Falsche Blüten von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 3: Mordnacht -------------------- Spät in der Nacht war das Fest zum größten Teil bereits wieder vorbei. Die meisten Lampions waren gelöscht, bis auf wenige Besucher waren alle bereits heimgekehrt und die verbliebenen saßen zusammen, tranken den restlichen Alkohol, aßen das übriggebliebene Essen und unterhielten sich leise. Nur hin und wieder brach eine Gruppe in schallendes Gelächter aus, nur um im nächsten Moment direkt wieder leiser zu werden und sich flüsternd weiter zu unterhalten. Faren seufzte, während er das beobachtete. „Ich könnte auch ein Teil davon sein.“ Joshua sparte sich den finsteren Blick, den er seinem Kollegen zuwerfen wollte, da er ohnehin verschwendet wäre. „Jetzt bist du erst einmal ein Teil der Stadtwache, also arbeite gefälligst. Von mir aus kannst du nach der üblichen Runde nachsehen, was noch alles übrig ist und dir davon noch eine schöne Nacht machen, aber ich werde garantiert nicht allein arbeiten!“ „Früher warst du wesentlich entspannter“, maulte Faren, worauf Joshua sich jede weitere Erwiderung sparte. Es stimmte, er war einmal entspannter gewesen – bis er gut ein Dutzend seiner gemeinsamen Schichten, für die er mit Faren eingeteilt gewesen war, allein hatte hinter sich bringen müssen, inklusive des Berichts, der im Anschluss fällig gewesen war. Das hatte derart viel Zeit gefressen, dass er sich geschworen hatte, das nie wieder zuzulassen und seitdem brachte er Faren eben mit Gewalt dazu, zu arbeiten – Hauptmann Caulfield hatte immerhin bereits mehrmals klargestellt, dass er keinerlei Interesse an diesen Auseinandersetzungen hegte und seine Wachen das unter sich regeln sollten und Bellinda hatte bestätigt, dass es Faren wohl ganz guttat, wenn jemand anderes ein wenig Druck auf ihn ausübte. Er murrte zwar stets darüber, aber es kümmerte ihn offenbar auch nicht weiter, denn er tat nichts, um sich dem zu entziehen und arbeitete dann auch. Es war zwar Frühling, aber die Nächte waren immer noch reichlich kühl, weswegen sie beide braune Umhänge trugen, die sie vor der Kälte schützen sollten, Joshua hielt noch dazu eine gläserne Laterne in der Hand, um ihren Weg zu beleuchten. Ein leises Schluchzen lenkte die Aufmerksamkeit der beiden plötzlich hinter eines der Häuser. Als sie dem Laut folgten, entdeckten sie eine auf dem Boden kauernde Allegra, die sich gerade die Augen auszuweinen schien. Ein Anblick, der für sie beide absolut neu war, noch bis vor kurzem hätte Joshua alles geschworen, dass die Caulfields nicht in der Lage waren, Emotionen jeglicher Art zu empfinden – und nun saß sie hier und weinte bitterlich. Joshua drückte Faren die Laterne in die Hand, da er es für besser hielt, sie nicht zu viel Licht auszusetzen und kniete sich dann vor Allegra. „Was ist passiert? Bist du verletzt?“ Scheinbar nur widerwillig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und dabei bemerkte Joshua, dass sie wirklich verletzt war. Aus einer ungleichmäßigen Wunde, die sich quer über ihre rechte Wange zog, floss Blut, aber glücklicherweise nicht sonderlich viel. „Richard...“, brachte sie hervor, während das Schluchzen nachließ und sie sich bemühte, die altbekannte Gleichgültigkeit wieder anzunehmen. In abgebrochenen Sätzen erklärte sie, dass sie Richard noch einmal getroffen hatte, nachdem er bereits nach Hause gegangen war, doch als sie versucht hatte, mit ihm zu sprechen, war er anscheinend ausgerastet und hatte ihr mit einer Waffe, die sie nicht erkennen konnte, diesen Schnitt verpasst. Die Tränen waren wohl weniger das Ergebnis der Schmerzen, sondern eher des Schrecks und der ungewohnt harten Abweisung. Joshua half ihr dabei, aufzustehen. „Wir bringen dich besser zum Arzt, der soll sich die Verletzung mal ansehen.“ Denn, wenn er sich diese so ansah, würde es wohl auf eine Narbe hinauslaufen und das würde Allegras Stimmung noch weiter drücken, wenn sie das erst einmal begriffen hatte. Eine medizinische Behandlung könnte das allerdings noch verbessern, wenn er sich nicht irrte. Nachdem sie Allegra bei dem alternden Arzt von Cherrygrove abgeliefert hatten, setzten sie ihre Runde fort. „Was hältst du von ihrer Geschichte?“ Farens Stimme klang überraschend ernst, offenbar hatte er über ihre Worte eine ganze Weile nachgedacht, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Joshua hob die Schultern. „Sie ist eine Caulfield, ich würde ihr zutrauen, dass sie das nur erfindet, um Richard zu verunglimpfen – aber diese Verletzung gibt mir zu denken und sie klang auch sehr ehrlich. Ich glaube nicht, dass sie lügt.“ Auch wenn es ihn doch reichlich verwirrte, denn immerhin konnte er sich nicht vorstellen, dass Richard jemanden verletzen würde, nicht einmal wenn sie so aufdringlich wie Allegra war. „Hat Kieran ihn nicht nach Hause begleitet?“, fragte Faren. „Wir sollten ihn morgen fragen, wie Richard drauf war, als sie sich voneinander verabschiedet haben – und ob er irgendwelche Waffen mit sich führte.“ Dass er wirklich glaubte, dass Kieran so genau darüber Bescheid wusste, was hinter Richards desinteressierter Miene vor sich ging, beeindruckte Joshua im ersten Moment – aber dann fiel ihm wieder ein, dass Faren nur überzeugt war, dass die beiden gleichgültigen Personen der Gruppe auch beide genau dasselbe denken mussten. Also stimmte Joshua einfach nur zu und hielt gemeinsam mit Faren wieder inne, als ihnen ein reichlich ungewöhnlicher Festbesucher über den Weg lief. Sie muhte leise, als sie bemerkte, dass jemand ihr Aufmerksamkeit schenkte, Joshua dagegen seufzte leise und tätschelte ihren Kopf. „Wieder einmal ein Sternenfest auf dem Bauer Foremans Stall nicht standesgemäß abgeschlossen wurde.“ „Lass mich raten, wir müssen sie jetzt zurückbringen.“ Faren klang alles andere als begeistert, aber Joshua kümmerte sich nicht darum, sondern stimmte lediglich zu und führte die Kuh in Richtung ihres heimatlichen Stalles. Dieser lag gemeinsam mit der kleinen Farm des alten Foreman am Stadtrand, nicht weit entfernt von Richards Haus. Joshua warf einen Blick in diese Richtung, aber das Haus lag im Dunkeln, er ging also davon aus, dass sein Freund bereits schlief. Schon von weitem konnte er wirklich erkennen, dass die Stalltür offen stand, aber anders als sonst war von dem Bauern, der normalerweise bereits mit einer Mistgabel herumlief und versuchte, seine Tiere allesamt wieder einzufangen - auch wenn es sich in diesem Jahr nur um eines handelte -, nichts zu entdecken. Schlief er in dieser Nacht etwa so tief, dass er noch gar nichts mitbekommen hatte? Das sah ihm nicht sonderlich ähnlich. Wenige Schritte vom Stall entfernt, hielt Joshua wieder inne, was Faren ihm direkt nachtat. „Was ist?“, fragte er ratlos. „Lass sie uns reinbringen und dann wieder abschließen.“ „Ich habe ein ganz ungutes Gefühl...“ Ursprünglich stammte Joshua aus dem Inselreich südlich von Király, in diesem Land war er nur gelandet, weil er auf einer Reise mit seiner Familie Schiffbruch erlitten hatte – und das Gefühl vor dem Unglück war genau dasselbe wie jenes, das er in diesem Moment verspürte. Es schnürte ihm die Kehle zu und ließ gleichzeitig Übelkeit in ihm aufsteigen, am Liebsten wäre er weggelaufen, aber genau wie damals wusste er, dass es sinnlos war. Damals, weil er sich auf einem Schiff befunden hatte und in dieser Nacht, weil er spürte, dass er das Unvermeidliche damit nur hinauszögern würde. Ohne die Kuh weiter zu beachten, betrat Joshua den dunklen Stall. Er konnte irgendwo ein leises Rascheln von Stroh hören, beachtete es vorerst aber nicht weiter, da er direkt nach dem Eingang etwas auf dem Boden liegen sah, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Erst als Faren mit der Laterne dazukam, bestätigte sich sein Verdacht, was ihn erschauern ließ. Bauer Foremans Körper wurde bereits kalt, das aus seiner offenen Kehle geflossene Blut war in den erdigen Boden unter ihm gesickert. Während Joshua sich direkt wieder fing, da er den Anblick von Mordopfern bereits aus seiner alten Heimat gewohnt war, konnte er Faren hinter sich würgen hören. Verübeln konnte er es ihm jedenfalls nicht. „W-wer tut denn so etwas?“, fragte Faren schließlich, als er es ebenfalls geschafft hatte, sich wieder zu fangen. Joshua antwortete nicht, aber aufgrund von Allegras Worten zuvor, spann er eine Theorie, die ihm selbst nicht sonderlich gefallen wollte und die er auch nicht wirklich glauben konnte. Wäre irgendetwas davon wahr, dann würde ihn das nicht nur einen guten Freund kosten, es würde auch bedeuten, dass er sich in einem Menschen geirrt hatte wie noch nie zuvor. Das Rascheln des Strohs ließ nicht nach, weswegen dies das nächste Ziel für Joshuas Nachforschungen war, auch wenn Faren ihm nicht sonderlich begeistert folgte. Die Geräusche kamen aus einer der leeren Boxen und während er darauf zuging, konnte er auch Bewegungen von dort wahrnehmen. Aber was er sehen konnte, als auch Faren mit der Lampe dazukam, ließ ihn diesmal nicht nur erschauern, sondern auch erschrocken die Luft einsaugen. Auf dem rot gefärbten Stroh lag der leblose und mit blutigen Wunden überzogene Körper von Blythe und auf diesem thronte eine männliche Gestalt, die damit beschäftigt schien, den Brustkorb der Toten zu öffnen. Joshua konnte diesen Mann nur entsetzt anstarren, Faren war allerdings weniger nach Starren, sondern mehr nach einem entsetzten Ausruf: „Richard, was soll das!?“ Die Gestalt – Joshua weigerte sich einfach, diesen Mann als Richard anzuerkennen – hielt inne, drückte den Rücken durch und wandte ihnen dann über die Schulter hinweg den Kopf zu. Die Person sah wirklich aus wie Richard, nur in den Augen herrschte keinerlei Leben, nicht der Hauch einer Seele war zu erkennen. Dafür verzog die Gestalt plötzlich die Lippen zu einer furchteinflößenden Grimasse und entblößte dabei zwei Reihen überraschend scharfer Zähne. „D-das ist nicht Richard, oder?“, fragte Faren mit zitternder Stimme. Joshua wollte ihm antworten, dass es höchstens ihr Freund sein könnte, wenn er sich plötzlich in einen Dämon verwandelt hätte, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Stattdessen beobachtete er ungläubig, wie sich Richard in einer flüssigen Bewegung erhob und sich ihnen zuwandte, dabei ließ er eine nadelförmige Waffe aus seinem Ärmel – seine Kleidung war genau dieselbe, die Richard während des Festes getragen hatte – gleiten und schleuderte sie ihnen entgegen. Während Joshua zur Seite wich, zögerte Faren nicht lange, um die Nadel aufzufangen und sie wieder ihrem Besitzer zurückzugeben. Richard wich weder aus, noch fing er selbst den Angriff ab, die Nadel fuhr an seinem Hals vorbei und hinterließ einen feinen, sauberen, aber dennoch sichtbaren Schnitt auf seiner Haut. Doch statt sich über den Schmerz zu beklagen oder gar noch einmal anzugreifen, ergriff Richard die Flucht, Faren drückte seinem Kollegen die Laterne in die Hand und folgte dem Fliehenden. Joshua wiederum kniete sich neben Blythe, um sie ein wenig näher in Augenschein zu nehmen. Das Inselreich galt zwar als vereint, aber das änderte nichts daran, dass die einzelnen Inseln untereinander immer wieder in einen Clinch miteinander gerieten, so dass er quasi in einem Kriegsgebiet aufgewachsen war und fast jeden Tag Leichen in den unterschiedlichsten Stadien oder mit den unterschiedlichsten Verletzungen gesehen hatte. Dennoch machte Blythes Aussehen ihn unruhig, nicht zuletzt, weil es die erste Leiche war, die er zu Lebzeiten gekannt hatte, sondern auch, weil die erste war, die aus einem persönlichen Grund heraus umgebracht worden und nicht nur das unglückliche Opfer einer Schlacht war. Welche Verletzung genau für ihren Tod verantwortlich war, konnte er so nicht feststellen, sie war mit viel zu vielen Wunden übersät und voller Blut – aber aus irgendeinem Grund trug sie ein Lächeln auf dem Gesicht, was er gar nicht wirklich verstehen konnte. Möglicherweise hatte Richard auch da nachgeholfen. Aber was bedeutete das? Richard würde so etwas nie tun! Niemals! Und dieser Kerl war sicher nicht Richard! Faren kehrte mit einem viel zu ernsten Gesichtsausdruck zurück. „Er ist nach Hause geflohen.“ Wütend wandte Joshua sich ihm zu. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass das Richard war, oder!?“ Doch zu seiner Überraschung ließ Faren sich nicht im Mindesten verunsichern, stattdessen wirkte er zur Abwechslung sogar einmal professionell. „Wir werden ja sehen, wenn wir ihn jetzt aufsuchen. Wenn Richard am Hals verletzt ist, dann war er es, wenn nicht, dann war es irgendwer anderes – oder irgendwas.“ Joshua hatte sich bereits gewundert, warum der Angriff danebengegangen war, doch offenbar war es Absicht gewesen, ihm nur eine sichtbare, aber keineswegs gefährliche Verletzung zuzufügen – derart vorausschauend hatte er seinen Kollegen gar nicht eingeschätzt. „In Ordnung, aber lass uns vorher den Hauptmann und etwas Unterstützung holen, nicht, dass er uns noch einmal wegrennt.“ Faren nickte zustimmend und verließ gemeinsam mit Joshua den Stall, wenngleich beide ein ungutes Gefühl in ihrem Inneren mit sich trugen. Richard hatte sich noch nie daran gestört, morgens aufzuwachen. Aber das lag nur daran, weil er nachts gern durchschlief und jede Störung dieser Ruhe geradezu hasste – besonders wenn sie so lautstark war wie in dieser Nacht. Es war ein stetiges Klopfen und Hämmern gegen seine Haustür, das er zuerst zu ignorieren versuchte, doch da das nicht funktionierte, schien es wohl etwas Wichtiges zu sein, weswegen er aufstand. Er war zu verschlafen, um sich darüber zu wundern, dass er voll angezogen war, außerdem spürte er einen brennenden Schmerz an seinem Hals, weswegen er nicht weiter darüber nachdachte und stattdessen lieber die Tür öffnete – nur um sich direkt Hauptmann Severo Caulfield, zwei weiteren Wachen und dahinter auch Faren und Joshua gegenüberzusehen. Ihm blieb nicht einmal die Gelegenheit, etwas zu sagen oder nachzufragen, was passiert sein könnte, da ergriffen ihn die zwei Wachen, deren Namen er nicht kannte, an den Oberarmen, während Caulfield vortrat, um seinen Hals in Augenschein zu nehmen. „Sieht mir deutlich nach einer Verletzung aus“, brummte er. Richard blinzelte verdutzt. „Bitte?“ Allerdings beachtete ihn keiner, stattdessen wandte der Hauptmann sich Faren und Joshua zu. „Ist das auch die richtige Stelle?“ Joshua wurde augenblicklich blass, während Farens Mimik sich geradezu zu verhärten schien, aber sie nickten beide wortlos und ignorierten dabei offenbar Richards ratlosen und verwirrten Blick, mit dem er zumindest seine Freunde um Aufklärung bat. Zwar bekam er diese direkt danach, allerdings nicht von seinen Freunden, sondern von dem Hauptmann – und dessen Worte ließen ihn fast noch verwirrter als zuvor zurück: „Hiermit bist du wegen dem Mord an Bauer Foreman und der jungen Blythe verhaftet, Richard.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)