Falsche Blüten von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 9: Teyra ---------------- Mehrere Stunden später ging es bereits auf Mitternacht zu und trotz Joshuas Angebot, noch eine Nacht bei ihm zu verbringen, machte Kieran sich auf den Rückweg ins Waisenhaus, wo man mit Sicherheit noch wütend genug auf ihn sein würde, dass er so lange fortgewesen war. Bellinda hatte zwar versichert, dass der Leiter des Waisenhauses über seinen Aufenthaltsort informiert war, aber es war Kieran doch lieber, wenn er sich selbst dort melden würde. Außerdem wollte er nicht Joshua auf der Tasche liegen. Sie hatten nicht sonderlich viel Sinnvolles besprochen, wie er glaubte. Keinem von ihnen war eine Idee gekommen, wie sie Caulfield etwas nachweisen könnten – und Kieran war auch nicht davon überzeugt, dass der Hauptmann überhaupt etwas mit dieser ganzen Sache zu tun hatte. Sein Begehren, Richard hängen zu lassen, war wirklich seltsam, aber das musste einen anderen Grund haben, es gab keine Möglichkeit für den Mann, einen Dämon für all das eingespannt zu haben und es machte auch keinen Sinn bei seinem Einflussreichtum. Aber diese Gedanken brachten ihn im Moment nicht weiter. Normalerweise waren auch die Nächte in Cherrygrove nie wirklich still oder einsam, aber die Ereignisse der letzten Zeit mussten wohl eine gestiegene Vorsicht bei allen Einwohnern bewirkt haben, denn es war niemand auf der Straße. Das konnte Kieran nur recht sein, immerhin war sein linker Arm immer noch verbunden – Bellinda hatte die Bandagen sogar noch einmal gewechselt – und er konnte auf jegliche Fragen diesbezüglich verzichten. Er wäre zwar nicht um eine Ausrede verlegen, aber all das Lügen und Verschweigen der letzten Jahre setzte ihm schon genug zu. Da er sich vollkommen allein wähnte, blieb er mitten auf dem Dorfplatz stehen, der noch vor knapp 48 Stunden ein Ort eines lebhaften Festes gewesen war. Nun war davon nichts mehr zu erkennen und es gab ihm das Gefühl... einsam zu sein. Allein in einer Welt, in die niemand außer ihm Zutritt hatte und deren Ziel es war, ihn leiden zu lassen. Um sich nicht unnötiger Trauer hinzugeben, verwarf er diesen Gedanken und griff stattdessen in seine Tasche. Schon während seiner Anwesenheit in Joshuas Haus war ihm aufgefallen, dass sich die gefundene Nadel in seiner Tasche befand. Er musste sie gedankenlos eingesteckt haben, ehe er den Kampf gegen die Marionette begonnen hatte. Er glaubte nicht, dass diese Nadel ihm irgendwie weiterhelfen könnte, immerhin gab es an ihr keinerlei Hinweis, der ihm etwas sagte – aber dafür hörte er ein erschrockenes Einatmen. Perplex, da er sich bislang allein gewähnt hatte, ließ er den Blick schweifen, bis er zwischen den Kirschbäumen eine Bewegung entdeckte. Sein Körper versteifte sich sofort, da er in dieser Gestalt erneut eine feindliche Entität vermutete, aber etwas sagte ihm auch, dass er sich irrte. Was immer sich dort verbarg, war keineswegs auf einen Kampf aus, es war friedlich – aber es war auch nicht menschlich. Er erinnerte sich, dass er früher, als Kind, oft derartige Wesen gesehen hatte. Aber seit dem Tod seines Vaters war es ihm nicht mehr möglich gewesen. Er hatte sie noch hören können, sofern ihre emotionalen Bindungen zur menschlichen Welt kurzzeitig stark genug geworden waren, aber mehr nicht. Nun schien es ihm aber wieder möglich zu sein. Wieso...? Oh, es muss mit dieser Marionette zusammenhängen und dem darauf folgenden Traum. Irgendwie... auch wenn ich das alles nicht verstehe. Es ist zu kompliziert. Mit langsamen Schritten ging er auf das Wesen zu, nur für den Fall, dass es doch noch seine Meinung ändern und feindlich werden würde. Aber selbst als er direkt vor dem Baum stand, hinter dem sich das Wesen verbarg, spürte er keinerlei bösen Willen. „Hallo“, grüßte er freundlich und mit sanfter Stimme, um es nicht zu verschrecken. Scheu lugte es um den Baum herum, was Kieran erlaubte, einen genaueren Blick darauf zu werfen. Es sah nicht vollständig menschlich aus, aber zumindest die Körperform ähnelte dem eines kleinen Kindes. Ihre Haut war türkis, die Hände besaßen lediglich drei Finger und der Kopf war eher oval, aber am meisten fasziniert war er von den tropfenförmigen Augen, deren Farbe ihn an die eines Granat erinnerte. Sie glühten leicht, was die mysteriöse Aura des Wesens verstärkte und beständig den Blick darauf lenkte. „Hallo“, antwortete es ebenso sanft, ohne den Mund zu öffnen, auch wenn es deutlich einen solchen besaß, obwohl ihm die Lippen fehlten. Ähnlich stand es um die Nase, die lediglich zwei schwarze Löcher mitten im Gesicht waren. Kieran kniete sich vor das Wesen, um auf Augenhöhe damit zu sein. „Wer bist du?“ Ihm schien, sein Gegenüber müsste erst darüber nachdenken, vermutlich weil es nicht so häufig nach seinem Namen gefragt wurde oder aber es wusste nicht, ob es einfach so darauf antworten könnte, ohne dafür Schwierigkeiten zu bekommen. Doch schließlich kam es wohl zu der Entscheidung, dass es antworten dürfte: „Teyra...“ Kieran legte sich eine Hand auf die Brust, ehe er sich vorstellte. „Sehr erfreut“, replizierte sie – er beschloss, das Wesen aufgrund seiner glockenhellen Stimme als sie zu bezeichnen – und neigte dabei höflich ein wenig den Oberkörper. „Was tust du hier?“, fragte er weiter. Sie blickte sich einen Moment lang um, als würde sie nach etwas suchen, ohne es zu entdecken, ehe sie darauf antwortete: „Ich war schon immer hier.“ In einem ersten Impuls wollte er fragen, warum, aber er glaubte nicht, dass sie ihm eine vernünftige Antwort würde geben können. Es schien ihm, dass sie selbst nicht so genau wusste, weswegen sie hier war und er musste sich nicht ständig dieselbe Aussage von ihr anhören. „Warum kannst du mich sehen?“, fragte sie nun. „Eine lange Geschichte. Kennst du diese Gilde der Dämonenjäger?“ Er vermied es sorgfältig, den Namen auszusprechen, den sie sich gaben, er war der festen Überzeugung, dass es Unglück bringen würde. Sie nickte, neigte dann aber den Kopf und erklärte ihm frei heraus, dass sie nicht glaubte, dass er ein Mitglied sei, worauf er ein wenig lächelte. „Bin ich auch nicht. Ich bin nur der Sohn eines solchen.“ Damit schien für sie dieses Thema genug geklärt, sie schwieg wieder und betrachtete ihn nur eingehend. Er wusste nicht, warum sie das tat, fragte aber auch nicht danach, ihn interessierte etwas anderes im Moment weitaus mehr: „Du hast erschrocken eingeatmet, als ich die Nadel hervorgezogen habe, warum?“ Zur Demonstration hielt er diese hoch, worauf sich Teyras Blick auf diese fixierte. Es war schwer zu sagen, da sie über keinerlei Mimik verfügte, aber er glaubte, ihre Furcht spüren zu können. Da sie nicht antwortete, hakte er weiter nach: „Weißt du etwas über diese Nadel?“ Teyra hob die Hand, als würde sie die Nadel berühren wollen, hielt aber inne als würde sie sich doch nicht trauen. „Du kannst sie ruhig anfassen. Sie tut dir nichts.“ Zumindest auf ihn hatte sie bislang keinerlei negative Auswirkungen gehabt und ihn hätte das ebenfalls betreffen müssen, wenn damit etwas wäre. Doch Teyra schüttelte entschieden mit dem Kopf. „Nein, lieber nicht.“ „Also?“, hakte er noch einmal nach, statt sie auf ihre Abneigung direkt anzusprechen. „Woran erinnert sie dich?“ „An gar nichts“, sagte sie hastig und warf dabei erneut einen nervösen Blick umher. „Aber in der letzten Zeit sind hier viele schlimme Dinge passiert und... oh!“ Sie verstummte plötzlich und sah ihn an, die Augen noch größer als zuvor. „Du bist der Junge, der gestern von der Marionette angegriffen wurde!“ Er verzog einen Mundwinkel zu einer freudlosen Grimasse. „Ja, das war ich. Furchtbar, oder?“ Statt die Nadel zu berühren, streckte sie sich nun ein wenig, um seinen Kopf zu tätscheln als würde sie versuchen, ihn zu trösten. „Du hast dich gut geschlagen, wirklich.“ Sonderlich aufgebaut fühlte er sich durch diese Worte zwar nicht, aber er verlangte auch keinerlei Trost von ihr, daher überging es in diesem Moment. „Und du weißt wirklich nicht, wem diese Nadel gehört und diese Marionette...?“ Sie nickte, um diese Aussage zu bestätigen. Während er überlegte, ob eine Unterhaltung so überhaupt noch Sinn machte, hörte er plötzlich, wie jemand über den Platz eilte. Er wandte den Kopf, in der sicheren Erwartung, lediglich eine Wache zu entdecken – und erblickte stattdessen Joshua, ohne jegliche Uniform. Er achtete nicht auf seine Umgebung oder ob sich noch jemand in der Nähe befand. Kieran fragte sich, wohin er ging, er hatte angenommen, dass Joshua sofort schlafen gehen würde, sobald alle aus dem Haus waren. Teyra sah ebenfalls hinüber und neigte dabei ein wenig den Kopf. „Da ist er wieder.“ „Du kennst ihn?“, fragte Kieran leise, um die Aufmerksamkeit des anderen nicht auf sich zu lenken. „Er geht oft zu diesem großen Haus, in dem der böse Mann lebt.“ Es gab in Cherrygrove nicht viele Männer, die als böse bezeichnet werden konnten. Das konnte für Kieran nur eines bedeuten: Joshua suchte die Caulfields auf. Und plötzlich erinnerte er sich wieder an etwas, das sein Freund zuvor gesagt und dem Kieran im Laufe der Unterhaltung keinerlei Bedeutung beigemessen hatte: „Der Hauptmann würde unter Umständen noch Sinn machen...Während wir bei Allegra die Frage haben, warum sie einen derartig umständlichen Weg wählt, statt ihn direkt zu töten und danach sich selbst.“ Joshua empfand es tatsächlich als sinnig, dass der Hauptmann versuchen könnte, Richard ans Messer zu liefern, also musste er mehr über Caulfields Abneigung ihrem Freund gegenüber wissen. Und er wusste ebenfalls, dass Allegra selbstmordgefährdet war, was bedeutete, dass er hin und wieder Kontakt mit ihr pflegte, der nicht in der Öffentlichkeit stattfand und von dem er nicht wollte, dass einer der anderen etwas erfuhr, sonst hätte er nicht Bellinda diese Erklärung übernehmen lassen. Aber weswegen das alles? Um das herauszufinden, wollte er sich aufrichten und ihm folgen, auch wenn er wusste, dass er spätestens am Haus Probleme bekommen würde, da er nicht einfach hineingehen könnte. Doch ehe er das auch nur ansatzweise erörtern konnte, spürte er, wie Teyra ihn am Ärmel zupfte. Ungeduldig wandte er sich wieder ihr zu. „Du kannst ihm nicht folgen – aber ich kann dir helfen.“ „Wie?“, fragte er verdutzt über dieses plötzliche Angebot. Sie ließ sein Hemd wieder los und hielt ihm stattdessen wortlos die Hand hin. Offenbar wollte sie, dass er es von selbst herausfand. Er streckte seine Hand aus, zögerte aber noch einen kurzen Moment, die ihre zu ergreifen. Er wusste nichts über Teyra, außer dass sie ein Wesen war, das aus irgendeinem Grund hier lebte und alles beobachtete, was in Cherrygrove vor sich ging. Nicht einmal, warum sie ihm ein solches Angebot machte oder woher sie wusste, dass er Joshua hatte folgen wollen, war ihm bekannt. Ihm schien, dass sie manche Dinge einfach wusste und da es sich bei ihr um ein übernatürliches Wesen handelte, hinterfragte er lieber nicht weiter. Wenn er ehrlich war, interessierte ihn im Moment auch brennend, was sie vorhatte, um ihn erfahren zu lassen, was Joshua bei Caulfield wollte. Also zögerte er nicht länger und ergriff ihre Hand, die überraschend warm war. Im nächsten Moment überkam ihn das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, etwas hob ihn geradewegs in die Luft, ohne dass er sich wehren oder auch nur im Mindesten bewegen konnte. Der Flug nach oben stoppte, noch bevor er sich an das Gefühl gewöhnen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde war es ihm möglich, sich selbst zu sehen, wie er mit Teyra am Fuß des Baumes stand, dann ging der Blick ohne sein Zutun wieder nach oben, er hörte das Schlagen von Flügeln, glaubte zu spüren, wie sich seine Arme – Flügel – ausbreiteten und einen Augenblick später, befand er sich bereits wieder in der Luft. Er fürchtete nicht, dass er abstürzen konnte; eine tiefsitzende Selbstverständlichkeit, die er normalerweise nur beim Laufen verspürte, legte sich wie eine wärmende Decke auf einen Frierenden und gab ihm das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, obwohl er diese Situation nicht einmal im Ansatz verstehen konnte. Er entdeckte das Haus der Caulfields und landete dort auf einem Fensterbrett, das zu einem erleuchteten Zimmer gehörte. Hier war es ihm nun möglich, einen Blick auf sein Spiegelbild in der Fensterscheibe zu erhaschen, doch was er sah, erschreckte ihn so sehr, dass er sich für den Bruchteil einer Sekunde wieder mit Teyra am Baum wiederfand, ehe sie seine Hand fester griff und er erneut zurückkehrte. Er war eindeutig eine Eule... oder ein Uhu, er kannte sich mit Tieren nicht sonderlich aus und im Moment interessierten ihn derartige Haarspaltereien auch nicht, ihn schockierte die Tatsache, dass er ein Vogel war zu sehr. Doch statt sich seiner Panik, Furcht und Verständnislosigkeit hinzugeben und so möglicherweise vom Fensterbrett zu stürzen und sich zu verletzen, versuchte er, sich auf die Geschehnisse im Inneren des Hauses zu konzentrieren. Das Zimmer, vor dem er gelandet war, schien ein Arbeitszimmer zu sein, jedenfalls war der prunkvolle Schreibtisch mit den unzähligen Unterlagen und der im Moment entzündeten Gaslaterne darauf, ein eindeutiges Zeichen für ihn. Caulfield und Joshua betraten den Raum, der Hauptmann wirkte so grimmig wie immer, sein Untergebener dagegen sah nicht im Mindesten erfreut über dieses Treffen aus. Das beruhigte Kieran zumindest ein wenig, denn es sagte ihm, dass Joshua nicht aus tiefer Überzeugung heraus zu ihm gegangen war. Caulfield setzte sich auf einen der drei Sessel, die im Raum standen und vermutlich für derartige Gespräche gedacht waren und bat Joshua, auf dem ihm gegenüber Platz zu nehmen. Sein Untergebener tat das auch, lehnte sich allerdings nicht zurück, sondern rutschte bis auf die Kante vor, so dass er jeden Moment einfach herunterfallen könnte. Sein ganzer Körper verriet, wie unangenehm ihm diese Situation war. „Was führt dich zu mir?“, fragte der Hauptmann. Joshuas Mundwinkel zuckten, für einen kurzen Augenblick schien es als würde er aufstehen und wortlos wieder gehen wollen, doch stattdessen blieb er sitzen und antwortete: „Kieran und Bellinda haben mir erzählt, was geschehen ist, als sie am Tatort waren.“ Caulfield nickte bedächtig und wartete darauf, dass Joshua fortfuhr, aber dieser brachte nur eine Frage vor: „Glauben Sie an Dämonen, Hauptmann?“ Er hielt einen kurzen Moment inne, da ihn das Thema wohl überraschte, dann schnaubte er verächtlich. „Natürlich nicht. Dämonen sind nur Ausreden für Leute, die sich nicht eingestehen wollen, dass es böse Menschen in dieser Welt gibt.“ Er log nicht, denn sonst, so wusste Kieran, hätte er entweder ein wenig länger überlegt, um sich irgendwelche Worte zurechtzulegen, die keine richtige Antwort gewesen wären oder er hätte viel zu schnell und unüberlegt eine bereitgelegte Aussage geliefert. So aber klang es wie die ehrliche Äußerung eines Mannes, der sich zwar mal über dieses Thema Gedanken gemacht hatte, dann aber zu dieser Erkenntnis gekommen war. Dennoch ließ Joshua nicht locker. „Kieran und Bellinda sagen, es wäre ein Dämon und nicht Richard gewesen, der das getan hat.“ „Du solltest ihnen nicht alles glauben“, erwiderte Caulfield. „Die beiden würden mit Sicherheit alles mögliche behaupten, um Richard zu decken. Da ihnen aber nichts einfällt, kommen sie mit einer solch abstrusen Geschichte.“ „Warum gibt es keinen Prozess für Richard?“, hakte Joshua nach. „Normalerweise-“ „Es gibt keinen Sinn, einen Prozess zu führen, wenn wir drei Augenzeugen haben, die Richard eindeutig identifizieren konnten.“ Caulfield bedachte ihn dabei mit einem stechenden Blick, immerhin war er ebenfalls einer dieser Zeugen. „Dazu kommt noch diese Verletzung, die zu Farens und deiner Beschreibung des Tathergangs passt. Denkst du wirklich, ein Prozess würde daran noch etwas ändern? Aus dem Nichts Zeugen erscheinen lassen, die euch widersprechen?“ Auf diese Fragen wusste Joshua keine Antwort mehr. Er senkte resignierend den Kopf, als er erkannte, dass er nichts mehr für Richard tun könnte, dann richtete er seinen neuerlich Blick wieder auf den Hauptmann. „Faren und Bellinda wollen Ihre Zusammenhänge zur Tat erforschen.“ Caulfield stieß ein überraschtes und gleichzeitig amüsiertes Lachen aus. „Da werden sie nicht viel herausfinden können. Ich gebe zu, es war ein Glücksfall für mich, dass Richard mir derart in die Hände spielt und ich endlich eine Gelegenheit fand, ihn loszuwerden – aber mit diesem Mord habe ich nicht das Mindeste zu tun.“ Er zuckte mit den Schultern. „Sollen sie forschen so viel sie wollen, vielleicht sind sie dann endlich mal ausgelastet. Du wirst ihnen weiterhin helfen – oder besser so tun als ob und mir übermitteln, was und warum sie es tun.“ Joshua seufzte leise. „Verstanden.“ Damit schien dieses Gespräch bereits beendet, denn die beiden verabschiedeten sich voneinander und Joshua machte sich bereit, aufzustehen. Kieran jedenfalls entschied, genug gehört zu haben und den Rest auf einen anderen Weg in Erfahrung zu bringen. Mit aller Macht riss er sich von Teyras Hand los und wich einen Schritt zurück, damit sie nicht noch einmal nach ihm greifen könnte. Die abrupte Rückkehr in seinen eigenen Körper, ließ ihn würgend in die Knie gehen, ein saurer Geschmack von Magensäure stieg seine Speiseröhre herauf. „W-was war das?“ „Ich habe dein Bewusstsein für einen Moment an eine Eule gebunden“, erklärte Teyra emotionslos. „Es hat funktioniert, oder?“ „Es war schmerzhaft.“ Und furchteinflößend, fügte er in Gedanken dazu. Auch ohne jegliche Mimik auf Teyras Gesicht, wusste er, dass sie nicht verstand, warum es sich für ihn so angefühlt hatte. Etwas, das kein Mensch ist und es auch niemals gewesen war, konnte immerhin nicht dasselbe wie ein solcher fühlen. „Aber du hast erfahren, was du wissen wolltest, oder?“ Er nickte leicht, die Übelkeit flaute nur langsam wieder ab. „Ja, habe ich und...“ Sein Blick ging zum Platz, als er wieder Schritte hörte. Es war wie erwartet Joshua, aber diesmal lief er langsam und mit gesenktem Kopf, er war deutlich bedrückt. Kieran überlegte, ihn erst einmal gehen zu lassen und ihn ein andermal darauf anzusprechen – aber seine Verwirrung war zu groß, er konnte nicht mehr warten. Also rief er seinen Namen und ging dann auf Joshua zu, als dieser stehenblieb. Der vermeintliche Verräter musterte ihn erst erschrocken und dann fragend. „Wolltest du nicht ins Waisenhaus gehen?“ Kieran hielt wenige Schritte von ihm entfernt inne, darauf bedacht, eine klare Distanz zwischen sie beide zu bringen. „Da gehe ich auch noch hin. Aber vorher wollte ich dich etwas fragen?“ Er glaubte regelrecht sehen zu können, wie Joshua zu schwitzen begann, wartete aber nicht darauf, ob er überhaupt mit einer Frage einverstanden wäre, sondern tat das sofort: „Warum arbeitest du für Severo Caulfield?“ Diese Unverblümtheid ließ Joshua nach Luft schnappen, er öffnete bereits den Mund, vermutlich um es zu dementieren, aber etwas ließ ihn innehalten – und schließlich seufzen. „Ich mache das ja nicht gern“, verteidigte er sich. „Aber, verstehst du, ich bin damit aufgewachsen, dass man seinen Vorgesetzten zu gehorchen hat! Dort, wo ich herkomme, war es unabdingbar, seinem Vorgesetzten zu gehorchen und notfalls auch den Spion für ihn zu spielen!“ „War es auch unabdingbar, seine Freunde zu verraten?“ Wütend runzelte Joshua seine Stirn. „Natürlich! Wenn sie etwas getan haben, das den Frieden des Landes gefährdet, dann hat man auch sie verraten!“ Kieran wich ein wenig zurück, als er in den Augen des anderen einen fanatischen Schimmer entdeckte, den er bislang noch nie an ihm gesehen hatte. Er war immer erstaunt von Joshuas Geschichten über dessen Kindheit gewesen, weil Kieran immer im Glauben gewesen war, dass nichts von der dort üblichen Indoktrination seinen Freund beeinflusst hatte – und nun wurde er so eines Besseren belehrt. „Und Bellinda und Faren gefährden den Frieden?“, fragte Kieran leise, fast schon eingeschüchtert. Als er diese beiden erwähnte, zuckte Joshua zusammen, der entschlossene Schimmer in seinen Augen flackerte. Doch er kehrte sofort wieder. „Nein, aber Richard tut es sehr wohl. Wenn der Hauptmann sagt, es ist besser, Richard zum Wohle des Landes hinzurichten, dann... dann...“ Er beendete den Satz nicht, stattdessen schluckte er schwer, Kieran konnte Tränen in den Augen des anderen sehen. Also besaß er zumindest noch ein Gewissen. „Wie sollte Richards Tod dem Land dienen?“, fragte er. Auf diese Frage konnte Joshua allerdings nur mit den Schultern zucken, er senkte den Kopf und murmelte dabei kaum verständlich, dass er das auch nicht so recht wusste. „Aber wenn der Hauptmann es sagt... der Hauptmann hat immer recht, er wird es schon wissen.“ Kieran fiel nicht ein, was er darauf erwidern sollte, ihm kam lediglich ein Gedanke: Dann wird es Zeit, dass wir einen neuen Hauptmann bekommen. Sollten sie Beweise dafür finden, dass Caulfield egoistische Gründe für Richards schnelle Hinrichtung hatte, würde das ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit einen neuen Hauptmann bringen. Kieran konnte also nur hoffen, dass Bellinda und Faren erfolgreich waren und Joshua sie nicht davon abhalten würde, diese Beweise öffentlich zu machen. „Joshua...“ Der Blick des anderen festigte sich wieder, er hob den Kopf, um ihn anzusehen. Der fanatische Schimmer war noch immer da, aber wesentlich weniger ausgeprägt als noch zuvor, was es Kieran schwer machte, genug Entschlusskraft aufzubringen, um seine nächsten Worte zu sagen: „Ich werde den anderen nichts hiervon erzählen – aber du musst deine Prioritäten klären und herausfinden, was dir wichtiger ist: Richard und deine Freunde oder der Hauptmann.“ Joshuas Mundwinkel zuckten ein wenig nervös, aber er sagte nichts, sondern nickte nur. Kierans Gesichtszüge verhärteten sich. „Aber lass dir eines gesagt sein: Wenn du dich gegen Richard entscheidest, wirst du sein Feind – und jeder Feind Richards ist auch der meine!“ Auf diese Worte wich jegliches Blut aus Joshuas Gesicht, aber er nickte verstehend, mit einem Blick, der verriet, dass er seinen Gegenüber fürchtete und ihn nicht wirklich als Gegner haben wollte. Ohne noch etwas zu sagen, fuhr Kieran herum und kehrte wieder zu Teyra zurück. Er hörte, dass Joshua hinter seinem Rücken eilig davonlief – und auf einmal fühlte er sich erneut so einsam wie zuvor. Er hätte diese Worte nicht sagen sollen, auch wenn sie ehrlich gemeint gewesen waren, sie klangen einfach nicht nach ihm. Allerdings hätte gleichermaßen er nie vermutet, dass Joshua ihnen so in den Rücken fallen könnte, obwohl ihm bewusst war, dass es sich dabei nur um das Ergebnis jahrelanger Indoktrination im Kindesalter handelte. Auf jeden Fall habe ich jetzt wohl einen Freund weniger... aber ich kann nicht zulassen, dass Richard wegen ihm etwas geschieht. Irgendwann, wenn alles vorbei war, davon war er überzeugt, würde sich alles wieder einrenken und sie könnten wieder Freunde sein – auf irgendeine Art und Weise. Vorerst gab es aber andere Dinge, die es zu tun gab. „Danke, Teyra.“ Sie neigte verständnislos den Kopf. „Wofür?“ „Ohne dich wäre mir nie bewusst geworden, auf welchen meiner Freunde ich achten muss.“ Er hätte Faren eher als Verräter gesehen, aber niemals Joshua. Allein der Gedanke daran, ließ ihn innerlich immer wieder seufzen. Ich hoffe, er entscheidet sich richtig. „Ich muss jetzt aber wirklich gehen“, sagte Kieran. „Also muss ich mich von dir verabschieden.“ Sie nickte leicht. „Natürlich, Menschen müssen sich ab und zu ausruhen, ich weiß. Komm wieder vorbei, wenn du Zeit hast.“ Er versprach ihr, das zu tun, dann drehte er sich um, damit er seinen Weg fortsetzen könnte, als ihre folgenden Worte ihn noch einmal irritiert innehalten ließen: „Wenn du Aria siehst, sag ihr bitte, dass sie niemanden mehr zum falschen Kirschbaum schicken soll. Das bekommt dem Frieden in Cherrygrove nicht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)