Falsche Blüten von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 7: Gebrochene Herzen ---------------------------- Der Mann weinte. Er schluchzte hemmungslos, sein ganzer Körper bebte, während die Tränen auf seine Brille fielen. Die leblose Frau in seinen Armen reagierte nicht darauf, ihre Augen blickten starr in den dunklen Himmel. Der Junge, der wenige Meter entfernt von ihnen stand und das alles beobachtete, hatte noch nicht verstanden, was eigentlich geschehen war. Sein schwarzes Haar war mit Blut verklebt, genau wie seine Kleidung, aber er schien unverletzt. Hätte man ihn allerdings gefragt, so wäre er jede Antwort schuldig geblieben, denn er war sich selbst nicht sicher, ob ihm etwas fehlte. Es dauerte einen Moment, bis der Mann sich über seine Anwesenheit bewusst wurde. Er hob den Kopf und betrachtete den Jungen, ehe er ihn zu sich winkte. „Komm her, Kieran.“ Langsam ging er zu ihm hinüber und ließ es zu, dass der Mann ihn in den Arm nahm, nachdem er die Frau vorsichtig abgelegt hatte. „Geht es dir gut?“, fragte der Mann leise. Kieran überlegte eine Weile, damit er eine korrekte und keine leichtfertige Antwort geben könnte, dann nickte er. „Ja, Papa.“ „Ich bin so froh.“ Cathan seufzte erleichtert. „Ich dachte schon, ich wäre zu spät gekommen.“ In einem Versuch, ihn zu trösten, fuhr Kieran ihm mit der Hand durch das schwarze Haar, was Cathan trotz der Tränen leise lachen ließ. „Ich werde ab sofort auf dich aufpassen“, versprach sein Vater. „Ich werde nicht zulassen, dass dir dasselbe passiert wie deiner Mutter.“ Kieran schaffte es, einen Blick auf die leblose Frau zu werfen. Ihr schwarzes Haar war fächerartig auf dem Boden ausgebreitet, ihre weiße Kleidung war blutgetränkt, die offene Wunde in ihrem Brustkorb verriet kundigen Beobachtern, was geschehen war. Er war sogar dabei gewesen und hatte alles mitangesehen, aber dennoch war es ihm noch nicht möglich, es wirklich zu verstehen, noch hatte er nichts hiervon verarbeitet. Was er allerdings wusste und begriff war, dass sein Vater entschlossen war, ihn zu beschützen und dass er das auch schaffen würde, wie ihm sein unerschöpfliches Vertrauen verriet. Selbst gegen alle Widrigkeiten – und zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, wie recht er haben würde. Ich fühlte zu diesem Zeitpunkt nichts. Aber ich war froh, dass du bei mir warst und ich nicht allein sein musste – und ich fühlte mich sicher bei dir. Ich dachte, nichts könnte mir schaden. Zu Kierans Verwunderung besuchten sie nur selten Städte. Cathan vermied es, sich zwischen andere Menschen zu mischen und tat das nur, wenn er absolut keine andere Wahl hatte oder Kieran ihn darum bat, weil er die Gesellschaft anderer vermisste. Dabei war es nicht so, dass er sich unter die anderen Kinder mischte, es genügte ihm, sie aus der Ferne zu beobachten und sich dabei vorzustellen, wie sie wohl lebten. Er vermisste dieses normale Leben nicht, weil er es nie gekannt hatte und er war glücklich darüber, bei seinem Vater sein zu können. Vor dem Tod seiner Mutter war er stets mit ihr zusammen gewesen, sie waren zwar zu dritt umhergereist, doch Cathan war stets mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen, also hatte Granya sich um Kieran gekümmert – bis sie gestorben war. Aber daran dachte Kieran nicht, als er gemeinsam mit seinem Vater auf einer Bank saß und eine noch warme Waffel mit Erdbeeren aß. Stattdessen beobachtete er, wie die anderen Eltern mit ihren spielenden Kindern umgingen und diese zum Essen nach Hause holten. Cathan tat dasselbe und seufzte plötzlich. „Es tut mir Leid, Kieran.“ Fragend hob der Junge den Kopf und sah ihn an, offensichtlich wusste er nicht, wovon sein Vater sprach, weswegen dieser fortfuhr: „Dass ich dir kein normales Leben bieten kann. Meine Umstände lassen das einfach nicht zu.“ Er wirkte bedrückt, was Kierans Herz schwer werden ließ und dafür sorgte, dass er näher an ihn heranrutschte und ihn anlächelte. „Das ist schon in Ordnung. Mir reicht es, dass du bei mir bist. Mir hat es auch früher schon gereicht, bei dir und Mama zu sein.“ Die Worte erreichten Cathans Verstand nur langsam, aber als sie es endlich taten, ließen sie ihn ebenfalls lächeln. „Danke, Kieran. Du bist wirklich der beste Sohn, den jemand wie ich haben kann.“ „Und du der beste Papa~“, erwiderte Kieran, was ihm eine vorsichtige Umarmung einbrachte, damit die Waffeln nicht beschädigt wurden. Zufrieden aßen sie beide weiter, in der nun sicheren Erkenntnis, dass sie beide eine kleine, glückliche Familie waren. Ich kann verstehen, dass du bis dahin gezweifelt hast. Aber ich war wirklich glücklich mit dir an meiner Seite. Ich habe nichts vermisst. Absolut nichts. Cathan ging leicht in die Knie, dann schnellte er in die Luft und direkt auf das Monster zu. Es ähnelte einem Drachen, aber statt einem gewaltigen Leib verfügte es über vier schuppenbewehrte lange Hälse, die in kräftigen Kiefern endeten. Sie kamen direkt aus dem Boden und schlängelten sich von dort in die Luft, also musste der Körper sich irgendwo unter der Erde befinden. Keinerlei Augen saßen auf den Köpfen, aber dennoch verfolgten sie Cathans Bewegungen genau, so als könnten sie ihn spüren – oder sogar riechen. Kieran beobachtete den Kampf zwischen Cathan und diesem Wesen, während er auf dem blattlosen Ast eines knorrigen Baumes saß, genau so wie sein Vater ihn angewiesen hatte. Die Köpfe versuchten nach Cathan zu schnappen, verfehlten ihn und schlugen mit voller Kraft in den Boden ein, wo sie jede Menge Staub und Dreck aufwirbelten. Cathan schien zu schweben, während er auswich, aber dann wurde seinem Körper offenbar bewusst, dass das gar nicht möglich war, weswegen er auf einem der Hälse aufkam und dann diesen entlanglief. Helle Lichter erschienen an seinen Händen und im nächsten Moment hielt er in beiden ein glühendes Schwert. Die Köpfe brachen aus anderen Stellen der Erde wieder hervor und versuchten erneut, ihn zu fassen zu bekommen, doch er wich durch einfache Sprünge auf andere Hälse aus, so dass sich zwei der Angreifer ineinander verbissen, als sie ihn verfehlten. Ein schmerzerfülltes Kreischen erklang aus den Tiefen der Erde, als der Schmerz den Kern des Wesens erreichte. Kieran reckte den Hals ein wenig und entdeckte Cathans Ziel – es war ein gelbes Auge mit einer geschlitzten roten Pupille, die direkt aus der Erde heraus nach oben zu sehen schien. Cathan sprang erneut, zielte mit den Waffen auf das Auge und schaffte es tatsächlich dieses zu erreichen und aufzuschlitzen. Statt Blut oder anderen Flüssigkeiten, strömte Licht heraus und nach wenigen Sekunden wurden Kierans Augen von Helligkeit überschattet. Er hörte erneut einen gellenden Schrei, während er den Blick abgewandt hielt und als das Licht erloschen war und er wieder hinsehen konnte, stand Cathan siegreich und vor allem allein in Mitte eines Kraters, in dem zuvor das Monster gelebt hatte, hell leuchtende Funken lagen auf seinem schwarzen Haar. Er hob den Kopf, rückte seine verrutschte Brille zurecht und winkte Kieran dann zu. Nichts deutete wirklich darauf hin, dass er soeben gegen ein riesiges Ungetüm gekämpft hatte. Kieran lächelte erleichtert und erwiderte das Winken überaus zufrieden. Für mich warst du immer der stärkste Mann der Welt, schon bevor ich dich das erste Mal kämpfen sah. Ich war mir sicher, dass du alles und jeden würdest besiegen können. „Könnte ich auch so werden wie du?“ Kieran blickte Cathan neugierig an und wartete auf die Antwort. Sein Vater starrte in die Flammen des Lagerfeuers, das sie in dieser Nacht wärmen sollte und wirkte alles andere als froh über diese Frage. „Ich möchte nicht, dass du so wirst wie ich, das ist nicht gut für dich.“ „Warum?“ Kieran verstand nicht, was Cathan dagegen haben könnte, wenn er in seine Fußstapfen folgte. Sollte er nicht eher stolz darauf sein, dass sein Sohn derart ambitioniert war? Er wusste von anderen Familien, die sie auf ihrer Reise gesehen hatten, dass Eltern dort sich oft freuten, wenn ihre Kinder ähnliche Pläne wie sie verfolgten. Sein Vater seufzte allerdings. „Ich will nicht, dass du so viel leidest wie ich. Es ist besser, wenn du nicht zu sehr in diese Welt hineingezogen wirst.“ Das verstand er noch weniger. Was meinte er mit dieser Welt? Er hatte doch bereits gesehen, was sein Vater alles bekämpfte und er war auch Zeuge des Todes seiner Mutter gewesen. Wie tief könnte er denn noch hineingeraten? „Meine Welt mag auf den ersten Blick heldenhaft erscheinen, aber bei genauerem Hinsehen ist sie alles andere als das“, begann Cathan mit seiner Erklärung. „Leute wie ich kämpfen gegen mächtige Dämonen, um Menschen zu retten, die dafür alles andere als dankbar sind. Menschen, die uns abstoßend finden.“ „Aber wenn es so schlimm ist, warum tust du es dann?“, fragte Kieran ratlos. Cathan lächelte sanft, mit einem Hauch von Traurigkeit dahinter. „Wenn wir es nicht tun, macht es niemand – und ich möchte diese Welt auch für dich erhalten und ich will solange ich kann, verhindern, dass du kämpfen musst.“ Kieran neigte ein wenig den Kopf. Ihm wurde bewusst, wie sehr sein Vater ihn liebte, dass er dieses Opfer auf sich nahm. Diese Erkenntnis brachte ihn dazu, näher an ihn heranzurutschen, damit er sich an Cathan schmiegen konnte, was dieser offenbar wohlwollend zur Kenntnis nahm, der traurige Schimmer hinter seinem Lächeln verschwand. „Aber was, wenn ich irgendwann doch kämpfen muss?“, fragte Kieran nachdenklich, als seine Gedanken in die für ihn ungewisse Zukunft abschweiften. „Wenn der Moment kommt, wirst du wissen, was zu tun ist“, antwortete Cathan einfach und das war das einzige, was er dazu sagen wollte, denn danach schwieg er. Und so lauschten sie beide dem Knistern der lodernden Flammen, das in der Stille der Nacht noch lauter klang als es eigentlich sollte. Ich liebte diese Zeit, die ich mit dir verbringen konnte und denke immer noch gern daran zurück. Diese Zeit gehört nur uns beiden – und deswegen darf auch niemand anderes etwas davon wissen. Nie hätte er geglaubt, Cathan einmal so sehen zu müssen. Blut floss aus allerlei Wunden, die diese Dämonin ihm zugefügt hatte. Er atmete schwer, den Oberkörper vornübergebeugt. Die Dämonin, die in Kierans Erinnerung nur ein schwarzer Fleck mit leuchtenden goldenen Augen war, stieß ein unheimliches, rasselndes Lachen aus und wollte sich direkt auf Kieran stürzen. Der Schreck nahm ihm die Fähigkeit, sich zu bewegen. Aber dennoch spürte er keinen Schmerz, als das reißende Geräusch von Krallen erklang, die etwas aufrissen. Es dauerte einen kurzen Moment, ehe sein Verstand akzeptierte, was geschehen war, dann spürte er auch Cathans Arme um seinen Körper und spürte das Blut, das von seinem Vater auf ihn tropfte. „P-Papa...“ Er hatte sich zwischen den Angriff und Kieran geworfen und ihn somit abgefangen – aber zu einem Preis, der nach Kierans Meinung viel zu hoch war. Tränen füllten rasch seine Augen, so wie damals Cathans nach dem Tod seiner Mutter. „Papa, nein!“ Auch ohne es zu sehen, wusste er, dass sein gesamter Rücken nun eine einzige Wunde war, die Dämonin stieß erneut ihr rasselndes Lachen aus, machte dieses Mal aber keinerlei Anstalten, noch einmal anzugreifen. „Bist du... in Ordnung?“, fragte Cathan atemlos. Ein dünnes Blutrinnsal lief aus seinem Mund, er hatte seine Brille verloren, in seinen dunklen Augen standen Tränen wie in denen seines Sohnes. Auch wenn dieser nicht antwortete, so nahm er das als Ja und lächelte. „Zum Glück. Kieran...“ Er wusste, was sein Vater sagen wollte, aber er wollte es nicht hören, deswegen schüttelte er heftig mit dem Kopf. „Nein! Das darfst du nicht! Papa, du kannst mich nicht allein lassen!“ „Es tut mir Leid... Ich kann dich nicht mehr beschützen. Hör mir deswegen gut zu.“ Kieran starrte ihn unverwandt an und dachte dabei schon gar nicht mehr an die Dämonin, die in unregelmäßigen Abständen ein rasselndes Lachen hören ließ, sonst aber nichts mehr tat. „Du musst unbedingt unter Menschen. Allein zu leben ist kein... erstrebenswerter Zustand. Du brauchst Freunde, Familie...“ Er hustete und unterbrach sich damit für einen Moment. „Außerdem musst du sichergehen, dass du nie... nie stirbst.“ Diese Worte verstand er nicht so wirklich. Es sollte doch ohnehin im Interesse eines jeden liegen, nicht zu sterben – jedenfalls nicht bevor man ein langes Leben hinter sich gebracht hatte. Aber ihm blieb auch keine Zeit, das zu hinterfragen, denn Cathans nächstes Husten war bereits wesentlich schwächer als jenes zuvor. „Am besten gründest du eine Familie und lebst ein normales Leben...“ Er lächelte wieder. „Ein glückliches Leben.“ Seine Augen schlossen sich und mit einem entsetzten Kreischen verschwand die Dämonin, so als hätte sie seinen Tod eigentlich gar nicht gewollt und war nun schockiert darüber, dass es doch so weit gekommen war. Er atmete nicht mehr, so viel konnte Kieran auch durch den Vorhang aus Tränen erkennen, der ihm die Sicht erschwerte, aber dennoch kniete er immer noch aufrecht und hielt die Arme um seinen Sohn geschlungen, so dass es diesem schwerfiel, diese Tatsache wirklich zu akzeptieren. „Papa?“, flüsterte er leise. „Papa, wach auf, bitte.“ Vielleicht half es ja, wenn er seine Stimme hörte? Vielleicht würde er dann aufhören, so zu tun als sei er nicht mehr am Leben und Kieran von dem Schmerz befreien, der seine Brust eng werden ließ? Doch Cathan antwortete nicht – und in diesem Moment begriff er, dass sein Vater tot und er nun vollkommen allein war. In diesem Moment glaubte ich, mein Leben würde enden. Aber ich lebte weiter und kam nach Cherrygrove, wo ich Richard und all die anderen traf. Und nun ist er derjenige, der meine Hilfe braucht, so wie ich damals die von meinem Vater und so wie die vielen anderen Menschen, die er beschützt hat... Ich werde nicht zulassen, dass ein Dämon hier in Cherrygrove wütet wie es es ihm gefällt. Ich werde diese Welt erhalten, koste es, was es wolle. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)