben, sich müde auf dem Sofa zusammengekauert und die Augen geschlossen. Ivan wusste nicht, ob er Feliks folgen oder einfach abwarten sollte, bis er wieder zurückkam. Er war unruhig. Was, wenn die Polizei längst eine Spur von ihnen gefunden hatte? Sie konnte jeden Moment vor der Tür stehen. Und was war aus den anderen geworden? Hoffentlich waren Toris und Eduard unverletzt, und hoffentlich würde Yekaterina sich erholen. Sie konnte in ihrem Zustand keine Gegenwehr geleistet haben, also hatten sie ihr wahrscheinlich nichts getan. Aber was sollte jetzt passieren? Wie ging es überhaupt Natalia? Es war das erste Mal seit erschreckend langer Zeit, dass Ivan an sie dachte. Wie war es ihr ergangen, seitdem sie sich von ihnen getrennt hatte? Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Tür sich öffnete und Feliks hereinkam. In den Händen trug er ein Tablett, auf dem drei Tassen standen. Er kam näher und stellte es auf dem Boden ab, ohne Ivan anzusehen. „Ich werde gleich nochmal telefonieren. Ihr solltet inzwischen etwas trinken und euch ausruhen, solange ihr könnt.“ Raivis rieb sich die Augen und setzte sich auf. „Was ist das?“ „Tee mit Schuss. Das wärmt.“ Unsicher beobachtete Ivan ihn. Feliks drehte den Kopf, um ihn anzusehen, und schnaubte leise. „Liet hat mich versprechen lassen, mich nicht aufzuregen“, erklärte er, doch es gelang ihm nicht ganz, unbeteiligt zu klingen. Seine Hände zitterten leicht. „Wahrscheinlich, damit ich nichts Blödes tue. Und ich hab es ihm versprochen.“ „Was bedeutet das?“, fragte Ivan. „Dass ich euch beiden weiterhin helfen werde. Am Besten wird es sein, ihr sucht bei jemand anderem Unterschlupf. Bei Erzsébet vielleicht.“ „Und was wirst du machen?“, fragte Raivis mit großen Augen. „Ich? Was soll ich schon machen?“ „Jetzt, da sie uns einmal bei dir gefunden haben, werden sie es auch auf dich abgesehen haben“, sagte Ivan leise. „Du hängst längst in unserer Flucht mit drin, Feliks. Du kannst jetzt nicht einfach wieder zurückkehren und so tun, als wäre nichts geschehen.“ Feliks zog die Augenbrauen hoch. „Mein Boss ist ja nun nicht wie deiner“, sagte er geringschätzig. „Es gibt tatsächlich ein paar Leute in meiner Regierung, denen ich vertraue.“ Ivan lachte. „Nun, das ist beneidenswert. Vorausgesetzt, sie haben dein Vertrauen auch verdient.“ „Sie werden mich aus allem raus hauen“, sagte Feliks überzeugt. „Vielleicht kann ich mich sogar dafür einsetzen, dass die anderen nicht sonstwo landen.“ „Sie landen nicht sonstwo“, erklärte Raivis hilfsbereit. „Wenn, dann landen sie in Sibirien.“ „Und das ist besser oder was?“ Feliks rümpfte die Nase. „Ihr beide müsst erstmal hier weg. Notfalls kann ich immer noch behaupten, ihr hättet mich als Geisel genommen und mich gezwungen, euch zu helfen.“ „Damit machst du es uns nicht leichter.“ „Nee, stimmt. Ach, ich werde einfach improvisieren. Improvisieren kann ich gut!“ Raivis kaute auf seiner Unterlippe herum und streckte die Hand nach einer der Tassen aus. Feliks zog sie ihm weg und drückte sie Ivan in die Hand. „Trinkt das“, ordnete er an und griff seinerseits zu. Zögernd betrachtete Ivan sein Getränk. „Es schmeckt gut“, sagte Raivis und nippte bedächtig an seinem Tee. Sein mageres Gesicht sah sehr müde aus, aber mit dem Tee bekam er langsam wieder ein wenig Farbe. „Klar“, sagte Feliks, nahm seine eigene Tasse und stand auf. „Ich werde weiter telefonieren und so. Wenn sich irgendwas ergibt, erfahrt ihr es als erste.“ Er verließ den Raum und lehnte die Tür hinter sich an. „Warum trinken Sie nicht?“, fragte Raivis und blinzelte zu Ivan hinüber. „Es ist wirklich gut.“ Ivan starrte in den Tee, der ihm ein wenig trüb vorkam, aber vielleicht lag das auch nur an dem gedämpften Licht und seinen müden Augen. Feliks hatte irgendetwas vor, und es war sicher nichts, was für Ivan auf etwas Gutes hinauslaufen würde. Allerdings war Feliks gerade nicht da und sah nicht, was passierte. Wenn Ivan sich weigern sollte, zu trinken, würde der Plan nicht funktionieren. Oder hat der Plan nicht funktioniert? Nicht ganz. Toris hat sich geweigert, das Beruhigungsmittel zu nehmen. Ivan lachte leise, aber auf eine düstere Art, die Raivis zusammenzucken ließ. „Was ist los?“, fragte er ängstlich. „Gar nichts“, erwiderte Ivan, umklammerte die Tasse und betrachtete die vertrocknete Topfpflanze neben der Tür. „Alles ist in Ordnung.“ Er holte tief Luft, hob die Tasse und leerte sie in einem einzigen Zug. „Ivan? Was haben Sie denn?“ Die Stimme, eher ein Stimmchen, drang aus nächster Nähe an seine Ohren, klang aber trotzdem gedämpft. Was für ein lästiges, unlogisches Stimmchen, dachte Ivan und vergrub das Gesicht in einem Sofakissen. „Was ist passiert? Ivan?“ „Keine Sorge, Raivis. Er ist schon in Ordnung.“ „In Ordnung? Er sieht aus, als wäre er krank.“ „Nein, er ist nicht krank.“ „Er ist schon vorher krank gewesen. Vielleicht hat er es nicht ganz auskuriert, und jetzt...“ „Er ist nicht krank, Raivis. Er ist nur müde und so, okay? Und jetzt komm.“ „Wohin?“ „Ich bring dich in Sicherheit.“ „Und Ivan?“ „Der kommt nach, wenn er ausgeschlafen ist. So müde, wie er aussieht, wollen wir ihn doch nicht wecken, oder?“ „Nun... nein. Er sieht müde aus.“ „Komm, Raivis. Ivan hole ich später nach.“ „Also gut. Ich hoffe, er erlaubt, dass ich gehe...“ Wenn Raivis wüsste, wie sehr Ivan es ihm erlaubte, zu gehen. Raivis musste in Sicherheit gebracht werden, wenn es schon ihm nicht vergönnt war. Er bemerkte, dass er auf dem Sofa lag, konnte sich aber nicht erinnern, wie er dorthin gekommen war. Zwei Paar Schritte entfernten sich und eine Tür fiel ins Schloss. Wieso war es plötzlich so kalt? Er brauchte eine Decke. Wo war Yekaterina mit der Decke? Aber nein, Yekaterina war nicht da. Sie hatten sie erwischt. Wie Natalia und Toris und Eduard und... nein, Raivis nicht, weil Feliks Raivis in Sicherheit bringen würde. Es würde ihm gut gehen. Alles schwankte und schlingerte um ihn herum, als er aufstand. Er war auf einem Schiff? Seit wann? Wo fuhr das Schiff hin? Hoffentlich an einen schönen Ort. Der Raum war dunkel, warum war er so dunkel? Wo waren die anderen? Warum war er plötzlich allein? Auf dem Boden lag ein Zettel. Ivan hob ihn auf und versuchte, zu lesen, doch er konnte sich nicht auf den Inhalt konzentrieren. Die Buchstaben sahen nicht wie richtige Buchstaben aus und die Worte waren zu weich und sinnlos kompliziert. Ein seltsames Russisch. Wieso... ach, es war Polnisch. Das erklärte es natürlich. Es heißt, Irren sei menschlich, Vergeben göttlich. Wir sind weder das eine noch das andere, weder Menschen noch Götter. Ich denke, wir können selbst entscheiden, mit wem wir es halten wollen. Eines Tages werde ich versuchen, es Gott nachzumachen und zu vergeben, Ivan. Aber noch nicht jetzt. Mach dir um Raivis keine Sorgen. Ich passe gut auf ihn auf. Wie lustig, einen Zettel zu finden, dachte Ivan. Sein Kopf schwamm und alles schaukelte. Was war nur mit ihm los? Und müde war er auch, so müde... Seufzend ließ er sich auf den Boden plumpsen und legte den Kopf auf das Sofa. Er war so müde. Träge griff er nach dem Zettel und zerriss ihn in kleine Fetzen, in kleine, immer noch kleinere Fetzen. Er konnte Konfetti machen, wie lustig! Er warf es in die Luft und sah zu, wie es wieder zu Boden rieselte. Wie Schnee. Nein, Schnee war böse, er wollte das Konfetti nicht mehr! Beleidigt drehte er sich um, schlang die Arme um die Knie und schob die Unterlippe vor. Böses Konfetti. Er war müde, er wollte schlafen. Jemand griff nach seinem Arm. Ivan wollte nicht aufstehen, sie sollten ihn in Frieden lassen. Er würde Toris sagen, er sollte ihn noch ein Stündchen schlafen lassen. Heute wollte er nicht so früh frühstücken, nicht heute, denn wenn er so müde war, musste er doch schlafen. „Sieht aus, als hätte er Medikamente genommen.“ „Was für Medikamente?“ „Wir haben leere Verpackungen in der Küche gefunden. Beruhigungsmittel, Tabletten gegen Schmerzen und Schlafstörungen...“ „Klingt ja, als hätte er die ganze Hausapotheke geplündert.“ Die Männer redeten dummes Zeug, aber sie waren lustig. Er musste lachen, als sie ihn auf die Beine zogen. Die Welt war ein lustiger Ort. Dann waren sie draußen, die Luft war kühl, und jemand drückte auf seinen Kopf. Wie dumm, dabei war es doch sonst immer er, der Raivis auf den Kopf drückte, und nicht anders herum... was fiel Raivis eigentlich ein? Er konnte auch in ein Auto steigen, ohne dass jemand ihm auf den Kopf drückte, das konnte er ja wohl. Selbst dann noch, wenn sich seine Hände irgendwie hinter seinem Rücken verhakt hatten und er sie nicht mehr losbekam. Auch das konnte ihn nicht stören, denn die Welt war ein lustiger Ort. Er saß einem Mann gegenüber, der eine ganze Menge Fragen hatte, aber leider wusste er nicht recht, was er ihm antworten sollte. Das tat ihm Leid, denn der Mann schien immer trauriger zu werden, weil er keine Antwort bekam. Er sah schon ganz finster aus und legte die Stirn in Falten. Ivan wollte nicht, dass der Mann traurig war, also versuchte er, etwas Lustiges zu erzählen. Er erzählte den Witz mit dem Breitmaulfrosch, der über die Wiese hüpft, aber den fand der Mann offenbar nicht lustig. Das war schade, denn Ivan persönlich mochte diesen Witz sehr gern. Aber der Mann war noch immer traurig, und das tat Ivan Leid, weil die Männer sehr freundlich zu ihm gewesen waren. Also begann er, das Lied von der kleinen Kuh zu singen, denn das fand er auch sehr lustig. Der Mann schien noch immer nicht fröhlich zu sein. Jemand griff von hinten nach Ivans Arm. Überrascht wollte er sich umsehen, doch bevor er es schaffte, durchzuckten Schmerzen seinen Oberarm, als wäre die kaum verheilte Schusswunde wieder aufgebrochen. Er schrie auf und wollte sich losreißen, wollte weg, aber er hing fest, konnte sich nicht rühren. Der traurige Mann sah ihm zu, und Ivan bat ihn um Hilfe, aber der Mann ging nicht darauf ein. Er saß nur stumm da und sah zu. Jemand verdrehte Ivans Arm, es tat weh, und etwas war da, das ihn daran hinderte, aufzustehen. Die Welt war kein lustiger Ort mehr. Plötzlich machten die vorher freundlichen Männer ihm Angst, und er hätte sich am liebsten in einer Ecke verkrochen, sich ganz klein gemacht und gewartet, bis sie wieder weg waren. Aber nun waren sie da und hatten ihn gefunden, und er konnte nicht weg. Jemand verdrehte noch immer seinen Arm und es tat noch immer so weh, so weh, und er spürte, dass er Tränen in den Augen hatte. Er hatte doch niemandem etwas getan. Er hatte niemandem jemals etwas tun wollen. Mach dir um Raivis keine Sorgen. Ich passe gut auf ihn auf. Er hatte das Gefühl, er müsste erleichtert sein, weil Raivis in Sicherheit war, aber wer passte denn auf ihn, Ivan, auf? Niemand passte auf ihn auf. Niemand war da. Ivan legte den Kopf in den Nacken und schrie auf, weil es wehtat und die Welt ein hässlicher Ort war, ein dreckiges, kaltes, stockdunkles Loch, und weil er diese Welt nicht mehr sehen wollte. Und dann fing er an zu weinen. In seinem Mund schmeckte es, als habe er sich übergeben, obwohl er sich nicht erinnern konnte, das getan zu haben. Langsam öffnete Ivan die Augen und schloss sie gleich wieder. Das Licht war zu grell und sein Kopf pochte vor Schmerzen. „Vanya?“ Der Name war sanft ausgesprochen worden, erleichtert und besorgt zugleich. Ivan gab einen verwirrten Laut von sich. „Ich bin es, Natalia. Ich bin hier, Vanya. Ich bleibe bei dir.“ Eine dünne Decke wurde weiter über seine Brust gezogen. Ivans Herz schlug schnell. Konnte das sein oder träumte er noch? „Bela?“, krächzte er und war erschrocken, zu hören, wie heiser er klang. Er verstand sich selbst kaum. „Ja. Sie haben mir erlaubt, mich um dich zu kümmern.“ „Was ist passiert?“, fragte Ivan leise. Seine Erinnerungen rissen ab, nachdem er Feliks' Tee getrunken hatte. Tee? Es war sicher alles gewesen, aber kein Tee. „Sie sagen, jemand hätte dir eine Überdosis an allen möglichen Medikamenten verabreicht“, sagte Natalia und strich über seine Haare. „Und einen Schuss Badreiniger, meinten sie. Jeder normale Mensch wäre daran gestorben.“ „Aber ich habe eine starke Leber, was?“ „Es hatte nichts mit deiner Leber zu tun. Du kannst nicht sterben.“ „Wie...wie bin ich hierher gekommen? Wie haben sie mich gefunden?“ „Sie haben mir nur gesagt, es hätte eine anonyme Anzeige gegeben. Ich weiß nicht, ob das stimmt.“ „Hast du dich um mich gekümmert?“, fragte Ivan und versuchte, sich zu erinnern, doch davon wurden seine Kopfschmerzen nur noch schlimmer. Außerdem schmerzte seine rechte Hand, als sei sie eingeschlafen. „Du hast dich eine ganze Weile lang übergeben, bis alles draußen war. Die letzten zwei Stunden hast du geschlafen. Ich bin hier geblieben.“ „Danke, Bela“, sagte Ivan und lächelte. Er versuchte erneut, die Augen zu öffnen, und diesmal schaffte er es. Natalias Gesicht tauchte vor ihm auf. Sie lächelte dünn, als er sie ansah. Täuschte er sich oder waren ihr Gesicht blasser und ihre Haare stumpf geworden, seitdem sie sich zuletzt gesehen hatten? „Geht es dir gut, Bela?“ „Es ist in Ordnung. Sie haben mir erlaubt, bei dir zu bleiben.“ „Wo sind die anderen?“, fragte Ivan besorgt. „Toris, Eduard und Yekaterina?“ „Ich weiß es nicht, ich habe sie noch nicht gesehen. Ich habe aber nicht gehört, dass es ihnen nicht gut gehen würde.“ Das musste nichts bedeuten, dachte Ivan. Er seufzte und versuchte, sich anders hinzulegen, bemerkte aber, dass seine Hand irgendwo festzuhängen schien. Langsam drehte er den Kopf und starrte einige Sekunden lang verständnislos die Handschellen an, die seine rechte Hand an das Kopfende des Bettes fesselten. Die Hand war eingeschlafen und kribbelte schmerzhaft. „Vielleicht kann ich sie überreden, die aufzuschließen“, sagte Natalia, die seinem Blick folgte. „Du scheinst einigen Einfluss auf sie zu haben, Bela.“ „Ich tue mein Bestes“, erwiderte sie und zog die Schultern hoch. „Meine Bela“, murmelte Ivan und streckte den freien Arm nach ihr aus. „Du schaffst es immer, dich anzupassen.“ „Manchmal wünschte ich, ich würde mich nicht so gut anpassen“, erwiderte Natalia und sah ihn an, ohne zu blinzeln. „Ich wäre gern wie du, Vanya.“ Ivan schwieg dazu. Er hätte Natalia gern gefragt, ob sie es bereute, dass sie die Flucht einfach aufgegeben hatte, aber aus irgendeinem Grund traute er sich nicht. Natalia presste die Lippen zusammen. „Ich weiß nicht, was ich denken soll“, brachte sie hervor. „Ich habe mir die ganze Zeit gewünscht, ihr würdet es schaffen, sie würden euch nicht erwischen... und gleichzeitig habe ich mir gewünscht, sie würden euch erwischen, damit du wieder bei mir bist.“ Ivan lächelte und strich über ihre Schulter. „Ich habe dich auch vermisst, Bela.“ Natalias Unterlippe zitterte. „Nein“, sagte sie und schüttelte heftig den Kopf. „Das wollte ich nicht sagen! Ich habe... natürlich habe ich dich vermisst, Vanya. Aber ich... verdammt, ich wollte, dass sie dich erwischen! Was bin ich für eine dumme Gans! Wie konnte ich mir so etwas wünschen!“ „Es ist nicht deine Schuld, dass sie mich erwischt haben“, sagte Ivan ernst. „Es ist nicht wichtig, was du dir alles gewünscht hast, Bela. Ich weiß, dass du es nicht böse gemeint hast.“ Es sah aus, als wollte Natalia noch etwas sagen, doch sie brachte kein Wort heraus. Stattdessen schluchzte sie laut auf, warf sich über Ivans Brust und krallte die Finger in die Decke. „Vergib mir, Vanya“, flüsterte sie. „Aber was redest du denn da? Es gibt nichts, was ich dir...“ „Ich sagte, vergib mir!“, kreischte Natalia und schlug mit der Faust auf seinen Bauch. Ivan rang erschrocken nach Luft und strich mit der freien Hand über ihren Kopf. „Ist ja gut, Bela. Ich vergebe dir alles, was du willst. Es ist alles gut.“ Sie weinte noch eine ganze Weile lang, das Gesicht an seiner Brust verborgen. Ivan strich behutsam über ihr Haar und versuchte, an nichts zu denken. Er wollte nicht darüber nachdenken, was jetzt passieren würde, wo die anderen waren und was aus ihnen allen werden sollte. Stattdessen wartete er geduldig, bis Natalia die Tränen aufgebraucht hatte, die sie in der letzten Zeit vermutlich zu oft hatte unterdrücken müssen. Er hatte eine starke kleine Schwester, dachte er, aber manchmal musste sie einfach eine kleine Schwester sein dürfen. Kapitel 15: Ein paar Sekunden Schlaf ------------------------------------ „Weil ich Angst um meine Familie hatte und sie in Sicherheit bringen wollte.“ „In Sicherheit wovor?“ Wäre es dreist, diese Frage ehrlich zu beantworten, oder wäre es noch dreister, gar nicht zu antworten? Ivan biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Der Mann vor ihm sah ihn reglos an. „Wohin wollten Sie sie bringen?“, fragte er. „Ich weiß nicht genau, wohin. Einfach weg.“ „Das glaube ich Ihnen nicht.“ „Wir sind bei Feliks gelandet, weil ich dachte, es wäre ein guter Ausgangspunkt“, erklärte Ivan und wünschte sich, sein Kopf würde nicht so dröhnen, damit er vorher über das nachdenken konnte, was er sagte. „Ich dachte, er könnte uns sicher helfen.“ „Und? Hat er eingewilligt?“ Ivan schwieg. „Hat er eingewilligt?“, fragte der Mann noch einmal und beugte sich vor. „Ich habe ihn überredet“, sagte Ivan. Da er seine Gedanken nicht mehr beisammen halten konnte, beschloss er, ab sofort jeden Satz mit ich zu beginnen. Er würde die volle Verantwortung übernehmen. Das hatte er von Anfang an gesagt. „Wo ist er jetzt?“, fragte der Mann. „Und wo ist...“ Er warf einen kurzen Blick in die Akten vor sich. „Dieser lettische Junge, wo ist der?“ Ivan schwieg. „Sind sie zusammen unterwegs?“ Er sagte nichts, zuckte nur heftig zusammen, als der Mann auf den Tisch schlug. „Antworten Sie!“ „Ich weiß nicht, wo die beiden sind“, antwortete Ivan wahrheitsgemäß. „Wir wurden getrennt.“ Der Mann legte die Stirn in tiefe Falten. „Sicher gab es irgendeinen Plan. Wohin wollten Sie als nächstes fliehen?“ „Es gab keinen Plan.“ „Das glaube ich Ihnen nicht.“ „Es ist die Wahrheit.“ „Haben Sie irgendeine Vermutung, wo die beiden jetzt sein könnten?“ „Nein.“ „Denken Sie nach“, sagte der Mann scharf. „Ich kann nicht“, antwortete Ivan wütend, bevor er die Worte zurückhalten konnte. „Wenn ich nicht seit zwei Tagen nicht geschlafen hätte, könnte ich vielleicht auch noch klar denken.“ Der Mann sah ihn an, und Ivan gab sich Mühe, seinem Blick stand zu halten. Seine Augen brannten vor Müdigkeit. „Versuchen Sie, trotzdem nachzudenken“, sagte der Mann langsam und stand auf. „Das Verhör ist beendet“, erklärte er dem Gehilfen, der im Hintergrund saß und mitschrieb. „Wir sprechen uns später wieder.“ „Warten Sie!“, sagte Ivan, bevor der Mann den Raum verließ. Mit etwas wie Belustigung auf dem Gesicht drehte er sich wieder um. „Ja?“ Ivan schluckte einige Male, bevor er die Frage stellen konnte. „Wie geht es den anderen?“ „Den anderen?“, wiederholte der Mann und tat, als würde er nicht verstehen. „Wo ist Natalia?“, platzte Ivan heraus. „Und was ist mit den anderen passiert? Sind sie hier? Geht es ihnen gut?“ Der Mann zog eine Augenbraue hoch. Er würde ihm nichts sagen, dachte Ivan verzweifelt, gar nichts. Seit zwei Tagen, seitdem sie Natalia von seinem Bett abgeführt hatten, war es dasselbe: Niemand sagte ihm etwas. Die Zeit fühlte sich nicht an wie zwei Tage, weil sie ihm seitdem nicht mehr erlaubt hatten, zu schlafen. Sie fühlte sich an wie eine Ewigkeit, isoliert von allen, die er liebte. Langsam begannen die Einsamkeit und die Müdigkeit ihren Tribut zu fordern. „Das können Sie später erfahren“, sagte der Mann nur und drehte ihm wieder den Rücken zu. „Wenn Sie sich bereit erklären, mit uns zusammen zu arbeiten.“ „Ich tue mein Bestes, um mit Ihnen zusammen zu arbeiten!“, rief Ivan und spürte, wie ihm die Tränen kamen. Ungewöhnlich hohe Emotionalität war eine weitere unangenehme Folge seines Schlafmangels. Der Mann zog die Augenbrauen hoch. „Einer von ihnen“, sagte er dann, in einem Ton, als sei es ihm zufällig gerade eben eingefallen. „Der Este. Er wollte sich seiner Verhaftung entziehen und wurde dabei niedergeschossen.“ Ivan riss die Augen auf. „Eduard? Aber... w-wie geht es ihm? Wo ist er jetzt?“ Doch der Mann antwortete nicht mehr, drehte ihm den Rücken zu und verließ den Raum. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Ivan nahm kaum wahr, wie jemand ihn an den Armen packte und von seinem Stuhl hochzog. Sein Herz raste so sehr, dass ihm immer wieder schwarz vor Augen wurde. Eduard. Niedergeschossen. Aber warum? Stimmte es überhaupt, was der Mann ihm erzählte? Konnte er ihm glauben? Oder hatten sie sich diese Geschichte nur ausgedacht, um ihn unter Druck zu setzen? Ein beängstigend logischer Gedanke wühlte sich durch das Durcheinander in seinem Kopf: Wenn sie beschlossen hätten, ihn anzulügen, hätten sie von Natalia oder Yekaterina erzählt. Die beiden waren immerhin Ivans Schwestern. Sich etwas über Eduard auszudenken, ergab keinen Sinn, also war es wahrscheinlich die Wahrheit. Die Männer konnten nicht wissen, wie tief Ivans Familiengefühl ging. So tief, dass er keinen Unterschied mehr zwischen seinen Schwestern und seinen Butlern machte? Er konnte sich diese Frage selbst nicht beantworten. Eine Tür wurde geöffnet und jemand schob ihn in die kleine Zelle dahinter. Es gab kein Bett, und sie machten sich nicht die Mühe, ihm die Handschellen abzunehmen. Die Neonröhre unter der Decke flackerte. Die Tür wurde unter einigem Scharren von außen verschlossen, dann war es still. Ivan lehnte sich mit dem Rücken gegen die kahle Wand und rutschte daran herunter, bis er auf dem Boden saß. Er zog die Knie an, legte den Kopf darauf und schloss die Augen gegen das Licht, das in kurzen Abständen grell aufleuchtete und wieder erlosch. Nichts sehen, im Dunkel sein, zur Ruhe kommen. Nur zwei Minuten, nur ein paar Sekunden Schlaf, bevor jemand kam und ihn weckte. Nur ein paar Sekunden Schlaf. „Warum haben Sie das getan?“ „Es war ein Befehl von meinem Boss. Es war seine Idee, Eduard.“ Eduards Augen weiteten sich leicht und er senkte den Kopf. „Ach“, sagte er leise. „Ihr Boss also.“ „Was überrascht dich daran?“, fragte Ivan müde. „Er hat schon vorher bewiesen, dass er skrupellos ist, wenn es darum geht, seine Ziele zu erreichen.“ Eduard wiegte den Kopf hin und her. „Aber das war nicht derselbe“, sagte er zögernd. „Nicht derselbe?“, wiederholte Ivan verdutzt. „Ihre Herrscher wechseln doch von Zeit zu Zeit. Ich hatte eigentlich gehofft, dieser hier wäre... anders.“ „Anders?“, fragte Ivan, lachte leise und schüttelte den Kopf. „Nein. Sie sind alle gleich, Eduard, einer wie der andere. Sie mögen feine Unterschiede haben, aber letztendlich läuft es immer auf dasselbe hinaus.“ Eduard senkte den Blick, ohne noch etwas dazu zu sagen. Ivan seufzte leise und nahm einen Schluck von seinem Tee. „Es ist schon so spät. Sag Toris und...“ Er hatte Raivis sagen wollen, verbiss es sich aber im letzten Moment. „Sag Toris, dass ihr ins Bett gehen dürft. Gute Nacht.“ „Gute Nacht, Ivan“, murmelte Eduard. „Schlafen Sie gut.“ Er wollte schlafen, er wollte nicht aufwachen, aber jemand rüttelte grob an seinen Schultern, sodass sein Kopf hin und her geworfen wurde. Eine Stimme redete mit ihm, laut und barsch, aber er konnte sie nicht verstehen. Sie sollten nur aufhören, mit ihm zu sprechen und ihn zu schütteln. Er wollte schlafen. Jemand schlug ihn ins Gesicht und Ivan riss die Augen auf. Vor sich sah er nichts als eine weitere kahle Wand der Zelle, doch das Bild war verschwommen. Angst durchflutete ihn und er fühlte sich noch schutzloser, als er es sowieso immer direkt nach dem Aufwachen tat. Sein Kopf war von dem Schlag zur Seite geworfen worden, seine Wange brannte. Es war so hell, schoss es ihm durch den Kopf. Das Licht flackerte nicht mehr. „Was soll das?“, erklang eine Stimme ein Stück weit über ihm, die er nicht kannte. Sie klang wütend. Ivan wollte nicht, dass jemand wütend auf ihn war. Das war nicht gut. „Er ist jetzt wach“, antwortete eine andere Stimme näher bei ihm. Diese Stimme kannte er. Es war irgendeiner der Männer, die hier arbeiteten. Die, die ihn nicht schlafen ließen. Die erste Stimme erklang wieder, doch Ivan verstand nicht, was sie sagte. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Sein Kopf schwamm. Müde war er zwar nicht mehr, aber noch immer konnte er vor Angst nicht klar denken. Wie schön wäre es, endlich seine Gedanken wieder ordnen zu können. Endlich ausschlafen zu können und an einem Ort aufzuwachen, an dem es keine bösen Männer gab und an dem man keine Angst haben musste. „Sie wissen genau, wer er ist“, sagte die fremde Stimme ungehalten. „Wie wäre es mit ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl?“ Ivan blinzelte und drehte vorsichtig den Kopf, um die beiden Männer anzusehen. Der eine von ihnen stand auf und entfernte sich ein Stück. Stattdessen kam der zweite näher, der, den Ivan nicht kannte. Er ging vor ihm in die Hocke, und Ivan wäre zurückgewichen, wenn er nicht ohnehin schon mit dem Rücken zur Wand gesessen hätte. „Guten Morgen“, sagte der Mann. Ivan blinzelte ihn an. Morgen? Aber er war so müde. Es war doch mitten in der Nacht. „Kannst du mich verstehen?“ „Ja“, antwortete Ivan langsam. Er hörte die Stimme und verstand die Worte, aber er musste sich sehr konzentrieren, um ihnen einen Sinn entnehmen zu können. „Es freut mich, dich kennenzulernen“, sagte der Mann. „Mich freut es auch, Vä...“ Er hatte Väterchen sagen wollen, weil der Mann ihn dunkel an irgendjemanden erinnerte, konnte sich aber im letzten Moment beherrschen. Es war ihm ein absolutes Rätsel, welche Beziehung er zu diesem Mann hatte und wie er ihn ansprechen sollte. Wieso duzte er ihn überhaupt? „Es wäre mir lieber gewesen, unser erstes Treffen hätte unter angenehmeren Umständen stattgefunden.“ Der Mann wirkte ehrlich bedauernd. „Dass es ausgerechnet hier sein muss...“ Ivan sah ihn an und verstand nicht recht, was er meinte. „Wer sind Sie?“, fragte er zögernd. Der Mann zog die Augenbrauen hoch. „Entschuldige, dass ich mich nicht vorgestellt habe. Aber ich hatte gedacht, du würdest deinen eigenen Regierungschef auch so erkennen.“ „Meinen...“, begann Ivan und riss die Augen auf. Sein Herz setzte einen Schlag aus. „Aber... ich dachte, er wäre... er wäre...“ „Es ist viel passiert, während du weggelaufen bist“, erklärte der Mann knapp. „Das erste, was ich nach meinem Amtsantritt erfahren musste, war das, was du getan hast. Ich hätte mir einen schöneren Einstand vorstellen können.“ „Es tut mir Leid“, murmelte Ivan automatisch, konnte aber den Blick nicht von dem Mann vor ihm lassen. Das sollte sein neuer Boss sein? Er war so müde, dass er nicht wusste, was er von dieser Entwicklung halten sollte. Wenn er doch nur hätte nachdenken können. Sein neuer Boss betrachtete ihn eine Weile lang prüfend und stand dann auf. „Du siehst wirklich müde aus“, sagte er. „Du solltest dich ausruhen. Danach können wir reden.“ „Worüber reden?“ „Ich sollte dich persönlich kennenlernen. Natürlich bin ich sehr beschäftigt und hatte bisher nicht viel Zeit, mich um dich zu kümmern... das ist bedauerlich. Ich hätte früher nach dir sehen müssen.“ „Kein Problem“, murmelte Ivan. Der Mann lächelte dünn. „Ich komme morgen wieder“, sagte er und wandte sich ab. „Warten Sie!“, sagte Ivan hastig. „Was ist mit den anderen? Was ist mit meiner Familie?“ „Deine Familie“, wiederholte sein Boss nachdenklich. „Sind sie das? Ich habe mich noch nicht nach ihnen erkundigt, aber ich kann es jetzt tun, wenn du es willst.“ „Ja“, sagte Ivan und nickte stürmisch. „Bitte.“ „Ich werde mich um alles kümmern. Du wirst dich jetzt erst einmal ausruhen. Lauf nicht wieder weg und tu, was man dir sagt, dann wird dir niemand etwas tun. Hast du gehört?“ Ivan nickte. Sein Boss wandte sich ab und rief irgendetwas durch die Tür auf den Gang hinaus. Kurz darauf kamen einige der Männer, die Ivan schon kannte. Sie führten ihn in einen anderen Raum, der wenig größer war als der vorherige und nur ein winziges, vergittertes Fenster hatte – dafür aber ein Bett. Jemand nahm ihm die Handschellen ab und Ivan ließ sich fallen, einfach nach vorn auf das Bett fallen. Er hörte nicht einmal mehr, wie die Tür hinter ihm verriegelt wurde. Das Kissen roch ein wenig muffig, aber es gab ein Kissen. Es gab eine Decke, die er nicht einmal über sich zog, weil er zu müde dafür war. Später, dachte er, als seine Gedanken sich schon verabschiedeten. Später vielleicht. Kapitel 16: Ein Mitglied der Familie ------------------------------------ Die Sonne schien durch das vergitterte Fenster. Ungläubig hob Ivan den Kopf. Es gab die Sonne also tatsächlich noch, obwohl er seit Tagen nichts mehr von ihr gesehen hatte. Es gab sie noch. „Du bist wach.“ Er zuckte zusammen und stützte sich hastig auf die Ellbogen hoch. Sein Boss saß neben seinem Bett und betrachtete ihn so, als tue er es schon seit einer ganzen Weile. „Guten Morgen“, sagte Ivan. Ein Lächeln zuckte um die Lippe des Mannes. „Es ist schon zwei Uhr am Nachmittag. Bist du ausgeschlafen?“ „Ja“, antwortete Ivan und lächelte. „Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.“ Er setzte sich auf, zupfte an seinem Hemd und strich über seine Haare, damit sie halbwegs glatt lagen. Sein Boss ging nicht auf seine Worte ein. „Wir müssen über das reden, was passiert ist“, sagte er und klang plötzlich ernster, als Ivan ihn bisher kennengelernt hatte. „Ja“, antwortete Ivan und senkte den Blick. „Das müssen wir.“ „Ich habe mit dem Rest deiner Familie gesprochen. Und ich habe...“ „Wie geht es ihnen?“, unterbrach Ivan ihn angespannt. Sein Boss verengte die Augen leicht. „Du scheinst deine Familie sehr zu lieben“, stellte er fest. „Ja“, antwortete Ivan, ohne nachzudenken. „Sie ist immer für mich da, damit ich nicht allein bin. Ich bin nicht gern allein.“ „Du hast zu Protokoll gegeben, du hättest die Flucht nur unternommen, um deine Familie in Sicherheit zu bringen.“ „Ja.“ „Einer der Männer, sein Name ist Boris oder so ähnlich...“ „Toris“, verbesserte Ivan und dachte, sein Boss müsse schon ein viel beschäftigter Mann sein, wenn er sich die Vornamen seiner Nationen nicht merken konnte. „Du weißt, von wem ich spreche. Er hat mir jedenfalls die abenteuerlichsten Dinge erzählt. Ihr wärt mit dem Auto liegen geblieben und hättet während eines Schneesturms eine Nacht in einer verlassenen Hütte verbracht...“ „Ja, das haben wir. Es gab keine andere Möglichkeit.“ „Es war gefährlich. Jemand hätte zu Schaden kommen können.“ „Es war recht anstrengend für uns alle“, gab Ivan betreten zu. „Ja. Und wozu das Ganze? Wenn du deine Familie so liebst, wieso bringst du sie dann in Gefahr?“ „Ich wollte sie beschützen! Ich wollte...“ „Beschützen?“, wiederholte sein Boss und runzelte die Stirn. „Aber es ging euch sehr gut in eurem Haus. Ihr hattet alles, was ihr brauchtet.“ „Aber...“ „Willst du deine Familie wirklich beschützen, Ivan? Willst du das tun, was am Besten für sie ist?“ „Natürlich“, antwortete Ivan hilflos. „Ich wollte nie etwas anderes.“ „Dann schlage ich vor, du sorgst dafür, dass ein solcher Fluchtversuch nie wieder vorkommt. Wenn du je wieder deine Familie in Gefahr bringst oder zulässt, dass sie selbst es tut...“ „Was ist mit Raivis?“, fragte Ivan mit wild schlagendem Herzen. „Der Junge, der noch fehlt? Wir werden ihn finden und ihn nach Hause bringen.“ „Das meine ich nicht. Raivis war in Sibirien.“ Sein Boss zog die Augenbrauen hoch. „War er das? Es wird wohl eine gerechtfertigte Maßnahme gewesen sein. Wenn er seine Strafe verbüßt hat, kann er wieder zurückkommen.“ „Aber...“, begann Ivan. „Glaubst du nicht, du hast ihn noch mehr in Gefahr gebracht, indem du ihn zu dieser gefährlichen Flucht verführt hast?“ „Aber...“, versuchte Ivan es noch einmal. „Schluss damit“, schnitt der Mann ihm das Wort ab und wirkte plötzlich nicht mehr so freundlich, wie Ivan ihn kennengelernt hatte. „Wenn du dich noch einmal völlig unnötig so in Gefahr begibst, wird das Konsequenzen haben.“ „Was für Konsequenzen?“, wagte Ivan zu fragen. Sein Boss schwieg einen Moment lang. „Diesmal wird deine Familie noch zusammen bleiben“, sagte er. „Wir werden euch alle wieder nach Hause schicken. Du liebst deine Familie sehr, nicht wahr, Ivan?“ „Mehr als alles andere“, flüsterte Ivan. „Dann solltest du auf sie Acht geben und dich nicht mehr gegen uns stellen. Beim nächsten Mal wird deine Familie mindestens ein Mitglied verlieren. Vielleicht auch mehr.“ Ivans Herz raste. „Du darfst wählen, wen du wegschickst.“ „Ich weiß nicht, wen“, sagte Ivan und tastete nach seinem Schal, auf der Suche nach ein wenig Trost. Der Schal war nicht mehr da. Wahrscheinlich hatten sie ihn ihm abgenommen, um zu verhindern, dass er sich damit erhängte. Als ob Ivan das jemals getan hätte – der Schal war ein Geschenk von Yekaterina gewesen. „Bitte... ich will niemandem von ihnen wehtun.“ „Dann solltest du vernünftig sein und tun, was wir sagen.“ Ivan schluckte und senkte den Blick. Er hatte verloren. Entweder gab er klein bei, oder er riskierte, dass ein Mitglied seiner Familie für den Ungehorsam aller bezahlen würde. Letzteres wollte er um alles in der Welt verhindern. Es gab niemanden in seiner Familie, dem er es zumuten wollte, stellvertretend für alle anderen irgendeine Strafe auf sich zu nehmen. Oder? „Die Wachen um dein Haus herum werden verstärkt werden. Es ist selbstverständlich alles zu deinem Schutz. Deine Sicherheit und die deiner Familie ist das höchste, was es zu beschützen gilt. Wir sorgen dafür, dass kein Feind von außen euch gefährdet, und deine Aufgabe ist es, die Feinde von innen auszuschalten. Bist du damit einverstanden?“ Ivan nickte, doch er fühlte sich seltsam taub. Als sein Boss aufstand und die Zelle ohne ein weiteres Wort verließ, fiel ihm plötzlich auf, dass er seit dem Beginn seiner Flucht immer, wenn er geschlafen hatte, auch geträumt hatte. Er hatte so viele Träume gehabt in letzter Zeit, dachte Ivan. Aber jetzt gerade hatte er mehr als einen ganzen Tag lang geschlafen und gar nichts geträumt. Es war, als seien seine Träume restlos aufgebraucht. „Willst du nicht langsam zu Bett gehen, Vanya?“ Es war genau dasselbe, dachte Ivan. Genau wie vorher. Das Wohnzimmer, das leise Knacken des Feuers, die Dunkelheit vor den Fenstern. Der Zaun und die Wächter draußen am Tor. Der hässliche Teppich vor dem Kamin. „Ich bin nicht müde, Katyusha. Ich werde noch eine Weile hier sitzen.“ Yekaterina senkte den Blick, streckte die Hand aus und drückte seine Schulter. Sie sagte nichts, aber ihre Hand war warm. Ivan tastete nach ihren Fingern, ließ den Arm dann wieder sinken und seufzte tief. „Geht ins Bett und lasst mich allein.“ „Gute Nacht“, murmelte Yekaterina, und Natalia nickte. Sie gingen hinaus und ließen ihn allein, wie er es gewollt hatte. Nein: Wie er es gesagt hatte. Wollen war etwas anderes. Die letzten Wochen waren schnell und gleichzeitig quälend langsam vergangen. Sie sprachen weniger miteinander als vorher, überlegte Ivan. Yekaterina war unheimlich still geworden, ähnlich wie Natalia, die er kaum noch zu Gesicht bekam. Erst vor vier Tagen war Eduard wieder zu ihnen gestoßen, nachdem die Kugel, die ihn angeschossen hatte, seine Lunge beschädigt hatte. Er hatte zu hastig versucht, wieder auf die Beine zu kommen, geriet oft außer Atem und wechselte kaum ein Wort mit Ivan. Unter dem Dach dieses Hauses hielt er sich mit jeder Kritik zurück. Toris gab als Einziger sein Bestes, um die Stimmung ein wenig aufzulockern, war geduldig und fleißig und einfühlsam und konnte nachts nicht schlafen. In der letzten Nacht hatte Ivan ihn sehr lange beten hören. Was ihn selbst anging, so vergingen seine Tage wie schlechte Träume, einer nach dem anderen. Nachts, wenn er schlief, träumte er nicht. Ivan wünschte sich, er könnte die Zeit zurückdrehen. Er wünschte, er könnte gleich in die Küche gehen und Raivis würde neben der Hintertür sitzen. Er würde diesen furchtbaren Mantel tragen und völlig abgemagert sein, aber wenigstens wäre er da. Er vermisste Raivis, sogar mehr als in den zwei Jahren zuvor. Damals hatte er gewusst, dass es für Raivis gar nicht noch schlimmer kommen konnte, als es ohnehin schon war. Diesmal fürchtete er sich jeden Tag vor der Nachricht, die er bekommen könnte. Was, wenn sie Raivis wieder aufgriffen? Selbst wenn sie ihm nichts tun würden, was Ivan inständig hoffte, würde er völlig verängstigt sein. Schon das war etwas, was Ivan ihm lieber ersparen würde. Wenn er selbst Raivis Angst machte, war das etwas anderes, als wenn andere es taten. Und wenn sie Raivis nun doch irgendetwas antaten... Er liebte seine Familie, hatte er seinem Boss gesagt – dabei hatte er einige von ihnen verletzt, natürlich. Aber wenn jemand anderes seiner Familie wehtun würde, hätte er keinen Einfluss mehr darauf, und das konnte er nicht zulassen. Er würde nicht die Schuld einem von ihnen zuschieben, einem einzelnen, der die Konsequenzen für das Handeln von allen tragen müsste. Und deswegen konnte er nichts tun, dachte Ivan. Er konnte nicht noch einmal weglaufen. Es gab kein Mitglied der Familie, das diese Verantwortung tragen könnte. Oder, überlegte er und legte die Stirn in Falten, gab es da eines? Er zuckte zusammen, als er ein Geräusch hörte. Es klang, als wäre es aus der Küche gekommen. Langsam stand Ivan auf und stellte seine Teetasse auf einem kleinen Tisch neben sich ab. Hatte er wirklich etwas gehört, oder hatte er es sich eingebildet? Der Flur war so dunkel, dass man gerade so die Türen erkennen konnte. Ivan betrat die Küche und tastete atemlos nach dem Lichtschalter. Die Lampe unter der Decke flammte auf. „Raivis?“ Hastig suchte er den Raum mit den Augen ab, den Tisch, den Herd, bis in die hinterste Ecke. Zuerst war niemand zu sehen, doch dann erkannte er eine Bewegung. Aufgeregt machte er einen Schritt in die Küche hinein, blieb dann aber enttäuscht wieder stehen. Es war nur sein Spiegelbild gewesen, das sich bewegt hatte. Aus der dunklen Fensterscheibe heraus blinzelte er sich selbst an. Er sah, wie sich seine Augen weiteten, als sei ihm gerade ein Gedanke gekommen. Langsam, sehr langsam zog ein Lächeln über sein Gesicht. Er öffnete die Tür, ohne sich zu bemühen, leise zu sein. „Toris, Eduard. Steht auf.“ Eduard setzte sich auf und starrte Ivan an. Sein Gesicht war noch immer schmal und blass. „Was ist passiert?“ Ivan lächelte nur und legte den Finger auf die Lippen. „Nicht so laut. Ihr müsst leise sein.“ „Warum?“, fragte Toris. „Ist Raivis wieder da?“ „Nein.“ In dem wenigen Licht, das vom Flur herein fiel, konnte er sehen, dass Toris und Eduard ihn anstarrten. „Nein“, wiederholte Ivan und lächelte. „Und das ist auch gut so. Ihr müsst gehen. Ihr werdet noch einen Fluchtversuch unternehmen, und diesmal wird er gelingen.“ „Wieso sollte es diesmal funktionieren?“, fragte Eduard fassungslos. „Warum“, fragte Toris etwas leiser, „sagen Sie, ihr müsst gehen?“ „Weil es das ist, was ihr tun werdet“, antwortete Ivan. „Ich werde hier bleiben und so tun, als wäre alles in Ordnung. So schnell wird niemand bemerken, dass ihr nicht mehr hier seid, dafür werde ich sorgen.“ „Aber...“, begann Eduard mit großen Augen. „Tut, was ich euch sage“, unterbrach Ivan ihn. „Weckt Natalia und Yekaterina. Ihr kennt das Spiel noch vom letzten Mal.“ Eduard nickte, schlüpfte aus seinem Bett und verließ hastig das Zimmer. Toris blieb noch einen Moment sitzen, bevor er die Decke beiseite schob und aufstand. „Meinen Sie das ernst?“, fragte er leise. „Natürlich meine ich das. Es ist die einzige Möglichkeit.“ Toris legte den Kopf schief. „Wir könnten alle zusammen fliehen“, sagte er. „Wir könnten noch einmal versuchen...“ „Nein“, sagte Ivan und schüttelte den Kopf. „Onkelchen hat sich klar genug ausgedrückt. Für den nächsten Fluchtversuch wird ein Mitglied dieser Familie büßen müssen. Ich darf entscheiden, wer.“ „Und?“, fragte Toris. „Für wen werden Sie sich entscheiden?“ Ivan lächelte. „Du bist doch sonst so ein kluges Köpfchen, Toris. Ich habe mich längst entschieden.“ Toris' Augen weiteten sich leicht. Er sah Ivan an, als sähe er ihn zum ersten Mal, und suchte anscheinend nach Worten. „Und jetzt geh“, sagte Ivan und deutete auf die Tür. „Ihr müsst hier weg. Ich übernehme die volle Verantwortung.“ „Das haben Sie beim letzten Mal auch gesagt“, erwiderte Toris. „Nur hatte ich damals das Gefühl, Sie wüssten nicht recht, was Verantwortung überhaupt bedeutet.“ Er dachte kurz nach, gab sich dann einen Ruck und ging an Ivan vorbei. An der Tür hielt er noch einmal inne. „Was ist los, Toris? Beeil dich.“ „Wissen Sie...“, murmelte Toris und sah sich zu ihm um. Plötzlich wirkte er unsicher. „Ja?“ „Wissen Sie noch, dass ich Ihnen gesagt habe, bevor ich Ihnen verzeihen kann, müssten Sie sich ein wenig Mühe geben?“ „Ja“, antwortete Ivan leise. „Ich erinnere mich.“ Vielleicht wollte Toris lächeln, aber vielleicht war es auch nur ein Zucken um seine Mundwinkel, ein Zittern in der Kälte. Er nickte Ivan zu, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging. (An alle, die bis hierhin durchgehalten haben – herzlichen Glückwunsch und vielen, vielen Dank fürs Lesen dieser Fanfic. Ich hoffe sehr, ihr habt eine schöne Zeit gehabt. Liebe Grüße, vielleicht liest man sich ja nochmal. Ich verbeuge mich tief. Vorhang, bitte.) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)