Unumkehrbar von Alaiya (Story of Shen [KFP]) ================================================================================ Akt I, Szene I – Einleitung – Umgeben von Flammen ------------------------------------------------- Schon seit Tagen hatte sich der junge Lord zurückgezogen. Schon seit Tagen fragten sich seine Eltern, was er machte, wenn er sich für Stunden in seinen Zimmern verschanzte. Natürlich vertrauten die beiden Pfauen ihrem Sohn, hatte es doch bisher wenige Gründe gegeben es nicht zu tun, aber etwas seltsam kam es ihnen vor, als die Tage zu Wochen wurden und er weiterhin kaum seine Räumlichkeiten verließ. Stattdessen gingen Wölfe im Palast ein und aus, brachten Pakete in die Zimmer des Lords oder brachten welche fort. Es hatte schon immer Wölfe im Dienst der Pfauen gegeben, auch wenn genau so viele Wölfe schon immer im Hafenviertel der Stadt für Unruhe gesorgt hatten. Ein Konflikt den der junge Lord selbst geschlichtet hatte, der sich seit früher Jugend gut mit den Wolfwachen verstanden hatte, die von den anderen Pfauen gemieden wurden. Zwar schienen den Eltern einige der Wölfe weiterhin dubios, vor allem nun, wo einige der ehemaligen Banditen ebenfalls den Palast bewachten, doch schien es zum Besten der Stadt, weshalb sie es niemals hinterfragt hätten. Eines Tages jedoch im frühen Sommer, die Saison der Feuerwerke hatte gerade erst wieder begonnen, kam Yimu, eine alte Glanzhenne und langjährige Vertraute der Pfauenfamilie, zu ihnen in den Thronsaal. Schrecken sprach aus ihrem Gesicht. „Mein Lord, meine Lady“, keuchte sie. „Der junge Lord Shen, er hat den Verstand verloren.“ Wut über diese Verleumdung war das erste, was die beiden Pfauenherrscher fühlten. Doch dann wurden sie nachdenklich und Zweifel machten sich in ihnen breit. „Wieso sagst du so etwas?“, fragte schließlich die Lady von Gongmen City und sah die braungefiderte Henne an. „Er und seine Wölfe“, begann die alte Vogeldame, die den jungen Lord nicht zuletzt mit großgezogen hatte. „Ich habe sie gehört. Sie sprachen davon China zu beherrschen. Sie bauen eine Waffe.“ Nun verengten sich die Augen des Herrschers von Gongmen City zu Schlitzen. Seine Pupillen zuckten hin und her, während er dachte. „Das kann nicht sein“, murmelte er schließlich, doch das Zittern seiner Stimme sagte, dass er seine Worte nicht ganz glaubte. „Das muss ein Missverständnis sein.“ Und so machten sich die besorgten Eltern auf zu den Gemächern ihres Sohnes, denen sie sich schon seit längerem nicht genährt hatten, hatten sie ihrem Sohn doch im Vertrauen seine Freiheit lassen wollen. Bereits als sie sich den Gemächern näherten bemerkten sie die unsicheren Blicke der Wölfe, auch wenn von diesen keiner versuchte sie aufzuhalten. Natürlich nicht, denn sie waren die Herrscher von Gongmen City. Doch schon als sie sich der mit Papier bezogenen Tür des Zimmers näherten, hörten sie eine kleine Explosion. „Lord Shen“, drang die Stimme eines Wolfes zu ihnen vor. „Ist es...“ Ein „Sssch“ erklang, offenbar um den Diener zu beruhigen. „Noch nicht ganz. Es ist noch nicht die richtige Mischung.“ Der Wolf schien ungehalten. „Es dauert lange.“ „Geduld ist von Nöten“, erwiderte die Stimme des jungen Pfauenlords. „Dafür wird der Lohn umso größer sein. Wenn die Waffe erst einmal funktioniert, wird es niemand mit uns aufnehmen können.“ Mehr brauchten die Herrscher der Stadt nicht zu hören um zu wissen, dass Yimu recht gehabt hatte. Doch was blieb ihnen zu tun? Akt I, Szene II – Im Thronsaal – Die Weissagung ----------------------------------------------- Shen war äußerst zufrieden mit sich. Seine Forschung war weit vorangekommen in den letzten Wochen. Fast schon hatte er die optimale Mischung für das Schwarzpulver gefunden. Die optimale Mischung für seine Waffe. Eine Waffe, die so mächtig sein würde, dass selbst die Kung Fu Meister die Stadt, ja, selbst der große, legendäre Oogway sie nicht würden aufhalten können. Doch warum auch sollten sie ihn aufhalten wollen? Die Waffe würde die Waffe der Pfauen sein und standen die Kung-Fu-Schulen nicht hinter ihnen? Mit den Waffen könnten sie China, das im Moment in so viele kleine Herzogtümer und Reiche geteilt war, vereinen, könnten es wieder an die Macht bringen, ihm zu seinem alten Glanz verhelfen. Ja, sie würden die Welt beherrschen können! Im Moment war die Waffe jedoch noch nicht perfekt! Also wartete er, übte er sich in Geduld und forschte weiter, den Tag erwartend, an dem er seinen Eltern die Waffe würde vorführen können. Dann konnte er seine Eltern stolz machen! Doch all diese Gedanken verblassten eines Tages. Der junge Lord war erneut am Forschen. Er experimentierte mit verschiedenen Mischungen. Mal etwas mehr Kaliumnitrat und weniger Schwefel. Dann etwas mehr Kohlepulver, weniger Nitrat. Er wusste, wenn die Sprengkraft des Pulvers zu groß war, könnte es die Waffe von innen heraus zerstörten. War sie nicht groß genug, wäre die Waffe wirkungslos. Dabei nahm er keine Rücksicht darauf, dass seine Federn teilweise von endlos vielen Explosionen angekohlt waren. Da jedoch öffnete der Anführer seiner Wölfe die Tür zu seinem Zimmer. „Was willst du?“, fragte Shen ohne von seiner Arbeit aufzusehen, wusste der Wolf doch, dass er wenig von Respektlosigkeit hielt. „Lord Shen.“ Schnell verbeugte sich der Wolf vor ihm. „Eure Eltern haben nach der Seherin gerufen.“ Weiterhin ließ sich der junge Lord nicht von seiner Arbeit abbringen. „Und?“ „Nun.“ Der Wolf schien verunsichert. „Ich glaube, mein Lord, dass es um Euch geht.“ „Was bringt dich auf diesen Gedanken?“ Der schwarze Wolf schien noch verunsicherter. „Nun, mein Lord, sie haben Eure Federn sammeln lassen.“ „Hmm.“ Nun hielt Shen inne und sah auf. „Vielleicht, so scheint es, sollte ich mit meinen Eltern reden“, beschloss er dann, wobei er lediglich seine Gedanken laut aussprach. Dann wandte er sich an seinen Diener. „Danke, du kannst gehen.“ Mit einer weiteren Verbeugung verließ der Wolf den Raum und Shen tauschte sein einfaches Arbeitsgewand gegen eine Seidenrobe. Er klopfte die Asche von seinem Gefieder – so gut es ging – ehe er sich auf den Weg zur obersten Etage des Pfauenturms machte, wo der Thronsaal seiner Eltern lag. Als er auf den letzten Stufen der Treppe stand sah er bereits den bläulichen Schimmer des Dampfes, den die Seherin beschwor. Auf einmal zurückhaltend lugte er in den Thronsaal und sah die Ziege vor seinen Eltern stehen. Eine nebelige Wolke, die sich langsam verformte, zwischen ihnen. „Lord Shen beschreitet einen dunklen Pfad“, erklang die Stimme der Seherin. „Ein Pfad an dessen Ende nur Zerstörung liegt.“ Das ist falsch!, dachte Shen, doch noch hielt er sich zurück. Natürlich brachte seine Waffe Zerstörung, doch musste man nicht auch in einem Wald manchmal Bäume fällen, damit andere Wachsen konnten? Musste man nicht Opfer bringen um ein größeres Gut zu verfolgen? Und seine Waffe sollte die zerstören, die ihnen gegenüber standen. Nicht sie, nicht seine Familie, nicht seine Stadt. Die Seherin sprach weiter: „Wenn der junge Lord den Pfad weiter beschreitet, wird sich ihm ein Krieger entgegenstellen. Ein Krieger, Schwarz und Weiß, wird den jungen Lord zerstören.“ Shens Augen verengten sich. Das konnte nicht sein! Wie sollte ihn jemand besiegen? Wieso sollte es überhaupt jemand versuchen? Konnte es sein, dass die Seherin sich irrte? Und wenn nicht... Er zog sich zurück, denn ihm wurde eins klar. Er konnte es nicht zulassen! Er würde China wieder vereinen, selbst wenn dies Krieg bedeutete! Selbst wenn er Opfer dafür würde bringen müssen. Ein schwarz und weißer Krieger. Die Panda. Nein, niemand würde ihm im Weg stehen! Er konnte sein Schicksal noch ändern! Akt I, Szene III – Vor dem Palast – Der Sturz des Pfaus ------------------------------------------------------- Die Nachricht eilte ihnen voraus. Lord Shen kehrte mit seinen Wölfen in die Stadt zurück, die er nur zehn Tage vorher verlassen hatte. Niemand hielt die Prozession des Pfaus und seiner Wölfe auf, als diese sich durch Gongmen dem großen Pfauenturm nährten, der weit über die anderen Gebäude der Stadt hinausragte. Blut hatte die Federn und das Seidengewand des jungen Lords rot verfärbt, doch er schien sich nicht daran zu stören. Nein, ganz im Gegenteil. Er reckte seinen Hals voller Stolz empor, während er seine Flügel in den Ärmeln seines Gewandes verschränkt hatte. Seine Wölfe folgten ihm, teilweise stolz, teilweise eher gebrochen. Einige von ihnen hatten Wunden davon getragen. Ihr Anführer hatte ein Auge im Kampf gegen einen der Panda verloren. Einige, die mit ihnen aufgebrochen waren, waren nicht zurückgekehrt. Aber all das war ein kleiner Preis für das, was sie gewonnen hatten. Niemand konnte sie jetzt aufhalten! Das Tor zum Vorhof des Palastes wurde geöffnet und er sah, dass seine Eltern ihn bereits erwarteten. Erhobenen Hauptes ging er auf sie zu, doch je näher er kam, desto klarer wurde es, dass der Ausdruck auf ihrem Gesicht nichts mit Stolz gemein hatte. Es war auch keine Enttäuschung, die sich in ihren Augen spiegelte. Es war blanker Schrecken. Schrecken gemischt mit Unglaube. „Dann ist es wahr“, flüsterte seine Mutter als er vor ihnen stand. „Mutter, Vater“, rief er aus und breitete seine Flügel um sich vor seinen Eltern zu verbeugen. „Ich bin nun selbst der Herr meines Schicksals.“ Auch die Blicke von ihrem Gefolge, indem sich sowohl Yimu und einige ihrer Familie, als auch die Seherin fanden, spiegelten Schrecken und Abscheu wieder. Doch er konnte es nicht verstehen. „Was hast du nur getan?“, fragte sein Vater heiser. „Ich habe mein Schicksal geändert, Vater“, antwortete Shen. „Ich habe die Pandas gesucht und sie getötet. Jeden Panda des Reiches. Niemand wird uns nun im Wege stehen. Wir können China vereinen. Wir können über China Herrschen.“ Doch noch immer war kein Stolz in den Augen seiner Eltern zu sehen. „Oh, Shen“, hörte er Yimu flüstern, während auch die Seherin ihren Blick zu Boden wandte. „Das war der falsche Weg“, seufzte sie. Er verstand nicht, was er da hörte. Er verstand die Reaktion seiner Eltern nicht. Sie hatten doch auch die Prophezeiung gehört! „Mutter, Vater, ich arbeite schon lang an einer Waffe, mit der wir China wieder vereinen können! Eine Waffe, der niemand entgegentreten kann. Gebt mir noch etwas Zeit und dann können wir ausrücken. Nun, wo es keine Pandas mehr gibt, kann uns niemand aufhalten. Und wenn wir China vereint haben, es beherrschen, wird es wieder Frieden geben!“ Seine Mutter sah ihn nun mit traurigen Augen an. „Aber zu welchen Preis, Shen? Zu welchem Preis?“ Sein Vater holte tief Luft und trat schließlich auf ihn zu. Seine Augen waren kalt geworden, als er auf seinen Sohn hinab sah. „Shen“, sprach er und so sehr er sich offenbar bemühte entschlossen zu klingen, brach seine Stimme doch beinahe. „Du hast etwas Unverzeihliches getan. Ich verbanne dich und deine Wölfe hiermit aus Gongmen City. Geh! Kehre nie wieder hierher zurück.“ Shens Augen zuckten. Wie konnte das sein? „Aber Vater“, setzte er an. „Verstehst du denn nicht? Was ich getan habe, es ist für ein größeres Gut. Vater, wir können China beherrschen.“ Aber sein Vater antwortete nicht, sondern wandte sich von ihm ab, während Tränen die Augen seiner Mutter füllten. „Bitte geh, Shen“, hauchte sie. Einige der Wölfe knurrten, doch würden niemals angreifen bevor Shen seinen Befehl gab. „Vater! Mutter!“, begann Shen erneut, als sein Vater noch einmal die Stimme erhob. „Geh, Shen, oder ich werde die Wachen rufen.“ In diesen Worten klang eine andere Drohung mit. Die Wachen würden ihn nicht einfach vertreiben. Sie würden ihn hinrichten. Für einen Moment zögerte der junge Lord. Fast überlegte er den Wölfen den Angriff zu befehlen. Doch dann wandte er sich von seinen Eltern ab. „Schön“, sagte er und seine Stimme war kalt. Er ging einige Schritte vom Turm und seinen Eltern weg. „Aber ich werde zurückkommen! Und wenn ich zurückkomme wird ganz China vor mir niederknien!“ Damit ging er durch die Reihen seiner Wölfe, den Kopf noch immer stolz erhoben. Wenn seine Eltern nicht verstanden, wenn sie ihn vertrieben, dann brauchte er sie nicht. Dann musste er seinen Plan alleine durchführen. Akt II, Szene I – Nächtliches Lager – Die vergebliche Suche ----------------------------------------------------------- Sie hatten ihr Lager neben dem Fluss, etwas von der Straße entfernt, aufgeschlagen. Der Bambuswald schützte sie von Blicken eventueller Reisender, die es darauf anlegte nachts die Straßen zu bereiten, doch nichts konnte sie vor den Blicken der Schiffer und Fischer schützen, von denen auch nun – im Sonnenuntergang – einige unterwegs waren. Doch während die Wölfe vorsichtig waren, störte sich Shen nichts daran. Stattdessen trainierte er mit seinem Guandao am Ufer des Flusses, während die Wölfe die Zelte errichteten und teilweise ihre Verbände ausbesserten. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt. Er war sich nicht sicher was er denken oder fühlen sollte. Eins war sicher. Er war enttäuscht und er konnte die Entscheidung seiner Eltern nicht verstehen. Hatten sie ihm denn nicht zugehört? Was hätte er anders machen sollen? Ja, seine Eltern hatten selbst die Prophezeiung gehört. Wieso verstanden sie nicht, dass er sein Schicksal selbst ändern musste? Doch da war noch ein anderes Gefühl. Wut! Keine lodernde Wut, die mit einem Mal herausbrach, jedoch schnell ausbrannte, sondern eine tiefer sitzende, schwelende Wut, die verzehrte, aber sich von wenig lange nähren konnte. Er hielt inne und senkte seinen Speer, als der Anführer der Wölfe zu ihm kam. Verband verdeckte seine linke Gesichtshälfte. Er verbeugte sich und blieb in dieser Haltung. „Lord Shen, Sir“, begann er. „Was ist?“ Shens Stimme klang harscher als sonst und ließ den Wolf zusammenzucken. „Mein Lord, einige meiner Männer fragen sich...“ Der Diener wand sich unter dem kalten Blick seines Herren. Seine Stimme wurde immer leiser. „Nun“, setzte er erneut an. „Sie fragen sich, warum wir nicht angegriffen habe. Natürlich waren die Wachen da, aber, mein Lord, es waren einfache Antilopenwachen.“ Shen wandte sich von dem armseligen Bild, dass der verletzte Wolf bot, ab. „Weil sie es nicht wert sind“, zischte er dann. „Es wäre nur verschwendete Energie gewesen.“ Er hob seine Schultern an und sah schließlich doch wieder zu seinem Untertan. Als er fortfuhr bemühte er sich seine Stimme nicht ganz so abweisend klingen zu lassen. „Außerdem seid ihr alle verletzt.“ Er hob seine Klaue zum Verband des Wolfes. Der Wolf wich zurück. Er schluckte hörbar. „Das ist sehr umsichtig von euch, mein Lord“, keuchte er dann. Daraufhin wandte sich der Pfau dem Fluss zu, hinter dessen Biegung in der Ferne noch einige der Türme der großen Stadt zu sehen waren. „Wir brauchen sie ohnehin nicht“, flüsterte er dann. „In Gongmen City gibt es nichts, was wir nicht woanders auch haben können.“ „Natürlich, Sir“, bemühte sich der Wolfsanführer schnell zu sagen und schwieg dann. Als jedoch auch der Pfau nicht weiter sprach, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Frage, die ihn und sein Rudel schon vorher bedrückte, zu stellen. „Mein Lord, wo werden wir nun hingehen?“ „Fort“, erwiderte Shen. „Es macht keinen Unterschied wohin wir gehen. Ich werde meine Forschungen überall fortsetzen können.“ „Natürlich, Sir“, erwiderte der Anführer erneut. „Und nun, gibt es nicht irgendetwas, was du tun solltest?“, fragte Shen und winkte ihn mit seinem Flügel fort. „Sicherlich, mein Lord.“ Der Wolf erhob sich aus seiner Verbeugung und beeilte sich irgendeine Arbeit – und sei es nur zum Schein – zu suchen. Derweil starrte der junge Lord auf die Berge im Osten, hinter denen die ersten Sterne zu sehen waren. Die Stimme in seinem Inneren, die ihm sagte, dass die Worte, die er zuvor gesprochen waren, viel eher an sich selbst gerichtet waren, ignorierte er. Es war die Wahrheit, beschloss er. Er brauchte seine Eltern nicht. Niemand konnte ihn besiegen. Nicht nachdem es keine Pandas mehr gab. Akt II, Szene II – Beim Aufbruch – Ungebetene Gesellschaft ---------------------------------------------------------- Es war früher Morgen, als sie am nächsten Tag aufbrachen. Die Laune der Wölfe war nicht die beste, doch Shen hatte nicht vor sich von ihnen aufhalten zu lassen. Er wollte möglichst viel Weg zwischen sich und Gongmen City bringen, bevor der Tag endete. Wenn sie am Abend erneut ihr Lager aufschlugen, wollte er nichts mehr sehen, was ihn an jene Stadt erinnerte. Doch insgeheim wusste er schon jetzt, dass sie auch dann nicht weit genug fort waren. Doch gerade als sie ihr Lager verlassen wollte, kam es zu einer Unruhe im Dickicht in der Nähe des moosbewachsenen Platzes. „Was ist jetzt schon wieder los?“, fragte der junge Lord ungehalten, als zwei der Wölfe zwischen den Bäumen hervorkamen. Einer von ihnen hatte offenbar jemanden gefangen genommen und schien das vorhalten der Gefangenen als Erklärung genug zu empfinden. Erst als der Wolf den ungeduldigen Blick seines Lords sah, bemühte er sich um eine schnelle Erklärung. „Dieses Huhn ist uns gefolgt“, meinte er. „Sir, sie hat im Gebüsch herumgelungert.“ Wieder verengten sich Shens Augen gefährlich, als er auf sie zu schritt. „Nun, nun, wen haben wir hier?“, begann er. Dann aber erkannte er die Henne in den Klauen des Wolfes. „Yimu?“ „Junger Lord“, hauchte das Glanzhenne und senkte den Kopf, soweit sie ihn ihm Griff des Raubtiers überhaupt bewegen konnte. „Was...?“ Mit einer Mischung an einfacher Überraschung und Schock, sah der Pfau auf sie hinab, ehe er sich der Situation besann. „Lass sie los!“, fuhr er dann den Wolf an. Als dieser nicht reagierte, wurde er noch lauter. „Hörst du nicht, du Idiot? Du sollst sie loslassen!“ „Natürlich, mein Lord“, erwiderte der Wolf schließlich und leistete dem Befehl Folge. Die alte Henne richtete ihr Gefieder und sah wortlos zu Shen. „Was machst du hier, Yimu?“, fragte dieser kühl. „Wieso bist du uns gefolgt? Hast du nicht gehört, was mein Vater gesagt hat?“ „Doch, junger Lord“, erwiderte Yimu mit trauriger Stimme. „Aber ich habe mir Sorgen um Euch gemacht.“ Shens Mundwinkel zuckten. „Dazu gibt es keinen Grund.“ Doch der Blick der Alten ruhte weiter auf ihm. „Ich fürchte doch.“ Der junge Pfau starrte sie an, bis er es nicht mehr ertrug. „Ich versichere dir, dass du dich grundlos sorgst. Ich habe ein ganzes Heer bei mir, was denkst du, könnte mir passiere, wovor du mich bewahren könntest?“ Spott klang in seiner Stimme mit. „Oh, junger Lord, es ist Euere Seele, um die ich besorgt bin.“ Sie seufzte und begann in der einfachen Tasche aus Leinen zu kramen, die sie bei sich trug. „Meine Seele?“, flüsterte Shen. „So ein Unsinn.“ „Seht Euch an“, meinte Yimu unbeirrt. „Ihr tragt noch immer dieses blutverschmierte Gewandt.“ Sie ging auf ihn zu, ein zusammengefaltetes Kleidungsstück in der Hand. „Hier, das habe ich für Euch mitgebracht. Es mag nicht Euer bestes Gewandt sein, aber...“ Sie führte den Satz nicht zu Ende. Nun zögerte Shen. Natürlich wusste er, dass die alte Henne es gut mit ihm meinte, wie sie es immer schon getan hatte, was jedoch nicht ändern konnte, dass er sich durch ihre Anwesenheit belästigt fühlte. „Danke“, sagte er schließlich steif und nahm ihr das Gewandt ab. Den Stoff über seine Flügel sah er sie an. „Du solltest gehen, Yimu.“ „Nein“, erwiderte sie und sah ihn nun fest in die Augen, so wie es keiner seiner Wölfe wagte. „Ich sollte bleiben.“ Shen starrte zurück und merkte die Wut in seinem Inneren auflodern. Für einen Moment griff er nach dem Messer, dass er im Ärmeln seines Seidenmantels stets bei sich trug. Dann jedoch beherrschte er sich, nicht zuletzt auch wegen den umstehenden Wölfen. „Mach doch, was du willst“, zischte er und wandte sich dann an sein Gefolge. „Worauf wartet ihr? Wir brechen auf.“ „Ja, Sir“, murmelten einige der Wölfe, während sie ihr Gepäck schulterten und sich auf den Weg zu Straße zu machen. Derweil warf Shen der alten Dienerin der Pfaue einen Blick zu, beschloss dann aber sie zu ignorieren und zu hoffen, dass sie früher oder später gehen würde. Er konnte es sich nicht leisten noch mehr aufgehalten zu werden, beschloss er, auch wenn eine kleine Stimme in seinem Inneren darauf beharrte, dass es keinen Grund zur Eile gab. Denn immerhin gab es auch kein Ziel, außer weit fort... Akt II, Szene III – Im Palast der heiligen Flammen – Erinnerungen ----------------------------------------------------------------- Der bunte Ball rollte die Stufen des Podestes herunter. Der junge Pfau, kaum aus seinem Kükengefieder heraus, sprang auf, um ihm hinterher zu laufen und ihn zurückzuholen. Als er das rote, in vielen Farben bestickte Spielzeug sicher wieder gegriffen hatte, sah er vorsichtig zu seinem Vater, wohl wissend, dass er im Thronsaal nicht laufen sollte, selbst wenn dieser von ihm, seinen Eltern und einigen ihrer Diener abgesehen leer war. Doch sein Vater, prächtig in seinem blauen Gefieder, sah seinen Sohn nur gutmütig an. So ging Shen, nun zurückhaltender, zum Thron zurück, zu dessen Füßen er den Ball erneut rollen ließ. Mehr als einmal rollte der Ball noch die Stufen hinunter, doch Shen bedachte sich nun, ihn vorsichtig zu holen, auch wenn er immer wieder fürchtete, dass der Ball bis zur großen Treppe, die in die unteren Etagen führte, rollen konnte. „Sag, mein Sohn“, begann sein Vater, während er das Spiel des Jungtieres beobachtete. „Was macht dein Training?“ Dies war nicht unbedingt eins der Themen, auf das der junge, weiße Pfau angesprochen werden wollte. Wie von einem jungen Adeligen zu erwarten, wurde er bereits seit einigen Monaten schon im Kung Fu unterrichtet, doch die Ergebnisse ließen sich bestenfalls als katastrophal betiteln. „Nun, es geht, Vater“, meinte er vorsichtig. Bevor sein Vater etwas sagen konnte, legte seine Mutter ihren Arm um ihn. „Es wird sich noch verbessern“, beruhigte sie sowohl ihren Sohn, als auch ihren Mann. „Du trainierst noch nicht all zu lang.“ „Das muss es“, sagte sein Vater. Doch als er den Blick seiner grün und braun gefiederten Gemahlin auf sich spürte, fügte er schnell hinzu: „Aber ja, ich bin mir sicher, dass du dich verbessern wirst.“ „Ich gebe mein bestes, Vater“, erwiderte der junge Shen und senkte seinen Kopf vor seinem mächtigen Vater. Er respektierte seine Eltern mehr als jemanden sonst. Natürlich. Sie waren die Herrscher von Gongmen City. Dank ihnen herrschte Frieden und mit ihrer Erfindung des wunderschönen Feuerwerks hatten sie Freude in die Stadt gebracht. Die Leute in der reichen Hafenstadt liebten die Pfauen, jubelten ihnen zu. Und auch er mochte die Feuerwerke, die seine Eltern regelmäßig veranstalteten. Er liebte die bunten Farben und Formen, die sie an den nächtlichen Himmel malen konnten. Jedes Mal meinte er neues in den farbigen Explosionen erkennen zu können. Angefangen von Blumen, über die Wellen des Meeres, hin – natürlich – zu herabfallenden Sternen. „Weißt du, Shen“, sprach sein Vater wieder. „Wenn du einmal auf diesem Thron sitzt, musst du stark sein. Du musst die Stadt verteidigen können.“ Der Junge sah von seinem Spiel auf. „Verteidigen?“ „Es gibt viele, außerhalb dieser Stadt, die diesen Thron für sich gewinnen wollen und deren Ziel nicht im Wohlergehen von anderen, sondern nur im Wohlergehen ihrer selbst liegt“, erwiderte sein Vater und erhob sich vom Thron. Shen sah weiter zu seinem Vater auf, wusste aber nichts zu erwidern. Natürlich hatte er von Banditen außerhalb der Stadt gehört, denn er verbrachte viel Zeit hier im Thronsaal bei seinem Vater. Aber sie waren ihm nie wie einer ernstzunehmende Gefahr vorgekommen. Immerhin waren sie nie hierher vorgedrungen, und wenn einige der Wölfe im Hafenviertel aufbegehrten, wurden sie sehr schnell zurecht gewiesen. „Oh, bei allen Götter, Dasheng, setzt den Kleinen doch nicht jetzt schon unter Druck“, meinte eine vertraute Stimme, als eine Fasanenhenne, die zuvor an einer Seite des Fensters verharrt war, auf den Thron zuging. „Meint Ihr nicht, dass der junge Lord noch viel Zeit hat, um von all dem Unheil da draußen zu erfahren?“ Der Pfauenherrscher wirkte irritiert, da ihm selten jemand, wenn nicht seine Frau, widersprach oder ihn gar zurecht wies. Dann jedoch lächelte er. „Natürlich.“ Doch Shen überlegte, seinen Ball zwischen den Flügeln haltend. „Gibt es wirklich so viele Banditen dort draußen?“ Man sah ihn schweigend an. „Nicht nur Banditen, mein Sohn“, erwiderte seine Mutter schließlich und ging zu ihm hinüber, um den Flügel um ihn zu legen und ihn anzusehen. „Es gibt dort draußen viele Tiere, die den Frieden und die Freude ihres Volkes nicht genug zu schätzen wissen. Es vielleicht sogar unterdrücken.“ Darüber dachte der junge Pfau nach. Er konnte nicht verstehen, wieso man sein eigenes Volk unterdrücken sollte. Kam nicht die eigentliche Stärke eines Herrschers aus seinem Volk? Das war es zumindest, was man ihm beigebracht hatte, seit er denken konnte. „Aber wieso hält sie dann niemand auf?“ Seine Mutter lächelte. „Weil die Welt sehr groß ist“, antwortete sie und umarmte ihn. „Aber belaste dich nicht zu sehr mit diesen Gedanken, mein lieber Shen. Zumindest nicht jetzt. Das alles ist weit weg.“ Shen nickte. „Ja, Mutter“, flüsterte er und wusste, dass er hier sicher war, egal was hinter den Mauern der Stadt oder auch hinter den Mauern des Flammenturms lauern mochte. Akt II, Szene IV – Auf der Straße – Zerrissene Bande ---------------------------------------------------- Die Wölfe waren klug genug den jungen Lord nicht anzusprechen, denn sie wussten, dass der Ausdruck, der sein Gesicht prägte nichts gutes verhieß. Den ganzen Tag schon war sein Gesicht verfinstert und jede noch so kleine Störung, brachte dem Verantwortlichen einen Blick, noch kälter als sonst, ein. So war es ungewöhnlich ruhig, während sich die Prozession aus Pfau, Wölfen und Glanzhuhn die staubige Straße entlang bewegte. Sie hatten das Flussdelta in den frühen Morgenstunden verlassen und liefen nun in Richtung des Gebirges. Und während es in den Morgenstunden noch hell gewesen war, so hatte sich doch über den Tag der Himmel mit Wolken bezogen. Der Geruch von Regen lag in der Luft, auch wenn das Wetter bisher hielt. Shen dachte nicht daran anzuhalten. Auch nicht als schließlich, während auch der Weg immer steiler wurde, die ersten Regentropfen fielen. Der Traum, den er letzte Nacht gehabt hatte, hatte sein Bedürfnis so weit wie möglich von seiner Heimat fort zu kommen, nur noch verstärkt. Denn je weiter er ging, desto sicherer war er sich einer Sache: Seine Eltern hatten ihn verraten. Er hatte sie falsch eingeschätzt, noch immer durch die Augen eines Kükens gesehen. Ja, sie genossen vielleicht den Frieden, der in Gongmen herrschte, aber sie hatten nie Interesse gehabt, diesen weiter abzusichern als nötig. Nie hätten sie daran gedacht, mit einer Gefahr anders umzugehen, als darauf zu warten, dass sie vor den Toren der Stadt stand. Ja, sie waren nur feige gewesen... Und niemals hätten sie daran gedacht ihr Territorium zu erweitern, um den Frieden zu sichern. Ja, sie hatten es doch nicht einmal riskiert, höhere Strafen für Verbrechen innerhalb der Stadt einzuführen. Sie waren zu schwach, zu verweichlicht. Deswegen hätten sie ihn niemals verstanden. Deswegen waren sie es nicht wert, dass er seine Energie auch nur auf Gedanken an sie verschwendete. Sein Vater hatte ihm gesagt, dass ein Herrscher stark sein musste, wo er doch selbst so schwach gewesen war. Und so blieb es an ihm selbst das Richtige zu tun. Ja. Das Richtige. „Junger Lord“, drang eine Stimme wie von weit her durch seine Gedanken, so dass er brauchte, um zu reagieren. Mittlerweile war der Regen um ein vielfaches stärker geworden und da der Boden das ganze Wasser nicht auf einmal aufnehmen konnte, hatten sich kleine Bächlein auf der Straße gebildet. „Junger Lord Shen“, wiederholte die Stimme. Aus den Erinnerungen und Gedanken geholt sah Shen zu Yimu hinab, die neben ihm herlief. Ihr bräunliches Gefieder war vom Regen genau so zerzaust wie das seine, ließ sie dürr wirken. „Was ist?“, fragte er kalt. „Ihr solltet darüber nachdenken, zu rasten, bis der Regen nachgelassen hat, junger Lord“, meinte die alte Henne. Shen bedachte sie mit einem herablassenden Blick. „Ich habe nicht um deinen Rat gebeten, Yimu.“ „Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst, junger Lord“, erwiderte sie. „Doch mir scheint, dass der Regen und der lange Marsch die Laune Eurer Wölfe nicht verbessern. Und sollte ein Herrscher sich nicht um das Wohlergehen seiner Untertanen kümmern? Nicht zuletzt um sich Ihre Loyalität zu sichern...“ Der Blick des jungen Pfaus wurde noch finsterer. „Ich bin kein Herrscher.“ „Aber einer zu werden, ist das nicht Euer Ziel?“, fragte die alte Henne. „Herrscher von ganz China?“ Dabei klang ein Hauch Spott in ihrer Stimme mit, der ihn zum ersten Mal an diesem Tag dazu brachte stehen zu bleiben. Er hielt einen Dolch mit seinem Flügel und es war ihm deutlich anzusehen, dass er kurz davor stand, die Beherrschung zu verloren. „Was willst du noch hier, Yimu?“ Bei diesen Worten, war seine Stimme schneidender als das Messer in seiner Hand. „Das wisst ihr“, erwiderte die Dienerin, ohne sich einschüchtern zu lassen. Vielleicht war sie auch einfach zu alt um Angst vor dem Tod zu spüren. „Ich bin hier, um euch zum Umkehren zu bewegen.“ Die grimmige Entschlossenheit im Gesicht des Pfaus schien zur Überraschung seiner Wölfe, die nun ebenfalls stehen geblieben waren, zu flackern. Dann jedoch verengten sich seine Augen wieder. „Und wohin soll ich deiner Meinung nach umkehren, Yimu?“ Nun lag auch in seiner Stimme Spott. „Falls du es nicht mitbekommen hast: Meine Eltern haben mich aus Gongmen City verbannt.“ „Weil Ihr den falschen Weg eingeschlagen habt!“, widersprach die Glanzhenne. „Ihr habt ihnen keine Wahl gelassen. Aber für Euch ist es trotzdem noch nicht zu spät diesen Weg zu verlassen. Umzukehren. Und vielleicht wird man Euch irgendwann vergeben können.“ Shens Klinge schwirrte vor und blieb nur knapp vor dem Hals der alten Dienerin stehen. „Ich brauche keine Vergebung!“, zischte er. „Weder von dir, noch von meinen Eltern.“ Dann wandte er sich ab. „Ich brauche keine Vergebung“, wiederholte er, wütend auf sich selbst, da seine Stimme bei weitem nicht so klang, wie beabsichtigt. Dann sah er zu den umstehenden Wölfen, die das ganze mit verschiedensten Gesichtsausdrücken beobachteten. „Worauf wartet ihr? Geht weiter!“, befahl er dann. Die Wölfe zögerten. Einige von ihnen grummelten, doch langsam kamen sie wieder in Bewegung, während sich Shen erneut der alten Dienerin seiner Eltern zuwandte. „Ich lasse dich noch am Leben, weil du mich mit großgezogen hast, Yimu“, sagte er. „Aber ich warne dich, wenn du mir in den Weg kommst, werde ich dich töten.“ Damit wandte er sich selbst zum Gehen. „Ich brauche keine Vergebung“, flüsterte er erneut, während der weibliche Glanzfasan stehen blieb, und ihm eine Weile hinterher sah. „Oh, mein Junger Lord“, hauchte sie. „Wieso nur?“ Dann folgte sie dem Trupp. Akt III, Szene I – Ein kleines Gebirgsdorf – Der Überfall --------------------------------------------------------- Am Abend – einige Tage später – hing der Nebel dicht zwischen den Bergen. Der Regen hatte für beinahe zwei Tage angehalten und die Wölfe waren mehr als verstimmt. Umso mehr wurde ihre Laune gehoben, als sie in der Ferne, während sie den Hang eines Berges hinab gingen, Feuerschein in nicht all zu großer Ferne durch den Nebel sahen. Noch freudiger wurden sie, als sie feststellen mussten, dass dieses Feuer von einem kleinen Dorf kam. Weniger grummelnd als bisher beschleunigten die Wölfe ihre Schritte, hatten sie doch alle knurrende Mägen, da sie nicht mehr viele Essensrationen gehabt und daher gespart hatten. Umso mehr wurden sie von dem Gedanken an eine warme Mahlzeit angetrieben und auch von der Vorstellung die Nacht im Trockenen an einem wärmenden Feuer verbringen zu können. Als sie das Dorf, das aus gerade mal zwölf einfachen Holzhütten bestand, schließlich erreichten, fanden sie einige Schweine und wenige Gänse, sie sie überrascht und teilweise auch verängstigt anstarrten. Die knurrenden Wölfe beruhigten sie sicher nicht und es war schließlich eine mutige Graugans, die hervortrat und sich vor Shen zitternd verbeugte. „Was wollt Ihr, mein Herr?“, fragte sie vorsichtig. „Speisen für mich und meine Wölfe“, erwiderte Shen mit befehlender Stimme. „Und ein Lager für die Nacht.“ „Nun, mein Herr“, begann der Gänserich vorsichtig. „Wir können Ihnen sicher Lager bieten, mein Herr. Aber, mein Herr, wir hungern selbst. Seht, wir sind nur ein kleines Dorf, mein Herr, und der Anbau von Reis ist schwer in dieser Region.“ Einige der Wölfe begannen wieder zu knurren, während der junge Lord sich ungerührt gab. „Oh, ich bin mir sicher, dass sich etwas auftreiben lässt. Ihr werdet schon nicht verhungern, dessen bin ich mir sicher.“ Die Drohung in seiner Stimme war unüberhörbar. Doch der Gänserich schien diese nicht wahrzunehmen oder wollte sie vielleicht auch nicht wahrnehmen. „Nein, mein Herr, wirklich. In letzter Zeit kommen wenige Reisende durch zum Handeln, mein Herr, und unsere letzte Ernte war schlecht, mein Herr. Und die Banditen...“ Weiter kam er nicht, ehe Shen ihn mit einer Bewegung seines Schweifs zu Boden brachte und ihn dort mit seinen Krallen festhielt. „Oh, ich bin mir wirklich sicher, dass ihr nicht verhungern werdet“, meinte er spöttisch. „Lord Shen“, flüsterte Yimu hinter ihm betroffen und wich etwas zurück. Da schrie eine weitere Gans auf und ein murmeln ging durch das einfache Dorfvolk. „Dann ist es wirklich Lord Shen...“, flüsterte ein Schwein. „Er hat die Pandas getötet“, rief eine Gans. „Sie haben ihn aus Gongmen City verbannt“, fügte eine Sau hinzu. Shen sah genervt auf, während sich diese Bauern uneinig zu sein schienen, ob sie ihm nun feindlich gegenübertreten oder die Flucht ergreifen sollten. „Ja“, zischte er dann. „Ich bin Lord Shen, ihr dummen Bauern.“ Einer der Wölfe lachte. „Wie viele weiße Pfauen gibt es wohl noch?“ Doch die Dorfbewohner fanden es bei weitem nicht so lustig, wie die Wölfe. „Verschwinde von hier, Abschaum!“, rief ein ganz besonders mutiges Schwein und hielt eine Heugabel ihnen wie eine Waffe entgegen. Der Blick in Shens Augen war die ganze Zeit schon kalt und distanziert gewesen, doch was nun in seine Augen trat, war glühend und umso gefährlicher. „Nun“, begann er langsam an seine Wölfe gewandt, während sein Flügel sein Guandao umfasste. „Ich glaube, dass diese Bauern nicht verhungern werden.“ Damit nahm er seine Waffe und durchstieß damit den Hals des Gänserichs, der nicht einmal Zeit hatte zu realisieren, dass sein Und bei diesen Worten sprangen die ohnehin blutrünstigen Wölfe los, griffen sämtliche Gänse und Schweine an, die nicht schnell genug die Flucht ergriffen. Federn flogen durch die Luft und Blut floss über den ohnehin schon nassen Boden, während die Wölfe den Flüchtlingen nachsahen. Derweil trat Yimu mit traurigen Augen neben den jungen Pfau. „Wieso nur, Shen?“, fragte sie und legte dabei nicht einmal Wert auf das ohnehin nicht mehr geltende Etikett. „Wieso musstest du zu diesem Monster werden?“ Doch der junge Vogel lachte nur. „Ein Monster, ja?“, wiederholte er und klang dabei tatsächlich amüsiert. „Ein Monster, ist es das, als was du mich siehst?“ Er ließ vom Leichnam der Gans ab und wandte sich der Glanzhenne zu. „Dann siehst du endlich ein, dass deine kleine Mission vergeblich ist?“ Sie wich nicht vor ihm zurück. „Ein Monster, ja, aber ich komme nicht umher das kleine Küken zu sehen, dass mit seinem Ball unter dem Fuß vom Thron seines Vaters gespielt hat und bewundernd zu diesem aufgesehen hat. Was ist aus diesem Jungen geworden?“ Mehrere Emotionen huschten schnell über Shens Gesicht. Eine Spur Reue, Wut, Trauer, Hass. Schließlich jedoch schaffte er es wieder an der kühlen, grimmigen Entschlossenheit festzuhalten, die man schon seit sie Gongmen City verlassen hatten die meiste Zeit auf seinem Gesicht gesehen hatte. „Dieser Junge existiert in der Vergangenheit“, erwiderte er. „In einer Zeit, vollkommen unwichtig für die Gegenwart. Mein Vater ist schwach, war es schon immer. Deswegen fehlt ihm die Kraft das nötige zu tun. Ich bin stark. Und ich werde ein größerer und mächtigerer Herrscher sein, als er es je war. Verstehst du das?“ Doch die Henne schwieg auf diese Frage hin. Schließlich senkte er den Speer, den er vollkommen unbewusst wieder erhoben hatte. „Natürlich verstehst du das nicht, einfältiger Fasan. Wie solltest du auch?“ Er machte ein abfälliges Geräusch, ehe er sich auf den Weg zu einem der einfachen Häuser machte, und die Dienerin seine Eltern im Nebel stehen ließ. Akt III, Szene II – Am Lager – Eine falsche Entscheidung -------------------------------------------------------- Als der nächste Morgen graute, war auch der Nebel lichter geworden. Trotzdem fielen die Strahlen der Sonne nur müde auf das blutbefleckte Dorf hinab, auf dessen einziger Straße (wenn man den Trampelpfad zwischen den Häuschen überhaupt so nennen wollte) die Leichen der ehemaligen Bewohner lagen. „Was machen wir nun, Lord Shen?“, fragte der Anführer der Wölfe, während sich die anderen Wölfe langsam sammelten. Ihre Laune war um ein vielfaches besser, als am Vortag. Sie hatten gegessen und die Nacht in der trockenen Wärme der Häuser verbringen können. Außerdem war das kleine Massaker, das sie am Tag vorher angerichtet hatten, zumindest für einen Teil der Wölfe durchaus aufmunternd gewesen, nachdem sie schon seit dem Rauswurf aus der Stadt immer mehr Wut in sich aufgestaut hatten. „Zündet die Häuser an“, erwiderte Shen. „Sehr wohl, Sir.“ Der Wolf salutierte und gab seinem Rudel Anweisungen, die diese grinsend befolgten. Da bemerkte der junge Lord den Blick der Glanzhenne, vom Licht der Flammen erhellt. Es war derselbe Blick, den sie ihm am Abend zuvor geschenkt hatte. „Was siehst du mich so an, Yimu?“, fragte er spöttisch. „Willst du mich noch immer zum Umkehren bewegen?“ „Ich versuche zu verstehen, Shen“, erwiderte sie. „Ich versuche zu verstehen, was dich zu all dem angetrieben hat. Wann bist du so geworden?“ „Oh, gibst du denn nie auf?“ Er wandte sich wieder ab, als eine weinerliche Stimme zu hören war. Er fuhr suchend herum. „Was war das?“ „Oh nein, bitte“, jammerte die Stimme weiter, als einer der Wölfe eine junge Gans am Hals herbei trug. „Der Kleine hier hat sich zwischen den Büschen versteckt“, erklärte der Wolf. „Ist das so?“ Shen sah zu dem grauhälsigen Gänserich, der gerade einmal ein Jugendlicher war, hinüber. Das Jungtier zitterte am ganzen Leibe und sah ihn unentschlossen an. Es versuchte sich nicht mal aus dem Griff des Wolfes zu winden. Stattdessen jammerte es die ganze Zeit weiter. „Bitte, nein, bitte, bitte...“ Aus mehr Worten schien sein Wortschatz nicht zu bestehen. Mit einem bitteren Amüsement sah Shen den Gänsejungen an. „Und warum hast du dich versteckt.“ „Ich... Ich...“, setzte dieser an. „Ich hatte Angst.“ „Angst ist e in Zeichen von Schwäche“, erwiderte Shen, seinen Speer locker im Flügel haltend. „Willst du sagen, dass du schwach bist.“ Der Junge schwieg erst. „Ja, Sir“, gab er dann schwach zu. Doch bevor Shen etwas darauf erwidern konnte, hörte er tiefere Stimmen. „Da sind sie!“, rief eine. „Der Kleine hatte Recht.“ Eine andere. Und als sich der junge Pfauenlord und seine Wölfe umdrehten, sahen sie sieben kräftige Wildschweinsoldaten den Pfad aus dem nächsten Tal hinaufeilen. Alle sieben waren mich schweren Kriegshämmern bewaffnet, doch das änderte nichts daran, dass sie gegen die mehr als dreifache Anzahl an Wölfen in der eindeutigen Minderzahl waren. „Sieh einer an“, zischte Shen und sah wieder zu dem Jungen. „Es sieht an, als hätte hier jemand versucht Hilfe zu holen.“ Yimu sah den Ausdruck in den Augen des Pfaus und lief zwischen ihn und den Wolf, der das Jungtier hielt. „Shen! Junger Lord, Ihr könnt nicht wirklich... Du kannst nicht daran denken den Kleinen...“ Sie konnte sich vor lauter Aufregung kaum formulieren. „Er ist noch ein Kind!“ Auf diese Worte hin zuckten Shens Lider nur. „Es macht keinen Unterschied für mich, wer oder was jemand ist, wenn dieser in meinem Weg steht“, antwortete er mit tödlicher Ruhe. „Und im Moment stehst du in meinem Weg.“ Derweil waren die Soldaten kurz vorm Dorf stehen geblieben. „Lord Shen von Gongmen City“, rief ihr Anführer, dessen Rüstung rot beschlagen war. „Ergebt Euch, damit wir Euch Eurem Schicksal überführen können.“ Da begann der Pfau zu lachen. Er lachte lang und freudlos. „Schicksal?“, fragte er schließlich. „Schicksal? Ihr dummen, dummen Schweine, was wisst ihr denn schon von meinem Schicksal?“ Mit diesen Worten, wandte er seine Aufmerksamkeit zu den Wölfen. „Kümmert euch um um sie“, befahl er dann kurz. Die Wölfe, teilweise sogar grinsend, begannen zu knurren und gingen in die Hocke, während die Wildschweine ihre Waffen bereit hielten. Dann, wie auf ein unsichtbares Kommando hin, sprangen die Wölfe auf ihre Gegner zu, die sich zumindest gegen den ersten Schlag erstaunlich gut verteidigten. Shen wandte seine Aufmerksamkeit von dem Kampf ab und erneut dem jungen Gänserich und dem Wolf, der diesen hielt, zu. „Worauf wartest du?“, fragte er dann den Wolf. „Willst du nicht deinen Brüdern in ihrem Kampf beistehen.“ Der Wolf nickte. „Natürlich, Sir“, beeilte er sich zu sagen, setzte das Jungtier ab und sprintete zu der recht übersichtlichen Schlacht hinüber. Derweil betrachtete Shen das zusammengekauerte Jungtier und die Glanzhenne, die nun mit schützend ausgebreiteten Flügeln vor diesem stand und ihren Lord mit festem Blick ansah. „Geh zur Seite, Yimu“, befahl er scharf. „Ich werde dich kein unschuldiges Kind töten lassen, Shen“, erwiderte sie. „In meinen Augen ist auch ein Kind, wenn es Soldaten in feindlicher Absicht zu mir führt, nicht mehr unschuldig“, antwortete er kühl. „Davon abgesehen ist dieser Gänserich bereits fast in seinem Mannesalter, er ist kein Kind mehr.“ „Shen, glaubst du wirklich, dass eine Straße voller Blut und Leichen dich zu deinem Glück führt.“ Ihr Tonfall war nicht minder scharf als der seine. Auf diese Frage erwiderte er nichts, sondern wartete nur mit seiner Waffe in der Hand. Mittlerweile hatte der Junge sogar aufgehört zu jammern und sah mit vor Furcht geweiteten Augen zu Yimu und dem weißen Pfau hinauf. „Shen“, begann die alte Henne erneut. „Wenn du jetzt umkehrst, macht es vielleicht weder deine Sünden ungeschehen, noch wäscht es das Blut aus deinem Gefieder, aber du könntest zumindest in Frieden leben.“ „Frieden?“, entgegnete er. „Frieden vielleicht. Aber der Frieden wäre der Frieden der Schwachen, der Frieden der Rückradlosen.“ Er sah sie an. „Ich bin weder schwach, noch rückradlos. Und nun geh mir aus dem Weg, Yimu.“ „Nein!“, widersprach sie fest. „Shen“, versuchte sie es dann ein letztes Mal. „Ich will nur, dass du glücklich wirst, wie es auch deine Eltern wollten.“ Und ehe sich Shen beherrschen konnte zuckte eins seiner Messer durch die Luft und durchbohrte die Brust der Henne. Blut färbte ihr Gefieder rot, als sie auf dem Boden zusammenbrach und der junge Gänserich wieder zu Sinnen kam und versuchte davon zu laufen. Jedoch kam er nicht weit. Mit den Flügeln schlagend setzte Shen ihm nach und kam nur wenige Schritt weiter wie ein Adler auf den Jungen hinab, nagelte diesen mit seinen Klauen auf den Bogen. „Du bist es selbst in Schuld“, zischte er voller Hass. „Wärst du geflohen, wie all die anderen armen Trottel, so hättest du Leben können.“ Damit sauste die Klinge des Guandao auf den dünnen Hals der Gans hinab. Akt III, Szene III – Epilog – Zum Scheitern verurteilt ------------------------------------------------------ Glut tauchte die ganze Halle in ein rotes Licht, während Shen von einer der Brücken aus die Arbeit seiner Wölfe überwachte. Stolz schritt er über das Holz hin und her, wobei seine mit Metall besetzten Klauen mit jedem Schritt Kratzer in diesem hinterließen. Flüssiges Eisen wurde in eine Form gegossen. Die erste Version seiner Waffe wäre bald fertig. Auch wenn er jetzt schon wusste, dass sie noch nicht gut genug sein würde. Nein, er musste weiter forschen, bis die Waffe perfekt war. Doch irgendwann würde sie es sein und dann würde er nach Gongmen City zurückkehren, um sich endlich an seinen Eltern zu rächen und ihnen zu zeigen, wie schwach sie waren. Eine Erinnerung versuchte sich ihren Weg in sein Gedächtnis zu bannen, doch er wusste mittlerweile, zwei Jahre nachdem er von seinen eigenen Eltern verbannt worden war, sehr genau, wie er diese abwehren konnte. Nein, die Vergangenheit war es nicht wert über sie nachzudenken. Er hatte keinen Einfluss mehr auf sie, genau so wenig allerdings, wie sie ihn beeinflusste, redete er sich ein. Ja, damit hatte er sich abgefunden. Und je mehr Zeit verging, desto mehr würde er vergessen. Denn es war Vergangenheit und wenn man der Vergangenheit keine Beachtung schenkte, würden auch die Erinnerungen an sie verblassen. Denn sie waren es nicht wert. All das war es nicht wert, erinnert zu werden. Er hatte wichtigeres zu tun, wichtigeres zu erinnern. So beobachtete er die Wölfe, wie sie die Form schlossen und dabei, nachdem er es ihnen hunderte Male eingeschärft hatte, besonders vorsichtig waren. Dies – die Fabrik – war sein eigenes Reich, sein eigener Palast. Ein Palast erfüllt mit dem Geruch von Eisen und Schwefel, dem Geruch von Macht. Und irgendwann würde er der mächtigste von allen sein. Mächtiger als die Meister und auch mächtiger als seine Eltern, die ihn ohnehin hassten. Ja, dessen war er sich mittlerweile sicher. Seine Eltern hatten ihn gehasst. Deswegen hatten sie ihn gar nicht erst verstehen wollen, hatten ihm nicht zugehört. Aber auch das lag in der Vergangenheit. Mittlerweile war es nicht mehr der Frieden, der ihn interessierte, denn Frieden war für Schwächlinge. Und niemals, niemals würde er ein Schwächling sein. „Niemand bekommt sein Glück geschenkt“, flüsterte er zu sich selbst. „Glück muss man sich nehmen. Ich nehme mir nur meins.“ Dabei blendete er die Stimme in seinem Kopf aus, die ihm sagte, dass er nur versuchte, sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Dass sein Vorhaben ohnehin zum Scheitern verurteilt und sein Schicksal schon lange besiegelt war. Er konnte es nur herauszögern, doch ändern... Ändern konnte er es nicht mehr, dafür war er dieser Straße schon zu lang gefolgt. ENDE. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)