Falsche Blüten von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 4: Schuldig oder unschuldig? ------------------------------------ Wie so oft erwachte Kieran auch an diesem Tag nach dem Sternenfest auf dieselbe Art und Weise. Richard glaubte, dass sein bester Freund über eine innere Uhr verfügte, die ihm sagte, wann es Zeit wurde, aufzustehen. Faren sah es pragmatischer und tippte auf den Hunger, der ihn aus dem Bett trieb. Aber in Wahrheit war es das helle Lachen aus dem Mädchenschlafsaal, das ihn weckte und das nur er hörte. Man mochte glauben, dass er einfach über ein ausgeprägtes Gehör verfügte, das es ihm erlaubte, Geräusche aus der oberen Etage zu hören, aber auch diese Vermutung entsprach nicht der Wahrheit. Vielmehr war es so, dass dieses Lachen zu einem Wesen gehörte, das eigentlich gar nicht in dieser Welt weilte. Er fand, es war überzogen, es als Geist zu bezeichnen, denn immerhin hätte es dafür einmal gelebt haben müssen, aber ihm fiel auch keine bessere Bezeichnung ein, weswegen er es tunlichst vermied, irgendwem davon zu erzählen. Aus einem für ihn unerfindlichen Grund schien Richard dieses Wesen ebenfalls oft gehört zu haben, aber dennoch erklärte er diesem nicht, worum es sich dabei handelte. Er blendete das Wesen aus, in der vergeblichen Hoffnung, dass es irgendwann verschwinden würde, weil es von niemandem beachtet wurde. Aber selbst ohne jede Beachtung, trotz zahlreicher Nächte, in denen es erstickt geweint hatte, blieb es an diesem Ort. Er kümmerte sich, wie so oft, nicht weiter darum und zog sich stattdessen um, damit er zum Frühstück gehen konnte. Gespenstische Stille erfüllte den Saal, in dem er nun der einzige war und er tat auch nichts, um etwas daran zu ändern, er genoss diesen Zustand sogar. Absolute Stille gab es in seinem Leben immerhin selten, da war jeder Moment mit einer solchen ein Segen. Erst als er aus dem Schlafsaal in den Gang trat, wurde ihm die Stille ein wenig unheimlich. Normalerweise hörte er in diesem Moment dann immer die plaudernden Stimmen der bereits am Morgen gut gelaunten Mädchen oder die herrische von Mutter Margery, die sich um die Mädchen kümmerte, sie erzog und zu gutem Benehmen anzuhalten versuchte, wenngleich meistens vergebens. Für die Jungen war früher Vater Murdoch verantwortlich gewesen, aber als die Problemfälle alle ausgezogen waren und sich Joshua, Richard und Kieran als sehr genügsam herausgestellt hatten, war er in seinen wohlverdienten Ruhestand entlassen worden. Da keinerlei Geräusche zu hören waren, glaubte Kieran im ersten Moment, er sei zu früh aufgewacht, ließ sich davon aber nicht beirren und suchte dennoch den Speisesaal auf, da er davon ausging, dass er dort jemandem unter die Arme greifen könnte. Aber als er durch die Doppeltür in den großen, von Morgenlicht durchfluteten Saal trat, stellte er fest, dass die beiden zusammengestellten Tische besetzt waren. Da Mädchen wesentlich seltener adoptiert wurden – Jungen konnte man einfach wesentlich besser für anstrengende Arbeiten gebrauchen, so hieß es bei den Bauern – waren noch immer zehn von ihnen im Waisenhaus, aber von diesen konnte er an diesem Morgen nur neun entdecken. Blythe fehlte, wie er sofort feststellte. Margery stand am Tischende, die dünnen Arme kraftlos vor der Brust verschränkt. Ihr graues Haar war wie üblich zu einem Dutt hochgesteckt, der ihre Strenge unterstreichen sollte, aber an diesem Tag fielen einzelne Strähnen aus der Frisur und zeichneten das Bild einer von Sorge geplagten Frau, die Falten im Gesicht und die trüb blickenden grauen Augen unterstrichen es noch. Alle hoben den Blick, als sie hörten, wie Kieran die knarrende Tür öffnete, doch der Funken Hoffnung, der in ihren Augen aufgeflammt war, erlosch sofort wie eine Kerze bei einem Windstoß. Fast schon bekam er ein schlechtes Gewissen, hereingekommen zu sein. „Was ist passiert?“, fragte er leise. In der Stille schien seine Stimme wesentlich lauter zu klingen, etwas Unheilvolles, Unsichtbares lag noch dazu in der Luft und verstärkte seine unschuldige Frage noch mit einem ominösen Nachhall – zumindest schien es ihm so. Die Mädchen senkten ihre Köpfe wieder, Margery blickte ihn dafür direkt an. Nicht zum ersten Mal beschlich ihn das Gefühl, dass sie ihn musterte wie ein Falke seine Beute betrachtete, was nicht zuletzt daran lag, dass Faren eine Weile behauptet hatte, dass sich Margery bei Mitternacht in eine menschenfressende Bestie verwandelte. „Blythe ist letzte Nacht ermordet worden.“ Wäre dieser Satz von jemand anderem als Margery gekommen, hätte Kieran nun überlegt, ob er lachen sollte, aber da sie nicht zu Scherzen neigte, musste es sich um die Wahrheit handeln. Er wollte fragen, wer so etwas tun würde, besonders in einem Ort wie Cherrygrove, wo jeder jeden kannte und entweder mochte oder auf ihn angewiesen war. Hier geschahen keine Verbrechen, das war einfach nicht möglich. Aber noch ehe er fragen konnte, antwortete Margery ihm bereits: „Faren und Joshua fanden sie leider zu spät, Richard hatte sie bereits getötet.“ Es traf Kieran wie eine eiskalte Faust in den Magen, die Luft blieb ihm weg, er schwankte leicht, fing sich aber sofort wieder. Das Wesen, das hier lebte, seufzte laut, aber für jeden anderen unhörbar, offenbar war er nicht der einzige, der es nicht glauben konnte. „Das kann nicht sein“, keuchte er. Trotz der ernsten Atmosphäre kicherte eines der Mädchen und begann dann mit dem auf dem Platz nebenan zu tuscheln, aber Kieran besaß dafür keinen Blick. „Wo ist er jetzt?“ „Na wo wohl?“, erwiderte Margery und reckte dabei das Kinn in die Höhe. „Man hat ihn sofort eingesperrt, er wartet jetzt im Kerker auf sein Urteil.“ Der Kerker befand sich, soweit er wusste, im unteren Stockwerk der Wachstation. Er musste dorthin, sofort! Noch während er in Richtung der Tür strebte, hörte er Margerys verächtliche Stimme: „Ich wusste schon immer, dass diesem Richard nicht zu trauen ist. Jemand, der den Glauben an Naturgeister ablehnt, muss einfach etwas Dunkles im Sinn haben.“ Kieran blieb nicht stehen, um darauf etwas zu erwidern oder Richard in Schutz zu nehmen, er verließ den Speisesaal und dann das Waisenhaus selbst. Noch immer fiel ihm das Atmen schwer, während er durch die kleine Stadt hastete, die noch zu schlafen – oder zu trauern – schien, denn niemand begegnete ihm, Stille war sein stetiger Begleiter, doch hatte er sie zuvor noch begrüßt, wurde sie ihm nun langsam unheimlich. Die Wachstation befand sich in der Mitte der Stadt und bildete somit das Zentrum, in dem jederzeit mindestens eine Wache anwesend war, um sofort auf Beschwerden zu reagieren. Kieran kannte den Namen des Mannes, der ihn im Inneren des spartanisch eingerichteten Raumes begrüßte, nicht, aber er interessierte sich auch nicht weiter dafür, sondern brachte sofort sein Anliegen vor. Der Wachmann nickte verstehend – offenbar hatte er damit bereits gerechnet – und führte Kieran zu einer Tür, hinter der eine Treppe in das untere Geschoss hinabführte. Drei Zellen befanden sich hier unten, alle waren mit stabilen Eisenstäben versehen, durch hoch gelegene kleine Fenster fiel ein wenig Licht. Allerdings waren sie zu hoch und zu klein, um dadurch zu flüchten. Man müsste sich schon verkleinern und gleichzeitig die Fähigkeit zu fliegen bekommen, um zu fliehen. Die Atmosphäre war drückend und düster und etwas nicht Sichtbares in einer dunklen Ecke seufzte leise, ein tiefer Ton, der von einem ehemals Gefangenen stammen musste, dessen Körper nicht mehr hier war. Die ersten beiden Zellen, traurige Verschläge mit einem unbequem aussehenden Bett, waren leer, erst in der letzten fand Kieran den Gesuchten. Richard saß vornübergebeugt auf dem Bett, die Ellenbogen auf den Knien und das Kinn auf den Händen aufgestützt, seine gerunzelte Stirn und die abwesend dreinblickenden Augen verrieten, dass er gerade angestrengt über etwas nachdachte. Als er allerdings Kieran sah, sprang er sofort auf und huschte an die Gitterstäbe. Kurz vor diesen blieb er jedoch stehen, als fürchtete er, sich an ihnen zu verbrennen, wenn er ihnen zu nahe kam. „Ich habe gehört, was passiert ist“, brachte Kieran atemlos hervor, noch bevor der andere etwas sagen konnte. „Aber ich will auch deine Version hören.“ Richards Gesicht verfinsterte sich. „Es gibt keine Version. Nachdem ich zu Hause ankam, ging ich ins Bett, schlief ein – und als ich geweckt wurde, verhaftete man mich, nur wegen dieser Verletzung.“ Er deutete auf den inzwischen kaum noch erkennbaren Kratzer an seinem Hals und erklärte, dass er nicht wüsste, was dieser mit der ganzen Sache zu tun haben sollte. „Aber Faren und Joshua sahen es als eindeutiges Indiz, dass ich der Mörder bin.“ Kieran erinnerte sich, dass Margery erwähnt hatte, dass die beiden die Leiche und Richard gefunden hätten. Vermutlich war ihnen der Kratzer dabei an ihm aufgefallen oder sie hatten ihn selbst verursacht. Er würde mit ihnen darüber sprechen müssen. „Wie sieht es mit der Strafe aus?“, fragte Kieran. Richards Mundwinkel zuckten. „Hauptmann Caulfield hat mir vorhin bereits gesagt, dass ich mit der Todesstrafe zu rechnen habe. Er wird sie heute Abend verkünden und in drei Tagen vollstrecken.“ Das sagte Kieran mehrere Dinge: Caulfield war bereits von der Schuld Richards überzeugt und würde keinerlei Untersuchungen diesbezüglich anstellen und ihm blieb nicht viel Zeit, selbst etwas zu tun. Aber es lag ihm nicht sonderlich, die Hände im Schoß zusammenzulegen und darauf zu warten, dass etwas geschah, er musste Richard helfen. Die Frage, ob sein Freund unschuldig war, stellte sich für ihn gar nicht erst, Richard hatte nichts getan, davon war er überzeugt und er würde alles tun, um es auch allen anderen vor Augen zu führen. Blythes Tod schien ihn zwar nicht weiter zu bekümmern, aber das war eben Richard: Er zeigte nach außen nie, wie er sich fühlte, daraus durfte man ihm keine Schlinge drehen. Möglicherweise hatte er das auch nur noch nicht realisiert. Kieran selbst kümmerte sich immerhin auch nicht weiter um ihr Ableben – dafür hatte er bereits zu viele Tote gesehen und auch die Ermordung seines eigenen Vaters miterlebt – aber er war genausowenig der Mörder. Richard seufzte und lehnte sich nun doch mit dem Oberkörper gegen die Stangen, die ihn selbstverständlich nicht verbrannten. „Wenn diese verdammte Sternennymphe mich damals nur hätte sterben lassen“, murmelte er. „Dann hätte ich jetzt nicht diese Probleme.“ Die Worte stachen ungewohnt schmerzhaft in Kierans Brust. Nicht nur, dass er ohne Richards Hilfe ebenfalls tot wäre, er mochte seinen besten Freund auch sehr und wollte sich gar nicht vorstellen, wie das Leben wohl wäre, wenn es ihn nicht gäbe. Mit Sicherheit wäre er dann entweder selbst tot, erfroren oder ertrunken an jenem Wintertag, an dem er im Eis eingebrochen war oder er wäre der einsamste Junge von ganz Cherrygrove – oder er wäre nicht hier, sondern an einem anderen Ort, den er nur aus den Geschichten seines Vaters kannte und den er gar nicht persönlich kennenlernen wollte. „Sag das nicht“, bat er deswegen. „Ich werde dich schon wieder hier rauskriegen.“ „Wie denn?“ Richards Stimme klang kraftlos, als hätte er sich bereits selbst aufgegeben. „Sogar Joshua und Faren glauben, dass ich es war. Jeder ist von meiner Schuld überzeugt. Vielleicht war ich es dann ja wirklich.“ Wieder dieses Seufzen aus einer dunklen Ecke, Richard zuckte unwillkürlich zusammen, ließ sich aber nicht anmerken, es wirklich gehört zu haben. Kieran schüttelte entschieden mit dem Kopf. „Nein! Ich glaube an deine Unschuld! Du würdest so etwas nicht tun!“ Über diesen plötzlichen Ausbruch erstaunt, hob Richard den Kopf wieder, er musterte ihn, fast so als könne er nicht glauben, wirklich Kieran vor sich zu haben. Aber er sah ihn immerhin auch selten mit vor Leidenschaft geradezu sprühenden Augen, als er sich die Hand aufs Herz legte. „Ich schwöre dir, dass ich beweisen werde, dass du unschuldig bist und den wahren Schuldigen finde! Hauptmann Caulfield wird dich wieder freilassen müssen!“ Zuerst schien es als wollte Richard widersprechen und ihn auf die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens hinweisen, doch kaum hatte er den Mund geöffnet, schloss er diesen wieder und lächelte. Seine dann folgenden Worte klangen wesentlich zuversichtlicher: „Danke, Kieran. Was täte ich nur ohne dich?“ „Vermutlich hier versauern“, antwortete Kieran ebenfalls lächelnd. „Aber mach dir keine Sorgen mehr, ich werde alles in meiner Macht stehende tun.“ Und das war mehr als Richard oder sonst jemand ahnte. Auch wenn er absolut keine Erfahrung mit Kriminalfällen hatte, würde er das durch Ehrgeiz und seine speziellen Fähigkeiten wieder ausgleichen, daran glaubte er. „Ich werde als erstes mit Faren und Joshua reden“, beschloss er. „Also verzweifle nicht, verstanden?“ „Verstanden.“ Zufrieden mit der Reaktion, fuhr Kieran herum, damit er Faren und Joshua sofort aufsuchen und mit den Nachforschungen beginnen könnte. Als er an der Treppe ankam, hörte er noch einmal ein Seufzen, das aber dieses Mal wirklich von Richard kam: „Verdammte Sternennymphe...“ Weit entfernt von Cherrygrove und deswegen eigentlich gar nicht von Bedeutung für diese Geschichte, blieb in diesem Moment eine jung aussehende Frau stehen. Sie nieste und gab gleich darauf einen klagenden Laut von sich. „Mann...“ Sie schüttelte sich, worauf ihr langes blondes Haar um ihren Körper wirbelte. „Das ist schon das zehnte Mal heute.“ Ihre beiden Begleiterinnen, eine Frau mit rosa Haar und wachen goldenen Augen und eine Frau mit rotem Haar und sanften grünen Augen, blieben ebenfalls stehen und wandten sich ihr zu. „Stimmt etwas nicht, Asterea?“, fragte die Rothaarige. „Ich glaube, ich kriege eine Erkältung.“ Ihre beiden Begleiterinnen lachten einstimmig über diese geäußerte Vermutung. „Mach dich nicht lächerlich, Asti“, erwiderte die Rosahaarige. „Naturgeister kriegen keine Erkältung. Wahrscheinlich denkt jemand sehr intensiv an dich.“ Sie kicherte, als sie Astereas gerümpfte Nase bemerkte. „Ich hoffe, diese Person hört bald auf damit, sonst kommen wir nie voran. Wir brauchen ohnehin schon viel zu lange.“ „Ja, Cronus wird ausrasten“, kommentierte die Rothaarige sichtlich amüsiert. „Beeilen wir uns besser, bevor er glaubt, wir würden auch nicht wiederkommen.“ Damit setzten sie sich wieder in Bewegung, Asterea blieb allerdings noch ein wenig stehen und warf dabei einen Blick umher als würde sie sich beobachtet fühlen. Da sie allerdings niemanden entdecken konnte, stieß sie ein tonloses Seufzen aus und schloss sich dann rasch den anderen wieder an, ohne zu ahnen, wer gerade so stark an sie dachte oder warum. Ansonsten wäre sie mit Sicherheit sofort nach Cherrygrove geeilt, um Kieran in seinem Vorhaben zu unterstützen. So aber setzte sie ihre Suche, die an diesem Punkt absolut unerheblich ist, fort – nun endlich ohne zu niesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)