Verlorene Erinnerung von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Prolog: Erinnerungen sind ein äußerst empfindliches Geflecht ------------------------------------------------------------ „Erinnerungen sind ein äußerst empfindliches Geflecht.“ Ihr tadelnder Tonfall, in Verbindung mit dem finsteren Blick, den sie ihm aus ihren violetten Augen zuwarf, ließ ihn schuldbewusst zusammenzucken und geradewegs kleiner werden zu lassen. Er gab einen entschuldigenden Laut von sich, während er sich durch das weinrote Haar fuhr, ehe er die schwarze Augenklappe richtete, die sein linkes Auge verdeckte. Das rechte war blau und richtete sich wieder auf den schlafenden Jungen, der zu seinen Füßen lag. Er zuckte im Schlaf, aber ansonsten schien er nicht aufwachen zu wollen – was aber auch daran lag, dass sie ihm zuvor jede Menge Schlafmittel verabreicht hatten, damit er endlich aufhörte, sich zu wehren. Unwillkürlich kratzte er sich am Arm, wo der Junge ihn zuvor derart heftig gebissen hatte, dass er nun sogar blutete. Ihm blieb nur zu hoffen, dass diese kleine Drecksgöre keine ansteckende Krankheit in sich trug. Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, glaubte er plötzlich, den Beginn einer bevorstehenden Krankheit spüren zu können, sein Hals kratzte bereits unangenehm. „Kannst du dich nicht trotzdem ein wenig beeilen?“, brummte er. „Kann uns doch egal sein, wenn du diesen Hinterwäldlern das Gehirn wegschmorst.“ Sie runzelte empört die Stirn, um zu zeigen, wie wenig sie von diesem respektlosen Verhalten hielt. „Das würde gar nicht gehen. Aber nur, um dir das nochmal zu erklären – weil ich das unheimlich gern tue...“ Er rollte mit dem Auge, aber sie ließ sich davon nicht stören, stattdessen fuhr sie sich mit ihren langgliedrigen Fingern durch das lange blonde Haar, ehe sie ihre Arme wieder ausgestreckt vor sich hielt. Vor ihren Handflächen erschien eine blau glühende Kugel, die aus reiner Energie bestand und sie in dieser dunklen Nacht, in der nicht einmal Sterne am Himmel zu sehen waren, geradezu unheimlich beleuchtete. „Erinnerungen sind ein empfindliches Geflecht. Ein klein wenig fehlgeleitete Konzentration genügt, um die Erinnerungen all dieser Leute komplett zu zerstören und das kann nicht in unserem Interesse sein. Erstens würde das viel zu viel Aufmerksamkeit auf das Geschehen ziehen und zweitens neigen Leute ohne jede Erinnerung dazu sehr rabiat zu werden, um diese wiederzuerhalten.“ Der Ton, in dem sie ihm das – zum wiederholten Male – erzählte, gefiel ihm nicht, aber er hatte früh gelernt, sich damit abzufinden und nichts dagegen zu sagen. „Deswegen ist es wichtig, nur das zu verändern, was wir nicht mehr haben wollen, in diesem Fall jegliche Erinnerungen, die mit diesem Jungen in Verbindung stehen.“ Sie war davon überzeugt, dass niemand nach ihm suchen würde, da keiner mehr von seiner Existenz wusste und dass das Verschwinden eines unwichtigen kleinen Jungen auch in den umliegenden Städten zu keinem größeren Aufruhr führen würde. Kinder verschwanden häufig und wenn keiner ihrer Verwandten sich auf die Suche nach ihnen begab, war es wohl ohnehin nicht weiter wichtig, herauszufinden, was ihnen zugestoßen war. Schließlich senkte sie die Arme wieder. „Alles erledigt, wir können gehen.“ „Wird aber auch Zeit“, brummte ihr Begleiter. „Zwei Kinder an einem Tag zu entführen, reicht ja wohl auch. Ich hoffe nur, dass sich unser Auftraggeber nicht zu viel Zeit dabei lässt, uns zu bezahlen, damit wir die Gören rasch wieder loswerden.“ Sie seufzte zustimmend und ging dann voraus, um zu ihrem Wagen zurückzukommen, mit dem sie sich durch das Land bewegten. Er schlug die hintere Plane zurück und beförderte den Jungen unsanft auf die Ladefläche, wo bereits ein anderer lag, sein silber-weißes Haar schien selbst in der Dunkelheit dieses Wagens regelrecht zu leuchten. Dieser Junge war ihm wesentlich sympathischer, immerhin hatte er nicht wie ein tollwütiger Hund nach ihm geschnappt. Schließlich löste er sich von dem Anblick der beiden Schlafenden und begab sich zu seiner Begleiterin, die bereits auf dem Kutschbock saß und mit den Zügeln in der Hand auf ihn wartete. Die Pferde schüttelten ihre Mähnen und schnaubten leise, ihnen war wohl auch eher nach einer gemütlichen Nacht in ihrem Stall, statt nach einem nächtlichen Ausflug ins Nirgendwo. Elegant schwang er sich ebenfalls auf den Kutschbock, dann nahm er ihr die Zügel aus der Hand. „Dann auf nach Hause, das haben wir uns verdient.“ Sie nickte zufrieden, lehnte sich zurück und war dann innerhalb kurzer Zeit eingeschlafen, während er weiterhin versuchte, sich wachzuhalten und zu hoffen, dass er die Kinder bald wieder loswerden würde. Kapitel 1: Verschwunden ----------------------- Schon direkt nach dem Aufstehen wusste Kieran, dass etwas seltsam und ganz und gar nicht in Ordnung war. Während er sich das schwarze, vom Schlaf zerzauste, Haar glattkämmte und auch während er sich mit seinen braunen Augen im Spiegel betrachtete und dabei feststellte, dass er wie üblich ungesund blass war, blieb das Gefühl, dass etwas einfach nicht stimmen konnte. Nur der Grund dafür blieb ihm verborgen, er schaffte es einfach nicht, dahinterzukommen, egal wie lange er überlegte. Deswegen versuchte er, gar nicht weiter darüber nachzudenken und begab sich lieber in die Küche hinunter, wo er damit begann, sich einen Kaffee zu kochen. Normalerweise trank er einen speziellen Tee, aber zu seinem großen Ärgernis stellte er fest, dass er keine der benötigten Blätter mehr besaß, obwohl er sich bei seinem letzten Besuch in Port Milfort vorgenommen hatte, sie neu zu kaufen, damit er nicht notgedrungen wieder auf Alkohol umsteigen musste. Er musste sie vergessen haben, weil Nolan ihn immer... Während er so darüber nachdachte, fiel ihm die auf seinen Ohren lastende Stille auf. Das war es, was ihm so seltsam vorgekommen war, es war viel zu still. Normalerweise herrschte im Haus immer Lärm, so viel, dass Kieran fast schon wahnsinnig wurde, weswegen er es vorzog, wenn Nolan draußen spielte, selbst wenn er dann dort Ärger machte, der bei ihm abgeladen wurde, in der sicheren Erwartung, dass er den Jungen bestrafen würde. Dabei war er darauf so gut wie nie auch nur im Mindesten erpicht, denn eine Bestrafung ging immer damit einher, dass er sich erst einmal überlegen musste, wie diese auszusehen hatte – und die effektivste Form war bislang Hausarrest gewesen, was allerdings eher eine Bestrafung für Kieran war. Um sicherzugehen, dass er sich nicht nur irrte, spitzte er die Ohren, aber es war immer noch kein Geräusch von Nolan oder gar Landis zu hören, was ihn ein wenig in Besorgnis versetzte. Also warf er einen Blick hinaus, während er darauf wartete, dass der Kaffee aufbrühte, aber auch draußen war kein Laut zu hören, die wenigen Menschen, die um diese Zeit schon unterwegs waren, grüßten sich bei Begegnungen freundlich, keiner wirkte irgendwie panisch oder verärgert, also ging er nicht davon aus, dass die beiden Jungen draußen Unsinn anstellten. Diese Erkenntnis erleichterte ihn zwar, aber diese Empfindung brachte auch ein flaues Gefühl mit sich, das in seinem Inneren rumorte und ihn nicht mehr verlassen wollte. Er vergaß den Kaffee für einen Moment und ging zurück nach oben, um in Nolans Zimmer nach dem Rechten zu sehen, nur um sicherzugehen. Seine Hand lag bereits auf der Türklinke, als er sich besann und beschloss, lieber erst einmal zu klopfen, nur für den Fall, dass doch jemand darin wäre – und zu seiner Überraschung konnte er tatsächlich Nolan hören, der ihn aufforderte, einzutreten. Das erleichterte ihn zumindest ein wenig, auch wenn sich das auf seinem Gesicht nicht zeigte, seine Mimik war wie üblich vollkommen neutral. Er öffnete die Tür und blickte in das Zimmer hinein, in Erwartung die gewohnte Unordnung und auch Landis vorzufinden, aber was er wirklich sah, ließ ihn überrascht eine Augenbraue heben. Normalerweise musste Kieran seinen Sohn mindestens einmal in der Woche grob dazu anhalten, dass er das Chaos in seinem Zimmer beseitigte, denn Nolan neigte dazu, Dinge aus dem Regal zu holen, dann das Interesse daran zu verlieren und sie an Ort und Stelle liegenzulassen. So stolperte man bei jedem Besuch über Bücher, Stofftiere, Kissen und manchmal sogar über den Teppich oder den Tisch, der an der vollkommen falschen Stelle stand, wenn Nolan wieder einmal überlegt hatte, alles umzuräumen und mittendrin die Lust daran verloren hatte. Aber an diesem Tag herrschte perfekte Ordnung im Zimmer. Der Boden war nicht nur frei begehbar, er war sogar frisch gewischt und der dunkelgrüne Teppich in der Mitte des Raumes war ließ jeglichen Staub vermissen, den man sonst von ihm kannte. Sämtliche Kleidung war aufgeräumt, der Schrank geschlossen, das Bücherregal nur mit vollständigen Reihen versehen – abgesehen von einer Lücke –, das Bett war gemacht und Nolan selbst saß auf einem Stuhl am Tisch, der vor dem Fenster stand, genau dort, wo er hingehörte. Auf der größtenteils leeren Platte, die von einer Laterne beleuchtet wurde, lag lediglich ein aufgeschlagenes Buch, das für die Lücke im Regal verantwortlich war, offenbar war Nolan gerade dabei, es zu lesen. „Was ist denn?“, fragte der Junge, als Kierans Schweigen anhielt. „Stimmt etwas nicht?“ „Ich war nur überrascht“, erwiderte er schließlich, als er sich endlich wieder gefangen hatte. „So aufgeräumt sehe ich dein Zimmer selten.“ Und schon gar nicht ohne jede Form von Ermahnung. Nolan zog skeptisch die Brauen zusammen, die so tiefschwarz wie sein Haar waren und er klang fast schon ein wenig empört, als er selbst wieder etwas erwiderte: „So ein Unsinn, mein Zimmer ist dauernd aufgeräumt.“ Kieran verzichtete darauf, dagegen anzusprechen, er spürte, dass es sich nicht nur um einen Scherz Nolans handelte, sondern dessen vollkommener Ernst war. „Ist Landis denn nicht bei dir?“ „Ich mache mir wirklich Sorgen um dich“, meinte Nolan plötzlich, nun nicht mehr empört, sondern ernsthaft besorgt, Unruhe flackerte in seinen grünen Augen. „Ich kenne keinen Landis.“ Das verwirrte Kieran nun vollends und es kam nicht sonderlich oft vor, dass er einmal ratlos war. Aber noch versuchte er, das Ganze irgendwie logisch anzugehen, solange es ihn noch interessierte. „Habt ihr euch gestritten?“ Vielleicht war Nolan nur beleidigt und tat so als ob er Landis nicht kennen würde, das kam zwar selten vor, aber manchmal eben doch und jedes Mal verhielt er sich dann so. Aber dieses Mal wohl nicht, denn Nolans Stirn zerfurchte sich nur noch mehr. „Wie soll ich mich mit jemandem streiten, den ich gar nicht kenne?“ Inzwischen war Kieran sich absolut sicher, dass es sich hierbei um kein Schauspiel handelte, so gut war Nolan nicht in diesem Bereich, außerdem war da immer noch dieses unbewusste Gefühl in seinem Inneren, das ihm sagte, dass etwas ganz und gar nicht so war wie noch vor dem Schlafengehen – und so wie es aussah, war Landis dieser Punkt an dem er dafür nachforschen musste. „Schon gut, tut mir Leid, dass ich dich gestört habe.“ Nolan nickte nur und wandte sich dann wieder seinem Buch zu, während Kieran die Tür schloss und ins Erdgeschoss zurückkehrte. In seinem Inneren begannen sich bereits die ersten Theorien zu entwickeln, aber keine davon wollte ihm gefallen, am Allerwenigsten jene, bei der Dämonen in diese Sache involviert waren. Nein, daran wollte er gar nicht denken. Vielmehr hoffte er geradezu, dass die Worte seines Vaters sich endlich erfüllten und er einfach nur wahnsinnig geworden war, Landis war möglicherweise einfach nur ein Produkt seines Wahnsinns gewesen oder seine Existenz lediglich der Traum der letzten Nacht. Aber irgendwie konnte er das nicht so recht glauben, da musste noch wesentlich mehr dahinterstecken. Sein Gefühl hatte ihn bislang noch nie betrogen – bis auf einmal vielleicht – und deswegen wollte er lieber auf dieses hören. Doch um herauszufinden, was geschehen war, musste er erst einmal herausfinden, wie die aktuelle Situation war. Auskundschaften und Informationen einholen waren früher ein wichtiger Teil seiner Arbeit gewesen, jedenfalls bis er unehrenhaft aus der Gilde entlassen worden war. Das einzig Gute daran, war die Tatsache gewesen, dass er seiner Familie und seinen Freunden nicht mehr hatte vorlügen müssen, dass er wieder einmal loszog, um irgendwelche Waren an irgendwen zu verschachern. Aber statt sich wieder einmal in diese düsteren Gedanken zu verstricken, beschloss er, den Kaffee erst einmal zu ignorieren und das Haus zu verlassen, damit er Richard aufsuchen könnte. Als Vater von Landis würde er hoffentlich mehr über ihn zu sagen wissen. Vielleicht löste sich so auch alles auf und Kieran musste erst gar nicht wieder losziehen oder sonst irgendetwas tun. Obwohl er die Aussicht, mal wieder auf eine Mission zu gehen, doch reichlich prickelnd fand, wie er zugeben musste. Den Gedanken, bei Richard zu klopfen, verwarf er sofort wieder, schon auf den ersten Blick konnte er sehen, dass niemand im Gebäude war, alle Fenster waren dunkel, was um diese doch reichlich trübe Tageszeit und besonders bei Richard äußerst ungewöhnlich war. Erst als er schon einige Schritte von seinem Haus entfernt war, fiel ihm wieder ein, dass es noch immer Winter war. Es hatte in diesem Winter zwar nicht geschneit, aber es war dennoch reichlich kühl gewesen und auch an diesem Morgen stellte er fest, dass es noch nicht wärmer geworden war. Er schlang die Arme um seinen Körper und zog den Kopf zwischen seine Schultern, in der Hoffnung, der Kälte so ein wenig entgehen zu können, aber er fror dennoch und wünschte sich, nicht so gedankenlos gewesen zu sein. Das ist alles Landis' Schuld. Selbst wenn er nicht da ist, macht er mir nur Ärger. Das aufkommende Grollen in seinem Inneren, ließ ihm ein wenig wärmer werden, aber dennoch war er erleichtert, als er endlich die Wachstation betrat, in der wie üblich ein wärmendes Feuer im Kamin brannte. Nicht nur, damit die Stadtwachen sich aufwärmen konnten, wenn sie von ihren Patrouillen zurückkehrten, sondern auch damit Bürger, die Hilfe bei der Stadtwache suchten und daher bereits besorgt oder traumatisiert genug waren, nicht zu allem Überfluss auch noch frieren mussten. Zu Kierans Erleichterung befand sich auch Richard hier, aber die Verwirrung übernahm sofort wieder die Oberhand. Nicht, dass er Richard nicht bereits beim Zeitung lesen gesehen hätte, aber normalerweise tat er das nie bei der Arbeit, sondern immer nur zu Hause, damit er weder von Asterea, noch von Landis gestört wurde. Dass er es ausnahmsweise eben doch tat, bestärkte Kieran nur erneut in seinem unguten Gefühl. Richard hielt inne, als er bemerkte, dass er nicht mehr allein war, nahm sich aber dennoch die Zeit, die Zeitung erst einmal fein säuberlich zusammenzufalten, ehe er sie beiseite legte und Kieran dann auffordernd anblickte. Bei dieser fließenden Bewegung wirkte er nicht nur überraschend ruhig, sondern auch recht... professionell, wie Kieran fand. Es sah tatsächlich so aus als würde er das häufiger tun. Wenn er genauer darüber nachdachte und Richards braunes, fast schon zahmes Haar und die gleichfarbigen Augen betrachtete, die ein wenig desinteressiert blickten, sah er eigentlich mehr nach einem Beamten als einer Stadtwache aus. „Was gibt es so früh am Morgen?“, wollte er wissen. „Ich wollte fragen, ob irgendetwas mit Landis ist“, sagte Kieran, doch die Reaktion seines Freundes verriet ihm sofort, dass er auch hier nicht mit einer positiven Resonanz rechnen durfte. Richard runzelte skeptisch die Stirn. „Mit wem?“ Am Liebsten hätte er laut geseufzt, aber er beließ es bei einem kurzen Schlucken, gefolgt von einer Erklärung: „Landis, der Sohn von Asterea und dir.“ Richard stieß ein amüsiertes Lachen aus. „Ja, klar, als ob. Du solltest vielleicht mit dem Trinken aufhören, mein Bester. Wir haben keine Kinder und oh, ich bin froh darum. Bei einer Frau wie Asterea wäre das Kind wohl reichlich verrückt.“ Er lachte noch einmal, um zu zeigen, dass er es nicht ernst meinte, zumindest schien sich an seinen Gefühlen für seine Frau nichts geändert zu haben, das beruhigte Kieran immerhin wieder ein wenig. „Oh, verstehe. Vielleicht habe ich wirklich nur lebhaft geträumt. Verzeih mir die Störung.“ Statt einer Verabschiedung oder einem weiteren Kommentar zu dieser ganzen Sachlage, griff Richard demonstrativ nach seiner Zeitung, um zu zeigen, dass das Gespräch für ihn beendet war. Aber Kieran wusste genau, dass Richard sich das genau merken und bei passender Gelegenheit wieder zur Sprache bringen würde, es war wohl besser, wenn er sich bis dahin eine Ausrede einfallen ließ – oder er herausfand, was eigentlich vor sich ging. Er wandte sich ab, um wieder hinauszugehen, als Richard doch noch etwas sagte: „Heute scheint die ganze Welt verrückt zu sein. Asterea deckt den Frühstückstisch für drei, ich ärgere mich darüber, dass wir nur zu zweit essen, obwohl wir das immer tun und dann kommst du daher und sagst so etwas.“ Sein Schnauben verriet, dass er nicht weiter darüber sprechen wollte, deswegen ließ Kieran ihn allein und legte nun doch den Weg zu Richards Haus ein, in der Hoffnung, dass Asterea ihm weiterhelfen könnte, irgendwie jedenfalls. Zwar war in seinem Inneren bereits ein grundlegender Verdacht da, was geschehen war – nicht zuletzt durch Richards letzten Satz – aber vielleicht konnte Asterea ihm noch ein paar andere Informationen eröffnen. Beim Haus angekommen, klopfte er und folgte dann der Aufforderung, einzutreten, da die Tür offen war. Er fand Asterea in der Küche, wo sie gerade mit dem Abwasch beschäftigt war. Auf dem Tisch stand lediglich noch ein unbenutzter Teller, das dritte Gedeck, das Richard erwähnt hatte. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, aber ihre blauen Augen verfinsterten sich sofort, als sie ihn erkannte. „Oh, du bist es, Kieran.“ „Wen hast du denn erwartet?“ In Gedanken versunken hob sie die Hand und fuhr sich damit durch das lange blonde Haar, worauf Seifenreste darin zurückblieben, aber das kümmerte sie nicht weiter. „Ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht... also nicht wirklich.“ „Dann sagt dir der Name Landis auch nichts?“ Sie zuckte zusammen, aber im nächsten Moment schüttelte sie mit dem Kopf. „Habe ich noch nie gehört. Also... jedenfalls nicht bewusst, denke ich.“ Während sie ihre Stirn in Ratlosigkeit zerfurchte, wuchs Kierans Verdacht in seinem Inneren, der sich inzwischen sogar auf etwas Spezielles konzentrierte. Astereas folgende Worte bestätigten ihn nur noch darin: „Ich habe schon überlegt, ob vielleicht ein Dämon oder Magier oder Naturgeist damit zu tun hat, aber leider habe ich auch vergessen, ob ich irgendwas mit denen zu tun hatte.“ „Mach dir keine Gedanken darum“, riet er ihr. „Das wird alles schon wieder.“ Wirklich überzeugt wirkte sie davon nicht, aber es war der einzige Ratschlag, den er ihr geben konnte, während er innerlich bereits wusste, dass ihm nun nach so vielen Jahren endlich wieder eine Mission bevorstand – eine illegale zwar, da er vor langer Zeit aus dem Dienst entlassen worden war, aber hier handelte es sich um eine persönliche Sache, da konnte er darauf keine Rücksicht nehmen. Immerhin ging es um den Sohn seines besten Freundes – und dessen Frau, die er auch recht sympathisch fand, da war es ihm nicht möglich, sich abzuwenden und so zu tun als wüsste er nichts von dieser ganzen Sache. So verabschiedete er sich von Asterea, die immer noch Seifenreste im Haar hatte und machte sich eilig wieder auf den Weg nach Hause, um seine Vorbereitungen zu treffen. Dort blieb er allerdings erst einmal irritiert stehen, als er Nolan in der Küche entdeckte, wo er gerade dabei war, Gemüse zu schneiden. „Was machst du da?“, fragte Kieran perplex. Nolan hob den Kopf, wieder einmal mit zusammengezogenen Brauen, die verrieten, dass er sich langsam ernsthaft Gedanken um Kierans Geisteszustand machte. „Ich bereite schon mal das Mittagessen vor. Ich bin nicht sehr gut im Schneiden, also muss ich früh anfangen.“ In diesem Moment wurde ihm noch ein Grund bewusst, weswegen er Landis unbedingt retten musste. Sicher, es war nett, wenn Nolan sich auch mal um den Haushalt bemühte und er keinen Unsinn anstellte, weil es wohl offenbar niemand gab, mit dem er sich gegenseitig hochschaukeln konnte, bis er irgendwann einen Zenit erreichte, auf dem er sich den Unmut aller Bewohner zuzog. Aber gleichzeitig war es auch einfach... unheimlich. Er glaubte nicht, dass er sich jemals an diese Umstände gewöhnen konnte, er war Veränderungen ohnehin schon abgeneigt, aber wenn sie zu solch unheimlichen Ergebnissen führten, verabscheute er sie regelrecht. So wandte er sich wortlos ab und ging nach oben, hinter sich hörte er, wie Nolan mit dem Schneiden fortfuhr, vermutlich in der Überzeugung, dass es besser war, nicht zu viel nachzuhaken. Kieran stürmte geradezu in sein Zimmer und riss den Schrank auf, den er normalerweise sorgsam unter Verschluss hielt. Darin befand sich keine Kleidung – abgesehen von einem schwarzen Umhang und einem Hut mit leicht herabhängender Krempe – sondern eine Ansammlung von verschiedenen Waffen, Taschen und Büchern, die niemand außer ihm sehen sollte, zumindest nicht, solange Nolan noch so jung war. Er würde dem Jungen nur ungern einer Kindheit wie seiner eigenen aussetzen oder dem traumatischen Schauspiel, das mit dem Tod seines eigenen Vaters geendet hatte. Doch für diese Erinnerung hatte er nun keine Zeit, stattdessen griff er sich zielsicher eines der Bücher, schlug es auf und blätterte so lange darin herum, bis er die gewünschte Seite gefunden hatte. Memoria, allein der Name verriet ihm bereits, dass es sich hierbei um jemanden handelte, der mit den Erinnerungen von Menschen spielte und in der Lage war, sie nach eigenem Denken zu beeinflussen, was durch den Text darunter bestätigt wurde. Offenbar war es dieser Frau, laut Informationen der Gilde, sogar möglich, die Erinnerungen vieler Menschen auf einmal zu beeinflussen. Allerdings war sie bislang nicht sonderlich hoch in der Prioritätsliste gewesen, weil sie als ungefährlich eingestuft wurde, deswegen nahm er nicht an, dass sie nach seiner Entlassung irgendwann gefasst oder getötet worden war und alles sprach dafür, dass sie für das hier verantwortlich war. Auch dass sein eigenes Gedächtnis unangetastet geblieben war, entsprach diesem Muster, denn seine Art konnte von derlei Magie nicht berührt werden, deswegen schlossen sie sich in Gilden zusammen, um die normalen Menschen vor diesen Wesen zu beschützen. Selbst wenn sie doch hierfür nicht verantwortlich sein sollte, war sie die beste Anlaufstelle für den Anfang und vielleicht trat der unwahrscheinliche Fall ein, dass sie ihm zumindest weiterhelfen konnte, wenn das alles schon nicht von ihr verursacht worden war, es genügte ihm auch vollauf, wenn sie nur die Erinnerungen der anderen wiederherstellen könnte. Er stellte das Buch zurück und ließ seinen Blick dann über die Waffe schweifen, die er so lange nicht mehr zum Kämpfen benutzt hatte. In der letzten Zeit hatte er sie nur herausgeholt, um sie zu säubern, damit sie keinen Rost ansetzten. Damit musste er allerdings immer warten, bis Nolan eingeschlafen war, damit dieser davon nichts mitbekam, kein Wunder, dass er so blass war. Seine Hand strich über das Breitschwert, über die Wurfmesser und auch über das Dreifach-Chakram, aber zum Liegen kam sie erst auf seiner Armbrust, die schon immer die Waffe seiner Wahl gewesen war. Sie verfügte über eine ansehnliche Wucht, war dennoch überraschend leicht und schnell nachzuladen und sie verfügte über noch einen Kniff, der ihm schon so manches Mal den Kopf gerettet hatte. Deswegen musste er gar nicht weiter darüber nachdenken, er nahm die Armbrust heraus und stellte sie erst einmal ab, damit er sich eine der Leinentaschen umhängen konnte, ehe er sich auch den Umhang überwarf. Die Armbrust nahm er erst wieder an sich, nachdem er den Schrank geschlossen hatte, dann ging er wieder hinunter, wo Nolan immer noch mit der Zubereitung des Essens beschäftigt war. Er blickte seinen Vater verwundert an, da er ihn schon seit Jahren nicht mehr in dieser Aufmachung gesehen hatte. „Was hast du vor?“ Kieran schulterte die Armbrust, um möglichst heldenhaft auszusehen, als er antwortete: „Ich werde jetzt dafür sorgen, dass dieses unheimliche Verhalten hier endet. Es wird Zeit, dass du wieder normal wirst.“ Damit verließ er das Haus, während Nolan ihm einen besorgten Blick hinterherwarf, da er absolut nicht verstanden hatte, was eigentlich mit ihm los war. Kieran dagegen schritt mit sich selbst zufrieden durch Cherrygrove, um seine Mission zu beginnen und freute sich dabei über die nostalgischen Gefühle, die in seinem Inneren wach wurden, ungeachtet der Tatsache, dass er schon seit Jahren nicht mehr unterwegs gewesen war und sich deswegen gar nicht sicher sein konnte, ob er überhaupt noch wusste, wie man kämpfte. Aber zumindest in diesem aufregenden Moment kümmerte er sich nicht darum, als er schließlich Cherrygrove hinter sich ließ, um sich auf die Suche nach Landis zu begeben und mit diesem die Normalität wieder in den Ort zu bringen. Dabei kam ihm nicht einmal im Mindesten der Gedanke, dass seine Hilfe möglicherweise gar nicht gebraucht werden würde und er sich vollkommen umsonst auf den Weg machte. Kapitel 2: Wenn der Entführte nicht stillhält... ------------------------------------------------ Während er sich noch im Halbschlaf befand, war das Gefühl nur schwer nachvollziehbar. Es war jedenfalls anders, als wenn er zu Hause in seinem Bett lag. Außerdem erinnerte er sich entfernt daran, dass irgendetwas geschehen war, etwas ganz Schlimmes – er wusste nur nicht mehr, was. Da war dieses Geräusch gewesen, dem er hatte nachgehen wollen, deswegen war er aufgestanden und kaum hatte er die Haustür hinter sich gelassen, war er von jemandem ergriffen worden und dann... Er riss die Augen auf, während er gleichzeitig aufzuspringen versuchte und dabei um sich schlug – doch schon im nächsten Moment rebellierte sein Magen heftig gegen diese abrupten Bewegung. Er ging wieder in die Knie und würgte trocken, übergab sich zu seiner Erleichterung jedoch nicht. Dennoch wartete er eine Weile, bis sein Körper sich wieder beruhigt hatte, ehe er aufstand. In dieser Zeit erinnerte er sich wieder daran, dass er mit jemandem gekämpft und diesen sogar gebissen hatte, dann war er allerdings betäubt worden, was seinen unruhigen Magen erklärte. Aber was sich seinem Verständnis entzog, war der Grund, warum er eigentlich entführt worden war. Jedenfalls musste er entführt worden sein, denn er kannte diesen Ort nicht, wie er durch das einfallende Sonnenlicht auf den ersten Blick bemerkte. Was könnten diese Leute nur von mir wollen? Sie besaßen kein Geld, seine Eltern hielten keinen hohen Posten, es gab keinerlei Gründe, weswegen man ihn entführen sollte. Er überlegte, ob er möglicherweise mit jemandem verwechselt worden war, aber es gab in Cherrygrove niemanden, bei dem sich eine Entführung lohnen würde, außer vielleicht Oriana. Aber man konnte ihn wohl kaum mit einem schwarzhaarigen Mädchen verwechseln und deswegen aus Versehen mitnehmen, allein sein braunes Haar sprach schon dagegen, außerdem war er größer als sie und seine Stimme auch tiefer, obwohl er noch so jung war, wenn die Entführer also nicht völlig auf den Kopf gefallen waren, dürfte ihnen das aufgefallen sein. Aber das führte ihn nur wieder dazu, dass es keine Begründung gab, warum man ausgerechnet ihn- „Es sei denn...“ Er holte erschrocken Luft. „Vielleicht wollen die mich verkaufen, an Kinderhändler! Dann wird Onkel Kieran am Ende doch recht behalten!“ Dieser hatte ihm bereits oft gesagt, dass er eines Tages unter Garantie einmal von einem Kinderhändler geschnappt und dann im Kuriositäten-Kabinett irgendeines Jahrmarkts landen würde, damit er dort den Leuten vorhersagen würde, wann sie sterben. Auf diesen Rat hin hatte er doch aufgehört, dauernd darüber zu sprechen, selbst Nolan gegenüber. Vielleicht war es aber nun doch jemandem zu Ohren gekommen und er würde nie wieder zurück nach Hause kommen! Beinahe hätte er zu weinen begonnen, als ihn diese Erkenntnis traf, aber dann fuhr er sich hastig mit dem Arm über die tränenden Augen und besann sich darauf, dass er ein Held in Ausbildung war und als solcher durfte er nicht weinen. Er müsste sich einfach selbst befreien, bevor er verkauft werden konnte, auch wenn er nicht daran zweifelte, dass Richard bereits zu seiner Rettung unterwegs war. Aber warum sollte er seinem Vater die ganze Arbeit überlassen? Also ist es beschlossen, ich breche aus! Das ließ ihn schon wieder wesentlich zuversichtlicher werden. Nachdem sein Magen sich wieder beruhigt hatte, begann er, sich im Raum umzusehen. Die Wände waren aus bröckeligem Lehm, der aber fest genug schien, dass er diesen nicht einfach beiseite schaffen könnte. Auch wenn ihm das ohnehin nicht viel gebracht hätte, denn ausgehend von der hohen Platzierung der Fenster, nahm er an, dass er sich in einem Keller befand. Außerdem standen überall Kisten, die ihm verrieten, dass es sich hierbei eher um einen Vorratsraum handelte als um ein richtiges Zimmer. Er nutzte diesen Umstand, um über diesen Kisten nach oben zu klettern, aber die Fenster waren nicht nur vergittert, sondern auch noch viel zu klein, nicht einmal mit viel gutem Willen könnte er es schaffen, sich dort durchzuzwängen. Aber immerhin bestätigte das seinen Verdacht, dass er sich im Keller befand, denn die Fenster waren ebenerdig. So weit er blicken konnte, entdeckte er eine Prärie vertrockneten Grases, die er nicht im Mindesten kannte. Also konnte es nicht in der Nähe von Cherrygrove sein, dort gab es nur saftige Weiden mit dunkelgrünem Gras, das an windigen Tagen derart rauschte, dass man glaubte, sich am Meer zu befinden. Enttäuscht kletterte er wieder hinunter, doch mehr gab es nicht mehr zu sehen, daher wandte er sich der Tür zu, die aus einfachem Holz gefertigt war. Aufbrechen könnte er diese nicht, da sie doch ein wenig zu massiv war – aber sein Blick fiel auf das Schloss, das wieder etwas ganz anderes sprach. Es war aus handelsüblichem Stahl geschmiedet, eine eher billige Anfertigung, die nicht den bestmöglichen Schutz bot und wohl eher der Abschreckung gegenüber Anfängern dienen sollte. Zum Pech des Schlosses hielt Landis sich allerdings für einen Fortgeschrittenen, weswegen er sich nicht abschrecken ließ. Stattdessen griff er in seine Hosentasche, wo er stets einen kleinen Dietrich mit sich herumtrug, den er einmal von Aydeen, Nolans Mutter, vor deren Tod bekommen hatte. Er erinnerte sich nicht mehr, warum sie ihm das Werkzeug gegeben hatte, aber er trug es immer bei sich, um sich aus Situationen wie dieser zu befreien. Auch wenn dies das erste Mal war, dass er es wirklich benötigte. Genau wie er erwartet hatte, gab das Schloss nach nur wenigen Sekunden nach, so dass er in den Gang hinaustreten konnte. Er erstreckte sich zu beiden Seiten, so dass er einen Moment überlegen musste, in welche Richtung er sich bewegen sollte. Ein leises Schluchzen brachte ihn schließlich dazu, sich nach links zu wenden, wo er vor einer weiteren Tür innehielt. Die Geräusche kamen aus dem Raum dahinter, er war wohl nicht der einzige, der entführt worden war. Wollen die etwa einen ganzen Jahrmarkt aufmachen? Wäre jemand bei ihm gewesen, hätte dieser ihm mit Sicherheit geraten, einfach weiterzugehen und dieses Geräusch zu ignorieren, damit er sich selbst retten könnte, aber da er allein war, gab es außer ihm nur sein Pflichtbewusstsein als Held in Ausbildung, das ihm riet, der Person in diesem Raum zu helfen. Also machte er sich auch an diesem Schloss zu schaffen, bis es nachgab, dann steckte er den Dietrich wieder ein und öffnete die Tür. Das Schluchzen war verstummt und auf den ersten Blick war niemand zu sehen, weswegen er neugierig weiter in den Raum hineinging. Als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm, wich er instinktiv zur Seite aus und ging dann direkt in Abwehrhaltung. Die Eisenstange fuhr herab, zerschnitt die Luft und schlug mit einem überraschend lauten Knall auf dem Boden auf. Landis' Blick wanderte von der Stange zu dem Jungen, der diese hielt und ihn nun schockiert und gleichzeitig doch irgendwie erleichtert ansah. „T-tut mir Leid!“, rief er hastig. „Ich wusste nicht, dass du... Du bist keiner der Entführer, oder?“ Landis schüttelte mit dem Kopf, sagte aber erst einmal nichts, da er das Haar des anderen anstarrte. Es war schneeweiß, was er noch nie zuvor gesehen hatte – jedenfalls nicht bei einem Jungen, der gar nicht so viel älter als er zu sein schien – weswegen er es am Liebsten angefasst hätte, um herauszufinden, ob es wohl auch genauso kalt wie Schnee war. Aber der ängstliche, verunsicherte Blick aus den eisblauen Augen des anderen, hielt ihn davon ab. Das half ihm allerdings auch, sich wieder zu besinnen. Er legte eine Hand auf sein Herz. „Mein Name ist Landis und deiner?“ Der andere hob die Schultern ein wenig, so als wäre ihm das unangenehm, dann antwortete er aber dennoch, wenn auch zögernd: „Frediano Caulfield...“ „Ah, Fredi also.“ „Fredi?“, fragte Frediano ratlos, aber Landis ging nicht weiter darauf ein, sondern machte eine ausholende Handbewegung. „Weswegen bist du hier, weißt du das vielleicht?“ Im ersten Moment schien er ein wenig enttäuscht, vermutlich weil er jede Reaktion auf etwas missen ließ, aber dann entspannte er sich zusehends. „Mein Vater ist Kommandant der Kavallerie von Király. Ich nehme an, dass es hier um Lösegeld geht.“ „Ah, dann wollen sie dich nicht auf dem Jahrmarkt verkaufen?“ Frediano hob ratlos und sogar ein wenig überfordert die Brauen, den Gesichtsausdruck kannte Landis nur allzugut von Kenton, wenn er wieder einmal gemeinsam mit Nolan bei diesem gewesen war. „Was meinst du damit?“, fragte Frediano. „Na ja, mein Vater ist nur eine einfache Stadtwache und meine Mutter eine Hausfrau, die nicht kochen kann. Ich glaube kaum, dass ich wegen Lösegeld entführt wurde, die wollen mich eher an einen Jahrmarkt verkaufen.“ Frediano riss entsetzt die Augen auf. „Wie kommst du denn auf so etwas?“ „Na ja, Onkel Kieran hat das gesagt, weil-“ Im letzten Moment stoppte er sich selbst, diese Erklärung ging niemanden etwas an, daher schüttelte er mit dem Kopf. „Vergiss es besser. Ich bin auf dem Weg nach Hause, soll ich dich vielleicht mitnehmen?“ Er sagte das so beiläufig als wären sie sich nicht im Keller eines Gebäudes begegnet, in dem sie als Entführte gebracht worden waren, sondern am Rand eines Feldwegs, der sie ohnehin nach Hause bringen würde, wenn sie diesem nur folgten. Doch zu Landis' Überraschung stimmte Frediano nicht direkt freudig zu, stattdessen wirkte er plötzlich ein wenig nachdenklich, fast schon zaghaft. „Ich weiß nicht...“ „Was denn? Vertraust du mir nicht?“ Dass es durchaus angebracht wäre, einem Fremden, selbst wenn er ein Kind sein mochte, nicht zu vertrauen, darauf kam Landis in diesem Moment nicht, aber das war auch nicht nötig, denn Frediano schüttelte bereits mit dem Kopf. „Nein, das ist es nicht. Ich weiß nur nicht, ob ich überhaupt nach Hause will. Meine Eltern sind vermutlich viel glücklicher, dass ich nicht mehr da bin.“ Sein Gesicht verfinsterte sich bei diesem Gedanken, aber Landis packte ihn sofort bei den Schultern. „Red doch nicht so einen Unsinn! Deine Eltern vermissen dich bestimmt schon! Eltern lieben immerhin ihre Kinder!“ Dabei verschwieg er lieber, dass er jahrelang von Astereas Hass auf ihn selbst überzeugt gewesen war, immerhin hatte es sich in der Zeit nach Aydeens Tod merklich verbessert. Deswegen konnte er nicht glauben, dass Fredianos Eltern wirklich glücklich über dessen Entführung sein würden. Der andere schien allerdings nicht so überzeugt davon zu sein. Im ersten Moment war er über Landis' Reaktion erschrocken gewesen, aber nun wandte er wieder traurig den Blick ab. „Selbst wenn...“ Das frustrierte Landis ein wenig, der es ohnehin schon nicht sonderlich gewohnt war, derartig viele Zurückweisungen zu erhalten. Aber er könnte Frediano auch nicht einfach hier zurücklassen, da kam ihm glücklicherweise eine andere Idee: „Okay, dann gehst du eben nicht nach Hause. Du kannst mit zu mir kommen! Hauptsache, du bleibst nicht hier!“ „Aber ich kann doch nicht-“ „Natürlich kannst du!“, schnitt Landis ihm das Wort ab und ergriff eines seiner Handgelenke. „Also komm, wir gehen jetzt.“ Ohne jede Rücksichtnahme zog er Frediano hinter sich her, hielt nicht einmal inne, als dieser zuerst stolperte und dann in seinen Schritt einfiel, so dass sie nebeneinander herlaufen konnten, erst dann ließ Landis ihn wieder los und lächelte ihm aufmunternd zu. „Schon viel besser.“ Frediano erwiderte das Lächeln nicht, stattdessen wirkte er ein wenig verunsichert. Wenn Landis sich richtig erinnerte, war er Kommandantensohn, das brachte ihn gedanklich auf Oriana, die Tochter der obersten Stadtwache in Cherrygrove, früher hatte sie nie Freunde gehabt, trotz – oder gerade wegen – ihrem Geld und Status, war sie von allen nur belächelt und als arrogant eingestuft worden. Es würde ihn nicht verwundern, wenn es bei Frediano dasselbe gewesen wäre. „Erzähl mir doch was von dir“, forderte Landis auf. Nicht nur, weil er an seinem neuen Freund interessiert war, es ging ihm auch darum, die Langeweile zu überbrücken, denn offensichtlich war der Kellergang doch um einiges weitläufiger als er gedacht hätte und während er nach dem Ausgang suchte, änderte sich auch nichts an der langweiligen Umgebung, so dass er dringend etwas gebrauchen konnte, was ihn ablenkte. Frediano neigte den Kopf ein wenig, offenbar verwunderte ihn dieses Interesse. „Also... ich bin der Sohn des Kommandanten der Kavallerie und... na ja, viel gibt es da eigentlich nicht.“ Da er nicht so recht zu wissen schien, was er erzählen sollte, beschloss Landis, ihm mit einer Frage nachzuhelfen: „Mit wem hast du den ganzen Tag verbracht, wenn du denkst, dass deine Eltern dich nicht mögen?“ „Mit meinem Kindermädchen...“ Von so etwas hörte Landis das erste Mal, weswegen er sich nicht sicher war, was das bedeutete. Dunkel konnte er sich zwar daran erinnern, dieses Wort schon einmal gehört zu haben, aber im Moment wusste er nicht, wo er es einordnen sollte. „Was ist das?“ Diese Frage schien Frediano zu amüsieren, denn zum ersten Mal seit sie sich gesehen hatten, lächelte er plötzlich. „Ein Kindermädchen ist eine Frau, die sich um Kinder kümmert und dafür bezahlt wird. Der Name impliziert zwar, dass es sich um Mädchen handelt, aber eigentlich sind es erwachsene Frauen.“ Impliziert? „Du würdest gut zu Ken passen, der benutzt auch immer so schwere Wörter.“ „Wer ist Ken?“ Landis kehrte sofort in sein Element zurück und erzählte ihm von Kenton, dem intelligentesten Jungen in Cherrygrove, der in seinem Leben bereits viermal so viele Bücher gelesen hatte wie jeder andere, den er kannte und der schon in jungen Jahren ehrgeizige Pläne schmiedete, um die Landis ihn insgeheim beneidete. Ein sehnsuchtsvolles Glitzern trat in Fredianos Augen, als er diese Erzählung hörte. „Du hast bestimmt viele Freunde, oder?“ „Sicher~. No, Ken, Ria, Deror und der ganze Rest von Cherrygrove.“ „Du Glücklicher“, seufzte Frediano. „Ich habe keinen einzigen.“ „Vielleicht bist du einfach ein wenig zu unsicher“, bemerkte Landis. „Von Kindern wie dir erwartet man ein wenig Arroganz, also solltest du diese auch zur Schau tragen. Nicht viel, wirklich nur ein wenig. Ich weiß, arrogant sein ist nicht sonderlich toll, aber Tante Yu sagt immer, dass die Menge das Gift macht und es in Maßen sogar ein Heilmittel sein kann... ich denke, das lässt sich auch darauf anwenden.“ Frediano fragte nicht, wer das sein sollte, aber offenbar dachte er tatsächlich über diese Möglichkeit nach. Allerdings blieb ihm keine Zeit, seine möglichen Erkenntnisse mit Landis zu teilen, denn dieser entdeckte schließlich eine Treppe, die zu einer Tür hinaufführte. Aufgeregt strebte er dieser entgegen und stellte zufrieden fest, dass die Tür nicht verschlossen war. Er öffnete sie vorsichtig und warf einen Blick in den Raum dahinter. Es war niemand zu sehen, weswegen er Frediano ein Zeichen gab, ihm zu folgen, als er hineinging. Es war ein weiterer Lagerraum, aber in diesem wurden keine Kisten aufbewahrt, sondern eher der Inhalt aus diesen. Auf den ersten Blick erkannte Landis mehrere Weinflaschen, so wie zahlreiche Portionen von Teeblättern, deren Geruch ihm verrieten, dass es sich hierbei um dieselbe Sorte handelte wie jene, die Kieran immer trank. Frediano runzelte die Stirn, als er das alles betrachtete. „Womit handeln die hier?“ „Wenn wir sie sehen, können wir sie fragen“, erwiderte Landis, den das alles gar nicht weiter zu interessieren schien. Stattdessen widmete er sich lieber der nächsten Tür, die ihn, wie er hoffte, endlich ins Freie bringen würde. Doch noch bevor er überhaupt die Gelegenheit bekam, bemerkte er, dass jemand anderes auf der anderen Seite die Klinke hinabdrückte. Sofort hielt er inne und starrte schockiert darauf. Frediano tat das ebenfalls, jegliche Farbe hatte sein Gesicht verlassen. „W-was jetzt?“ Landis besann sich zum wiederholten Male auf seinen Status und stellte sich schützend vor Frediano. „Keine Sorge, uns wird nichts passieren.“ Tatsächlich sagte der andere nichts mehr und wartete genau wie Landis darauf, dass sich die Tür öffnete und sie endlich herausfanden, wer da hereinkommen wollte. Kapitel 3: Blutige Spuren ------------------------- Die Worte klangen ihm immer noch in den Ohren, selbst nach der tagelangen Fahrt über den Ozean, er schaffte es einfach nicht, sie zu vergessen: „In zwei Wochen werden zwei Kinder entführt werden. Ich will, dass du sie rettest und zu ihren Eltern zurückbringst.“ Er merkte sich seine Aufträge immer gut, aber dieser war sehr ausgefallen gewesen, weswegen er ihm absolut nicht mehr aus dem Sinn ging. Normalerweise war es nicht seine Aufgabe, jemanden zu retten und dann zurückzubringen, in seinem Beruf war es nötig, zu morden – oder selbst Kinder zu entführen, denn irgendwie musste man den Nachwuchs für die eigene Zunft sichern. Dass seine Mentorin nun verlangte, sie zu retten und zurückzubringen, das verstand er nicht, aber er hinterfragte auch nicht und hatte sich stattdessen auf den Weg gemacht, um den Auftrag auszuführen. Nun war er in Király – und reichlich überfragt, was er tun sollte. Es war das erste Mal, dass er außerhalb von Pelegrina arbeiten sollte und während er dieses wie seine eigene Westentasche kannte, war ihm Király absolut fremd, aber er war relativ stolz auf sich, es immerhin bis nach New Kinging geschafft zu haben. Die Stadt war perfekt, nicht so ruhig wie dieses langweilige Jenkan, aber auch nicht so aufregend wie Pelegrinas Hauptstadt Kingwillow, so dass er sich genau in der richtigen Atmosphäre befand, um seine Gedanken zu sammeln. Er erinnerte sich an den Zettel, den er von seiner Mentorin bekommen hatte und holte diesen heraus, um sich zu orientieren. Woher sie all diese Angaben über ein zukünftiges Ereignis bekommen hatte, war ihm schleierhaft, aber er kannte sie lange genug, um zu wissen, dass sie es vollkommen ernst meinte und alles, was sie sagte der Wahrheit entsprach – woher auch immer sie ihre Informationen bekam. Bislang waren sie jedenfalls nie falsch gewesen, also gab es keinen Grund an ihr zu zweifeln. Der Zettel verriet ihm einige Koordinaten, die er mit einer Landkarte abglich, die öffentlich im Gasthaus aushing, in dem er sich vorübergehend niedergelassen hatte. Eigentlich bräuchte er gar kein Bett, er war es gewohnt, auf dem Boden zu schlafen, auf Bäumen, auf Moos – aber Gasthäuser waren immer ein guter Ort, um Gerüchte und Stimmungen in der Bevölkerung aufzuschnappen. Er hatte erwartet, dass die Entführung eines Kommandantensohn zu allerlei Gerüchten, vielleicht sogar einem Aufschrei führen würde, aber stattdessen sprach niemand darüber. Als er versucht hatte, das Thema vorsichtig anzuschneiden, war er gefragt worden, ob er betrunken wäre, da der Kommandant keine Kinder besaß. Auch an dieser Stelle wusste er nicht, was das bedeuten sollte, aber wieder war er davon überzeugt, weiterhin an seine Mentorin glauben zu können, weswegen er sich am Tag nach der Entführung auf den Weg zu dem Ort machte, den die Koordinaten ihm nannten – und zu seiner Überraschung fand er mitten im Nirgendwo tatsächlich ein steinernes Gebäude. Es sah nicht sonderlich verlassen aus, aber auch nicht so als ob jemand großen Wert darauf legen würde, zu zeigen, dass es bewohnt war. Einige der Dachschindel waren herabgefallen, das ein oder andere Fenster bereits blind vor einer dicken Schicht an Schmutz und die Eingangstür hing halb im Rahmen. Für ihn kam das äußerst gelegen, so musste er immerhin nicht versuchen, irgendeinen Weg hineinzufinden, sondern stattdessen einfach die Tür zu nehmen, das kam selten vor und freute ihn daher umso mehr. Nachdem er den ersten, vollkommen leeren und lediglich mit Spinnweben verhangenen, Raum hinter sich gelassen hatte, bemerkte man schon eher, dass man sich in einem bewohnten Gebäude befand. Jemand hatte sich bemüht, den Gang sauberzuhalten, jedenfalls in eine Richtung, der er auch sofort folgte. Während er lief, achtete er darauf, ob er Geräusche hören oder vielleicht auch jemanden sehen konnte und wenn es sich dabei nur um einen Schatten handelte. Aber er schien vollkommen allein zu sein. Vielleicht hatte seine Mentorin sich auch einmal geirrt und die Entführer waren längst über alle Berge? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen, da musste etwas gänzlich anderes dahinterstecken. Der saubere Weg führte direkt zu wenigen nach unten führende Stufen, nein, genau genommen führten sie zu einer Tür am Fuß der Treppe. Diese war noch intakt, aber nicht verschlossen, wie er feststellte, als er die Klinke hinunterdrückte. Dennoch zögerte er ein wenig, ehe er sie öffnete. In all den Jahren, in denen er bereits seinem Beruf nachging, hatte er sich einen sechsten Sinn angeeignet, der ihn vor Bedrohungen warnte – und im Moment sagte ihm dieser Sinn, dass sich jemand hinter der Tür darauf vorbereitete, ihn anzugreifen. Er wusste zwar noch nicht, um wen es sich dabei handelte, bereitete sich aber mental darauf vor und öffnete dann die Tür. Innerhalb eines Sekundenbruchteil erkannte er, dass sein Angreifer ein Junge war – so dass er dessen lausigen Versuch, ihn mit Fausthieben zu traktieren, direkt abfangen konnte und zu seinem Glück waren die Beine seines Angreifers noch zu kurz, so dass er ihn selbst mit Tritten nicht erreichen konnte, während er den Jungen auf Abstand hielt. „Na na, Kleiner, beruhig dich doch mal. Begrüßt man so seinen Retter?“ Er erkannte die beiden auf den ersten Blick, immerhin hatte seine Mentorin ihm die Kinder ausführlich beschrieben. Der kleine Rabauke, der, wie man ihm zugestehen musste, Mut bewiesen hatte – und auch Leichtsinn – war Landis Richards aus Cherrygrove, er müsste ihn also bei einem Richard abliefern. Der weißhaarige Junge, der hinter ihm stand und ratlos zwischen ihnen hin und her sah, war Frediano Caulfield, den er beim Kommandanten der Kavallerie abliefern müsste. Allerdings fiel ihm in diesem Moment auch auf, dass seine Mentorin ihm nichts von den verlorenen Erinnerungen erzählt hatte und er nun nicht so recht wusste, was er deswegen tun sollte. Müsste er sich überhaupt darum kümmern? Sein Auftrag beinhaltete das immerhin nicht. „Retter?“, fragte Landis mit skeptisch zusammengezogenen Brauen. „Ich kenne dich nicht mal.“ Er wandte sich an Frediano. „Kennst du den?“ Der Gefragte schüttelte allerdings den Kopf. „Ich habe ihn noch nie gesehen. Aber vielleicht haben meine Eltern ihn geschickt?“ Die Jungen blickten ihn an, worauf er leise lachte. „Mit Sicherheit nicht. Mein Name ist Narcis, ich komme aus Pelegrina. Haizea schickt mich.“ Während Frediano ratlos den Kopf neigte, verstärkte sich Landis' Skepsis noch. „Haizea? So wie der Naturgeist des Windes?“ „Was weiß ich“, erwiderte Narcis. „Wir kennen keine Naturgeister.“ In Pelegrina war der Glaube an Kreios und Naturgeister schon vor langer Zeit verlorengegangen, auch wenn man immer noch an Orakel glaubte, die wiederum mit Naturgeistern in Kontakt treten konnten. Aber soweit Narcis wusste, war der letzte Kontakt bereits viele Jahre her. „Glaubst du etwa, dass er von einem Naturgeist angewiesen wurde?“, fragte Frediano. Doch nach einem kurzen Moment schüttelte Landis mit dem Kopf. „Wohl kaum. Wahrscheinlich heißt sie einfach nur wie einer, genau wie meine Mutter.“ „Was auch immer“, meinte Narcis, der langsam ungeduldig wurde und sich dabei mit einer fahrigen Bewegung durch das schwarze Haar ging. „Ich bin dafür, dass wir endlich-“ Ein lautes Geräusch von draußen unterbrach ihn, darauf folgte ein Fluchen, das darauf schließen ließ, dass einer der richtigen Entführer wieder zurückgekehrt war. Auch wenn Narcis' Geschäft das Töten war, so war er nicht sonderlich gut im offenen Kampf, er war auf Angriffe aus dem Hinterhalt geschult worden – eben wie ein guter Attentäter. Geistesgegenwärtig brachte er die Kinder dazu, sich hinter den schweren Kisten zu verstecken, genau wie er selbst es tat, um zu beobachten, was geschehen würde. Nach kurzer Zeit kam jemand durch die offene Tür hereingetorkelt, ein Mann mit weinrotem Haar, dessen rechtes Auge von einer Klappe verdeckt wurde. Er hielt sich die Seite, aus der unablässig Blut floss, das eine deutliche Spur hinterließ. Sehr leichtsinnig, wie Narcis fand, jeder Anfänger könnte ihnen einfach so folgen – und damit sein begonnenes Werk beenden. Landis fuhr hoch und wollte etwas rufen, aber Narcis reagierte schneller und hielt ihm hastig die Hand vor den Mund, damit er ihr Versteck nicht verraten würde. Frediano wurde ein wenig blasser, aber immerhin schien er nicht Aufsehen erregen zu wollen. Sie beobachteten, wie der Mann auf der anderen Seite wieder aus dem Raum torkelte – wobei Narcis sich wunderte, wie er mit so einem Blutverlust so eilig vorankam – und bald darauf verstummten seine Schritte wieder. Narcis wollte gerade seine Hand wieder von Landis' Mund nehmen, als weitere Schritte erklangen. Er fluchte in sich hinein und wartete auch diesen unwillkommenen Besucher wieder ab. Der Mann, der offenbar der blutigen Spur folgte, führte eine Armbrust mit sich – und sein Anblick sorgte dafür, dass Landis' Widerstand ein wenig stärker wurde. Obwohl Narcis sich bemühte, ihn so lautlos wie möglich unter Kontrolle zu halten, wurde der Widerstand so stark, dass Landis ihm plötzlich sogar einen Ellenbogen in die Rippen rammte. Dieser unerwartete Angriff sorgte dafür, dass Narcis ihn mit einem überraschten Keuchen losließ. Im selben Moment sprang Landis auf. „Onkel Kieran!“ Überrascht beobachteten Narcis und Frediano, wie der Mann stehenblieb und sich ihnen zuwandte. Die misstrauische Miene verschwand sofort, als er den Jungen erkannte. „Landis!“ Der Junge sprang über die Kisten und lief eilig zu dem Mann hinüber, um ihn zu umarmen. „Onkel Kieran! Du bist hier!“ Der Mann ging in die Knie, um gleichauf mit ihm zu sein. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ „Mh-hm~. Bist du hier, um mich heimzubringen?“ Kieran lächelte, aber etwas daran ließ Narcis stutzen. Etwas an diesem Mann war anders – und damit meinte er nicht diese kleine Stelle auf seiner Stirn, die kaum merklich blau glühte, die aber außer ihm niemandem aufzufallen schien. Selbst Frediano sah eher... eifersüchtig aus, auch wenn Narcis sich im Moment nicht erklären konnte, weswegen eigentlich. „Bin ich, aber vorher muss ich noch etwas erledigen.“ Kieran strich Landis durch das Haar, das zuversichtliche Lächeln auf dem Gesicht des Jungen schwand nicht im Mindesten. „Du musst dich jetzt erst einmal irgendwo verstecken, wo sie dich nicht finden. Verstehst du das?“ „Verstecken, geht klar. Ich bin Weltmeister im Verstecken!“ Kieran lachte leise. „Ich weiß. Also sei ein guter Junge, bis ich wieder da bin, um dich mitzunehmen.“ Landis nickte und blickte Kieran hinterher, während dieser weiterhin den Spuren folgte. Erst als auch die Schritte dieses Mannes verstummt waren, kam Narcis gemeinsam mit Frediano wieder aus dem Versteck. „Können wir jetzt gehen?“ Ihn kümmerte nicht, was Kieran gesagt hatte, Narcis wollte einfach nur diesen Auftrag hinter sich bringen – doch er hatte nicht mit Landis' Sturheit gerechnet. „Uh-uh! Onkel Kieran hat gesagt, ich soll mich verstecken und auf ihn warten! Und das werden wir tun.“ „Wir?“, fragte Narcis ratlos und beobachtete verdutzt, wie Landis entschlossen nach der Hand des ebenso verblüfften Frediano griff. „Ja, wir!“ Landis zog misstrauisch die Brauen zusammen. „Und ich traue dir nicht!“ Damit rannte der Junge bereits los, der überraschte Frediano folgte ihm offenbar automatisch, obwohl er ihn wieder in den Keller hinabführte. Narcis sah den beiden hinterher und war sich dabei nicht sicher, ob er lachen oder weinen sollte. Sicher, der Junge tat gut daran, ihm nicht zu vertrauen – aber ausgerechnet in dieser Situation sollte er es eigentlich doch tun. Dass dies nicht der Fall war, störte ihn erheblich, wie er zugeben musste. Normalerweise rannte er nämlich keinen Kindern hinterher. „Aber Haizea bringt mich um, wenn ich es nicht tue, also...“ Der Tod sollte seiner Meinung nach lieber noch weit entfernt bleiben, weswegen er sich entschied, diese Sache ernsthaft anzugehen und ihnen zu folgen. Er stellte sich bereits ein, den gesamten Keller systematisch abzugrasen, als ihm allerdings etwas ins Auge fiel, das ihm helfen könnte, Zeit zu sparen. „Dieser Junge ist so mutig wie er leichtsinnig ist.“ Auf seiner Flucht musste Landis in das Blut des ersten Mannes getreten sein, weswegen nun eine blutige Fußspur anzeigte, in welche Richtung er gelaufen war – und wenn Narcis Glück hatte, würde diese Spur bis zum Versteck der Jungen zu führen. Er schmunzelte ein wenig, dann machte er sich auf den Weg, dieser Spur zu folgen und notierte sich dabei gedanklich, dass er Landis bei ihrer nächsten Begegnung am besten ins Reich der Träume schicken würde, um seine Mission erfolgreich zu einem Abschluss bringen zu können. Kapitel 4: Ehemals Kollegen --------------------------- Es war ein seltenes Talent, jedenfalls für normale Menschen. Für jene seiner Art war es allerdings derart gewöhnlich, dass er schon lange vergessen hatte, dass er es besaß. In jenem Moment kam es ihm äußerst gelegen. Dieses Talent bestand darin, die Spur bestimmter Personen zurückzuverfolgen. Wie genau es funktionierte, wusste er nicht und eigentlich interessierte es ihn auch nicht, solange er der feinen Linie aus glitzerndem Staub folgen konnte, die ihn dorthin brachte, wo die von ihm gesuchte Person sich befand – zumindest meistens. An diesem Tag aber, als er Landis' Spur verfolgte, endete diese mitten in der Einöde. Er wusste nicht einmal so recht, wo er sich eigentlich befand, obwohl er sich eingehend umsah, aber es war nirgends ein Anzeichen zu sehen an dem man das festmachen könnte. In jede Richtung existierte nur Gras, soweit das Auge reichte. Nun, zumindest ein Anhaltspunkt: Ich bin im Westen von Király gelandet. Dieser war kaum besiedelt, da dort auch die Grenze zu Monerki war und es früher oft zu Kriegen zwischen den beiden Ländern gekommen war. Seit Königin Juno an der Macht war, herrschte ein Waffenstillstand, aber Kieran war sich dennoch sicher, dass es in beiden Ländern Menschen gab, die mit diesem Zustand nicht einverstanden waren und deswegen immer wieder versuchten, einen neuen Konflikt zu schüren. Aber an diesem Tag – nein, eigentlich immer – kümmerte er sich nicht weiter darum, da er sich nicht für politische Dinge interessierte und sah sich stattdessen weiter nach einer Spur von Landis um, die er allerdings nirgends entdecken konnte. Normalerweise gab es dafür nur eine Erklärung, Kieran erblasste augenblicklich, während er darüber nachdachte. Nein! Nein, Landis kann nicht tot sein und schon gar nicht, weil er hier umgebracht wurde, es muss- Er musste in seinen Gedanken unterbrechen, als er eine Person, die erste, der er begenete, seit er Cherrygrove verlassen hatte, auf sich zukommen sah. Zuerst wollte er diesen Mann, der mit seiner Augenklappe und dem Verband um seinen Kopf nicht gerade sehr vertrauenserweckend aussah, fragen, ob er den Jungen gesehen hätte, aber als der andere vor ihm stehenblieb, schnürte ihm dessen Aura geradewegs die Kehle zu. Es war nicht so, dass Kieran Angst hätte, dieses Gefühl war ihm von Kindesbeinen an fremd gewesen, aber die von diesem anderen abgesonderte Ausstrahlung hatte er lange nicht mehr gespürt, weswegen er nicht darauf vorbereitet gewesen war. Der Mann lächelte ein wenig, auch wenn es spöttisch aussah, als würde er sich über den mit der Armbrust bewährten und in einen schwarzen Mantel gehüllten Suchenden lustig machen. „Kann ich irgendwie helfen? Man verirrt sich nicht sonderlich leicht in diese Gegend.“ „Ich habe mich nicht verirrt“, erwiderte Kieran. „Ich suche nach jemandem.“ Der andere hob die Schultern und tat dabei so als würde er einen Blick umherwerfen. „Hier draußen? Wie ungewöhnlich. Wie kommt Ihr auf die Idee, hier jemanden zu suchen?“ Stünde er einer anderen Person als diesem Mann gegenüber, hätte er sich nun eine Ausrede einfallen lassen, aber so antwortete er mit der Wahrheit: „Ich bin der Spur des Jungen gefolgt.“ Doch seine Erwartung, dass der andere ihm nun seine Hilfe anbieten würde, die er auch dringend gebrauchen könnte, wurde bitter enttäuscht: Das Gesicht seines Gegenübers verfinsterte sich rasch, er zog die Brauen zusammen und wirkte dabei alles andere als erfreut. „Du bist...?“ Jeglicher Respekt war plötzlich aus der Stimme des Mannes verschwunden, was Kieran im ersten Moment überraschte, doch dann wurde ihm bewusst, was das zu bedeuten hatte. Er zögerte nicht länger und hob die Armbrust, um sie auf den anderen zu richten. „Du hast Landis entführt!“ Es war die einzige Möglichkeit, die alles erklärte. Das Verhalten dieses Mannes nach Landis' Erwähnung, dass er sich gerade hier aufhielt und dass die Spur hier endete – er musste die Fähigkeit besitzen, diese Fährte wieder zu löschen. Aber warum sollte jemand von seiner Zunft so etwas tun? „Wie kannst du dich überhaupt noch daran erinnern?“, fragte der Mann. „Memoria sollte die Erinnerung daran gelöscht haben!“ „Du hast dich mit Memoria zusammengetan?“ Kierans Stimme grollte geradezu bei der Vorstellung, dass einer seiner Zunft sich mit ihren Todfeinden zusammentun könnte. Anhand der Art, wie er über sie sprach, wusste der Mann sofort, dass auch Kieran sie kannte und von dieser Erkenntnis aus war es wirklich nur noch ein kleiner Schritt zu der richtigen Schlussfolgerung: „Du gehörst zu unserer Zunft!“ Doch Kieran schüttelte mit dem Kopf. „Nicht wirklich.“ Es vergingen weitere, quälende Sekunden, in denen der andere nachdachte, was das bedeuten sollte, doch dafür traf ihn die Erkenntnis umso stärker: „Moment mal! Ein Ehemaliger unserer Zunft, der in Cherrygrove lebt, du musst Kieran sein!“ „Gut geraten.“ Er wunderte sich nicht, dass der andere ihn kannte. Bei aller Bescheidenheit musste selbst er zugeben, dass er ein äußerst erfolgreiches Gildenmitglied zu seiner Zeit gewesen war und auch seine unehrenhafte Entlassung musste für einiges an Gesprächsstoff gesorgt haben. „Dann sollte ich mich auch mal vorstellen, ich bin Breaker.“ Der Name weckte eine Erinnerung in Kieran, eine undeutliche zwar, aber er war davon überzeugt, dass er von ihm bereits gehört hatte. Ja, das bestätigte seinen vorigen Verdacht, dieser Mann vor ihm war dafür bekannt, geradezu meisterhaft Spuren zu verwischen und damit die eigene Anwesenheit zu verschleiern. Deswegen hatte Kieran ihn erst bemerkt, als er bereits in seiner Nähe gewesen war. Dass er die Spur nun aber rückwärts löschen musste, bedeutete, dass er es während der Entführung selbst vergessen hatte, was ihn unwillkürlich schmunzeln ließ. Doch nach den folgenden Worten von Breaker verging ihm das Schmunzeln wieder: „Ich hab gar nicht mehr daran gedacht, dass du und dieser Nolan in Cherrygrove leben. Wäre mir das gestern eingefallen, hätte ich noch ein Kind mitgenommen.“ Kieran runzelte die Stirn, sein Finger, der nur darauf wartete, dass er endlich den Armbrustbolzen abschoss, zuckte leicht. „Was?“ Seine Reaktion amüsierte Breaker offenbar, jedenfalls wies das darauf folgende Grinsen darauf hin und erzürnte Kieran noch weiter, genau wie die folgenden Worte: „Der Gildenchef hat eine recht hohe Belohnung für denjenigen ausgesetzt, der es schafft, Nolan zu einem von uns zu machen.“ „Das werde ich zu verhindern wissen“, erwiderte Kieran knurrend, sein Finger zuckte wieder. „Komm schon.“ Breaker wurde schlagartig ernst. „Du weißt genauso gut wie wir alle anderen, dass er der Beste von uns werden könnte, wenn du ihn nicht zurückhalten würdest.“ Unwillig wandte Kieran den Blick ein wenig ab. Er wusste, was man brauchte, um zu jemandem ihrer Zunft zu werden und er wollte nicht, dass Nolan dasselbe durchleben musste, auch wenn er dessen Potential schon bei ihrer allerersten Begegnung hatte spüren können. Es stimmte, Nolan könnte mühelos der Beste sein, es hätte Kieran nicht einmal gewundert, wenn der Junge es schaffen könnte, sämtliche bösartigen Dämonen mit einem Schlag auszurotten. Aber... „Er müsste dafür hassen lernen und das werde ich verhindern.“ Ursprünglich war es auch sein Plan gewesen, sich dem Jungen anzunehmen, um ihn zu einem gewieften Jäger auszubilden, wenn er alt genug dafür war – doch das Zusammenleben mit diesem hatte ihn davon überzeugt, das alles wieder zu verwerfen und sich sogar gegen seine Gilde zu stellen. Er würde Nolan vor einem Schicksal wie seinem bewahren, selbst wenn der Junge ihn aufgrund seiner Methoden fürchten würde. Breaker lachte spöttisch und unterbrach damit die Überlegungen Kierans. „Komm schon. Wenn du ehrlich zu dir bist, gibt es da ein schöneres Gefühl als jenes, wenn du einen Dämon erschlagen hast?“ Ihm fielen sogar viele schönere Gefühle ein, offenbar unterschieden sich die Wahrnehmungen von ihm und Breaker, denn das Besiegen eines Dämons war für ihn stets mit unvorstellbar grausamen Schmerzen verbunden gewesen, weswegen er auch ganz froh gewesen war, als er endlich aus der Gilde entlassen worden war – aber das lag vermutlich auch an den Umständen wegen denen er zu einem Teil der Zunft geworden war. Da Breaker spürte, dass er so nicht weiterkam, schnaubte er und verlegte sich aufs Drohen: „Fein, wenn du dich stur stellst, werde ich einfach nach Cherrygrove zurückkehren, während du diese tollwütige Ratte suchst und Nolan mit mir nehmen.“ „Das wirst du nicht“, erwiderte Kieran, der sich von dieser Aussicht nicht einschüchtern ließ. „Du arbeitest gemeinsam mit Memoria, das bedeutet, dass du ebenfalls kein Teil der Gilde mehr bist.“ Er spürte, wie sein Gegenüber sich anspannte, wie sich Energie in ihm aufbaute – und sich auch auf seinem Gesicht zeigte... oder besser auf seiner Augenklappe, auf der plötzlich ein rotglühendes Zeichen erschien, das Kieran nichts Gutes verhieß. Er zögerte nicht mehr und schoss einen Bolzen auf seinen Gegenüber. Breaker machte keine Anstalten, auszuweichen, stattdessen nutzte er eine rotglühende Aura, um den Bolzen einfach abzuwehren und ihn danach nicht mehr zu beachten. Und genau darauf hatte Kieran es auch abgesehen. Eine am Bolzen befestigte Kette, die zu seinem Unterarm führte und zuvor nicht sichtbar gewesen war, materialisierte sich und mit einem heftigen Ruck daran, änderte er die Bahn des Flugkörpers – der sich gleich danach in Breakers Seite bohrte. Der andere stieß einen unmenschlichen und viel zu hohen Schrei aus. Die Schmerzen verstärkten seine Kräfte und ließen Greifarme aus der rotglühenden Aura entstehen, die Kieran zu fassen versuchten. Doch er ließ sich weiterhin nicht irritieren oder Furcht einflößen. Auf seiner Stirn, kaum sichtbar direkt unter der Haut sitzend, genau dort wo sich auch eine feine, schwer auszumachende Narbe befand, bildete sich ein blaues Glühen, das seine Wahrnehmung verbesserte. Der feindliche Angriff erschien ihm plötzlich wesentlich langsamer als zuvor, was ihm half, diesen mit weiteren, aus dem Nichts erscheinenden, Ketten abzuwehren. Diese musste er nicht einmal mit seinen Händen bewegen, sie folgten seinem Willen, seinem bloßen Gedanken, durchbrachen die Greifarme, die sich auflösten, als der Kontakt zu ihrem Wirt abbrach und schleuderten Breaker dann noch mit Wucht zu Boden. Der Bolzen, der noch immer mit Kierans Unterarm verbunden war, wurde bei dem Aufschlag aus Breakers Körper gerissen, worauf sich ein Schwall Blut auf die Erde ergoss. In Kieran derzeitiger, erweiterter Wahrnehmung schien das Blut zu leuchten, so dass er es deutlicher erkennen konnte als ein normaler Mensch. So konnte er auf den ersten Blick sehen, dass es noch lange nicht genug war, um Breaker zu töten, aber das lag auch nicht in seiner Absicht – immerhin war dieser Mann der einzige, der ihn zu Landis führen könnte. Als der Gefallene sich wieder aufrichtete, war die Feindseligkeit von ihm abgefallen, das Glühen hinter der Augenklappe war verschwunden. Dafür grinste er wieder. „Gar nicht schlecht, ich verstehe langsam, warum du damals einer der Besten warst. Es sind nicht nur deine Fähigkeit, du behältst auch immer die Ruhe. Aber ich habe jetzt keine Zeit mehr für dich, Memoria wartet auf mich.“ Er zog etwas aus seiner Tasche und warf es auf den Boden, worauf erst ein lauter Knall erklang und sich dann eine dichte Rauchwolke bildete. Kieran schloss die Augen, damit diese nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden und als er sie wieder öffnete, war Breaker verschwunden, genau wie er erwartet hatte. In keiner Richtung, in die er blickte, war mehr etwas von ihm zu sehen. Aber das störte ihn nicht weiter, es entsprach seiner Erwartung und Hoffnung, denn wie er diesen Mann einschätzte, würde er ihn ohne Umschweife direkt zu dem Versteck führen, wo er Landis versteckt hielt. Er war sich sicher, dass der Junge noch lebte, hätte Breaker ihn töten wollen, hätte er das direkt in Cherrygrove getan, statt ihn erst irgendwohin zu schaffen und damit das Risiko einzugehen, dass irgendwer den Jungen retten kommen würde – wie eben Kieran. Den Blick auf den Boden gerichtet, machte er sich auf, um die Blutspur zu verfolgen. Schon nach kurzer Zeit stellte er fest, dass er nicht von Breaker enttäuscht wurde, denn er wurde tatsächlich in ein verlassenes Haus geführt, wo er durch einen Lagerraum lief, in dem sich Kisten voller Tee befanden, genau jene Sorte, die er auch trank, was noch ein Zeichen dafür war, dass es sich bei Breaker um einen Deserteur oder Ausgestoßenen handelte, immerhin diente der Tee lediglich, um den Drang nach Vernichtung zu unterdrücken, ein Prozess, der bei der Arbeit normalerweise automatisch geschah. Das Einsetzen seiner Kräfte an diesem Tag hatte ihm bereits geholfen, einen Schub abzubauen. Und die Stimme, die plötzlich erklang und ihn innehalten ließ, gab ihm auch ein lange vermisstes Erfolgserlebnis: „Onkel Kieran!“ Im ersten Moment blieb er misstrauisch, doch als er erkannte, dass es tatsächlich der Gesuchte war, der hinter den Kisten auftauchte, atmete er erleichtert auf. „Landis!“ Der Junge sprang über die Hindernisse und lief eilig zu ihm herüber, um ihn zu umarmen. Das war eigentlich etwas, das Kieran gar nicht leiden konnte und Landis wusste das auch, aber für den Moment legte er keinen Widerspruch ein. Immerhin kam es selten vor, dass jemand einmal erleichtert war, ihn zu sehen. „Onkel Kieran! Du bist hier!“ Er ging in die Knie, um ihm in die Augen sehen zu können. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Landis' Gesicht strahlte wie eh und je, was seine grünen Augen wie so oft zum Glitzern brachte, er war wirklich nicht verletzt, was Kieran erleichtert lächeln ließ. „Mh-hm~. Bist du hier, um mich heimzubringen?“ „Bin ich, aber vorher muss ich noch etwas erledigen.“ Kieran strich Landis durch das Haar, das zuversichtliche Lächeln auf dem Gesicht des Jungen schwand nicht im Mindesten. „Du musst dich jetzt erst einmal irgendwo verstecken, wo sie dich nicht finden. Verstehst du das?“ „Verstecken, geht klar. Ich bin Weltmeister im Verstecken!“ Da hatte Kieran zwar etwas anderes gehört – Nolan behauptete stets, er wäre besser als Landis, dafür wäre dieser besser beim Suchen – aber für den Moment war es ganz gut, wenn der Junge es wirklich glaubte, dann würde er sich immerhin wirklich verstecken, um das zu beweisen, statt den Helden zu spielen. Er lachte leise. „Ich weiß. Also sei ein guter Junge, bis ich wieder da bin, um dich mitzunehmen.“ Landis nickte, worauf Kieran sich wieder aufrichtete und die Spur weiterverfolgte, selbst als sie in den Keller hinabführte. Je weiter er dem Blut folgte, desto stärker wurde das Gefühl, dass er sich einem Dämon näherte, es war als ob Wasser seine Lungen füllen würde und es ihm immer schwerer machte, noch zu atmen. So sehr es ihm auch widerstrebte, diesem Gefühl weiter zu folgen, es musste sein, denn nur mit der Rettung von Landis war es nicht getan, er musste auch Memoria dazu bringen, die Erinnerung an ihn wieder zurückzuholen. Denn wie sollte er Richard erklären, dass er einen neunjährigen Sohn hatte, an den er sich nicht erinnerte? Am Ende müsste er, Kieran, sich noch um zwei hyperaktive Kinder kümmern. Er schauderte, als er schließlich vor der Tür stehenblieb, hinter der sich Memoria verborgen hielt. Noch einmal holte er tief Luft, obwohl damit noch mehr Wasser in seine Lungen zu strömen schien, dann öffnete er die Tür, um den Raum zu betreten. Kapitel 5: Im Dunkeln --------------------- Die beiden Jungen hatten sich derweil einen Raum gesucht, um sich sowohl vor ihren Entführern, die keiner von ihnen kannte, als auch vor diesem Narcis, der wer-weiß-was mit ihnen vorhatte, zu verstecken. Landis' Wahl war, sehr zu Fredianos Missfallen, auf einen Raum ohne jede Lichtquelle, gleich welcher Art, gefallen. Es wäre, nach Fredianos Meinung, untertrieben gewesen, diesen Raum einfach nur als dunkel zu bezeichnen, denn die Finsternis schien derart tief und unergründlich zu sein, dass er davon überzeugt war, dass kein Licht sie erhellen könnte. Nicht einmal das weiße Feuer, das seine Mutter erschaffen konnte, wie auch immer sie das anstellte. Als Landis die Tür geöffnet hatte, um hineinzugehen, war es Frediano möglich gewesen, etwas zu erkennen. Kisten, die dem Geruch nach mit Tabak, gefüllt waren, standen fein säuberlich aufgereiht an der Wand, im Gegensatz dazu lag eine Plane achtlos weggeworfen auf dem Boden. Ehe ihm noch mehr zu sehen möglich gewesen war, hatte Landis die Tür hinter sich zugezogen und dann seine Hand genommen. Mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit war er von Landis durch den Raum und – wie er glaubte – hinter die Reihen der Kisten geführt worden, wo sie sich schließlich auf den Boden gesetzt hatten, um zu warten. Im anfänglichen Schweigen war Frediano mit der Frage beschäftigt gewesen, wofür dieses Gebäude einst verwendet worden war. Für eine einfache Lagerhalle war es zu weit außerhalb, außerdem schienen sämtliche Waren zu einem Großteil aus solchen zu bestehen, die man auf dem Schwarzmarkt erstand oder eben verhökerte. Nach einer Weile hatte Landis, dem das Schweigen offenbar zu langweilig geworden war, mit Reden begonnen und tat dies immer noch. Er sprach offenbar über alles, was ihm gerade im Kopf umherging. Er machte sich Gedanken, wie es seinen Eltern ging, ob sie sich Sorgen um ihn machten, warum gerade Kieran, anscheinend der Vater seines besten Freundes, gekommen war und nicht sein eigener Vater. Er sprach davon, dass seine Mutter vielleicht ganz glücklich war, dass er nicht mehr da war. Frediano lauschte ihm aufmerksam, während er in die Dunkelheit starrte und dabei stellte er mild erstaunt fest, dass er sich gar keine Gedanken um seine Eltern machte. Er war überzeugt, dass seine Mutter ihn vermisste – oder zumindest wollte er davon überzeugt sein, aber in Wahrheit glaubte er, dass sein Fehlen noch gar nicht bemerkt worden war, zumindest nicht von den beiden. Es gab, seiner Meinung nach, nur eine Person, die ganz sicher wusste, dass er nicht da war: Sein Kindermädchen Amy. Er rief sie sich wieder in Erinnerung, um sich von der Dunkelheit abzulenken. Ihr schwarzes, langsam grau werdendes Haar, das sie zu einem kunstvollen Zopf geflochten trug, die braunen, gütig dreinblickenden Augen, die kleinen Fältchen, die sich bildeten, wenn sie lachte, ihre Stimme und vor allem ihr Geruch, der ihm vertrauter war als der seiner Mutter. Er vermisste sie, genau wie seine Mutter. Seinen Vater vermisste er dagegen absolut nicht. Er empfand eine zarte Zuneigung zu diesem, weil sie zur selben Familie gehörten, aber es wäre in seinen Augen auch kein Verlust gewesen, wenn er ihn nie wiedersehen müsste, denn er verband ein recht unangenehmes Pflichtgefühl mit ihm. Die Zeiten, in denen er versucht hatte, Respekt und Liebe seines Vaters zu gewinnen – beides aussichtslose Unterfangen – waren schon lange vorbei. Plötzlich stieß Landis ein Seufzen aus, ein unangenehm lauter Ton in der Dunkelheit. Frediano versuchte in der Dunkelheit sein Gesicht auszumachen, um ihn direkt ansehen zu können. Er konnte nur die Konturen erkennen, aber das genügte, um zu sehen, dass Landis die Stirn gerunzelt hatte. Gerade als er fragen wollte, was los sei, stellte der Junge auch schon die Frage, die ihn wohl beschäftigte: „Hast du eigentlich wirklich keine Freunde?“ Frediano hob fragend eine Augenbraue, während er innerlich rätselte, warum der andere unbedingt nachhaken musste. Aber die einfachste Methode, das herauszufinden war wohl, ihn einfach zu fragen: „Warum fragst du?“ Auch wenn er im Dunkeln nichts sehen konnte, entging ihm Landis' Blick nicht, er spürte ihn geradezu auf seiner Haut, wie ein unangenehmes Prickeln. Der Junge verstand ganz offenbar nicht, warum er hier gerade hinterfragt wurde, deswegen antwortete er ebenfalls mit einer Gegenfrage, die eine Aussage sein sollte: „Weil es mich interessiert?“ Frediano beschloss, dass es besser war, ihm zu antworten als mit ihm diskutieren zu wollen. Die Antwort war ohnehin schnell gegeben, denn sie bestand aus nur einem Wort: „Nein.“ Im selben Moment wurde Landis' Blick ein wenig weicher, das unangenehme Prickeln verschwand. „Oh... warum denn nicht?“ So wie es aussah, war es wohl besser, wenn er ein wenig ausholte. Also erzählte er Landis, den er gerade einmal ein paar Minuten kannte, von seinem Vater, Dario Caulfield, dem Kommandanten der Kavallerie von Király. Er berichtete von einem stolzen, aufrechten Mann, aber auch von dem unangenehmen Druck der Erwartungen, der auf seinem Erben lastete. Erwartungen, die beinhalteten, dass es selbstverständlich wäre, dass der Sohn der beste Schüler als auch das Kind mit den besten Manieren in der Stadt war. Und die auch vor den möglichen Freunden nicht Halt machten. Aber Kinder, die nicht als Caulfield aufgewachsen waren, konnten den Erwartungen und dem Druck unmöglich standhalten. Keiner von ihnen war gut genug, um ein Freund Fredianos zu sein – und keiner von ihnen war interessiert daran. „Mein Vater ist noch dazu nicht sonderlich beliebt“, fügte er noch hinzu. „Viele Eltern, die unter ihm zu leiden haben, werden das an ihre Kinder weitergeben und ihnen vermutlich sogar raten, sich von mir fernzuhalten.“ Oft kümmerte es ihn gar nicht, er hatte immerhin Amy, zumindest redete er sich das ein. Aber immer wenn er andere Kinder spielen sah, spürte er diesen schmerzhaften Stich in seiner Brust, der ihm verriet, dass es ihn doch störte, aber er wollte es nicht zulassen, wollte diesem Drang nicht nachgeben. Solange er der Sohn des Kommandanten war, würde er einsam sein, daran glaubte er fest. „Und was ist mit deiner Mutter?“ Landis klang bedrückt, fast schon tat es Frediano Leid, dieses Thema doch so sehr auszuwalzen. „Meine Mutter gilt als Außenseiterin. Niemand weiß so recht, woher sie kommt und sie will auch niemanden kennen. Die Eltern, die nicht unter meinem Vater zu leiden haben, kennen meine Mutter und raten deswegen ihren Kindern, mir fernzubleiben.“ Er liebte seine Mutter sehr und er wusste, dass auch sie ihn liebte – aber dafür, dass sie genau wie sein Vater seine Umwelt beeinflusste und ihn so einsam sein ließ, hasste er sie mit einem verschwindend geringen Teil seines Herzens. Landis wandte nun endlich den Blick von ihm ab und starrte irgendwo in die Dunkelheit. Er schien über etwas zu grübeln, aber Frediano war sich nicht sicher, ob nun der geeignete Zeitpunkt wäre, um nachzuhaken, worum es in seinen Überlegungen ging – glücklicherweise dauerte diese Phase auch nicht lange, dann stellte Landis ihm wieder eine Frage: „Du wirst dann bestimmt auch mal Kavallerist, oder?“ „Natürlich.“ Frediano musste nicht einmal darüber nachdenken, denn ihm blieb gar keine andere Wahl als Kavallerist zu werden, damit er nach dem Tod seines Vaters den Posten des Kommandanten übernehmen könnte. „Dann musst du ja nach Cherrygrove kommen, um dich ausbilden zu lassen“, stellte Landis fest. Frediano gab ein zustimmendes Geräusch von sich, er fragte sich, worauf der andere eigentlich hinauswollte – und bekam auch sofort seine Antwort: „Dann werde ich auch Kavallerist!“ Der Enthusiasmus in seinen Worten, ließ Frediano fragend blinzeln. „W-was?“ Landis sah ihn wieder an und er glaubte, das Leuchten seiner Augen und das strahlende Gesicht trotz der Dunkelheit sehen zu können. „Na, du sagst doch, dass du keine Freunde hast, aber ganz offensichtlich brauchst und willst du welche. Wenn ich auch Kavallerist bin, wird dein Vater bestimmt nichts mehr gegen mich haben – und du bist nicht mehr einsam.“ Frediano wusste nicht so recht, was er dazu sagen sollte, weswegen er schwieg. Er war überwältigt von so viel liebenswertem Verhalten, das er in seinem Leben bislang nicht hatte erfahren dürfen, dass alles in seinem Kopf zu schwirren begann. Er wollte Landis als Ausdruck seiner Dankbarkeit umarmen – und hätte das vermutlich sogar getan, wenn da nicht plötzlich das Gefühl gewesen wäre, dass eine Hand durch sein Haar strich. Er zuckte nicht nur erschrocken zusammen, ihm entfuhr sogar ein leiser Schrei, weswegen die Hand ebenfalls wieder zurückzuckte. „Tut mir Leid“, sagte Landis schnell. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Frediano beruhigte sich nur langsam und sein Herz klopfte immer noch viel zu schnell, als er schließlich wieder sprechen konnte: „Warum hast du das getan?“ Es schien Landis tatsächlich ein wenig verlegen zu machen, denn für einen Moment sagte er nichts, stattdessen fühlte es sich in der Dunkelheit so an als würde er auf seinem Platz herumrutschen. „Na ja, ich wollte wissen, ob dein Haar sich so kalt anfühlt wie es aussieht“, antwortete er schließlich doch noch. „Aber das tut es nicht, es ist ganz warm.“ Der vorherrschende Gedanke in seinem Inneren war die Frage, wie dumm man sein musste, anzunehmen, dass die Haare eines Menschen kalt sein könnten – aber das Gefühl, das alles überlagerte, war Verzückung. Er fand diese naive Annahme liebenswert und während ihm das bewusst wurde, fragte er sich, ob es auch Dinge an ihm gab, die andere Menschen so betrachteten. „Wie kamst du denn auf diese Annahme?“, fragte er, um zu verschleiern, was er darüber dachte. Er spürte, wie Landis den Kopf neigte, glaubte fast, beobachten zu können, wie er an die Decke sah, wo es möglicherweise tatsächlich etwas gab, das es wert war, beachtet zu werden. In der Dunkelheit schienen Stunden zu vergehen, bis Landis schließlich bedächtig antwortete: „Tante Aydeen hat No und mir früher oft von einer Schneefee erzählt, deren Haut und Haare weiß und kalt wie Eis waren. Diese Schneefee wollte immer Freunde haben, aber weil sie in der Kälte lebte, gab es nicht viele Menschen, mit denen sie in Kontakt kam.“ Frediano überlegte, ob er diese Geschichte bereits kannte, aber er erinnerte sich nicht im Mindesten an eine Schneefee oder ähnliches Wesen. Aber das mit den Freunden erinnerte ihn an seine eigene Situation und so musste es dem anderen wohl ebenfalls gehen, weswegen es ihn tatsächlich interessierte, wie es weiterging. Glücklicherweise erzählte Landis die Geschichte bereits unaufgefordert weiter: „Von ihrem Berg aus konnte sie ein Dorf beobachten und an manchen Tagen auch das Lachen der Bewohner hören. Also beschloss sie, dort hinzugehen, um sich Freunde zu suchen. Aber die Erwachsenen fürchteten sich vor der Schneefee, da sie glaubten, dieses Wesen würde jeden in eine eisige Statue verwandeln. Als eines der Kinder sich im Wald verlief, beschloss die Fee, sich im Geheimen der Suche anzuschließen. Sie fand das Kind, das aber schlief und – wie sie spürte – nicht mehr lange zu leben hatte. Da sie wusste, dass die Erwachsenen ihr nicht zuhören würden, nutzte sie ihre magischen Fähigkeiten, um zu einem hell leuchtenden Stern zu werden, der den Aufenthaltsort des Kindes markierte. Die Erwachsenen folgten dem Leuchten und konnten das Kind retten, doch die Fee schmolz wegen ihres eigen erzeugten Lichts dahin.“ Landis verstummte wieder. Frediano konnte ihn gut verstehen, das Ende der Geschichte war traurig, mit so etwas rechnete man wohl kaum, wenn es um Erzählungen für Kinder ging. Aber offenbar war es etwas anderes, das Landis daran beschäftigte, denn plötzlich stieß er ein begeistertes Seufzen aus. „Ist die Schneefee nicht eine echte Heldin?“ „Aber... sie ist am Ende gestorben“, gab Frediano zu bedenken. „Sie hat ihr Leben geopfert, um das einer anderen Person zu retten, das macht sie zu einer Heldin“, erwiderte Landis unbeeindruckt. „Und immerhin erzählt man Geschichten von ihr, nicht wahr? Also ist sie nicht wirklich tot, das ist man erst, wenn niemand mehr an einen denkt.“ Über so viel Weisheit, die er in dem Jungen gar nicht vermutet hätte, konnte Frediano nur staunen, weswegen er auch nichts weiter darauf sagen konnte, obwohl er eigentlich anmerken wollte, dass Landis wohl das beste Beispiel dafür war, dass man ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen sollte. Ihm blieb aber auch keine Gelegenheit mehr, etwas zu sagen, denn gerade als er sich genug gesammelt hatte, erklang ein Geräusch aus Richtung der Tür. Jemand wollte offenbar den Raum betreten und zumindest Frediano war es nicht möglich zu sehen, um wen es sich handelte. Er spürte Landis' plötzliche Anspannung, als würde er sich auf dem Sprung befinden, weswegen er sich ebenfalls anspannte – und dann warteten sie in nervenzerreißender Stille. Kapitel 6: Fröstelnder Mörder ----------------------------- Narcis' Hoffnung erfüllte sich nicht. Die blutigen Spuren endeten mitten in einem der labyrinthartigen Gänge dieser Einrichtung, ohne jeden Hinweis, wo die Kinder danach hingegangen sein könnten. Die Arme in die Hüften gestemmt, betrachtete er den letzten Abdruck mit gerunzelter Stirn, dabei dachte er darüber nach, was er nun tun sollte. Aber das einzige, was ihm in den Sinn kam, war das nervtötende und langwierige Durchsuchen aller Räume einzeln. Das war normalerweise eine Sache, die er ungern machte, schon allein weil es einem cleveren Gejagten die Möglichkeit gab, sich in immer anderen Zimmern zu verstecken, so dass die Suche niemals endete oder zu fliehen – oder auch dem Jäger von hinten anzugreifen. Am eigenen Leib erlebt, hatte er bislang nur die erste Variante, die zweite kannte er aus Erzählungen seines besten Freundes – ja, auch Attentäter haben Freunde, wenngleich diese demselben Berufsstand frönen – und der letzten war sein Mentor zum Opfer gefallen. Er versuchte, sich daran zurückzuerinnern, wer den Spieß umgedreht hatte, aber die Erinnerung weigerte sich hartnäckig, sich genauer betrachten oder auseinandernehmen zu lassen. Also ließ er das für den Moment fallen, weil es ihm in dieser Situation auch absolut nicht weiterhalf. Noch immer starrte er auf die blutige Spur, dann traf er seufzend einen Entschluss. „Fein, wenn es nicht anders geht... Mann, ich hasse Kinder.“ Mit diesem genervten Brummen, das er ohnehin nicht sonderlich ernst meinte – immerhin war er sich bewusst, dass Kinder sowohl für seine Zunft als auch für den Rest der Menschheit die Zukunft sicherstellten und er gerade wegen seines Berufs oftmals an den erhaltenswerten Morgen dachte – ging er auf die erste Tür nach der endenden Spur zu und öffnete diese. Auch ohne die anderen Räume gesehen zu haben, wusste Narcis sofort, dass es in ihnen genauso aussah wie hier. Kisten stapelten sich bis unter die Decke, ein Geruch, den er nicht identifizieren konnte, erfüllte alles. Er war süßlich und erweckte in ihm die Assoziation mit Tee, auch wenn er davon überzeugt war, dass es sich hierbei um keine Sorte handelte, die er kannte. Natürlich hätte er eine der Kisten öffnen können, um sich etwas davon mitzunehmen und zu Hause festzustellen, worum es sich genau handelte, aber diese Mühe machte er sich nicht – prinzipiell interessierte er sich nämlich nicht für Tee, das wäre eher etwas für seinen besten Freund, Enric, der sich über ein solches Souvenir sicherlich freuen würde. Er kann ja selbst herkommen, wenn er unbedingt diesen Tee haben will. Ist ja nicht so, dass er mir jemals etwas mitbringt. Wobei das, zugegeben, auch ein wenig schwer war bei seinen Vorlieben. Besser war, er dachte im Moment nicht darüber nach, sondern konzentrierte sich wieder auf seine vor ihm liegende Aufgabe. Er verließ den Raum wieder und suchte systematisch alle anderen auf, allerdings entdeckte er überall nur weitere Kisten, lediglich der Inhalt schien sich in den einzelnen zu unterscheiden, jedenfalls von dem, was er riechen konnte. Erst im fünften Raum war ein Unterschied auszumachen, wenngleich auch nur von der Tatsache her, dass kein charakteristischer Geruch in der Luft lag. Das war es, was ihn schließlich dazu bewog, nachzusehen, was sich in den Kisten befinden könnte. Sie waren zu klein, um Vampire zu beherbergen, auch wenn er das für einen kurzen Moment schmunzelnd in Erwägung zog. Sie müssten sich schon regelrecht zusammenfalten, um dort eingesperrt werden zu können. Da die Kisten nicht vernagelt waren, schaffte er es mühelos, den Deckel einer solchen abzunehmen, um einen Blick hineinwerfen zu können. Er hob erstaunt die Augenbrauen, dann blinzelte er einen kurzen Moment, in der Hoffnung, danach etwas anderes zu sehen, doch der Anblick blieb derselbe. „Das ist doch nicht wahr...“ Er griff mit der Hand in die Kiste hinein und zog einen lebensgroßen Arm heraus. Er war nicht echt, sondern aus einem Material gefertigt, das er nicht kannte. Wie er wusste, wurden Puppen normalerweise aus Porzellan hergestellt und Marionetten aus Holz, aber das hier war nichts von beidem. Die ganze Kiste war angefüllt mit Armen und Händen, die anhand der Anordnung der Finger verrieten, dass sie zur rechten Körperseite gehörten. Er brauchte nicht viel Fantasie, um zu wissen, dass in den anderen Behältnissen sonstige Teile aufbewahrt wurden, um daraus einen vollständigen Körper zu formen. Unwillkürlich lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken, als er sich vorstellte, wie irgendjemand seinen Tag damit verbrachte, Gliedmaßen auszumessen und sie dann lebensecht nachzustellen, bis er einen vollständigen, wenn auch leblosen, Menschen vor sich hatte. Warum wurde das hier aufbewahrt? Wer tat denn so etwas? Und weswegen? Sicherlich, wenn eine Puppe derart lebensecht aussah, wie allein schon dieser Arm, dann konnte sie einen im ersten Moment täuschen. Aber jeder würde einen genaueren Blick auf die Gestalt werfen, sie vielleicht sogar berühren und spätestens dann bemerkte doch jeder, dass es kein echter Mensch war. „Es macht keinen Sinn“, murmelte er. „Warum sollte jemand so etwas tun?“ Während er ratlos den Kopf von einer Seite auf die andere neigte, dachte er wieder an Enric und ihm kam der Gedanke, dass sein bester Freund mit Sicherheit eine Idee kommen würde, wie man solche Puppen einsetzen könnte. Dummerweise war Enric nicht anwesend. Ein lautes Krachen riss ihn aus den Gedanken. Er wandte den Kopf und entdeckte, dass der Deckel einer weiteren Kiste zu Boden gefallen war, ein Arm lag daneben, aber er konnte nicht erkennen, wie es dazu gekommen war und der Gedanke, der ihm gerade kam, wollte ihm gar nicht gefallen, weswegen er ihn hastig wieder fortschob. Sein Blick fiel erneut auf den Arm in seiner Hand – der seine Finger bewegte! Erschrocken ließ er ihn fallen, mit einem dumpfen Laut kam er auf dem Boden auf. Für einen kurzen Moment benahm sich der Arm wie ein Fisch auf dem Trockenen, wand sich und sprang durch die eigene aufgebaute Spannung, bis er schließlich auf der Hand zu liegen kam. Die Finger richteten sich auf und liefen dann los, um geschickt eine weitere Kiste zu öffnen. Narcis beobachtete das mit morbider Faszination, die ihm Schauer um Schauer über den Rücken jagte, die Arme arbeiteten zusammen, um sämtliche Kisten zu öffnen und nicht nur eine Puppe zusammenzusetzen, sondern ihr auch gleich Kleidung überzuziehen. Innerhalb kurzer Zeit stand ihm eine Gestalt gegenüber, die sich nicht nur ohne jede fremde Hilfe bewegte, sondern auch noch lebendig wirkte und sogar lächelte. Zwar verzogen sich die Lippen, doch die gläsernen blauen Augen änderten ihren starren Ausdruck kein bisschen. Das schmucklose schwarze Kleid, das sie verhüllte, verstärkte die Blässe ihrer Haut, das braune Haar fiel lockig auf ihre Schultern. Sie öffnete ihren Mund und – Narcis erbleichte – Worte erklangen daraus: „Wie schön, dass du hier bist. Lass mich dir danken...“ Sie griff nach etwas, das sie an ihrem kaum sichtbaren schwarzen Gürtel trug und schleuderte es auf Narcis. Er verdankte es seinen schnellen Reflexen, dass er dem Angriff ausweichen konnte. Das, was immer sie geworfen hatte, traf auf die Wand hinter ihm, wo es zu explodieren schien und einen Teil des Mauerwerks abplatzen ließ. Sie zog erneut etwas Derartiges hervor, doch er ließ ihr nicht die Gelegenheit, es zu werfen, sondern erwiderte mit einem seiner Wurfmesser. Er traf direkt in ihre linke Schulter, doch es spritzte keinerlei Blut hervor, noch schien es sie in irgendeiner Art und Weise zu stören oder gar in ihren Bewegungen einzuschränken. Also tat er das einzig Vernünftige in dieser Situation: Er ergriff die Flucht. In blinder Hast stürzte er aus dem Raum hinaus, anhand der Explosionen hinter sich, erkannte er, ohne sich umzusehen, dass er von ihr verfolgt wurde. Dabei wusste er nicht einmal, weswegen sie ihn angriff, immerhin hatte sie ihm keine Gelegenheit gelassen, irgendetwas zu sagen. Vielleicht mag sie ja keine Attentäter... oder ihr Auftrag ist es, denjenigen umzubringen, der ihr hilft, sich zusammenzusetzen. So etwas sollten wir auch einführen. Trotz der Situation kam er nicht umhin diese Genialität der Kreation zu bewundern und auch wenn sie eine ernsthafte Konkurrenz für ihn darstellen könnten, gab es mit Sicherheit auch positive Seiten, die sie seiner Zunft bringen könnten. Hinter sich hörte er nicht mehr nur die Explosionen, sondern auch ein unheimliches verzerrtes Lachen, das ihn trotz der Anstrengung schaudern ließ, so dass er fast schon fror. Instinktiv riss er eine Tür auf und stürmte in den dahinter liegenden Raum, in dem vollkommene Dunkelheit herrschte, die ihn sofort umschloss, als er die Tür wieder zuschlug. Er ging rückwärts, bis er Kisten in seinem Rücken spürte und lauschte auf die Geräusche, die vom Gang kamen. Die sich schnell nähernden Schritte verharrten für einen Moment direkt vor dem Raum, doch dann entschied sie sich wohl dafür, weiterzugehen und woanders zu suchen. Er atmete gerade auf, als er einen lauten Schrei hörte – und sich im nächsten Moment auf dem Boden wiederfand. Ein ihm unbekanntes Gewicht saß auf seiner Brust und drückte ihn gewaltsam nieder. Es dauerte einen kurzen Moment, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten und er Landis erkannte, der da auf ihm saß und ihn wütend anstarrte. „Du schon wieder!“, fauchte der Junge. „Ich dachte, wir wären dich los!“ Frediano trat ein wenig zurückhaltender aus dem Hintergrund, was Narcis sichtlich erleichterte, immerhin hatte er endlich sein Zielobjekt gefunden – und wenn sie hier zusammen waren, würde auch diese seltsame Puppe sie nicht erwischen. „Könntest du vielleicht von mir runtergehen?“, fragte er so höflich wie es ihm möglich war. „Wir könnten ein ziemliches Problem bekommen, wenn wir nicht hier herauskommen.“ Während Frediano tatsächlich erschrocken über diese Aussage dreinblickte, beeindruckte es Landis nicht im Mindesten. Er warf den Kopf zurück. „Ich glaube dir kein Wort! Onkel Kieran hat gesagt, dass wir hier auf ihn warten sollen und das werden wir tun!“ Narcis verlor die Geduld und warf Landis von sich runter. Dem Jungen entfuhr ein überraschter Aufschrei und während Frediano sich neben diesen kniete, richtete Narcis sich auf. „Mir reicht es langsam, Kinder! Was du machst, ist mir egal, aber ich werde den Caulfield-Jungen zurück nach Hause bringen, genau wie mein Auftrag es verlangt! Du kannst auf diesen Kieran warten, so lange du Lust hast. Vielleicht kommt er ja irgendwann wieder.“ Landis pumpte Luft in die Backen, doch gerade als er mit seiner eigenen Tirade loslegen wollte, um Narcis zu sagen, wie falsch er lag – zumindest glaubte er, dass der Junge das für seinen Monolog geplant hatte – erklang ein unheimlich verzerrtes Lachen direkt vor der Tür. Augenblicklich hielten sie alle drei inne und – auch wenn es in der Dunkelheit schwer zu erkennen war – erbleichten. „Was ist das?“, flüsterte Frediano furchtsam. Narcis stellte sich vor die beiden Jungen, die sich bereits aneinanderklammerten, um sich gegenseitig zu beruhigen. Andere zu beschützen war normalerweise nicht seine Aufgabe, weswegen dies eine vollkommen neue Erfahrung werden würde, aber was ihm an Erfahrung fehlte, würde er einfach an Einsatzbereitschaft wieder wettmachen, genau wie bei all seinen früheren Aufträgen. Er glaubte zu spüren, wie sich Spannung in der Luft aufbaute und machte sich bereit, den ersten, gleich kommenden Angriff abzuwehren – aber noch bevor das geschehen konnte, wurde etwas anderes bemerkbar. Narcis' feine Härchen am Nacken und auf den Armen stellten sich auf, noch nie zuvor war er Zeuge eines solchen Ereignisses geworden, was ihm wieder ein wenig Furcht einflößte, da er nicht wusste, was geschehen würde und wie er darauf reagieren sollte. Unwillkürlich hielt er die Luft an – und wartete darauf, was als nächstes passieren würde. Kapitel 7: Erdrückend --------------------- „Ein lausiger Auftrag.“ Breaker runzelte die Stirn, während er darüber nachdachte, wie er sich aus diesem wieder herauswinden könnte, aber das ernste Gesicht seines Gegenüber verriet ihm sofort, dass es sinnlos war, es auch nur in Erwägung zu ziehen. Es kam ohnehin selten vor, dass Parthalan persönlich vorbeikam, um einen Auftrag zu erteilen – dass er es diesmal tat, musste daran liegen, dass es sich um einen der besonders außergewöhnlichen Art handelte und es einen guten Grund gab, dass er ein bestimmtes Mitglied darum bat. Das silber-graue Haar war zerzaust, statt so glatt wie sonst, wenn er sich jemandem zeigen musste, unter den grauen Augen lagen tiefe Schatten, die verrieten, wie wenig Schlaf er in den letzten Tagen gefunden hatte. „Ich gebe dir diesen Auftrag nicht rein aus Spaß heraus“, sagte Parthalan müde und bestätigte damit Breakers Vermutung. „Ich glaube, dass nur du diesen Dämon bekämpfen kannst.“ Er sagte nichts weiter, um es zu erklären, weswegen Breaker wieder auf das Dokument hinuntersah, auf dem der komplette Auftrag festgehalten war. Es war ein ganz gewöhnliches Formular, das von den Spähern ausgefüllt und dann normalerweise im Aufenthaltsraum der Gilde ausgehängt wurde, damit jeder Interessierte sich eine Mission aussuchen konnte, aber diese war offenbar derart speziell, dass Parthalan sich jemanden ausgesucht hatte, statt umgekehrt. Aber er fand auch unter Spezielle Fähigkeiten nichts, was darauf hinwies, warum nur er dafür geeignet sein sollte, dieses Wesen zu töten, denn genau genommen stand praktisch gar nichts auf diesem Formular – und wie ihm bei genauerem Hinsehen auffiel, fehlte sogar der Name des Dämons. Lediglich der Ort wurde genauer benannt, eine alte Lagerhalle der Gilde, nicht einmal wirklich weit von ihrem jetzigen aktuellen Aufenthaltsort. „Das hier verrät mir nicht gerade viel.“ Er wedelte mit dem Dokument vor Parthalans Nase, der nicht einmal mit der Wimper zuckte. „Wie wäre es, wenn du mir mehr davon erzählst?“ Normalerweise wurde sein Gegenüber von allen respektvoller angesprochen, immerhin war er der Assistent der Gildenchefin und stand in der Rangfolge direkt unter ihr, aber Breaker kümmerte sich nicht um derartige Gepflogenheiten und zu seinem Glück schien es Parthalan zumindest im Moment auch nicht weiter zu kümmern. „Ich bin sicher, dass dir der Name Memoria etwas sagt.“ Erneut erklärte er nichts weiter, aber das musste er im ersten Moment auch nicht. Breakers gesundes linkes Auge flammte geradezu zornig auf. „Aber natürlich! Dieses Miststück hat meinen alten Partner getötet!“ Auch wenn er Nemos erst bei dieser Gilde kennengelernt hatte, kam es ihm vor als hätten sie sich ewig gekannt. Sie waren wie Brüder gewesen, bis diese aus dem Nichts erscheinende Dämonin Nemos aus dem Leben gerissen hatte. Noch immer schmerzte der Gedanke in seiner Brust. „Und sie hat mir das hier angetan!“ Dabei deutete er derart schwungvoll auf die Augenklappe, dass er sich fast den Finger in diese gebohrt hätte. „Ich habe noch eine Rechnung mit ihr offen!“ Sein Zorn ebbte allerdings fast sofort wieder ab und schwelte nur noch unter der Oberfläche weiter, da es noch einige andere Dinge gab, die er sicherstellen musste, statt sich blind in den Kampf zu begeben. „Aber ich glaube kaum, dass du mir diesen Auftrag nur deswegen anbietest.“ „Nein, das ist richtig“, stimmte Parthalan zu. „Vielmehr geht es mir darum, dass du hier einer der wenigen bist, der gegen ihre Magie immun ist.“ „Es gibt bestimmt noch andere“, erwiderte Breaker. „Was ist zum Beispiel mit diesem Kleinen... diesem Kier-irgendwas?“ Zwar hatte er ihn selbst noch nicht gesehen, weil er quasi ständig unterwegs zu sein schien, aber er hörte die anderen in der letzten Zeit häufig über ihn reden. Einige sehr imponiert von ihm, andere eher amüsiert über den Grünschnabel, der offenbar glaubte, alle Probleme dieser Welt lösen zu können und deswegen alle Aufträge selbst angehen wollte. Parthalan schüttelte mit dem Kopf. „Das geht nicht, er hat sich bei seinem letzten Auftrag übernommen und befindet sich gerade auf der Krankenstation. Außerdem wäre er zu schwach, Memoria zu besiegen.“ Also hatte ihn sein Übermut tatsächlich direkt zum Arzt befördert, aber immerhin nicht auf den Friedhof, wo so manch anderes Mitglied ihn bereits sah. Nicht, dass mich das irgendwie interessieren würde. Wenn er so weitermacht, hält er sowieso nicht mehr lange durch. Also muss ich ihn auch gar nicht erst kennenlernen. Parthalan unterbrach ihn in seinen Gedanken, indem er fortfuhr: „Noch dazu dachte ich, dass deine persönliche Geschichte mit ihr dazu beitragen würde, sie zu besiegen.“ Er neigte ein wenig den Kopf, da es für ihn schon lange nichts mehr zu überlegen gab. „Fein, ich bin einverstanden! Und ich kann sofort los, wenn es sein muss – morgen um diese Zeit wird Memoria bereits Geschichte sein!“ Allerdings hatte Breaker sich eindeutig verschätzt. Nicht, weil Memoria es doch schaffte, seine Erinnerung zu manipulieren oder sie eine begabte Kämpferin war, sondern weil sie über zahlreiche Marionetten verfügte, die normalerweise von der Gilde verwendet wurden, um die Mitglieder zu schützen oder Dämonen auszuspähen. Memoria – und das war wohl der Grund, warum sie sich eine ehemalige Gildenlagerhalle als Hauptquartier ausgesucht hatte – gebrauchte sie allerdings als lebende Waffen im Kampf gegen Feinde. Da sie Marionetten waren, verfügten sie über keinerlei Schmerzempfinden, egal wie viele Körperteile man ihnen möglicherweise abriss, sie gaben einfach nicht auf, bis man ihre Energiequelle zerstörte. Bis es allerdings soweit war, hatten sie ihre Gegner derart viele Verletzungen zugefügt, dass er danach ohnehin nicht mehr weiterkämpfen konnte, egal gegen wen. Selbst Breaker, der seine Wut als Antrieb und seine Erfahrung nutzte, um gegen sie anzukommen und sich zu Memoria durchzukämpfen, steckte einige Angriffe ein und zog sich Verletzungen zu, wenn auch keine einzige, die ihn kampfunfähig machen würde. Als er schließlich in das Kellerlager vorgedrungen war, hatten die Angriffe der Puppen schließlich nachgelassen und er schaffte es tatsächlich bis zu der Dämonin vorzudringen. Der Raum, in dem sie saß, schien mit einer Schicht aus grünem Kristall ausgekleidet zu sein, die sich wie Eis auf Wände, Boden, Decke und kaum erkennbare Möbel gelegt hatte und lenkte Breakers Aufmerksamkeit für einen fatalen Moment von der Dämonin ab. Doch gerade als ihm bewusst wurde, dass er ein einmaliges Ziel abgab und sich wieder Memoria zuwandte – stellte er fest, dass sie ihn nicht einmal beachtete. Sie saß mit dem Rücken zu ihm auf einer Art Altar und betrachtete eine leuchtende Kugel in ihren Händen, der ihre ganze Aufmerksamkeit zu gelten schien. Er wiederum sah sie mit gerunzelter Stirn an und war unsicher über seinen nächsten Schritt. Ihre plötzlichen Worte halfen ihm allerdings nicht, sich zu entscheiden: „Du hast ganz schön lange gebraucht. So habe ich dich gar nicht in Erinnerung.“ „Du brauchst deine Tricks gar nicht erst bei mir anzuwenden, ich bin immun gegen jegliche Form der Gedächtnisveränderung.“ Das wusste er nicht zuletzt dadurch, dass sein Partner Nemos ebenfalls Meister darin gewesen war, die Erinnerungen anderer Personen nach seinem Belieben zu verändern – nur bei ihm hatte es nie funktioniert. „Ich weiß“, sagte sie mit einem leisen Lachen. „Nein, nicht weil ich es bereits versucht habe, wie du jetzt mit Sicherheit denkst, sondern weil ich mich noch sehr gut an dich erinnere – im Gegensatz zu dir anscheinend.“ In der Annahme, dass es sich dabei um eine Methode von Memoria handeln könnte, ihn lediglich zu verwirren, um ihm dann einen Stoß in den Rücken zu versetzen, versuchte er, seitwärts im Halbkreis laufend, vor sie zu kommen, damit er ihr ins Gesicht sehen könnte. „Misstraust du mir etwa?“, fragte sie amüsiert. „Du bist eine Dämonin, ich misstraue jedem von euch.“ Sie lachte noch einmal belustigt, dann blickte sie ihn direkt an, so dass er geradewegs erstarrte. Ihre Augen kamen ihm bekannt vor, irgendwo hatte er sie schon einmal gesehen, glaubte er jedenfalls, aber ihm fiel einfach nicht ein, wo. Das rückte allerdings in den Hintergrund, als sie etwas auf seine Worte erwiderte: „Dabei gehörte ich einmal zu euch – und ich war sogar dein Partner.“ Memoria erklärte ihm, dass sie einst Nemos gewesen war und sich aufgrund einer übersteigerten Trauer in die Dämonin verwandelt hatte, die er für den Tod seines Partners verantwortlich machte und die ihm in einer Phase von Verwirrung nach ihrer Verwandlung das Auge herausgerissen hatte. Anfangs fiel es ihm schwer, das zu glauben, aber je mehr Zeit er unfreiwillig mit ihr verbrachte – immerhin erlaubte sie ihm nicht mehr zu gehen und ließ zahllose Puppen sämtliche Ausgänge blockieren –, je mehr er ihren Erzählungen lauschte oder Aufzeichnungen studierte, die bereits vor seiner Ankunft hier verfasst worden waren, desto mehr begann er, ihr Glauben zu schenken. Aber während ihm bewusst wurde, was wirklich los war und welche Wahrheit ihm von Parthalan und der Gildenchefin verheimlicht wurde, wuchs seine Wut auf eben diese beiden Personen, auf die gesamte Gilde, sogar die Welt. In diesen Zeiten, in denen er sich ebenfalls beinahe in eine Dämonin verwandelt hätte, bemerkte er erst, weswegen Memoria ihn unbedingt hatte bei sich behalten wollen. An einem Tag, als er wieder einmal im Buchlager saß und sich durch alte Aufzeichnungen der Gilde las und erneut spürte, wie etwas in seinem Inneren versuchte, die Kontrolle zu übernehmen, bemerkte er plötzlich, wie jemand von hinten die Arme um ihn und den Kopf auf seine Schulter legte. Sie seufzte leise. „Sagte ich dir nicht, dass du aufhören sollst, dir zu viele Gedanken zu machen? Das ist nicht gut für dich.“ „Es kann dir doch egal sein“, gab er brummend zur Antwort. „Wäre es dir nicht lieber, wenn ich so wäre wie du? Eine Dämonin?“ „Aber nein.“ Sie klang tatsächlich traurig über seine Annahme, was ihn noch weiter verwirrte. „Ich will nicht, dass du eine Dämonin wirst, ich will nur, dass du bei mir bleibst. Ich habe Angst...“ Ihre Stimme zitterte ein wenig und obwohl er sie ohnehin nicht sehen konnte, da sie ihn daran hinderte, den Kopf zu drehen, wandte sie das Gesicht ab. „Ich liebe diese Welt... und ich weiß nicht, warum ich mich verwandelt habe, was meine Verzweiflung derart anwachsen ließ. Ich will diese Welt nicht vernichten, keine Menschen töten und vor allem will ich nicht, dass du unter mir zu leiden hast. Ich will nicht den Verstand verlieren und du bist der einzige, der das verhindern kann.“ Er fragte nicht, warum sie das sagte, weswegen sie das überhaupt dachte. Sie waren sich immer nahegestanden und es war für ihn nur verständlich, dass sie auch immer noch derart auf ihn vertraute. Aber vor allem... Sie drückte ihn dichter an sich, so dass ihm fast die Luft wegblieb. „Wenn ich trotzdem den Verstand verliere, will ich, dass du mich tötest...“ „Auch wenn ich nicht glaube, dass er das tun könnte.“ Die Erinnerung entließ Kieran derart abrupt in die Realität, dass er stolperte, ehe er innehalten konnte. Er fand sein Gleichgewicht wieder, ehe er stürzen konnte und stellte sich schließlich aufrecht hin. Der Raum, in dem er sich befand war jener, der mit der Kristallschicht ausgekleidet war, genau wie in Breakers Erinnerung. Etwas wie ein Stalagtit hing von der Decke herab, an dessen spitzen, unteren Ende, schwebte eine farblose Lichtkugel, die an und für sich nicht sonderlich stark leuchtete, aber weil der Kristall das Licht zurückwarf, wirkte der Raum dennoch viel zu hell, so dass Kieran die Augen zusammenkneifen musste. Es dauerte reichlich lange, bis er schließlich Memoria erkannte, die auf diesem Altar saß, mit Breakers Kopf auf ihrem Schoß. Der Mann wirkte blass, offenbar waren Blutverlust und die Anstrengung durch die Flucht doch genug gewesen, um ihn erst einmal bewusstlos werden zu lassen. Der Kristall umschloss seine Beine und schien sich weiter vorzuarbeiten als gelte es, den gesamten Mann zu verschlingen. „Er sieht vielleicht nicht so aus“, fuhr Memoria fort, „aber er ist einfach zu nett. Zumindest, wenn er jemanden wirklich mag. Oder sogar liebt.“ Nach dieser Erinnerung kam es Kieran nicht mehr so seltsam vor, dass sie etwas Derartiges sagte, so dass er gar nicht darüber nachdenken musste. Dafür versank er in Gedanken, ob es wohl noch andere Dämonen im Laufe seiner Karriere gegeben hatte, die von jemandem vermisst wurden, die eigentlich gar nicht böse sein wollten, die nur wegen einem Hilfeschrei von der Gilde vernichtet worden waren und immer noch bekämpft wurden, anstatt dass man ihnen anbot, ihnen zu helfen. Und während er so darüber nachdachte, verfing er sich plötzlich in einer eigenen Erinnerung, ohne dass er diesen Raum verließ. Er glaubte, auf der Kristallwand Bilder seiner Vergangenheit zu sehen, eine Frau erschien, deren langes schwarzes Haar ihr über die Schulter fiel und deren grüne Augen sanft blickten – und sein Herz wurde ihm schwer, als er sie eindeutig als Aydeen wiedererkannte. Er stellte sich vor den Kristall, hob die Hand und berührte vorsichtig, fast schon zärtlich, das Bild. Das Licht wurde ein wenig heller und im nächsten Moment waren mehr Einzelheiten erkennbar. Es war eindeutig sein Wohnzimmer, das er dort sah, Aydeen saß auf dem Sofa, der kleine Nolan saß neben ihr und blickte sie begeistert an. „Und sie besiegten den Dämon und lebten dann glücklich bis ans Ende ihrer Tage.“ Aydeens Stimme kam nur wie aus weiter Ferne bei ihm an, aber es genügte, dass er sich an dieses Ereignis erinnerte. Nolan war damals vier Jahre alt gewesen und kurz danach war er aus der Gilde verstoßen worden, weil er beschlossen hatte, seinen Ziehsohn nicht mehr zum Lazarus auszubilden und auch nicht zuzulassen, dass er zu einem werden sollte. Und wenn er sich recht entsann, war dies sogar das Ereignis gewesen, das ihn überhaupt erst zu diesem Umdenken geführt hatte. Nolan verzog nachdenklich das Gesicht, als Aydeen die Geschichte beendete. „Das Ende finde ich nicht gut...“ Kieran erinnerte sich, dass er ein wenig entfernt von ihnen gesessen und in seiner Zeitung gelesen und genau bei dieser Aussage seine Aufmerksamkeit ihnen zugewandt hatte. Aydeen neigte den Kopf. „Was? Warum findest du es nicht gut?“ Nolan sah sie ihn mit seinem altklugen Blick an, den er im Laufe der Jahre zu perfektionieren gelernt hatte. „Aber das ist doch logistisch.“ Wie üblich schaffte Aydeen es kaum, ihr Kichern zu unterdrücken, als er ein Fremdwort falsch aussprach, verzichtete aber auch wie gewohnt darauf, ihn zu verbessern, sondern lauschte ihm weiterhin interessiert. „Dieser Dämon wollte vielleicht nur Freunde haben. Ohne Freunde ist man einsam und dann ist man frustriert und kann ganz schnell gemein werden. Aber wenn die Helden ihm ihre Freundschaft angeboten hätten, wäre er vielleicht ein lieber Dämon gewesen.“ Kieran erinnerte sich, wie erstaunt er von diesen Worten gewesen war, auch wenn aus ihnen die Naivität eines Kindes gesprochen hatte. „Ich war so erstaunt und begeistert, weil sie mich an mich selbst erinnerten“, murmelte er leise und nahm die Hand wieder herunter, worauf die Bilder erloschen. „Und sie zeigten mir, wer wirklich eine Änderung über die Welt bringen sollte.“ Es war nicht er, der nur daran gedacht hatte, Dämonen zu bekämpfen und sie zu töten, damit niemand anderes unter dieser Last zu leiden hätte – es war Nolan, der keinerlei Abscheu gegen sie hegte und sich mit ihnen anfreunden wollte, statt ihren Hass nur mit noch mehr Schmerz zu erwidern. Der Gedanke, dass er möglicherweise sein ganzes bisheriges Leben mit dem vollkommen falschen Ziel verschwendet hatte, weil er zu blind gewesen war, um diese offensichtliche Wahrheit vor seinen Augen zu sehen, legte sich wie ein schweres Gewicht auf seine Brust, das ihn zu erdrücken drohte, er spürte, wie die Verzweiflung anschwoll – doch ehe er auch nur mit dem Gedanken spielen konnte, ihr nachzugeben, hörte er wie ein lauter Schrei eines Jungen durch die Gänge hallte. Ein Schrei, den er in Cherrygrove schon oft gehört hatte, aber das erste Mal mit so viel Furcht durchzogen war, dass er das Gewicht regelrecht zerschmetterte, um Kieran wieder zu befreien. „Landis...“ Er war gekommen, um Nolans Freund zu helfen und ihn wieder zurückzuholen, er konnte nun nicht einfach aufgeben, egal ob er gerade vor den Scherben seiner Vergangenheit stand. Es gab noch immer die Zukunft, auch wenn sie Nolan gehörte – irgendjemand musste sich immerhin auch um diesen kümmern. Memoria bemerkte seine schwankenden Gefühle offenbar, denn sie lachte leise. „Und? Was willst du jetzt tun, Lazarus?“ Kapitel 8: Gemeinsam -------------------- Fluchend wich Narcis so weit zurück, wie er konnte, aber die Kinder waren bereits bis zu den Kisten zurückgedrängt worden, es gab keinerlei Platz mehr, um weiter auszuweichen. Egal was er nutzte, um die Marionette anzugreifen, nichts schien ihr wirklich zu schaden, jeder Treffer erzeugte lediglich eine Delle in ihrem Körper, hielt sie aber nicht auf. Das unheimliche Lachen, das sie alle paar Sekunden von sich gab, half ihm auch nicht weiter, um sich zu konzentrieren. Die Jungen klammerten sich immer noch aneinander, aber die zuvor aufgekommene Spannung in der Luft war rasch wieder verschwunden und kurz darauf hatte die Marionette ihn angegriffen. Er verstand nicht, was es damit auf sich hatte, wollte sich aber auch nicht weiter damit befassen, es war nun wichtiger, herauszufinden, was er tun sollte, um zu entkommen. Wäre er allein, wüsste er einen Weg, aber die Kinder hinter sich konnte er nicht einfach zurücklassen. Wenige Schritte von ihm entfernt, so nah, dass er nur hätte die Hand ausstrecken müssen, um sie zu berühren, blieb die Marionette wieder stehen. Er hoffte bereits, dass sie nun entscheiden würde, sie in Ruhe zu lassen oder wieder in ihre Einzelteile zerfallen würde – doch stattdessen schnellte ein Messer aus ihrem Ärmel und wurde von ihr aufgefangen. Narcis konnte sich denken, dass es scharf war, dazu musste er nicht erst ihre Demonstration beobachten, als sie mühelos eines ihrer Haare spaltete. „Was sollen wir tun?“, wisperte Frediano, der offenbar spürte, dass auch Narcis mit seinem Latein am Ende und vollkommen überfordert war. Wurde ein Attentäter in die Ecke gedrängt und fand keine Möglichkeit zu fliehen, so hatte er gelernt, war es seine Pflicht, sich umzubringen. Damit sollte zum einen verhindert werden, dass er in Gefangenschaft geriet und zum anderen, dass er seine Ehre behielt, falls man bei Attentätern von einer solchen sprechen konnte. Narcis war sein ganzes Leben lang darauf vorbereitet worden, diesem in genau solch einem Fall ein Ende zu setzen – und doch erkannte er nun, dass er das nicht machen konnte. Würde er sich umbringen, wäre er aus dem Schneider, aber die beiden Jungen blieben schutzlos zurück. In diesem Moment prallten seine Attentäter-Erziehung und die ihm anerzogene Fürsorge gegenüber Kindern aufeinander und ließen ihn mit dem Dilemma zurück, sich etwas anderes einfallen lassen zu müssen und das schnell! „Keine Sorge“, sagte er als Erwiderung auf Fredianos Frage. „Wir kommen hier schon wieder raus. Ich lasse mir was einfallen.“ Das schien die beiden zu beruhigen, denn sie sagten nichts mehr, er selbst war dagegen weiterhin nervös, nicht zuletzt, weil er den ersten Angriff der Marionette erwartete, während sie ihn allerdings anblickte, als würde sie stumm ausharren, bis er zur Seite treten würde. Als ihm dieser Gedanke kam, deutete er ein Kopfschütteln an. Einerseits um die Lächerlichkeit davon zu demonstrieren und andererseits, um der Marionette zu verstehen zu geben, dass er sie nicht vorbeilassen würde – nur für den Fall, dass sie wirklich darauf wartete. Dass es wohl so gewesen sein musste, bemerkte er nur den Bruchteil einer Sekunde später, als sie wütend den Mund verzog und das Messer hob. Die Geschwindigkeit, in der sie ihm die Klinge über das Gesicht zog, ließ ihm keine Zeit, um zu reagieren. Erst als ihm ein warmes Blutrinnsal über die Haut rann und Landis einen erschrockenen Schrei ausstieß, registrierte er, dass es soeben wirklich geschehen war. „Herr Narcis!“, keuchte Frediano furchtsam. „Ist alles in Ordnung?“ Immerhin wusste er dank dieser Reaktion, dass die Kinder ihm nicht mehr weglaufen würden, man würde sich kaum Sorgen um jemanden machen, dem man nicht vertraute oder den man fürchtete. Er müsste nur diese verdammte Marionette aus dem Weg räumen! Doch gerade als ihm dieser Gedanke kam, stellte er irritiert fest, dass die Spannung wieder in die Luft zurückgekehrt war und dass seine Gegnerin zurückwich. Er hielt es für sicher, den Kopf zu wenden, um die Jungen anzusehen – und blinzelte dann erst einmal irritiert, um sicherzustellen, dass er nicht nur eine optische Täuschung erlitt. Die Jungen hatten beide jeweils einen Arm um den anderen gelegt, während sie die freien Hände ineinander verschränkten, aber das war es nicht, was ihn verwunderte. Vielmehr war es der um sie entstandene goldene Lichtkreis. Es schien als hätten sich unzählige Funken um sie versammelt und bildeten nun eine sanft wabernde Masse, die bereit war, jedem Schaden zuzufügen, der auch nur mit dem Gedanken spielte, einen der beiden zu verletzen. Narcis war sich nicht sicher, ob diese Fähigkeit von beiden ausging oder nur von einem von ihnen, aber im Moment wollte er das auch nicht herausfinden. Er sah wieder nach vorne. Die Marionette starrte wie gebannt auf das Licht, als ob jegliches Leben sie wieder verlassen hätte und sie nur noch stand, weil diese Nachricht ihre Beine noch nicht erreicht hatte. Narcis nutzte diese Gelegenheit, um darüber nachzudenken, wie man einem solchen Wesen wohl schaden oder wie man es ganz außer Gefecht setzen könnte, wenn keiner seiner Angriffe irgendeine nennenswerte Wirkung erzielen konnte. Selbst die Idee, sie zu verbrennen, hielt er nicht für sonderlich klug, immerhin führte er auch nichts mit sich, das ihn ein Feuer entzünden lassen würde. Doch noch während er überlegte, hörte er plötzlich hastige Schritte auf dem Gang, die innehielten, ehe ein zischendes Geräusch ertönte – und im nächsten Moment fiel die Marionette leblos zu Boden, so als hätte jemand die Fäden durchtrennt. In der Tür, mit der immer noch erhobenen Armbrust, stand der Mann, den Landis zuvor Onkel Kieran genannt hatte. Erst als er sich sicher zu sein schien, dass keine Gefahr mehr von jemandem im Raum ausging, senkte er die Armbrust. „Scheint als komme ich noch rechtzeitig.“ Die Spannung in der Luft verschwand in dem Moment, als das goldene Licht erlosch und Landis mit einem begeisterten Ausruf auf Kieran zulief. Während dieser Wiedersehensfreude, kniete Narcis sich neben die Marionette, um herauszufinden, ob es doch einen Schwachpunkt gegeben hätte. Dort, wo der Bolzen eingeschlagen war, befand sich eine Vertiefung im Rücken und bei genauerem Hinsehen entdeckte er auch mehrere grüne Kristallsplitter – das musste der Antrieb dieses Wesens gewesen sein und nun, da er zerstört war, gab es keinerlei Kraft mehr, der es antrieb. Frediano trat ein wenig scheu an ihn heran. „Sind Sie in Ordnung, Herr Narcis?“ Er hob den Kopf und erwiderte den besorgten Blick des Jungen mit einem zuverlässigen, um ihn zu beruhigen. „Ja, alles bestens. Aber warum redest du mich plötzlich so respektvoll an?“ Unwillkürlich stand Frediano plötzlich in einer steifen Haltung da, die herabhängenden Arme direkt an den Körper gepresst, den Rücken durchgedrückt. „Das gehört sich so bei ehrbaren Leuten, die einem helfen wollen und die man nicht kennt.“ Narcis musste fast schmunzeln, als er diesen einstudierten Satz hörte. Er war wohl nicht der einzige, dem man von klein auf gedrillt hatte, wenn auch in unterschiedlichen Bereichen. „Lass das, ich mag es nicht, wenn man so höflich zu mir ist.“ Frediano nickte stumm, offenbar eingeschüchtert von der Ablehnung. „Wir sollten hier weg“, meldete Kieran sich plötzlich. „Dieser Ort wird bald sehr unwirtlich werden.“ Narcis stellte sich wieder aufrecht hin und wandte sich ihm zu. „Woher willst du das wissen?“ „Ich war gerade in Memorias eigentlichem Versteck.“ „Und hast sie getötet?“ Kieran erwiderte darauf nichts, was für ihn Antwort genug war. „Gut, dann gehen wir. Der Ausgang ist...“ „Den können wir nicht benutzen“, unterbrach der andere ihn und winkte ihn mit sich auf den Gang hinaus. Narcis brummte innerlich und folgte Kieran, um sich anzusehen, was ihnen den Rückweg versperrte, dabei hoffte er, dass es keine Armee aus weiteren Marionetten war. Doch als er schließlich auf dem Gang stand und in Richtung des Ausgangs sah, wünschte er sich doch lieber die Armee herbei. Eine undurchdringlich erscheinende, massive Kristallwand arbeitete sich langsam durch den Gang und machte es dabei unmöglich, diesen weiter zu betreten oder sich auch nur dort aufzuhalten. „Und wohin sollen wir gehen?“, fragte Narcis ruhig, obwohl sein Magen sich bereits flau anfühlte. „Es gibt noch einen Ausgang“, antwortete Kieran, während er ihnen bedeutete, ihm zu folgen. Die Jungen stellten keine weiteren Fragen. Landis griff nach Fredianos Hand und lief bereits eilig mit ihm los, die Erwachsenen folgten ihnen ein wenig langsamer. Da die Kristallwand nicht sonderlich schnell war, sondern sich langsam vorarbeitete, sahen sie darin vorerst keine akute Bedrohung. „Woher weißt du eigentlich von dem anderen Ausgang?“, fragte Narcis misstrauisch. Kieran hing sich den Lederriemen der Armbrust um, damit er sie auf dem Rücken tragen könnte und sie ihn nicht weiter störte. „Memoria hat mir davon erzählt.“ „Und du vertraust ihr so einfach?“ Narcis zog die Augenbrauen zusammen und musterte Kieran, die Hand bereits auf seinen Dolch gelegt, um ihn sofort ziehen zu können. „Sie hat die Wahrheit gesagt“, erwiderte Kieran monoton. „Nur die wenigsten Personen lügen, wenn sie den sterbenden Torso ihres Liebsten in Armen halten.“ Dem konnte Narcis nicht widersprechen, so war es ihm bislang auch vorgekommen. Da ihm Kieran langsam unheimlicher wurde, als diese Marionette – immerhin wusste er sogar, wie er sie kampfunfähig machen könnte – beschloss er, das Thema zu wechseln. „Weißt du, was das für ein goldenes Licht war, das die Jungs umgeben hat?“ Kieran seufzte leise, als hätte er eigentlich gar keine Lust, sich zu unterhalten, aber er antwortete dennoch: „Ich bin mir nicht sicher, denn ich kenne nur Landis. Aber Memoria sagte, dass die beiden zwei Seiten derselben Münze wären. Möglicherweise können sie, wenn sie zusammen sind, übernatürliche Kräfte entwickeln.“ Aber seine zusammengezogenen Brauen verrieten, dass er nicht wusste, ob das überhaupt funktionieren könnte, er wusste wohl ebenfalls nicht viel mehr. Kierans Instruktionen weiterhin folgend, fanden sie sich schließlich am Ende des Ganges wieder. Eine Treppe führte weiter nach unten, war aber nach wenigen Stufen weggebrochen, ausgehend von der salzigen Luft, die ihnen entgegenwehte, nahm Narcis an, dass es an dieser Stelle eine Verbindung zum Meer gab. Allerdings war es so tief und dunkel, dass er nichts sehen konnte. „Und jetzt?“ „Wir müssen springen.“ Da Kieran weiterhin ausdruckslos blickte und seine Stimme vollkommen monoton war, glaubte Narcis für einen Moment, er würde scherzen. „Bitte?“ Doch als er das wiederholte, wandten sich auch die Jungen ihm zu. Während Frediano die Stirn gerunzelt hatte, leuchteten Landis' Augen regelrecht. „Echt, Onkel Kieran? Wir springen?“ Kieran deutete hinter sie, wo die Kristallwand es bereits unmöglich gemacht hatte, in einen der Räume auszuweichen. „Uns bleibt nichts anderes übrig, so wie es aussieht.“ „Und wenn wir das nicht überleben?“, fragte Narcis. „Dann muss uns das ja nicht weiter kümmern“, erwiderte Kieran ungerührt. Ehe er sich über die Gleichgültigkeit des anderen aufregen konnte, erhob Landis die Stimme: „Es wird schon gutgehen. Wenn Onkel Kieran sagt, dass es funktioniert, dann wird es das auch!“ Mit den Armen in die Hüften gestemmt und den Oberkörper leicht zurückgebeugt, strahlte er derart viel Selbstbewusstsein aus, dass Frediano davon angesteckt wurde und auch Narcis keine Worte mehr fand, um diesem verrückten Plan zu widersprechen. „Fein“, gab er seufzend nach. „Dann springen wir eben.“ Zufrieden ergriff Landis die Hand von Frediano und nickte diesem zu, was genauso freudig erwidert wurde – und im nächsten Moment sprangen sie bereits und waren in der Dunkelheit verschwunden. „Du solltest nicht mehr zu lange überlegen“, riet Kieran ihm, ehe er dem Beispiel der beiden Jungen folgte. Narcis blickte noch einmal zur sich nähernden Kristallwand zurück. Egal, wie er diese betrachtete, er wusste, dass es keinen anderen Ausweg mehr gab und dass Kieran wirklich im recht war. Im Prinzip war es wohl egal, wie er sterben würde, ob nun in diesem Gang oder weil die vermeintliche Chance eben doch nur eine trügerische gewesen war. Niemand sollte ihm später vorwerfen können, dass er nicht alles versucht hatte, um zu entkommen. Er atmete noch einmal tief durch, dann schloss er die Augen und sprang ebenfalls in die ungewisse Dunkelheit. Kapitel 9: Gelungene Flucht --------------------------- Unschlüssig stand Kieran immer noch in Memorias Kammer. Einerseits wollte er dem Schrei folgen, andererseits wusste er aber auch, dass er noch nicht fertig war, dass es noch etwas mit Memoria zu besprechen gab und er es nicht würde nachholen können, wenn er erst einmal diesen Raum verließ. Sie lächelte ein wenig, ohne jede Emotion, es wirkte vielmehr wie eine Grimasse, die ihm einen leichten Schauer über den Rücken jagte. „Du bist immer noch da“, stellte sie fest. „Ich habe dich unterschätzt, deine Fähigkeit, klar zu denken, ist beeindruckend.“ „Ich kann erst gehen, wenn du mir noch ein paar Sachen beantwortet hast.“ Sie nickte verstehend, ohne ihn anzusehen, da ihr Blick bereits wieder auf Breakers Gesicht gerichtet war. „Mit Sicherheit willst du wissen, warum wir die Kinder entführt haben... es war unser Auftrag. Aber ich muss dich enttäuschen, denn keiner von uns beiden weiß, wer der Auftraggeber ist. Sie hat uns mittels eines Lazarus-Orb kontaktiert.“ Es ist also eine Frau! Kieran hatte die Orbs fast schon wieder vergessen, dabei erinnerte er sich noch allzugut an die zahllosen Schauer, die ihm über den Rücken gelaufen waren, wann immer er plötzlich eine Stimme aus dem Nichts hatte hören können oder eines der Orbs kurzfristig entschloss, direkt vor seinem Gesicht vorbeizufliegen. Demzufolge war er ziemlich froh, dass er damit nichts mehr zu tun hatte. „Was solltet ihr mit den Kindern machen?“ „Sie hier behalten“, antwortete Memoria. Er wartete darauf, dass sie fortfuhr, aber da sie es nicht tat, hakte er nach: „Und?“ „Nichts weiter. Wir sollten die Kinder entführen, die Erinnerungen an sie löschen und dann abwarten, was noch geschehen würde.“ Kierans Mundwinkel zuckten, am Liebsten hätte er sich die Hand gegen die Stirn geschlagen. Wie hatten sich die beiden nur auf eine solche Mission einlassen können? Wer wusste schon, was noch alles hätte geschehen könnten? Sie lachte schnaubend. „Es war reichlich dumm von uns, nicht wahr? Genau das denkst du doch gerade. Breaker steht kurz vor dem Tod, dieser Ort wird bald unwirtlich für alle Lebewesen sein...“ Er schwieg, überlegte, was er nun tun sollte, aber er konnte immer noch nicht gehen, es gab etwas, das er noch wissen musste. „Warum diese Kinder? Weißt du das?“ Soweit er wusste, hatten sich die beiden noch niemals zuvor getroffen. Ihm wollte auch kein Grund einfallen, weswegen die beiden in irgendeiner Art und Weise etwas miteinander zu tun haben sollten. „Ich weiß es nicht genau“, antwortete sie unsicher. „Aber ich spüre, dass die beiden zusammengehören. Sie sind zwei Seiten derselben Münze.“ Kieran dachte das für einen kurzen Moment durch, dabei bemerkte er, dass sich der Kristall immer weiter auszubreiten begann. Dennoch kehrten seine Gedanken wieder zu den Kindern zurück. So wie Memoria es sagte, hörte es sich an als wären sie Zwillinge, was nicht möglich sein konnte. Oder – und das war noch unmöglicher – waren sie eigentlich dieselbe Person und sie waren nur menschlich, weil sie voneinander getrennt waren. Das würde bedeuten, sie könnten ungeahnte Kräfte entwickeln, wenn sie zusammen waren. Wer immer den beiden diesen Auftrag gegeben hatte, war nie davon ausgegangen, dass er die Kinder bekommen würde, denn eine Flucht war unter diesen Bedingungen nicht nur möglich, sondern auch unausweichlich. Aber was sollte dann hiermit bezweckt werden? „Du solltest nicht so viel nachdenken, sondern lieber fliehen“, sagte Memoria plötzlich und warf ihm etwas zu, das er automatisch auffing. Es war ein hexagonförmiger, grüner Kristall, der ein wenig kleiner als seine Handfläche war. „Um die Erinnerung aller anderen an die Kinder herzustellen, musst du diesen Kristall zerbrechen. Sie werden dann aber diesen Tag vergessen.“ Das ist vielleicht auch besser. Bis er wusste, wer oder was sie waren und welcher Art ihre Kraft war, befand er es für sicherer, wenn sie sich nicht wiedersahen und sich auch nicht aneinander erinnerten. Sobald er sicher war, dass sie keine Gefahr darstellten, konnte er sie jederzeit wieder miteinander bekanntmachen. „Danke...“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Jetzt lauf. Der Ausgang befindet sich...“ Die Erinnerung endete abrupt, als er glaubte, eine Hand auf seiner Stirn zu spüren. „Du solltest aufwachen“, sagte eine überaus bekannte Stimme, die er lange nicht mehr gehört hatte – aber zu seinem Bedauern wusste er auch, dass er sie lediglich in seinen Gedanken hören konnte. Dafür war das warme Gefühl, das sie umgab, vollkommen real, jedenfalls für ihn. „Mama...“ Doch statt ihm tröstende oder erklärende Worte zu geben, wiederholte sie nur ihre Aufforderung in anderen Worten: „Wach auf, bitte.“ Also öffnete er wirklich die Augen und stellte im selben Moment fest, dass er im Wasser lag. Bei genauerem Umsehen erkannte er, dass er sich in einem nicht sonderlich tiefen Gewässer befand, in dem es allerlei Felsen gab, an denen er hängengeblieben war. Memorias Worte, dass der von ihr genannte Ausgang zu einem unterirdischen Fluss führte, der einst von Schmugglern genutzt worden war, hatte sich als wahr erwiesen, die Strömung musste ihn an diese Stelle getrieben haben, nachdem er ohnmächtig geworden war. Er stellte sicher, dass die Armbrust unversehrt geblieben war, dann stand er auf und sah sich nach den anderen um, in der Hoffnung, dass sie an dieselbe Stelle und nicht noch weiter oder nicht so weit gespült worden waren. Zu seiner Erleichterung entdeckte er zuerst Narcis, der sich gerade leise darüber zu beklagen schien, dass er nass geworden war, in seiner Nähe und dann die beiden Jungen, die nicht weit voneinander entfernt im Wasser lagen. „Wie geht es den beiden?“, fragte Kieran, während er näherging. Narcis kam davon ab, seine Jacke auswringen zu wollen, was ohnehin wie ein hoffnungsloses Unterfangen schien und blickte zu den Jungen hinüber. „Sie sind kaum bei Bewusstsein, aber sie leben beide.“ „Ich nehme an, dass du keine Lust hattest, sie aus dem Wasser zu ziehen?“ „So in etwa.“ Narcis zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Einen der beiden wolltest du ohnehin mitnehmen. Ich kümmere mich dann nur um den anderen, das hier ist ohnehin schon mehr Stress als die ganze Sache wert ist.“ Kieran seufzte innerlich und kniete sich neben Landis, um diesen hochzuheben. Doch kaum hatte er sich ein wenig vorgebeugt, um die Arme unter den Körper des Jungen zu bugsieren, hörte er, wie dieser leise zu flüstern begann: „Was ist mit Frediano?“ Kieran warf einen Blick über seine Schulter und entdeckte, dass Narcis seine Zielperson auf die Arme hob. „Es wird ihm gutgehen“, versicherte er Landis. „Narcis bringt ihn nach Hause.“ „Aber er mag sein Zuhause nicht“, widersprach der Junge kraftlos. „Du musst... du musst...“ Was er seiner Meinung nach tun müsste, erfuhr Kieran nicht, denn bevor er den Satz beenden konnte, verlor Landis das Bewusstsein. Zumindest atmete er aber noch. Nachdem er ihn auf seine Arme genommen und sich wieder aufgerichtet hatte, warf er noch einen allerletzten Blick auf Narcis, der sich in eine andere Richtung entfernte. Anschließend hob er den Kopf ein wenig und erkannte auf einer entfernten Anhöhe tatsächlich das Lagerhaus, das nun von einer dicken Schicht aus Kristall eingeschlossen war, ein Ort an dem mit Sicherheit keinerlei Leben mehr existieren könnte, abgesehen vielleicht von Memoria selbst. Unwillkürlich fragte er sich, ob sie einsam war oder ob er nur glaubte, dass sie es sein müsste. Immerhin musste er sich nicht fragen, warum sie diesen Kristall erschaffen hatte, denn das wusste er genau, aber in diesem Moment war es unwichtig. Stattdessen setzte er sich in Bewegung, um zurück nach Cherrygrove zu kommen, bevor der nächste Morgen graute. Erst spät in der Nacht erreichten sie schließlich ihre Heimatstadt, Landis kam nicht mehr zu Bewusstsein während der Reise. Kieran machte sich allerdings keine Gedanken darum, sondern achtete lieber darauf, dass ihn keine der patrouillierenden Stadtwachen entdeckte. Er hätte nicht gewusst, wie er erklären sollte, dass er einen unbekannten, bewusstlosen Jungen durch die Stadt trug, mit dem Ziel, ihn so unauffällig wie möglich in Richards Haus zu bugsieren. Glücklicherweise konnte er sich dabei auf Teyra verlassen, die ihm sagte, wann immer keiner der Wachen auf den Wegen war, die er zu nehmen gedachte. So kam er schließlich zu Richards Haus, das wie üblich unverschlossen war, so dass er es einfach betreten konnte. Er wusste, dass es Astereas Nachlässigkeit war, der er das zu verdanken hatte, denn sie war stets die letzte, die nachts noch einmal hinausging, dafür extra die von Richard zuvor verschlossene Tür wieder aufschloss und sie, wenn sie wieder hineinging, einfach nur hinter sich zuzog. Richard wusste mit Sicherheit nichts davon, sonst hätte er das längst unterbunden. In dieser Nacht kam es ihm jedenfalls wie gerufen, denn so konnte er Landis ohne Probleme ins Wohnzimmer bringen und dort auf dem Sofa ablegen. Er wagte es nicht, hinaufzugehen, um ihn in sein Zimmer zu bringen, einer der beiden könnte immerhin einen leichten Schlaf haben und er wusste auch nicht, wie er den beiden erklären sollte, dass er einen unbekannten, bewusstlosen Jungen in ihrem Haus unterzubringen versuchte. Das Leben ist ganz schön kompliziert manchmal. Landis murmelte leise etwas, nachdem Kieran ihn abgelegt hatte, was ihm zumindest verriet, dass es dem Jungen gutging und er bald wieder aufwachen würde. Dann erst griff er in seine Tasche und zog den Kristall heraus, den Memoria ihm gegeben hatte. Das erste Mal nahm er sich Zeit, ihn genauer zu betrachten und stellte dabei erstaunt fest, dass in seinem Inneren zahlreiche Bilderfolgen abliefen, die offenbar die Erinnerungen verschiedener Leute an Landis darstellten. Und auf sehr vielen dieser Bilder erkannte er auch Nolan, sie waren unzertrennlich, so wie immer. Es war das einzig richtige, diesen Kristall zu zerbrechen, das wurde ihm nun mehr als noch zuvor bewusst. Es ging nicht nur darum, die beiden Jungen voneinander fernzuhalten, solange er nicht wusste, wer sie waren, er schuldete es auch Richard und Asterea, dass sie ihren Sohn zurückbekamen, er schuldete es Landis, dass seine Erinnerungen mit denen aller anderen übereinstimmte und er schuldete es Nolan, dass dieser seinen besten Freund nicht verlor, auch wenn Kieran ihm im Moment nicht so recht trauen konnte. Ohne weiter nachzudenken, schloss er die Hand zur Faust und zerdrückte den Kristall damit. Funken stoben zwischen seinen Fingern hervor und verloren sich alsbald irgendwo in der Dunkelheit. Als er die Hand wieder öffnete, war der Kristall restlos verschwunden und seine Arbeit getan, wie er hoffte. Falls nicht, dann würden Richard und Asterea sich am Morgen sehr über den unerwarteten Familienzuwachs wundern, aber darum wollte er sich nun keine Gedanken machen. Gut, dann gehe ich jetzt besser nach Hause... und schlafe ein wenig. Er seufzte erleichtert. „Auftrag erledigt.“ Dann fuhr er herum und ging, mit dem guten Gefühl, wieder einmal etwas geschafft zu haben, nach Hause, um in seinen gerechtfertigten Schlaf zu fallen, der hoffentlich erholsamer werden würde als jener in seinen sonstigen Nächten. Am nächsten Morgen fühlte er sich tatsächlich überraschend erholt, weswegen er um einiges beschwingter als sonst die Treppe hinunterlief. Er wollte erst seinen Tee trinken, falls er noch welchen finden würde, ehe er sich auf den Weg machte, um herauszufinden, ob alles wieder beim Alten war. Doch schon in der Küche stellte er fest, dass er gar nicht so weit würde gehen müssen. „Was tust du da?“ Nolan hielt inne, hob den Blick und sah ihn an. In seinen Händen hielt er immer noch die Dose, in der sie den Dipaloma-Tee aufbewahrten und der bereits reichlich knapp wurde. „Oh, ich wollte mir nur Tee kochen, weil ich einen so richtig seltsamen Traum hatte.“ Das war eine gute Gelegenheit, herauszufinden, wie es mit den Erinnerungen aussah, weswegen er nachhakte, was Nolan denn geträumt hatte. „Ich träumte, dass Landis verschwunden wäre und alle hatten ihn vergessen, sogar ich – nur du nicht. Und dann bist du losgezogen, um Landis zurückzuholen.“ „Klingt nach einem wirklich seltsamen Traum“, stimmte Kieran zu. „Aber jetzt bist du ja wach.“ Nolan nickte, aber noch ehe er etwas sagen konnte, wurde die Haustür aufgerissen und im nächsten Moment wirbelte Landis bereits herein. „Guten Morgen, No! Guten Morgen, Onkel Kieran!“ „Du bist aber lebhaft“, kommentierte Kieran, nachdem Nolan die Begrüßung erwidert hatte. „Also ich meine, noch lebhafter als sonst.“ Landis seufzte schwer. „Ja, Mama und Papa haben schon mit mir geschimpft, weil ich auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen habe... dabei erinnere ich mich nicht einmal, dort eingeschlafen zu sein.“ Er zuckte allerdings mit den Schultern, offenbar wollte er nicht weiter darüber nachdenken, genau wie Kieran ihn kannte, was ihn derart beruhigte, dass er sogar leicht lächeln konnte. „Willst du dann bei uns frühstücken?“ Die Worte entfuhren ihm schneller als er hatte darüber nachdenken können, aber als sie erst einmal draußen waren, konnte er sie nicht mehr zurücknehmen. Landis' Augen begannen regelrecht zu strahlen, als er das hörte. „Darf ich wirklich, ja? Dann aber klar doch!“ Um seine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, begann er auch sofort mit Nolan, das Frühstück vorzubereiten, während Kieran sich entspannt auf seinem Stuhl zurücklehnen konnte. Die beiden Jungen plapperten eine Weile unwichtige Dinge miteinander, die ihn nicht weiter interessierten, doch dann sagte Landis plötzlich etwas, das seine Aufmerksamkeit wieder auf sie lenkte: „Ich habe jetzt beschlossen, dass ich Kavallerist werden will!“ „Warum denn das?“, fragte Nolan irritiert über diesen plötzlichen Karrierewunsch. Landis neigte den Kopf von der einen auf die anderen Seite. „Ich weiß es nicht. Aber als ich heute morgen aufgewacht bin, wollte ich unbedingt Kavallerist werden. Bist du dabei?“ Nolan überlegte nicht lange, sondern zuckte mit den Schultern. „Klar, warum nicht?“ „Dann ist es beschlossene Sache“, triumphierte Landis. „Wir beide werden die besten Kavalleristen von Király und Helden!“ „Klingt gut“, meinte Nolan. Nach diesem kurzen Gespräch kehrten sie wieder zu ihrem altbekannten Geplapper zurück, so dass Kierans Aufmerksamkeit sich wieder anderen Dingen zuwandte. Wie es sein konnte, wusste er nicht, aber er war davon überzeugt, dass Landis' neuer Karrierewunsch mit den Ereignissen des Tags zuvor zusammenhing. Er hoffte nur, dass dies zu keinen Problemen führen würde, besonders bei der neuen Rolle, die er selbst Nolan zugedacht hatte. Aber es würde ohnehin noch eine Weile dauern, bis die Ausbildung der beiden in dieser Richtung beginnen könnte und bis dahin würde Kieran sich auch bereits Gedanken gemacht haben, wie er Nolan zu einem gutherzigen Lazarus, der die lange ersehnte Veränderung bringen würde, erziehen könnte. Irgendwie musste er das schaffen, selbst wenn er damit gegen seine eigenen Prinzipien verstoßen würde. Epilog: Der Pakt ---------------- „In meinen Augen liegt der Sinn eines Lebens darin, jemanden zu beschützen. Man findet eine Person, die man schützen möchte und dann tut man dies, egal auf welche Art und Weise. Manchmal geschieht das mit einfachen Dingen, indem man diesen Menschen den Halt gibt, den sie brauchen. Manchmal wirklich damit, dass man sie ihm Kampf vor einem Todesstreich bewahrt. Und manchmal, wie in meinem Fall, damit, dass man etwas tut, was man niemals tun wollte. Ich habe erkannt, dass die Person, die ich stets beschützt habe, mich nun nicht mehr so sehr braucht, wie früher. Jemand anderes hat meine Rolle übernommen und auch wenn ich darüber unzufrieden und auch eifersüchtig bin, muss ich das akzeptieren. Er hat sich entschieden, lieber jemand anderen als Schild und Anker in seinem Leben zu betrachten. Das ist in Ordnung, denn es gibt mir die Gelegenheit, meinen Schützling in meine Fußstapfen folgen zu lassen, ohne dass ich mir Sorgen machen muss, dass ich ihn damit von mir abstoße und ihn schutzlos den Angriffen der Welt und der Dämonen überlassen. Aber ich habe erkannt, dass ich so, wie ich jetzt bin, nicht das tun kann, was benötigt wird, damit er zu einem Lazarus werden kann. Ein Lazarus, der besser und erfolgreicher ist als ich. Ich kann ihn nicht hassen lassen, ich kann ihn nicht einem Dämon aussetzen, damit er erwacht. Meine Position als Beschützer ist mir so sehr eingebrannt, dass ich so etwas nicht einmal zulassen kann, das habe ich inzwischen erkannt. Deswegen bin ich hier. Man sagt, du wärst ein Naturgeist, der Leben spendet. Ich brauche deine Kraft, um Breaker am Leben zu erhalten, damit Memoria mir hilft, Nolans Erinnerung zu beeinflussen. Er muss mich hassen und verachten, auch wenn es die Dämonen sind, die ihm schaden, damit er diesen nichts nachträgt, damit er ihnen als Lazarus besser helfen kann als ich es jemals gekonnt hätte. Das ist der Grund, weswegen ich diesen Pakt mit dir schließen will. Ich werde alles tun, was du von mir verlangst, wirklich alles, solange du mir nur helfen wirst... 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