Verlorene Erinnerung von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 5: Im Dunkeln --------------------- Die beiden Jungen hatten sich derweil einen Raum gesucht, um sich sowohl vor ihren Entführern, die keiner von ihnen kannte, als auch vor diesem Narcis, der wer-weiß-was mit ihnen vorhatte, zu verstecken. Landis' Wahl war, sehr zu Fredianos Missfallen, auf einen Raum ohne jede Lichtquelle, gleich welcher Art, gefallen. Es wäre, nach Fredianos Meinung, untertrieben gewesen, diesen Raum einfach nur als dunkel zu bezeichnen, denn die Finsternis schien derart tief und unergründlich zu sein, dass er davon überzeugt war, dass kein Licht sie erhellen könnte. Nicht einmal das weiße Feuer, das seine Mutter erschaffen konnte, wie auch immer sie das anstellte. Als Landis die Tür geöffnet hatte, um hineinzugehen, war es Frediano möglich gewesen, etwas zu erkennen. Kisten, die dem Geruch nach mit Tabak, gefüllt waren, standen fein säuberlich aufgereiht an der Wand, im Gegensatz dazu lag eine Plane achtlos weggeworfen auf dem Boden. Ehe ihm noch mehr zu sehen möglich gewesen war, hatte Landis die Tür hinter sich zugezogen und dann seine Hand genommen. Mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit war er von Landis durch den Raum und – wie er glaubte – hinter die Reihen der Kisten geführt worden, wo sie sich schließlich auf den Boden gesetzt hatten, um zu warten. Im anfänglichen Schweigen war Frediano mit der Frage beschäftigt gewesen, wofür dieses Gebäude einst verwendet worden war. Für eine einfache Lagerhalle war es zu weit außerhalb, außerdem schienen sämtliche Waren zu einem Großteil aus solchen zu bestehen, die man auf dem Schwarzmarkt erstand oder eben verhökerte. Nach einer Weile hatte Landis, dem das Schweigen offenbar zu langweilig geworden war, mit Reden begonnen und tat dies immer noch. Er sprach offenbar über alles, was ihm gerade im Kopf umherging. Er machte sich Gedanken, wie es seinen Eltern ging, ob sie sich Sorgen um ihn machten, warum gerade Kieran, anscheinend der Vater seines besten Freundes, gekommen war und nicht sein eigener Vater. Er sprach davon, dass seine Mutter vielleicht ganz glücklich war, dass er nicht mehr da war. Frediano lauschte ihm aufmerksam, während er in die Dunkelheit starrte und dabei stellte er mild erstaunt fest, dass er sich gar keine Gedanken um seine Eltern machte. Er war überzeugt, dass seine Mutter ihn vermisste – oder zumindest wollte er davon überzeugt sein, aber in Wahrheit glaubte er, dass sein Fehlen noch gar nicht bemerkt worden war, zumindest nicht von den beiden. Es gab, seiner Meinung nach, nur eine Person, die ganz sicher wusste, dass er nicht da war: Sein Kindermädchen Amy. Er rief sie sich wieder in Erinnerung, um sich von der Dunkelheit abzulenken. Ihr schwarzes, langsam grau werdendes Haar, das sie zu einem kunstvollen Zopf geflochten trug, die braunen, gütig dreinblickenden Augen, die kleinen Fältchen, die sich bildeten, wenn sie lachte, ihre Stimme und vor allem ihr Geruch, der ihm vertrauter war als der seiner Mutter. Er vermisste sie, genau wie seine Mutter. Seinen Vater vermisste er dagegen absolut nicht. Er empfand eine zarte Zuneigung zu diesem, weil sie zur selben Familie gehörten, aber es wäre in seinen Augen auch kein Verlust gewesen, wenn er ihn nie wiedersehen müsste, denn er verband ein recht unangenehmes Pflichtgefühl mit ihm. Die Zeiten, in denen er versucht hatte, Respekt und Liebe seines Vaters zu gewinnen – beides aussichtslose Unterfangen – waren schon lange vorbei. Plötzlich stieß Landis ein Seufzen aus, ein unangenehm lauter Ton in der Dunkelheit. Frediano versuchte in der Dunkelheit sein Gesicht auszumachen, um ihn direkt ansehen zu können. Er konnte nur die Konturen erkennen, aber das genügte, um zu sehen, dass Landis die Stirn gerunzelt hatte. Gerade als er fragen wollte, was los sei, stellte der Junge auch schon die Frage, die ihn wohl beschäftigte: „Hast du eigentlich wirklich keine Freunde?“ Frediano hob fragend eine Augenbraue, während er innerlich rätselte, warum der andere unbedingt nachhaken musste. Aber die einfachste Methode, das herauszufinden war wohl, ihn einfach zu fragen: „Warum fragst du?“ Auch wenn er im Dunkeln nichts sehen konnte, entging ihm Landis' Blick nicht, er spürte ihn geradezu auf seiner Haut, wie ein unangenehmes Prickeln. Der Junge verstand ganz offenbar nicht, warum er hier gerade hinterfragt wurde, deswegen antwortete er ebenfalls mit einer Gegenfrage, die eine Aussage sein sollte: „Weil es mich interessiert?“ Frediano beschloss, dass es besser war, ihm zu antworten als mit ihm diskutieren zu wollen. Die Antwort war ohnehin schnell gegeben, denn sie bestand aus nur einem Wort: „Nein.“ Im selben Moment wurde Landis' Blick ein wenig weicher, das unangenehme Prickeln verschwand. „Oh... warum denn nicht?“ So wie es aussah, war es wohl besser, wenn er ein wenig ausholte. Also erzählte er Landis, den er gerade einmal ein paar Minuten kannte, von seinem Vater, Dario Caulfield, dem Kommandanten der Kavallerie von Király. Er berichtete von einem stolzen, aufrechten Mann, aber auch von dem unangenehmen Druck der Erwartungen, der auf seinem Erben lastete. Erwartungen, die beinhalteten, dass es selbstverständlich wäre, dass der Sohn der beste Schüler als auch das Kind mit den besten Manieren in der Stadt war. Und die auch vor den möglichen Freunden nicht Halt machten. Aber Kinder, die nicht als Caulfield aufgewachsen waren, konnten den Erwartungen und dem Druck unmöglich standhalten. Keiner von ihnen war gut genug, um ein Freund Fredianos zu sein – und keiner von ihnen war interessiert daran. „Mein Vater ist noch dazu nicht sonderlich beliebt“, fügte er noch hinzu. „Viele Eltern, die unter ihm zu leiden haben, werden das an ihre Kinder weitergeben und ihnen vermutlich sogar raten, sich von mir fernzuhalten.“ Oft kümmerte es ihn gar nicht, er hatte immerhin Amy, zumindest redete er sich das ein. Aber immer wenn er andere Kinder spielen sah, spürte er diesen schmerzhaften Stich in seiner Brust, der ihm verriet, dass es ihn doch störte, aber er wollte es nicht zulassen, wollte diesem Drang nicht nachgeben. Solange er der Sohn des Kommandanten war, würde er einsam sein, daran glaubte er fest. „Und was ist mit deiner Mutter?“ Landis klang bedrückt, fast schon tat es Frediano Leid, dieses Thema doch so sehr auszuwalzen. „Meine Mutter gilt als Außenseiterin. Niemand weiß so recht, woher sie kommt und sie will auch niemanden kennen. Die Eltern, die nicht unter meinem Vater zu leiden haben, kennen meine Mutter und raten deswegen ihren Kindern, mir fernzubleiben.“ Er liebte seine Mutter sehr und er wusste, dass auch sie ihn liebte – aber dafür, dass sie genau wie sein Vater seine Umwelt beeinflusste und ihn so einsam sein ließ, hasste er sie mit einem verschwindend geringen Teil seines Herzens. Landis wandte nun endlich den Blick von ihm ab und starrte irgendwo in die Dunkelheit. Er schien über etwas zu grübeln, aber Frediano war sich nicht sicher, ob nun der geeignete Zeitpunkt wäre, um nachzuhaken, worum es in seinen Überlegungen ging – glücklicherweise dauerte diese Phase auch nicht lange, dann stellte Landis ihm wieder eine Frage: „Du wirst dann bestimmt auch mal Kavallerist, oder?“ „Natürlich.“ Frediano musste nicht einmal darüber nachdenken, denn ihm blieb gar keine andere Wahl als Kavallerist zu werden, damit er nach dem Tod seines Vaters den Posten des Kommandanten übernehmen könnte. „Dann musst du ja nach Cherrygrove kommen, um dich ausbilden zu lassen“, stellte Landis fest. Frediano gab ein zustimmendes Geräusch von sich, er fragte sich, worauf der andere eigentlich hinauswollte – und bekam auch sofort seine Antwort: „Dann werde ich auch Kavallerist!“ Der Enthusiasmus in seinen Worten, ließ Frediano fragend blinzeln. „W-was?“ Landis sah ihn wieder an und er glaubte, das Leuchten seiner Augen und das strahlende Gesicht trotz der Dunkelheit sehen zu können. „Na, du sagst doch, dass du keine Freunde hast, aber ganz offensichtlich brauchst und willst du welche. Wenn ich auch Kavallerist bin, wird dein Vater bestimmt nichts mehr gegen mich haben – und du bist nicht mehr einsam.“ Frediano wusste nicht so recht, was er dazu sagen sollte, weswegen er schwieg. Er war überwältigt von so viel liebenswertem Verhalten, das er in seinem Leben bislang nicht hatte erfahren dürfen, dass alles in seinem Kopf zu schwirren begann. Er wollte Landis als Ausdruck seiner Dankbarkeit umarmen – und hätte das vermutlich sogar getan, wenn da nicht plötzlich das Gefühl gewesen wäre, dass eine Hand durch sein Haar strich. Er zuckte nicht nur erschrocken zusammen, ihm entfuhr sogar ein leiser Schrei, weswegen die Hand ebenfalls wieder zurückzuckte. „Tut mir Leid“, sagte Landis schnell. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Frediano beruhigte sich nur langsam und sein Herz klopfte immer noch viel zu schnell, als er schließlich wieder sprechen konnte: „Warum hast du das getan?“ Es schien Landis tatsächlich ein wenig verlegen zu machen, denn für einen Moment sagte er nichts, stattdessen fühlte es sich in der Dunkelheit so an als würde er auf seinem Platz herumrutschen. „Na ja, ich wollte wissen, ob dein Haar sich so kalt anfühlt wie es aussieht“, antwortete er schließlich doch noch. „Aber das tut es nicht, es ist ganz warm.“ Der vorherrschende Gedanke in seinem Inneren war die Frage, wie dumm man sein musste, anzunehmen, dass die Haare eines Menschen kalt sein könnten – aber das Gefühl, das alles überlagerte, war Verzückung. Er fand diese naive Annahme liebenswert und während ihm das bewusst wurde, fragte er sich, ob es auch Dinge an ihm gab, die andere Menschen so betrachteten. „Wie kamst du denn auf diese Annahme?“, fragte er, um zu verschleiern, was er darüber dachte. Er spürte, wie Landis den Kopf neigte, glaubte fast, beobachten zu können, wie er an die Decke sah, wo es möglicherweise tatsächlich etwas gab, das es wert war, beachtet zu werden. In der Dunkelheit schienen Stunden zu vergehen, bis Landis schließlich bedächtig antwortete: „Tante Aydeen hat No und mir früher oft von einer Schneefee erzählt, deren Haut und Haare weiß und kalt wie Eis waren. Diese Schneefee wollte immer Freunde haben, aber weil sie in der Kälte lebte, gab es nicht viele Menschen, mit denen sie in Kontakt kam.“ Frediano überlegte, ob er diese Geschichte bereits kannte, aber er erinnerte sich nicht im Mindesten an eine Schneefee oder ähnliches Wesen. Aber das mit den Freunden erinnerte ihn an seine eigene Situation und so musste es dem anderen wohl ebenfalls gehen, weswegen es ihn tatsächlich interessierte, wie es weiterging. Glücklicherweise erzählte Landis die Geschichte bereits unaufgefordert weiter: „Von ihrem Berg aus konnte sie ein Dorf beobachten und an manchen Tagen auch das Lachen der Bewohner hören. Also beschloss sie, dort hinzugehen, um sich Freunde zu suchen. Aber die Erwachsenen fürchteten sich vor der Schneefee, da sie glaubten, dieses Wesen würde jeden in eine eisige Statue verwandeln. Als eines der Kinder sich im Wald verlief, beschloss die Fee, sich im Geheimen der Suche anzuschließen. Sie fand das Kind, das aber schlief und – wie sie spürte – nicht mehr lange zu leben hatte. Da sie wusste, dass die Erwachsenen ihr nicht zuhören würden, nutzte sie ihre magischen Fähigkeiten, um zu einem hell leuchtenden Stern zu werden, der den Aufenthaltsort des Kindes markierte. Die Erwachsenen folgten dem Leuchten und konnten das Kind retten, doch die Fee schmolz wegen ihres eigen erzeugten Lichts dahin.“ Landis verstummte wieder. Frediano konnte ihn gut verstehen, das Ende der Geschichte war traurig, mit so etwas rechnete man wohl kaum, wenn es um Erzählungen für Kinder ging. Aber offenbar war es etwas anderes, das Landis daran beschäftigte, denn plötzlich stieß er ein begeistertes Seufzen aus. „Ist die Schneefee nicht eine echte Heldin?“ „Aber... sie ist am Ende gestorben“, gab Frediano zu bedenken. „Sie hat ihr Leben geopfert, um das einer anderen Person zu retten, das macht sie zu einer Heldin“, erwiderte Landis unbeeindruckt. „Und immerhin erzählt man Geschichten von ihr, nicht wahr? Also ist sie nicht wirklich tot, das ist man erst, wenn niemand mehr an einen denkt.“ Über so viel Weisheit, die er in dem Jungen gar nicht vermutet hätte, konnte Frediano nur staunen, weswegen er auch nichts weiter darauf sagen konnte, obwohl er eigentlich anmerken wollte, dass Landis wohl das beste Beispiel dafür war, dass man ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen sollte. Ihm blieb aber auch keine Gelegenheit mehr, etwas zu sagen, denn gerade als er sich genug gesammelt hatte, erklang ein Geräusch aus Richtung der Tür. Jemand wollte offenbar den Raum betreten und zumindest Frediano war es nicht möglich zu sehen, um wen es sich handelte. Er spürte Landis' plötzliche Anspannung, als würde er sich auf dem Sprung befinden, weswegen er sich ebenfalls anspannte – und dann warteten sie in nervenzerreißender Stille. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)