Die rote Tulpe von Kalliope ================================================================================ Kapitel 1: Die rote Tulpe ------------------------- Ich war glücklich. Lachend streckte ich meine Arme nach meinem Startpokémon aus, das in meine stürmische Umarmung sprang, den Kopf an meiner Brust vergrub und ein amüsiertes Grunzen von sich gab. Wir hatten gerade in einer Arena gekämpft und gesiegt, der neue Orden steckte fest in einer Box in meiner Jackentasche, aber viel wichtiger war, dass wir uns gemeinsam freuen konnten. „Wir haben gewonnen!“ „Larvitar!“ Grinsend setzte ich das kleine, grüne, quirlige Pokémon auf den Boden ab und fuhr mir durch die braunen Haare. Mein Blick fiel auf den Arenaleiter, der mir ein anerkennendes Nicken zuwarf und dann sein Schwalboss mit einem Supertrank behandelte. „Das war ein super Kampf, mein Kleiner“, lobte ich mein Pokémon. Ich hätte Larvitar gerne auf den Arm gehoben, aber mit seinen über siebzig Kilogramm war das nahezu ein Akt der Unmöglichkeit. Ich hätte mir auch Bleikugeln an die Arme binden können, weiter als einige Meter wären wir nicht gekommen. „Dein Larvitar ist stärker, als ich dachte.“ „Vielen Dank.“ Das Lob des Arenaleiters ließ meine Brust vor Stolz anschwellen. Ich verabschiedete mich von ihm, gab meinem Partner ein Zeichen und machte mich mit ihm auf den Weg an den Stadtrand. Heute Morgen hatte ich einige Trainer von einer schönen Blumenwiese reden hören, das wollte ich mir als Naturfanatiker natürlich nicht entgehen lassen. Die Gerüchte stellten sich nur wenige Minuten später nicht als falsch heraus, denn ein breiter Grünstreifen voller bunter Tulpen, Bromelien und Hyazinthen ließ mein Herz schneller schlagen. „Larvitar, sieh nur! All diese Blumen!“ „Lar!“ Neugierig trat das Pokémon mit dem Mischtyp Gestein und Boden vor mich, tippelte vor einer roten Tulpe auf und ab, pflückte sie und überreichte sie mir mit strahlenden Augen. Mein Herz machte einen Sprung und ich fühlte mich wirklich wahnsinnig gerührt. „Oh, das ist lieb von dir…“ Dankend nahm ich die rote Tulpe entgegen und drehte sie andächtig zwischen meinen Fingern. „Wir bleiben für immer Freunde, nicht wahr, Larvitar?“ Es nickte sofort, hüpfte vergnügt auf und ab und schlang die kleinen, grünen Ärmchen um mein Bein. „Larvitar!“ Ich schreckte aus einem Traum hoch. Draußen regnete es heftig und die Tropfen prallten mit einer Wucht gegen das Fenster in meinem Schlafzimmer, dass ich das Gefühl hatte unter Beschuss zu stehen. Gerade wollte ich mich wieder auf die Seite legen, da bemerkte ich, dass mein Hals sich vollkommen trocken anfühlte. Ich schloss die Augen und unterdrückte das Gefühl von aufkeimender Trauer. Irgendwo unten lief Arkani unruhig umher, das nervöse, angespannte Tippeln der Pfoten auf den Fliesen drang bis zu mir in den ersten Stock. Stöhnend warf ich die schwere Bettdecke zur Seite, schwang die Beine über die Bettkante und zog mir eilig einen Morgenmantel über. „Nur die Ruhe, altes Mädchen, ich bin doch da.“ Meine Stimme war kaum verstummt, da erschien schon der Kopf von meinem alten Arkani an der Treppe und ihr Blick war von Abneigung gegenüber dem Regenwetter gekennzeichnet. Sie knurrte missbilligend, drehte sich um und trottete mir voraus in die kleine, gemütliche Küche. Mein Blick fiel sofort zu der Digitalanzeige am Herd, es war kurz nach sechs Uhr morgens, aber draußen war es stockfinster – Spätherbst. Kopfschüttelnd füllte ich den Wasserkocher auf und drückte ihn auf die Station. Über mir in dem Hängeschrank befanden sich diverse Teebeutel, aber ich kochte nicht für mich einen Tee, sondern für Arkani. Lavendel und Fenchel, das beruhigte sie immer bei so einem Wetter. Noch während ich das heiße Wasser in die Schale goss, stupste das Feuerpokémon mich vorsichtig mit der Schnauze an der Hüfte an. „Arka!“ „Ich weiß, ich weiß…“ Betrübt stellte ich die Schale auf die Ablagefläche, dazu zwei Teebeutel. „Es wird langsam Zeit, nicht wahr, altes Mädchen?“ „Kani…“ „Ich weiß“, wiederholte ich, mehr um mich selbst zu beruhigen als sie. Pokémon waren erstaunliche Wesen. Sie waren Freunde, Partner, Verbündete und sie besaßen einen sechsten Sinn, jedenfalls hatte ich manchmal das Gefühl. Arkani spürte immer, wie es mir ging. Ich konnte lachen, weinen, mich verstellen, aber einen würde ich niemals im Leben täuschen können – sie. Auch jetzt durchschaute sie meine Gefühlslage sofort, tapste zum Regal und kehrte mit einer roten Tulpe, die ich gestern Abend frisch gekauft hatte, im Maul zurück. Nachdenklich nahm ich die Blume entgegen und drehte sie wie ich es so oft mit Blumen tat zwischen meinen Fingern. „Du willst gehen?“ Arkani nickte. „Jetzt? In den Regen?“ Wieder ein Nicken, dieses Mal bekräftigender. „Na schön.“ Wie einen unbezahlbaren Schatz legte ich die Tulpe auf den Tisch und stellte die Schale mit Tee für Arkani auf den Boden. Mit zügigen Schritten kehrte ich über die Treppe in den ersten Stock zurück, verschwand in meinem Schlafzimmer und zog mir Sachen an, die dem Wetter besser trotzen konnte als ein Pyjama und ein einfacher Morgenmantel. Als mein Blick in den Spiegel fiel, musste ich innehalten. War das wirklich ich, diese grauhaarige, alte Dame im Spiegel? Ein leises Blaffen aus dem Erdgeschoss trieb mich zur Eile an. Ich seufzte, schlüpfte in meine Schuhe und eilte zurück zu Arkani. „Komm, beeilen wir uns.“ Mit der Tulpe in der einen Hand und einem schwarzen Regenschirm in der anderen trat ich hinaus vor die Tür. Arkani drückte sich nahezu an meine Beine und wich keinen Zentimeter mehr als notwendig von meiner Seite, da sie sonst vollkommen durchweicht werden würde. Der Weg zu unserem Ziel führte uns durch einige Seitenstraßen des verschlafenen Städtchens, das ich schon so viele Jahre meine Heimat nannte. In noch kaum einem Haus brannten Lichter, was ich angesichts der Uhrzeit und der Tatsache, dass Sonntag war, aber nur zu verständlich fand. Vermutlich war niemand außer Arkani und mir unterwegs. Das gusseiserne Tor, durch das wir auf dem schneeweißen Kiesweg traten, wirkte schwer und bedrückend, es passte nur allzu gut zu diesem Ort, an den ich nicht mehr als einmal im Jahr ging. Unsere Beine trugen Arkani und mich fast schon mechanisch bis zu einer ganz bestimmten Stelle zwischen einer alten Tanne und einem hübschen Blumenbeet, das jetzt jedoch eher trostlos wirkte. Ich kniete mich hin, legte die rote Tulpe auf Despotars Grab und schloss die Augen, als sich Tränen mit Regentropfen vermischten. Für immer Freunde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)