Falsche Blüten von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 1: Freunde ------------------ Unschlüssig stand er vor dem geöffneten Koffer und blickte immer wieder zwischen diesem und dem ebenfalls offenem Schrank hin und her. Sein Problem war nicht, dass er zu viele Sachen für den Koffer besaß, sondern im Gegenteil viel zu wenige. Die wenige Kleidung, die er sein eigen nannte, würde niemals reichen, um den ganzen Koffer zu füllen. Und aus einem ihm unerfindlichen Grund schien seine gerunzelte Stirn seine versammelten Freunde zu amüsieren. Mit genervtem Blick wandte er sich von seinem Schrank ab und sah zu den anderen hinüber. Zusammengedrängt saßen sie zu dritt auf Kierans Bett, das genau wie seines aus einem einfachen Holzgestell und einer alten Matratze bestand – genau wie jedes der anderen zehn Betten, die im Schlafsaal des Waisenhauses standen. Allerdings waren die anderen leer, genau wie die dazugehörigen Schränke, im Jungentrakt waren er und Kieran die letzten Verbliebenen und jedem von ihnen war klar, dass, sobald sie auch nicht mehr da waren, es nur noch eine Frage der Zeit war, bis das Waisenhaus endgültig seine Pforten schloss. Das war eine gute Entwicklung, wie selbst der Direktor der Einrichtung fand, denn es bedeutete wenig Krieg und damit noch weniger Waisen. „Könntet ihr vielleicht aufhören zu lachen?“, verlangte Richard. „Das ist nicht lustig.“ Während Kieran und Joshua schlagartig schuldbewusst verstummten, blieb das Grinsen auf dem Gesicht des ältesten Mitglieds erhalten, seine braunen Augen glühten geradezu, was einem verriet, dass er das alles gar nicht weiter ernst nahm. „Du hättest dir lieber einen kleinen Koffer leihen sollen, Richard. Was musst du auch immer so gierig sein?“ Nachdem er das gesagt hatte, strich er sich wie üblich durch das braune Haar, um zu unterstreichen, dass er das nicht sonderlich ernstmeinte. Dennoch konnte Richard nur genervt seufzen. „Sagt die Person, die mir den Koffer gebracht hat.“ Joshua, der rechts von Faren, am Fußende saß, lachte leise, während er zustimmend nickte. „Letztes Jahr, als ich endlich aus dem Heim durfte, hat er genau dasselbe mit mir gemacht.“ Richard erinnerte sich gut daran, damals hatte er bei jenen gesessen, die über Joshuas verwirrten Blick gelacht hatten. Sobald Kieran umziehen würde, so beschloss Richard, würde er ihm einen Koffer in der richtigen Größe besorgen. Genau genommen war es eigentlich kein großes Problem, darüber waren sie sich alle vier bewusst und das war möglicherweise auch der Grund, warum sie sich überhaupt darüber amüsierten, wenn einer von ihnen es doch als solches wahrnahm. Daher wandte Richard sich wieder ab und begann, seinen Koffer zu packen, auch wenn er damit nach kurzer Zeit bereits fertig war. „Vielleicht solltest du auch die Bettwäsche mitnehmen,“, schlug Faren vor, „dann sieht es nach mehr aus. Der Direktor braucht sie doch eh nicht mehr.“ Richard bedachte diesen Vorschlag nicht einmal mit einer Antwort, das übernahm bereits Joshua für ihn, die blauen Augen ungewöhnlich dunkel, was auf einen bevorstehenden Tadel hindeutete, der auch sofort folgte: „Faren, du bist ein Mitglied der Stadtwache! Wie kannst du Richard nur zu einer Straftat anstiften?“ Doch der Getadelte zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Ist ja nicht so als hätte ich ihn angewiesen, jemanden umzubringen.“ Unter den Wachen galt er allgemein als derjenige, der einmal ein Auge zudrückte, wenn etwas geschah, weswegen die Kinder und Jugendlichen des Ortes inzwischen genau wussten, dass sie nur auf seine Schicht warten mussten, wenn sie etwas planten. „Es geht hier um die Gerechtigkeit“, beharrte Joshua. „Du kannst nicht einfach Dinge stehlen, die einem anderen gehören!“ Aber auch das stieß bei Faren auf taube Ohren. „Du verbringst zu viel Zeit mit Bellinda, kann das sein?“ Ein leichter, kaum zu bemerkender Rotschimmer, legte sich auf Joshuas Gesicht, sein schwarzes Haar schien dadurch noch dunkler zu werden. „Ich verbringe absolut nicht zu viel Zeit mit Bellinda!“ Doch seine fast schon panische Reaktion sorgte dafür, dass Faren noch nachlegte: „Dann denkst du, dass du zu wenig Zeit mit ihr verbringst?“ Damit sprach er so ziemlich das einzige Thema an, auf das Joshua empfindlich reagierte, weswegen dieser demonstrativ den Blick abwandte und nichts mehr darauf sagte. Kieran, der am Kopfende saß und mit dem Rücken dagegen lehnte, nutzte die neu gewonnene Stille, um nun selbst etwas zu sagen: „Ich denke nicht, dass es angebracht ist, jemanden zum Stehlen aufzufordern, auch nicht, wenn der Besitzer des zu stehlenden Gegenstandes ohnehin genug davon hat – und da ist es egal, ob derjenige, der den Rat gibt, Stadtwache ist oder nicht.“ Faren, der wusste, dass es unsinnig war, mit dem stets ruhig bleibenden Kieran zu diskutieren, verschränkte schweigend die Arme vor der Brust. Joshua dagegen wandte den Kopf. „Danke, Kieran! Wenigstens einer, der auf meiner Seite ist.“ Der Angesprochene nickte nur und sah dann zu Richard, der den Koffer inzwischen schloss, ihn hochob und dann entschied, dass er das Positive sehen sollte: Immerhin war der Koffer nicht sonderlich schwer, aber sobald er Geld verdiente, musste er sich eindeutig mehr Sachen kaufen. „Es gibt auch keinen Grund, Bettwäsche mitzunehmen“, kommentierte nun Richard das zuvor besprochene Thema. „In dem Haus, das mir zugewiesen wurde, gibt es bereits welche.“ „Ist es nicht unheimlich, in ein Haus zu ziehen, dessen Bewohner vor kurzem gestorben sind?“, fragte Faren mit geneigtem Kopf. Als einziger in der anwesenden Gruppe war er in Cherrygrove geboren, weswegen er einfach in seinem Elternhaus wohnen konnte – im Gegensatz zu seinen Freunden, die allesamt von woanders gekommen waren und ihre Kindheit im Waisenhaus verbracht hatten. Richard machte eine ausholende Handbewegung, die den gesamten Schlafsaal einschloss. „Auch nicht viel unheimlicher als zu zweit hier zu schlafen.“ Wie auf eine stumme Einigung blickten sie zu Kieran, der aufgrund seines jungen Alters zurückbleiben musste. Dieser lächelte aber nur leicht und strich sich das schwarze Haar, das über sein linkes Auge fiel, ein wenig zurück. „Mir macht das nichts aus, ich habe keine Angst.“ Faren setzte gerade an, um etwas zu sagen, doch da wurde ihm bereits von Joshua das Wort abgeschnitten: „Musst du nicht langsam arbeiten gehen?“ „Du bist schlimmer als der Hauptmann. Ich kann nicht verstehen, warum du ihn nicht magst.“ Doch statt auf eine Erwiderung des anderen zu warten, der bereits missbilligend die Augenbrauen zusammenzog, stand Faren hastig auf, verabschiedete sich von seinen Freunden und ging davon. Joshua entspannte sich merklich, aber Kieran schüttelte den Kopf. „Du hättest ihn ruhig sagen lassen können, was er sagen wollte. Mich stört das nicht.“ „Nein, hätte ich nicht!“, beharrte Joshua. „Ich finde es nicht in Ordnung, wenn er so mit dir spricht.“ Kieran wandte den Blick ein wenig ab, aber Richard war es dennoch möglich, zu erkennen, dass sein Freund dankbar war. Auch wenn er es nicht zugab, aber er fühlte sich doch von Farens unbedachten – ja, Richard war überzeugt, dass Faren nicht bösartig sein wollte – Äußerungen angegriffen, er war nur nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren. Warum genau das so war, wusste Richard nicht, er kannte seinen besten Freund als mutig, unerschrocken und direkt – aber das galt wohl nur, solange es um keinen direkten Menschenkontakt ging. Das Glück war, dass auch Joshua die wortlose Dankbarkeit verstand und deswegen immer wieder für Kieran eintrat, egal wie oft dieser ihm sagte, dass er es nicht tun musste. Schließlich stand Joshua auf. „Ich muss dann mal los, ich habe noch was zu tun.“ Er verließ den Saal, ehe einer der anderen ihn aufhalten konnte, aber das hätte ohnehin keiner von ihnen gewollt, denn sie wussten beide, was er nun plante und da erschien ihnen eine Störung unangebracht. Außerdem war es ihnen ganz recht, wenn sie – als beste Freunde – das Folgende allein antreten würden. Kieran stand auf, als Richard den Koffer ergriff und ging gemeinsam mit ihm aus dem Saal. Auch im Gang herrschte eine ungewohnte Stille, die nichts mehr davon ahnen ließ, wieviel Leben früher in diesem Gebäude geherrscht hatte. Lediglich der abgetretene Holzboden und die Wachsmalspuren auf den ockerfarben gestrichenen Wänden, sowie die gerahmten Zeichnungen verrieten, dass viele Kinder einst hier gelebt hatten. „Irgendwie wird es mir fehlen“, meinte Richard in einem Anfall von Nostalgie. „Aber andererseits bin ich auch froh, wenn ich endlich mal wieder ein Zimmer für mich habe.“ Bis zur Zerstörung seines Heimatortes hatte er immerhin stets ein eigenes Zimmer sein Eigen genannt, in das nicht einmal seine jüngere Schwester hineindurfte. Aber er dachte lieber nicht an die Vergangenheit oder die Toten zurück. „Ich bin schon froh, ein Bett zu haben“, murmelte Kieran, er räusperte sich, ehe er lauter fortfuhr: „Du wirst ein ganzes Haus für dich haben. Wirst du dich nicht einsam fühlen?“ „Ich bin gern allein. Außerdem kannst du ja dauernd vorbeikommen, du bist alt genug, um dich nicht mehr an die Ausgangssperre halten zu müssen.“ Kieran lächelte wieder über dieses Angebot. Schweigend verließen sie das Waisenhaus, da Richard sich längst von dessen Direktor verabschiedet hatte und legten dann den Weg zu einem Haus am Stadtrand von Cherrygrove zurück. Der kleine Ort, der eine Mischung aus Stadt und Dorf zu sein schien, war in den letzten sechs Jahren zu einem Zuhause für Richard geworden. Nachdem er kurz nach der Zerstörung seiner Heimat hier angekommen war, hatte man ihn überraschend freundlich empfangen, nicht zuletzt, weil er Kierans Leben rettete – und so waren sie auch zu besten Freunden geworden. Richard konnte sich gar nicht mehr vorstellen, jemals irgendwo anders zu leben, dieser Ort war einfach... perfekt in seinen Augen. Es geschah nie etwas Aufregendes, nie etwas Gefährliches, es war immer angenehm ruhig. Er konnte es gar nicht oft genug betonen. Vor dem Haus blieben sie wieder stehen und blickten daran hinauf. Wie jedes andere in Cherrygrove war es aus dunklem Holz gefertigt und zweistöckig. Aber Richard war bereits einmal drin gewesen, auch wenn es von außen groß aussah, besaß es lediglich drei Zimmer, dafür aber auch eine Küche, eine Vorratskammer und ein Bad. Für ihn also mehr als genug. Wenn man hineinging, fand man sich direkt vor einer Treppe wieder, die nach oben führte. Nach rechts ging es ins Wohnzimmer, das wiederum in die Küche und der darin angrenzenden Vorratskammer führte. Links wiederum befand sich das Bad. Wie versprochen waren die Möbel allesamt geblieben, so dass Richard sich darum vorerst keine Sorgen machen musste. In wenigen Wochen würde er zwar ebenfalls seinen Posten bei der Stadtwache antreten, aber nicht von Anfang an etwas verdienen. Glücklicherweise war Cherrygrove inzwischen derart auf Waisenkinder eingestellt, dass man diese nach Erreichen der Volljährigkeit – die in Király 17 Jahre betrug – mit allen Kräften unterstützte, ihnen sogar Häuser zuwiesen und im geringen Umfang auch Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. „Bist du sicher, dass du nicht auch einziehen willst?“, fragte Richard. „Ganz sicher“, bestätigte Kieran. „So wie ich diese Gegend kenne, werde ich bis zu meinem 17ten Geburtstag ohnehin ein Haus in deiner Nähe bekommen.“ Am Stadtrand von Cherrygrove lebten hauptsächlich ältere Menschen, wie Richard wusste, ein Trend, der sich mit Sicherheit bald wieder legen würde – wenn sie erst einmal alle gestorben waren. „Und selbst wenn nicht, die Stadt ist nicht so groß als dass wir uns dann nicht trotzdem noch jeden Tag unbeabsichtigt über den Weg laufen würden.“ Kieran lächelte, als er das sagte, was auch Richard dazu bewegte, dasselbe zu tun. „Du hast recht, wir verlieren uns hier garantiert nicht aus den Augen. Aber bist du sicher, dass du ganz allein im Schlafsaal zurechtkommst? Es kann ziemlich unheimlich werden nachts.“ Richard erinnerte sich noch gut an die ein oder andere schlaflose Nacht, weil er irgendwelche Geräusche aus der Stadt oder dem restlichen Waisenhaus gehört hatte. Während er davon überzeugt war, dass die Mädchen in ihrem Schlafsaal nur zu laut gewesen waren – was die ganze Sache nicht minder unheimlich machte –, schien Kieran etwas anderes zu denken – aber er teilte seine Verdachtsmomente mit niemandem. „Mach dir doch nicht so viele Sorgen. Du kommst mir jetzt schon wie ein Vater vor.“ Unzufrieden zog Richard die Brauen zusammen. „Jetzt schon? Wenn es nach mir geht, werde ich niemals Vater.“ Kieran erwiderte darauf nichts, aber Richard wusste, dass es nicht daran lag, weil er ihm recht gab, sondern weil sie diese Diskussion bereits mehrmals geführt hatten und es immer auf dasselbe hinausgelaufen war. Er selbst sah sich nicht als Vater, niemals, während Kieran ihn für geradezu perfekt in dieser Beziehung hielt. Aber wenn es nach Richard ging, würden sie niemals erfahren, ob es so war oder nicht. Um von dem Thema wieder abzulenken, fiel Kieran sofort etwas Besseres ein: „Willst du mal nicht deine Kochkünste demonstrieren? Ich sterbe vor Hunger.“ Richard lachte, während er den Koffer in eine Ecke stellte, wo er niemanden stören würde. „Sicher, aber erwarte besser nicht zu viel. Ich war schon im Kochkurs eher schlecht.“ „Ich bin abgehärtet“, erwiderte Kieran unerschrocken und folgte Richard dann in die Küche, wo er den Rest des Tages damit verbringen sollte, sich über die Kochversuche zu amüsieren, so wie zuvor über das Kofferpacken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)