Verlorene Erinnerung von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 9: Gelungene Flucht --------------------------- Unschlüssig stand Kieran immer noch in Memorias Kammer. Einerseits wollte er dem Schrei folgen, andererseits wusste er aber auch, dass er noch nicht fertig war, dass es noch etwas mit Memoria zu besprechen gab und er es nicht würde nachholen können, wenn er erst einmal diesen Raum verließ. Sie lächelte ein wenig, ohne jede Emotion, es wirkte vielmehr wie eine Grimasse, die ihm einen leichten Schauer über den Rücken jagte. „Du bist immer noch da“, stellte sie fest. „Ich habe dich unterschätzt, deine Fähigkeit, klar zu denken, ist beeindruckend.“ „Ich kann erst gehen, wenn du mir noch ein paar Sachen beantwortet hast.“ Sie nickte verstehend, ohne ihn anzusehen, da ihr Blick bereits wieder auf Breakers Gesicht gerichtet war. „Mit Sicherheit willst du wissen, warum wir die Kinder entführt haben... es war unser Auftrag. Aber ich muss dich enttäuschen, denn keiner von uns beiden weiß, wer der Auftraggeber ist. Sie hat uns mittels eines Lazarus-Orb kontaktiert.“ Es ist also eine Frau! Kieran hatte die Orbs fast schon wieder vergessen, dabei erinnerte er sich noch allzugut an die zahllosen Schauer, die ihm über den Rücken gelaufen waren, wann immer er plötzlich eine Stimme aus dem Nichts hatte hören können oder eines der Orbs kurzfristig entschloss, direkt vor seinem Gesicht vorbeizufliegen. Demzufolge war er ziemlich froh, dass er damit nichts mehr zu tun hatte. „Was solltet ihr mit den Kindern machen?“ „Sie hier behalten“, antwortete Memoria. Er wartete darauf, dass sie fortfuhr, aber da sie es nicht tat, hakte er nach: „Und?“ „Nichts weiter. Wir sollten die Kinder entführen, die Erinnerungen an sie löschen und dann abwarten, was noch geschehen würde.“ Kierans Mundwinkel zuckten, am Liebsten hätte er sich die Hand gegen die Stirn geschlagen. Wie hatten sich die beiden nur auf eine solche Mission einlassen können? Wer wusste schon, was noch alles hätte geschehen könnten? Sie lachte schnaubend. „Es war reichlich dumm von uns, nicht wahr? Genau das denkst du doch gerade. Breaker steht kurz vor dem Tod, dieser Ort wird bald unwirtlich für alle Lebewesen sein...“ Er schwieg, überlegte, was er nun tun sollte, aber er konnte immer noch nicht gehen, es gab etwas, das er noch wissen musste. „Warum diese Kinder? Weißt du das?“ Soweit er wusste, hatten sich die beiden noch niemals zuvor getroffen. Ihm wollte auch kein Grund einfallen, weswegen die beiden in irgendeiner Art und Weise etwas miteinander zu tun haben sollten. „Ich weiß es nicht genau“, antwortete sie unsicher. „Aber ich spüre, dass die beiden zusammengehören. Sie sind zwei Seiten derselben Münze.“ Kieran dachte das für einen kurzen Moment durch, dabei bemerkte er, dass sich der Kristall immer weiter auszubreiten begann. Dennoch kehrten seine Gedanken wieder zu den Kindern zurück. So wie Memoria es sagte, hörte es sich an als wären sie Zwillinge, was nicht möglich sein konnte. Oder – und das war noch unmöglicher – waren sie eigentlich dieselbe Person und sie waren nur menschlich, weil sie voneinander getrennt waren. Das würde bedeuten, sie könnten ungeahnte Kräfte entwickeln, wenn sie zusammen waren. Wer immer den beiden diesen Auftrag gegeben hatte, war nie davon ausgegangen, dass er die Kinder bekommen würde, denn eine Flucht war unter diesen Bedingungen nicht nur möglich, sondern auch unausweichlich. Aber was sollte dann hiermit bezweckt werden? „Du solltest nicht so viel nachdenken, sondern lieber fliehen“, sagte Memoria plötzlich und warf ihm etwas zu, das er automatisch auffing. Es war ein hexagonförmiger, grüner Kristall, der ein wenig kleiner als seine Handfläche war. „Um die Erinnerung aller anderen an die Kinder herzustellen, musst du diesen Kristall zerbrechen. Sie werden dann aber diesen Tag vergessen.“ Das ist vielleicht auch besser. Bis er wusste, wer oder was sie waren und welcher Art ihre Kraft war, befand er es für sicherer, wenn sie sich nicht wiedersahen und sich auch nicht aneinander erinnerten. Sobald er sicher war, dass sie keine Gefahr darstellten, konnte er sie jederzeit wieder miteinander bekanntmachen. „Danke...“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Jetzt lauf. Der Ausgang befindet sich...“ Die Erinnerung endete abrupt, als er glaubte, eine Hand auf seiner Stirn zu spüren. „Du solltest aufwachen“, sagte eine überaus bekannte Stimme, die er lange nicht mehr gehört hatte – aber zu seinem Bedauern wusste er auch, dass er sie lediglich in seinen Gedanken hören konnte. Dafür war das warme Gefühl, das sie umgab, vollkommen real, jedenfalls für ihn. „Mama...“ Doch statt ihm tröstende oder erklärende Worte zu geben, wiederholte sie nur ihre Aufforderung in anderen Worten: „Wach auf, bitte.“ Also öffnete er wirklich die Augen und stellte im selben Moment fest, dass er im Wasser lag. Bei genauerem Umsehen erkannte er, dass er sich in einem nicht sonderlich tiefen Gewässer befand, in dem es allerlei Felsen gab, an denen er hängengeblieben war. Memorias Worte, dass der von ihr genannte Ausgang zu einem unterirdischen Fluss führte, der einst von Schmugglern genutzt worden war, hatte sich als wahr erwiesen, die Strömung musste ihn an diese Stelle getrieben haben, nachdem er ohnmächtig geworden war. Er stellte sicher, dass die Armbrust unversehrt geblieben war, dann stand er auf und sah sich nach den anderen um, in der Hoffnung, dass sie an dieselbe Stelle und nicht noch weiter oder nicht so weit gespült worden waren. Zu seiner Erleichterung entdeckte er zuerst Narcis, der sich gerade leise darüber zu beklagen schien, dass er nass geworden war, in seiner Nähe und dann die beiden Jungen, die nicht weit voneinander entfernt im Wasser lagen. „Wie geht es den beiden?“, fragte Kieran, während er näherging. Narcis kam davon ab, seine Jacke auswringen zu wollen, was ohnehin wie ein hoffnungsloses Unterfangen schien und blickte zu den Jungen hinüber. „Sie sind kaum bei Bewusstsein, aber sie leben beide.“ „Ich nehme an, dass du keine Lust hattest, sie aus dem Wasser zu ziehen?“ „So in etwa.“ Narcis zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Einen der beiden wolltest du ohnehin mitnehmen. Ich kümmere mich dann nur um den anderen, das hier ist ohnehin schon mehr Stress als die ganze Sache wert ist.“ Kieran seufzte innerlich und kniete sich neben Landis, um diesen hochzuheben. Doch kaum hatte er sich ein wenig vorgebeugt, um die Arme unter den Körper des Jungen zu bugsieren, hörte er, wie dieser leise zu flüstern begann: „Was ist mit Frediano?“ Kieran warf einen Blick über seine Schulter und entdeckte, dass Narcis seine Zielperson auf die Arme hob. „Es wird ihm gutgehen“, versicherte er Landis. „Narcis bringt ihn nach Hause.“ „Aber er mag sein Zuhause nicht“, widersprach der Junge kraftlos. „Du musst... du musst...“ Was er seiner Meinung nach tun müsste, erfuhr Kieran nicht, denn bevor er den Satz beenden konnte, verlor Landis das Bewusstsein. Zumindest atmete er aber noch. Nachdem er ihn auf seine Arme genommen und sich wieder aufgerichtet hatte, warf er noch einen allerletzten Blick auf Narcis, der sich in eine andere Richtung entfernte. Anschließend hob er den Kopf ein wenig und erkannte auf einer entfernten Anhöhe tatsächlich das Lagerhaus, das nun von einer dicken Schicht aus Kristall eingeschlossen war, ein Ort an dem mit Sicherheit keinerlei Leben mehr existieren könnte, abgesehen vielleicht von Memoria selbst. Unwillkürlich fragte er sich, ob sie einsam war oder ob er nur glaubte, dass sie es sein müsste. Immerhin musste er sich nicht fragen, warum sie diesen Kristall erschaffen hatte, denn das wusste er genau, aber in diesem Moment war es unwichtig. Stattdessen setzte er sich in Bewegung, um zurück nach Cherrygrove zu kommen, bevor der nächste Morgen graute. Erst spät in der Nacht erreichten sie schließlich ihre Heimatstadt, Landis kam nicht mehr zu Bewusstsein während der Reise. Kieran machte sich allerdings keine Gedanken darum, sondern achtete lieber darauf, dass ihn keine der patrouillierenden Stadtwachen entdeckte. Er hätte nicht gewusst, wie er erklären sollte, dass er einen unbekannten, bewusstlosen Jungen durch die Stadt trug, mit dem Ziel, ihn so unauffällig wie möglich in Richards Haus zu bugsieren. Glücklicherweise konnte er sich dabei auf Teyra verlassen, die ihm sagte, wann immer keiner der Wachen auf den Wegen war, die er zu nehmen gedachte. So kam er schließlich zu Richards Haus, das wie üblich unverschlossen war, so dass er es einfach betreten konnte. Er wusste, dass es Astereas Nachlässigkeit war, der er das zu verdanken hatte, denn sie war stets die letzte, die nachts noch einmal hinausging, dafür extra die von Richard zuvor verschlossene Tür wieder aufschloss und sie, wenn sie wieder hineinging, einfach nur hinter sich zuzog. Richard wusste mit Sicherheit nichts davon, sonst hätte er das längst unterbunden. In dieser Nacht kam es ihm jedenfalls wie gerufen, denn so konnte er Landis ohne Probleme ins Wohnzimmer bringen und dort auf dem Sofa ablegen. Er wagte es nicht, hinaufzugehen, um ihn in sein Zimmer zu bringen, einer der beiden könnte immerhin einen leichten Schlaf haben und er wusste auch nicht, wie er den beiden erklären sollte, dass er einen unbekannten, bewusstlosen Jungen in ihrem Haus unterzubringen versuchte. Das Leben ist ganz schön kompliziert manchmal. Landis murmelte leise etwas, nachdem Kieran ihn abgelegt hatte, was ihm zumindest verriet, dass es dem Jungen gutging und er bald wieder aufwachen würde. Dann erst griff er in seine Tasche und zog den Kristall heraus, den Memoria ihm gegeben hatte. Das erste Mal nahm er sich Zeit, ihn genauer zu betrachten und stellte dabei erstaunt fest, dass in seinem Inneren zahlreiche Bilderfolgen abliefen, die offenbar die Erinnerungen verschiedener Leute an Landis darstellten. Und auf sehr vielen dieser Bilder erkannte er auch Nolan, sie waren unzertrennlich, so wie immer. Es war das einzig richtige, diesen Kristall zu zerbrechen, das wurde ihm nun mehr als noch zuvor bewusst. Es ging nicht nur darum, die beiden Jungen voneinander fernzuhalten, solange er nicht wusste, wer sie waren, er schuldete es auch Richard und Asterea, dass sie ihren Sohn zurückbekamen, er schuldete es Landis, dass seine Erinnerungen mit denen aller anderen übereinstimmte und er schuldete es Nolan, dass dieser seinen besten Freund nicht verlor, auch wenn Kieran ihm im Moment nicht so recht trauen konnte. Ohne weiter nachzudenken, schloss er die Hand zur Faust und zerdrückte den Kristall damit. Funken stoben zwischen seinen Fingern hervor und verloren sich alsbald irgendwo in der Dunkelheit. Als er die Hand wieder öffnete, war der Kristall restlos verschwunden und seine Arbeit getan, wie er hoffte. Falls nicht, dann würden Richard und Asterea sich am Morgen sehr über den unerwarteten Familienzuwachs wundern, aber darum wollte er sich nun keine Gedanken machen. Gut, dann gehe ich jetzt besser nach Hause... und schlafe ein wenig. Er seufzte erleichtert. „Auftrag erledigt.“ Dann fuhr er herum und ging, mit dem guten Gefühl, wieder einmal etwas geschafft zu haben, nach Hause, um in seinen gerechtfertigten Schlaf zu fallen, der hoffentlich erholsamer werden würde als jener in seinen sonstigen Nächten. Am nächsten Morgen fühlte er sich tatsächlich überraschend erholt, weswegen er um einiges beschwingter als sonst die Treppe hinunterlief. Er wollte erst seinen Tee trinken, falls er noch welchen finden würde, ehe er sich auf den Weg machte, um herauszufinden, ob alles wieder beim Alten war. Doch schon in der Küche stellte er fest, dass er gar nicht so weit würde gehen müssen. „Was tust du da?“ Nolan hielt inne, hob den Blick und sah ihn an. In seinen Händen hielt er immer noch die Dose, in der sie den Dipaloma-Tee aufbewahrten und der bereits reichlich knapp wurde. „Oh, ich wollte mir nur Tee kochen, weil ich einen so richtig seltsamen Traum hatte.“ Das war eine gute Gelegenheit, herauszufinden, wie es mit den Erinnerungen aussah, weswegen er nachhakte, was Nolan denn geträumt hatte. „Ich träumte, dass Landis verschwunden wäre und alle hatten ihn vergessen, sogar ich – nur du nicht. Und dann bist du losgezogen, um Landis zurückzuholen.“ „Klingt nach einem wirklich seltsamen Traum“, stimmte Kieran zu. „Aber jetzt bist du ja wach.“ Nolan nickte, aber noch ehe er etwas sagen konnte, wurde die Haustür aufgerissen und im nächsten Moment wirbelte Landis bereits herein. „Guten Morgen, No! Guten Morgen, Onkel Kieran!“ „Du bist aber lebhaft“, kommentierte Kieran, nachdem Nolan die Begrüßung erwidert hatte. „Also ich meine, noch lebhafter als sonst.“ Landis seufzte schwer. „Ja, Mama und Papa haben schon mit mir geschimpft, weil ich auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen habe... dabei erinnere ich mich nicht einmal, dort eingeschlafen zu sein.“ Er zuckte allerdings mit den Schultern, offenbar wollte er nicht weiter darüber nachdenken, genau wie Kieran ihn kannte, was ihn derart beruhigte, dass er sogar leicht lächeln konnte. „Willst du dann bei uns frühstücken?“ Die Worte entfuhren ihm schneller als er hatte darüber nachdenken können, aber als sie erst einmal draußen waren, konnte er sie nicht mehr zurücknehmen. Landis' Augen begannen regelrecht zu strahlen, als er das hörte. „Darf ich wirklich, ja? Dann aber klar doch!“ Um seine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, begann er auch sofort mit Nolan, das Frühstück vorzubereiten, während Kieran sich entspannt auf seinem Stuhl zurücklehnen konnte. Die beiden Jungen plapperten eine Weile unwichtige Dinge miteinander, die ihn nicht weiter interessierten, doch dann sagte Landis plötzlich etwas, das seine Aufmerksamkeit wieder auf sie lenkte: „Ich habe jetzt beschlossen, dass ich Kavallerist werden will!“ „Warum denn das?“, fragte Nolan irritiert über diesen plötzlichen Karrierewunsch. Landis neigte den Kopf von der einen auf die anderen Seite. „Ich weiß es nicht. Aber als ich heute morgen aufgewacht bin, wollte ich unbedingt Kavallerist werden. Bist du dabei?“ Nolan überlegte nicht lange, sondern zuckte mit den Schultern. „Klar, warum nicht?“ „Dann ist es beschlossene Sache“, triumphierte Landis. „Wir beide werden die besten Kavalleristen von Király und Helden!“ „Klingt gut“, meinte Nolan. Nach diesem kurzen Gespräch kehrten sie wieder zu ihrem altbekannten Geplapper zurück, so dass Kierans Aufmerksamkeit sich wieder anderen Dingen zuwandte. Wie es sein konnte, wusste er nicht, aber er war davon überzeugt, dass Landis' neuer Karrierewunsch mit den Ereignissen des Tags zuvor zusammenhing. Er hoffte nur, dass dies zu keinen Problemen führen würde, besonders bei der neuen Rolle, die er selbst Nolan zugedacht hatte. Aber es würde ohnehin noch eine Weile dauern, bis die Ausbildung der beiden in dieser Richtung beginnen könnte und bis dahin würde Kieran sich auch bereits Gedanken gemacht haben, wie er Nolan zu einem gutherzigen Lazarus, der die lange ersehnte Veränderung bringen würde, erziehen könnte. Irgendwie musste er das schaffen, selbst wenn er damit gegen seine eigenen Prinzipien verstoßen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)