Verlorene Erinnerung von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 8: Gemeinsam -------------------- Fluchend wich Narcis so weit zurück, wie er konnte, aber die Kinder waren bereits bis zu den Kisten zurückgedrängt worden, es gab keinerlei Platz mehr, um weiter auszuweichen. Egal was er nutzte, um die Marionette anzugreifen, nichts schien ihr wirklich zu schaden, jeder Treffer erzeugte lediglich eine Delle in ihrem Körper, hielt sie aber nicht auf. Das unheimliche Lachen, das sie alle paar Sekunden von sich gab, half ihm auch nicht weiter, um sich zu konzentrieren. Die Jungen klammerten sich immer noch aneinander, aber die zuvor aufgekommene Spannung in der Luft war rasch wieder verschwunden und kurz darauf hatte die Marionette ihn angegriffen. Er verstand nicht, was es damit auf sich hatte, wollte sich aber auch nicht weiter damit befassen, es war nun wichtiger, herauszufinden, was er tun sollte, um zu entkommen. Wäre er allein, wüsste er einen Weg, aber die Kinder hinter sich konnte er nicht einfach zurücklassen. Wenige Schritte von ihm entfernt, so nah, dass er nur hätte die Hand ausstrecken müssen, um sie zu berühren, blieb die Marionette wieder stehen. Er hoffte bereits, dass sie nun entscheiden würde, sie in Ruhe zu lassen oder wieder in ihre Einzelteile zerfallen würde – doch stattdessen schnellte ein Messer aus ihrem Ärmel und wurde von ihr aufgefangen. Narcis konnte sich denken, dass es scharf war, dazu musste er nicht erst ihre Demonstration beobachten, als sie mühelos eines ihrer Haare spaltete. „Was sollen wir tun?“, wisperte Frediano, der offenbar spürte, dass auch Narcis mit seinem Latein am Ende und vollkommen überfordert war. Wurde ein Attentäter in die Ecke gedrängt und fand keine Möglichkeit zu fliehen, so hatte er gelernt, war es seine Pflicht, sich umzubringen. Damit sollte zum einen verhindert werden, dass er in Gefangenschaft geriet und zum anderen, dass er seine Ehre behielt, falls man bei Attentätern von einer solchen sprechen konnte. Narcis war sein ganzes Leben lang darauf vorbereitet worden, diesem in genau solch einem Fall ein Ende zu setzen – und doch erkannte er nun, dass er das nicht machen konnte. Würde er sich umbringen, wäre er aus dem Schneider, aber die beiden Jungen blieben schutzlos zurück. In diesem Moment prallten seine Attentäter-Erziehung und die ihm anerzogene Fürsorge gegenüber Kindern aufeinander und ließen ihn mit dem Dilemma zurück, sich etwas anderes einfallen lassen zu müssen und das schnell! „Keine Sorge“, sagte er als Erwiderung auf Fredianos Frage. „Wir kommen hier schon wieder raus. Ich lasse mir was einfallen.“ Das schien die beiden zu beruhigen, denn sie sagten nichts mehr, er selbst war dagegen weiterhin nervös, nicht zuletzt, weil er den ersten Angriff der Marionette erwartete, während sie ihn allerdings anblickte, als würde sie stumm ausharren, bis er zur Seite treten würde. Als ihm dieser Gedanke kam, deutete er ein Kopfschütteln an. Einerseits um die Lächerlichkeit davon zu demonstrieren und andererseits, um der Marionette zu verstehen zu geben, dass er sie nicht vorbeilassen würde – nur für den Fall, dass sie wirklich darauf wartete. Dass es wohl so gewesen sein musste, bemerkte er nur den Bruchteil einer Sekunde später, als sie wütend den Mund verzog und das Messer hob. Die Geschwindigkeit, in der sie ihm die Klinge über das Gesicht zog, ließ ihm keine Zeit, um zu reagieren. Erst als ihm ein warmes Blutrinnsal über die Haut rann und Landis einen erschrockenen Schrei ausstieß, registrierte er, dass es soeben wirklich geschehen war. „Herr Narcis!“, keuchte Frediano furchtsam. „Ist alles in Ordnung?“ Immerhin wusste er dank dieser Reaktion, dass die Kinder ihm nicht mehr weglaufen würden, man würde sich kaum Sorgen um jemanden machen, dem man nicht vertraute oder den man fürchtete. Er müsste nur diese verdammte Marionette aus dem Weg räumen! Doch gerade als ihm dieser Gedanke kam, stellte er irritiert fest, dass die Spannung wieder in die Luft zurückgekehrt war und dass seine Gegnerin zurückwich. Er hielt es für sicher, den Kopf zu wenden, um die Jungen anzusehen – und blinzelte dann erst einmal irritiert, um sicherzustellen, dass er nicht nur eine optische Täuschung erlitt. Die Jungen hatten beide jeweils einen Arm um den anderen gelegt, während sie die freien Hände ineinander verschränkten, aber das war es nicht, was ihn verwunderte. Vielmehr war es der um sie entstandene goldene Lichtkreis. Es schien als hätten sich unzählige Funken um sie versammelt und bildeten nun eine sanft wabernde Masse, die bereit war, jedem Schaden zuzufügen, der auch nur mit dem Gedanken spielte, einen der beiden zu verletzen. Narcis war sich nicht sicher, ob diese Fähigkeit von beiden ausging oder nur von einem von ihnen, aber im Moment wollte er das auch nicht herausfinden. Er sah wieder nach vorne. Die Marionette starrte wie gebannt auf das Licht, als ob jegliches Leben sie wieder verlassen hätte und sie nur noch stand, weil diese Nachricht ihre Beine noch nicht erreicht hatte. Narcis nutzte diese Gelegenheit, um darüber nachzudenken, wie man einem solchen Wesen wohl schaden oder wie man es ganz außer Gefecht setzen könnte, wenn keiner seiner Angriffe irgendeine nennenswerte Wirkung erzielen konnte. Selbst die Idee, sie zu verbrennen, hielt er nicht für sonderlich klug, immerhin führte er auch nichts mit sich, das ihn ein Feuer entzünden lassen würde. Doch noch während er überlegte, hörte er plötzlich hastige Schritte auf dem Gang, die innehielten, ehe ein zischendes Geräusch ertönte – und im nächsten Moment fiel die Marionette leblos zu Boden, so als hätte jemand die Fäden durchtrennt. In der Tür, mit der immer noch erhobenen Armbrust, stand der Mann, den Landis zuvor Onkel Kieran genannt hatte. Erst als er sich sicher zu sein schien, dass keine Gefahr mehr von jemandem im Raum ausging, senkte er die Armbrust. „Scheint als komme ich noch rechtzeitig.“ Die Spannung in der Luft verschwand in dem Moment, als das goldene Licht erlosch und Landis mit einem begeisterten Ausruf auf Kieran zulief. Während dieser Wiedersehensfreude, kniete Narcis sich neben die Marionette, um herauszufinden, ob es doch einen Schwachpunkt gegeben hätte. Dort, wo der Bolzen eingeschlagen war, befand sich eine Vertiefung im Rücken und bei genauerem Hinsehen entdeckte er auch mehrere grüne Kristallsplitter – das musste der Antrieb dieses Wesens gewesen sein und nun, da er zerstört war, gab es keinerlei Kraft mehr, der es antrieb. Frediano trat ein wenig scheu an ihn heran. „Sind Sie in Ordnung, Herr Narcis?“ Er hob den Kopf und erwiderte den besorgten Blick des Jungen mit einem zuverlässigen, um ihn zu beruhigen. „Ja, alles bestens. Aber warum redest du mich plötzlich so respektvoll an?“ Unwillkürlich stand Frediano plötzlich in einer steifen Haltung da, die herabhängenden Arme direkt an den Körper gepresst, den Rücken durchgedrückt. „Das gehört sich so bei ehrbaren Leuten, die einem helfen wollen und die man nicht kennt.“ Narcis musste fast schmunzeln, als er diesen einstudierten Satz hörte. Er war wohl nicht der einzige, dem man von klein auf gedrillt hatte, wenn auch in unterschiedlichen Bereichen. „Lass das, ich mag es nicht, wenn man so höflich zu mir ist.“ Frediano nickte stumm, offenbar eingeschüchtert von der Ablehnung. „Wir sollten hier weg“, meldete Kieran sich plötzlich. „Dieser Ort wird bald sehr unwirtlich werden.“ Narcis stellte sich wieder aufrecht hin und wandte sich ihm zu. „Woher willst du das wissen?“ „Ich war gerade in Memorias eigentlichem Versteck.“ „Und hast sie getötet?“ Kieran erwiderte darauf nichts, was für ihn Antwort genug war. „Gut, dann gehen wir. Der Ausgang ist...“ „Den können wir nicht benutzen“, unterbrach der andere ihn und winkte ihn mit sich auf den Gang hinaus. Narcis brummte innerlich und folgte Kieran, um sich anzusehen, was ihnen den Rückweg versperrte, dabei hoffte er, dass es keine Armee aus weiteren Marionetten war. Doch als er schließlich auf dem Gang stand und in Richtung des Ausgangs sah, wünschte er sich doch lieber die Armee herbei. Eine undurchdringlich erscheinende, massive Kristallwand arbeitete sich langsam durch den Gang und machte es dabei unmöglich, diesen weiter zu betreten oder sich auch nur dort aufzuhalten. „Und wohin sollen wir gehen?“, fragte Narcis ruhig, obwohl sein Magen sich bereits flau anfühlte. „Es gibt noch einen Ausgang“, antwortete Kieran, während er ihnen bedeutete, ihm zu folgen. Die Jungen stellten keine weiteren Fragen. Landis griff nach Fredianos Hand und lief bereits eilig mit ihm los, die Erwachsenen folgten ihnen ein wenig langsamer. Da die Kristallwand nicht sonderlich schnell war, sondern sich langsam vorarbeitete, sahen sie darin vorerst keine akute Bedrohung. „Woher weißt du eigentlich von dem anderen Ausgang?“, fragte Narcis misstrauisch. Kieran hing sich den Lederriemen der Armbrust um, damit er sie auf dem Rücken tragen könnte und sie ihn nicht weiter störte. „Memoria hat mir davon erzählt.“ „Und du vertraust ihr so einfach?“ Narcis zog die Augenbrauen zusammen und musterte Kieran, die Hand bereits auf seinen Dolch gelegt, um ihn sofort ziehen zu können. „Sie hat die Wahrheit gesagt“, erwiderte Kieran monoton. „Nur die wenigsten Personen lügen, wenn sie den sterbenden Torso ihres Liebsten in Armen halten.“ Dem konnte Narcis nicht widersprechen, so war es ihm bislang auch vorgekommen. Da ihm Kieran langsam unheimlicher wurde, als diese Marionette – immerhin wusste er sogar, wie er sie kampfunfähig machen könnte – beschloss er, das Thema zu wechseln. „Weißt du, was das für ein goldenes Licht war, das die Jungs umgeben hat?“ Kieran seufzte leise, als hätte er eigentlich gar keine Lust, sich zu unterhalten, aber er antwortete dennoch: „Ich bin mir nicht sicher, denn ich kenne nur Landis. Aber Memoria sagte, dass die beiden zwei Seiten derselben Münze wären. Möglicherweise können sie, wenn sie zusammen sind, übernatürliche Kräfte entwickeln.“ Aber seine zusammengezogenen Brauen verrieten, dass er nicht wusste, ob das überhaupt funktionieren könnte, er wusste wohl ebenfalls nicht viel mehr. Kierans Instruktionen weiterhin folgend, fanden sie sich schließlich am Ende des Ganges wieder. Eine Treppe führte weiter nach unten, war aber nach wenigen Stufen weggebrochen, ausgehend von der salzigen Luft, die ihnen entgegenwehte, nahm Narcis an, dass es an dieser Stelle eine Verbindung zum Meer gab. Allerdings war es so tief und dunkel, dass er nichts sehen konnte. „Und jetzt?“ „Wir müssen springen.“ Da Kieran weiterhin ausdruckslos blickte und seine Stimme vollkommen monoton war, glaubte Narcis für einen Moment, er würde scherzen. „Bitte?“ Doch als er das wiederholte, wandten sich auch die Jungen ihm zu. Während Frediano die Stirn gerunzelt hatte, leuchteten Landis' Augen regelrecht. „Echt, Onkel Kieran? Wir springen?“ Kieran deutete hinter sie, wo die Kristallwand es bereits unmöglich gemacht hatte, in einen der Räume auszuweichen. „Uns bleibt nichts anderes übrig, so wie es aussieht.“ „Und wenn wir das nicht überleben?“, fragte Narcis. „Dann muss uns das ja nicht weiter kümmern“, erwiderte Kieran ungerührt. Ehe er sich über die Gleichgültigkeit des anderen aufregen konnte, erhob Landis die Stimme: „Es wird schon gutgehen. Wenn Onkel Kieran sagt, dass es funktioniert, dann wird es das auch!“ Mit den Armen in die Hüften gestemmt und den Oberkörper leicht zurückgebeugt, strahlte er derart viel Selbstbewusstsein aus, dass Frediano davon angesteckt wurde und auch Narcis keine Worte mehr fand, um diesem verrückten Plan zu widersprechen. „Fein“, gab er seufzend nach. „Dann springen wir eben.“ Zufrieden ergriff Landis die Hand von Frediano und nickte diesem zu, was genauso freudig erwidert wurde – und im nächsten Moment sprangen sie bereits und waren in der Dunkelheit verschwunden. „Du solltest nicht mehr zu lange überlegen“, riet Kieran ihm, ehe er dem Beispiel der beiden Jungen folgte. Narcis blickte noch einmal zur sich nähernden Kristallwand zurück. Egal, wie er diese betrachtete, er wusste, dass es keinen anderen Ausweg mehr gab und dass Kieran wirklich im recht war. Im Prinzip war es wohl egal, wie er sterben würde, ob nun in diesem Gang oder weil die vermeintliche Chance eben doch nur eine trügerische gewesen war. Niemand sollte ihm später vorwerfen können, dass er nicht alles versucht hatte, um zu entkommen. Er atmete noch einmal tief durch, dann schloss er die Augen und sprang ebenfalls in die ungewisse Dunkelheit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)