Falsche Blüten von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 10: Der Morgen danach ----------------------------- Am nächsten Morgen war Kieran nicht nach Aufstehen. Vollständig angezogen auf der Bettdecke liegend, den Kopf unter dem Kissen begraben, die Nase auf dem frisch gewaschenen Laken, wünschte er sich, die Welt würde ihn hier einfach vergessen. Seine Gedanken wanderten zu Richard und erinnerten ihn daran, dass er ihm möglicherweise nicht würde helfen können und das deprimierte ihn weiter und wollte ihn wirklich nie wieder aufstehen lassen. Er hatte jetzt zwar diesen Hinweis auf Aria erhalten – aber er wusste nicht, wo er diese finden sollte und noch dazu war Joshua ein Verräter, was ihm immer noch zusetzte. Er wünschte sich, die letzten Tage wären nur ein schlechter Traum gewesen, ein finsterer Albtraum, der ihn nicht aus seinen Klauen entlassen wollte, bevor nicht auch noch der letzte Lebenswille seines Traum-Ichs zerschmettert worden wäre. Aber die Realität, so wusste er bereits, sah wie immer anders aus. Seufzend entschied er sich schließlich, doch noch aufzustehen, wenngleich weniger aus Vernunftsgründen, sondern eher, weil es an der Tür des Schlafsaals klopfte. Das Geräusch hallte durch den ganzen Saal und dröhnte in seinen Ohren, obwohl das Kissen darauf lag. Also stand er auf und lief die wenigen Schritte bis zur Tür, um diese zu öffnen. Er erwartete, eines der Mädchen aus dem Waisenhaus vorzufinden, denn seine Freunde hätten nicht geklopft und Margery hätte ihn schon längst mit ihrer durchdringenden Stimme darauf vorbereitet, dass sie in drei Sekunden eintreten würde, ob er wollte oder nicht. Aber stattdessen fand er sich einem älteren Mann gegenüber, der zwar nicht viele Falten im Gesicht sein eigen nannte, diese waren dafür aber umso tiefer. Sein ergrautes Haar und der gleichfarbige Vollbart waren noch beneidenswert voll für sein Alter, aber akkurat gestutzt. Faren hatte früher stets gescherzt, dass er jeden Abend vor dem Spiegel stehen und mit Nagelschere und Lineal jedes Haar auf dieselbe Länge schneiden würde. Bellinda hatte ihm sogar geglaubt. „Herr Direktor...“ In den eisblauen Augen von Ben, dem Leiters des Waisenhauses, war Besorgnis zu sehen, während sein Gesicht überraschend neutral blieb. „Wie geht es dir, Kieran?“ Er wusste nicht genau, was Bellinda seinem Gegenüber erzählt hatte, deswegen entschied er sich, mit den Schultern zu zucken. „Ganz gut, schätze ich.“ „So siehst du nicht aus.“ Kieran war sich bewusst, dass er im Moment blass aussehen musste, sein Haar war vermutlich durcheinander, da er es sich noch nicht gekämmt hatte und er erinnerte sich nicht, wann er zuletzt etwas gegessen oder getrunken hatte. Aber er machte sich darum keine Gedanken und schüttelte deswegen nur den Kopf. Der Blick des Direktors fiel auf seinen verbundenen Unterarm. „Ist mit deiner Verletzung auch alles in Ordnung?“ Kieran hob den Arm ein wenig. Das schmerzhafte Pochen darin war immer noch vorhanden, aber es hatte bereits deutlich nachgelassen, seit er Teyra begegnet war. „Ja, das geht schon. Ich habe gutes Heilfleisch.“ Diese Aussage stimmte zwar nicht, aber da er sich bislang noch nie verletzt hatte, konnte Ben ihn auch keiner Lüge überführen. Der Direktor sah in den Schlafsaal hinein und ließ den Blick schweifen. „Fühlst du dich einsam, so ganz allein im Saal?“ Kieran bekam den Eindruck, dass Ben auf etwas ganz anderes hinauswollte, es aber für besser befand, erst einmal unverfänglich zu plaudern. Da es ihn nicht weiter störte, ging Kieran auf dieses Spiel ein. „Nein, es ist ganz in Ordnung. Immerhin habe ich so auch endlich Ruhe.“ Nicht, dass er sich von Geräuschen großartig stören ließ, aber manchmal waren das Schnarchen, die Schlafgespräche und auch das ständige Herumwälzen derart laut gewesen, dass es unmöglich gewesen war, Ruhe zu finden. Da ihm nun die unverfänglichen Themen ausgegangen waren, seufzte Ben. „Was mit Richard geschehen ist, muss dir sehr zusetzen. Ihr beide standet euch sehr nah.“ Er musterte Kieran bei diesen Worten genau. Der Gefragte wusste, dass dies daran lag, weil auch an dem Direktor die Gerüchte, die bei den Mädchen die Runde machten, nicht vorübergegangen waren. „Mir geht es eher darum, dass Richard unschuldig ist“, erwiderte Kieran, seine ausdruckslose Mimik verriet nicht im Mindesten, was er dachte oder fühlte und er war dankbar dafür. „Ich kann nicht hinnehmen, dass jemand unschuldig hingerichtet wird.“ Für einen kurzen Moment flackerte Gerechtigkeitsbewusstsinn in seinen Augen, aber es war sofort wieder erloschen. Ben hob dennoch eine graue Augenbraue. „Oh... ich verstehe. Aber wie willst du seine Unschuld beweisen?“ Er antwortete nicht darauf, weil er seine Rückschläge nur ungern zugeben wollte. Aber Ben hakte auch nicht weiter nach, offenbar hatte er ohnehin nicht damit gerechnet, dass er einen wirklichen Plan besaß. „Du solltest jedenfalls etwas essen, also komm mit zum Frühstück.“ Obwohl er nicht hungrig war oder auch nur Appetit verspürte, nickte Kieran. Wenn er entkräftet zusammenbrechen würde, wäre das ebenfalls nicht hilfreich für Richard. Er musste sich also am Leben halten, wenn er seinen Freund retten wollte – auch wenn er sich dafür zum Essen zwingen musste. Joshua war ebenfalls nicht sonderlich hungrig, aber er zwang sich genauso zum Essen – allerdings hatte er dafür andere Gründe als Kieran. Im Gegensatz zu diesem saß er nämlich gemeinsam mit Faren und Bellinda an seinem Esstisch und wollte keinem der beiden Anlass geben, ihm zu misstrauen. Außerdem wollte er Bellinda keine Sorgen bereiten, ihre Gedanken waren schon genug mit Richard belastet. Missmutig kaute er auf einem der Brötchen, die von Faren gebracht worden waren. Dieser aß mit demselben Appetit wie eh und je, nichts schien ihn wirklich beeinflussen zu können. Bellinda dagegen blickte niedergeschlagen auf ihren Teller und zerrupfte das Brötchen geradewegs. „Ist es okay, dass wir Kieran nicht auch eingeladen haben?“ Joshua zuckte bei der Erwähnung dieses Namens kaum merklich zusammen, aber Bellindas Aufmerksamkeit war bereits auf Faren gerichtet, der mit den Schultern zuckte. „Nah, außer Richard verbindet uns doch eigentlich nicht sonderlich viel. Ich habe immer so ein unangenehmes Gefühl, wenn er bei uns ist.“ Bellinda runzelte missbilligend die Stirn. „Was soll das denn heißen?“ „Das heißt“, antwortete er sofort bereitwillig, „dass ich sein Gesicht immer mit irgendwelchen negativen Ereignissen verknüpfe. Frag mich nicht, warum, ich habe keine Ahnung.“ Er winkte hastig ab, ehe sie noch weiter nachhaken könnte, obwohl ihr Kopf bereits fragend geneigt und selbst Joshuas Neugierde nun geweckt war, dann nahm er noch einen großen Bissen, um erst einmal nichts mehr sagen zu müssen. „Ich finde trotzdem, dass wir ihn hätten einladen sollen“, bestand Bellinda. „Immerhin sind wir jetzt Verbündete der Gerechtigkeit!“ Es schmerzte Joshua, dass sie davon wirklich noch überzeugt war, obwohl er hier gerade die Rolle des Spions einnahm – und doch sagte seine Erziehung ihm, dass er genau richtig handelte und seine Freunde diejenigen waren, die sich im Unrecht befanden. Sie rupfte weiter an ihrem Brötchen herum, bis Farens Mund wieder leer genug war, dass er das Gespräch weiter voranbringen konnte: „Wir müssen uns jetzt überlegen, wie wir dahinter kommen, was Hauptmann Caulfield mit dieser ganzen Sache zu tun hat.“ Da könnt ihr lange suchen... er hat gesagt, es gibt nichts, was ihn damit in Verbindung bringt. Joshuas Mundwinkel zuckten bereits, um das auch zu sagen, aber er hielt sich gerade noch zurück. Dafür war seine Zunge schneller als sein Kopf, so dass er folgenden Vorschlag machte: „Wir könnten ins Archiv der Stadt gehen und dort nach Unterlagen suchen, die mit Richard und dem Hauptmann zu tun haben.“ Am Liebsten hätte er sich direkt die Zunge abgebissen, es kam ihm vor als wäre sein Unterbewusstsein gegen ihn, aber als er noch einmal genauer darüber nachdachte, kam ihm der Gedanke, dass es möglicherweise auch einfach für Richard war – und vielleicht war es wirklich einen Versuch wert, immerhin ging es hier um das Leben eines Freundes. „Was sollte dort zu finden sein?“, fragte Faren ratlos. „Es ist das öffentliche Stadtarchiv, der Hauptmann wäre ziemlich...“ Plötzlich brach er den Satz ab, starrte für einen Moment in die Luft und wirkte im nächsten Augenblick aufgeregt und gleichzeitig entschlossen. „Aber natürlich! Wenn er glaubt, unangreifbar zu sein, wird er alle Beweise dort aufbewahren, wo jeder rankommt!“ Bellindas Augen funkelten, als er das vorbrachte, während Joshua am Liebsten im Boden versunken wäre. Er konnte nur noch hoffen, dass der Hauptmann mit der Aussage, dass es keine Beweise gegen ihn gab, im Recht gewesen war. „Dann werden wir auf jeden Fall ins Archiv gehen!“, verkündete Bellinda. „Und wir werden erst wieder von dort weggehen, wenn wir etwas gefunden haben!“ Sie und Faren schlugen begeistert ein, während Joshua innerlich seufzte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Vorschlag auf derartige Gegenliebe stoßen würde. Nun war es aber zu spät, ihn zurückzunehmen und außerdem gab es auch die Möglichkeit, dass sie Richard damit wirklich helfen könnten, also sollten sie es durchziehen, egal wie sehr es ihm missfiel. Aber vorerst würden sie das Frühstück beenden, nun da Bellinda endlich Appetit zeigte – während Joshua endgültig übel wurde. Er wusste nicht, wie sehr seine Freunde darum kämpften, ihn aus dieser ganzen Sache wieder herauszuholen. Aber es kümmerte ihn im Moment auch nicht weiter, da er sich von den unheimlichen Geräuschen im Kerker abzulenken versuchte. Auf dem Bett liegend starrte er an die dunkle Decke und fragte sich seit Tagen, welchen Fehler er in seinem Leben begangen hatte, dass er nun im Kerker auf seine Hinrichtung warten musste. Aber er kam immer wieder zum selben Ergebnis: Mein Fehler war es, dass ich in jener Nacht aus meinem Zimmer abgehauen bin. Hätte ich auf meine Eltern gehört und den Hausarrest eingehalten... Er stoppte erstmals seit seiner Inhaftierung in seinen Gedanken, als ihm bewusst wurde, was er da gerade dachte und welche Konsequenzen sein möglicher Tod damals mit sich brächte. Kieran wäre dann ebenfalls tot. Immerhin war es Richard gewesen, der ihn gerettet hatte, nachdem er im Eis eingebrochen war. Er erinnerte sich noch viel zu gut an diesen eiskalten Wintertag, an dem er in Cherrygrove angekommen war; an die brennende Kälte, als er im Kontakt mit dem Wasser gekommen war; an Kierans schockiertes und gleichzeitig seltsam gelassenes Gesicht, als wäre er bereit zu sterben; aber vor allem erinnerte er sich an das Gefühl, während er versucht hatte, Kieran aus dem Wasser zu ziehen. Es war als ob etwas im See versuchen würde, ihn nach unten zu ziehen. Es war nicht so wie bei Kathreen... Richards kleine Schwester war einmal im Winter ebenfalls in einem See, unweit ihrer Heimatstadt eingebrochen und auch damals war er der Held gewesen, der sie wieder herausgezogen hatte. Aber es war wesentlich einfacher gewesen, als bei Kieran und das nicht nur wegen dem unterschiedlichen Gewicht der beiden. Kieran ist irgendwie... anders... So viel war ihm schon immer bewusst gewesen, auch wenn er ihn nie darauf angesprochen hatte. Immerhin wäre es Kierans Sache, ob und wann er sich dazu äußern wollte und möglicherweise gab es einen vernünftigen Grund, warum er es für sich behielt. Richard würde ihn jedenfalls nicht dazu drängen. Aber eines war ihm klar: Wenn es jemanden gab, der ihm helfen könnte, dann war es sicherlich sein bester Freund, er müsste nur abwarten und auf ihn vertrauen – und das ließ ihn erstmals wieder Mut fassen. Oder diese nervige Sternennymphe kommt wieder, um mich noch einmal zu retten, aber die wird sicherlich nicht auftauchen. Damit wanderten seine Gedanken wieder zu Asterea weiter, die, ohne dass er etwas davon ahnte, genau in diesem Moment erneut niesen musste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)