Falsche Blüten von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 13: Lazarus' Erwachen ----------------------------- Auch wenn sie es gewohnt war, ganze Tage im Archiv zu verbringen, weil sie gern ihre Eltern bei deren Arbeit unterstützte, deprimierte es sie, dass sie bis in die Nacht hinein keinen einzigen Hinweis gefunden hatten, der ihnen weiterhelfen könnte. Mit jeder vergangenen Stunde war Bellindas Hoffnung gesunken und nun, mitten in der Nacht, hatte sie ihren Nullpunkt erreicht. Mit der Entschuldigung, dass sie nur ein wenig frische Luft schnappen wollte, war sie schließlich nach draußen gegangen und saß nun vor dem Gebäude, an dessen Wand gelehnt, die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen und den Kopf auf die Knie gelegt. Sie glaubte nicht mehr daran, Richard retten zu können und so blieb ihr nur noch zu hoffen, dass es Kieran gelingen würde – aber selbst daran zweifelte sie im Moment. Ein solcher Augenblick verriet ihr, warum sie ihren Optimismus liebte und weswegen auch die anderen, davon war sie überzeugt, so von ihr angetan waren. Ohne diesen fehlte ihr somit das, was andere an ihr mochten und deswegen war es besser, wenn sie derartige Phasen nicht bei den anderen auslebte. Doch gerade als sie leise schluchzen und zu weinen beginnen wollte, um den aufgestauten Stress abzubauen, hörte sie, wie jemand neben sie trat. Hastig hob sie den Blick und erkannte zu ihrem eigenen Erstaunen Joshua – obwohl sie eher mit Faren gerechnet hätte. „Darf ich mich setzen?“ Sie nickte, nahm sich die Brille ab und ging sich über die Augen, während er neben ihr Platz nahm. Als sie die Brille wieder aufsetzte, versuchte sie zu lächeln. „Ich muss gerade einen reichlich erbärmlichen Eindruck machen, was?“ „Wovon sprichst du?“ Er wirkte ernsthaft verwirrt und nicht so als würde er lediglich aus reiner Höflichkeit diese Gegenfrage stellten. „Na ja, dass ich hier draußen herumsitze und sämtliche Hoffnung für Richard verloren habe... das passt einfach nicht zu mir.“ Joshua legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Sternenhimmel. „Jeder hat einen solchen Augenblick in seinem Leben. Dass er etwas tut, das nicht zu ihm passt, meine ich. Das ist nichts Schlimmes oder Verwerfliches. Ich denke sogar, es ist manchmal besser, diesen Augenblick früher als später zu erleben.“ „Hattest du so einen ebenfalls schon einmal?“ Faren hätte sie so etwas nie gefragt, aber er war ohnehin nicht sonderlich an ernsten Gesprächen interessiert, ihm ging es mehr darum, nur die guten und amüsanten Seiten des Lebens mitzunehmen oder sich zumindest lediglich an diese zu erinnern. Sie kannte ihn bereits seit ihrer Geburt und in all dieser Zeit war er noch nie schlecht gestimmt gewesen. Er hatte sicherlich noch nie einen solchen Augenblick durchgemacht. Joshua nickte jedoch. „Ich bin in einem Kriegsgebiet aufgewachsen, bis meine Familie in einen Schiffbruch geriet und ich in Király landete. Ich habe also in meinem Leben schon viele Dinge getan, die moralisch nicht unbedingt einwandfrei waren.“ Das zu hören, erschrak sie ein wenig, denn es offenbarte ihr eine Seite, die sie bislang nicht an ihm kennengelernt hatte und es ließ sie fürchten, dass es noch mehr Dinge in seinem Leben gab von denen sie nichts wusste, die ihr aber nicht gefallen würden. „Aber du hast es nicht gern getan, oder?“ Sie ahnte nicht im Mindesten, dass er auch im Moment mit sich selbst rang, ob er seine Erziehung oder seine Freunde verraten sollte, sonst hätte sie mit Sicherheit nicht gefragt. Er wägte seine Antwort ab, ehe er antwortete: „Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich habe nie viel darüber nachgedacht, sondern nur das getan, was mir das eigene Überleben sichern sollte. Ich bin das erste Mal in einer Situation, in der es nicht mich betrifft, sondern einen Freund – aber ich hatte früher auch nie viele Freunde.“ Er lächelte ein wenig, als er sie ansah. „Du solltest froh sein, dass dein Augenblick darin besteht, dass du verzweifelst, weil du jemandem nicht helfen kannst, statt darin, dass du überlegst, ob du sterben oder jemand anderen ins Verderben schicken willst.“ Sie wusste, dass er es nur gut meinte, aber seine Worte schmerzten sie dennoch. Nicht weil sich ihre Meinung über ihn verschlechterte, sondern weil sie es furchtbar fand, dass er so etwas hatte durchmachen müssen. Sie wollte nicht weiter darüber sprechen, nicht darüber nachdenken, deswegen wechselte sie schnell wieder das Thema zu etwas anderem: „Glaubst du, wir werden etwas finden, was Richard hilft?“ „Glaubst du wirklich, dass er unschuldig ist?“, kam prompt die Gegenfrage von ihm. „Ich weiß, dass er unschuldig ist! Ich habe dieses Wesen gesehen, das Kierans Aussehen angenommen hat und-“ Doch sie schaffte es nicht, ihren Satz zu beenden, denn Joshua unterbrach sie mit ungewohnt versteinerter Miene: „Woher willst du wissen, dass es nicht eine Illusion von Kieran war? Was macht dich so sicher, dass er nicht hinter alldem steckt? Wo ist er denn gerade, statt uns hier zu helfen?“ Sie presste die Lippen aufeinander und senkte den Blick wieder. Natürlich glaubte sie nicht daran, dass Kieran etwas damit zu tun hatte und seine Abwesenheit genau das bewies, aber allein die Tatsache, dass Joshua das vorbrachte – auch wenn sie nicht glaubte, dass er es ernst meinte –, ließ ihr jedes Wort im Hals steckenbleiben. Während sie versuchte, ihre Gedanken für einen Widerspruch zu ordnen, bemerkte sie etwas golden Glühendes außerhalb ihres Blickfelds. Erneut hob sie den Kopf und sprang im nächsten Moment auf. „Ein Glühwürmchen!“ Es kam ihr fast wie ein Wunder vor, dass es genau dann auftauchte, wenn sie es am meisten gebrauchen konnte, aber Joshua verstand offenbar nicht im Mindesten, warum sie so aufgeregt war: „Was ist denn los?“ Sie deutete auf das Glühwürmchen, das scheinbar nicht die Absicht hatte, wegzufliegen und sich sogar auffällig nah bei ihnen aufhielt. „Wenn du so etwas einfängst und dir dann etwas wünschst, wird es wahr!“ Er neigte den Kopf, offenbar fiel es ihm schwer, das zu verstehen, was wohl nicht zuletzt daran lag, dass man diesen Glauben nur in Király hegte, ähnlich wie den an die Naturgeister, sondern auch weil er ohnehin nicht sonderlich viel von derartigen Mythen hielt. Im Moment war ihr allerdings nicht danach, ihn darüber aufzuklären, wieso man bei ihnen an solche Dinge glaubte, stattdessen streckte sie die Hand aus – und stellte erfreut fest, dass sich das Glühwürmchen direkt zu ihr begab als wäre es wirklich nur wegen ihr aufgetaucht. Vorsichtig schloss sie die Hand darum und bildete eine hohle Faust, die sie an ihre Lippen führte, um dem Insekt, dessen Leuchten durch ihre Finger schien, ihren Wunsch zuzuflüstern. Erst danach öffnete sie ihre Hand wieder und dann flog das Glühwürmchen auch rasch in Richtung Himmel davon, wo ihr Wunsch, wie sie hoffte, Gehör finden würde. Joshua blickte ihm ebenfalls, wenngleich eher skeptisch, hinterher. „Wird es etwas bringen?“ Sie ließ sich nicht im Mindesten verunsichern, sondern lächelte zuversichtlich. „Ganz bestimmt wird es das.“ Während Bellinda neuen Mut fasste, eilte Kieran mit großen Schritten in Richtung des Baumes. Was genau er dort tun sollte, war ihm noch unklar, aber es erschien ihm nur logisch, dass lediglich der Dämon, bei dem Blythe ihren Wunsch geäußert hatte, ihm helfen könnte, Richards Unschuld zu beweisen. Ob dieser es allerdings tun würde, war eine andere Frage, auf die er erst eine Antwort erhalten würde, sobald er ihm gegenüberstand. Dieses Mal beachtete er die Barriere, die den Baum umgab, nicht weiter und übersprang den Zaun. Einen kurzen Augenblick lang blieb ihm die Luft weg, seine Atmung erschwerte sich derart, dass er glaubte, etwas würde ihm die Kehle zuschnüren und nur langsam wieder locker genug lassen, damit er nicht einfach ersticken könnte. Es ließ ihn innehalten, bis seine Lungen sich wieder, wenn auch nur widerwillig, mit genug Sauerstoff gefüllt hatten, dass er seinen Weg fortsetzen konnte. Vor dem Baum saß eine Gestalt, die er zuerst nur undeutlich ausmachen konnte, weil sie sich kaum von diesem unterschied. Sie war bleich, fast kalkweiß, genau wie das Gewand, das sie trug und die falschen Blüten hinter ihr, selbst ihr langes Haar ließ jegliche Farben vermissen. Nur ihre Augen waren blau, so wie die Kirschen dieses Baumes und sie trug eine mit blauen Rosen verflochtene Dornenkrone auf dem Haupt. In ihren Händen hielt sie einen weißen, furchteinflößenden Schädel, über den sie immer wieder strich. Die weit aufgerissenen Augen starrten ihn ohne jede Emotion an, als würden sie einer Toten gehören, die noch nicht begriffen hatte, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte und diesen Fakt zu verneinen versuchte. Sie sagte nichts, was ihn trotz seiner Vergangenheit schaudern ließ. „Bist du Maeve?“, fragte er atemlos, noch immer fiel es ihm schwer, die eingeatmete Luft vernünftig ihrem Zweck zukommen zu lassen. Aber die Erwähnung ihres Namens, brach zumindest ihr Schweigen. „Ich frage mich, wer dir das verraten hat. Mit Sicherheit war es Aria, nicht wahr? Sie ist viel zu gesprächig.“ Er ging nicht darauf ein, immerhin hatte er kein Interesse daran, ausgiebige Gespräche mit einer Dämonin – zumindest hielt er sie für eine solche – zu führen. „Vor kurzem war ein Mädchen namens Blythe bei dir“, sagte er stattdessen. „Ich muss wissen, was sie sich gewünscht hat, es ist wichtig!“ „Aria hat dir sicher auch gesagt, dass ich mit Leuten wie dir nicht spreche.“ Sie rümpfte die Nase, als sie das sagte, so als hätte sie gerade einen widerlichen Geruch wahrgenommen. „Du fühlst dich zwar noch nicht an wie so jemand, aber dein Blut stinkt danach.“ Er wusste nicht, wovon sie sprach... jedenfalls nicht wirklich. „Wonach?“ Sein Vater war ein Dämonenjäger gewesen, aber einen Beruf konnte man wohl kaum über das Blut an seine Kinder weitervererben und er selbst... war ein Mensch. Also was störte sie so sehr an ihm? Doch statt zu antworten, senkte sie den Blick. „Ich rate dir im Guten, zu verschwinden. Ich füge Personen, die ich nicht kenne, nur ungern Schmerzen zu.“ So leicht wollte er sich allerdings nicht abspeisen lassen, immerhin ging es um Richards Leben. „Ich werde nicht gehen! Ich brauche einfach nur deine Aussage, um Richard zu retten!“ Aus einem ihm unerfindlichen Grund, brachte die Erwähnung dieses Namens sie wieder dazu, ruckartig den Kopf zu heben. Ihre zuvor so emotionslosen Augen waren nun mit wütenden Funken durchzogen, die ihm deutlich verrieten, dass sie nicht gut auf seinen besten Freund zu sprechen war. „Du gehst mir auf die Nerven!“, fauchte sie allerdings statt einer Erklärung. „Und ich hasse Leute, die mir auf die Nerven gehen! Ich rate dir ein letztes Mal, zu verschwinden!“ Auch wenn seine Vernunft ihm riet, fortzugehen und das eigene Leben zu retten, blieb er nach wie vor stehen und schüttelte mit dem Kopf. „Ich werde erst gehen, wenn du mir gesagt hast, was Blythe sich gewünscht hat.“ Die Luft um ihn herum schien zu explodieren, als Maeves Zorn stärker als zuvor aufflammte, noch einmal schaffte er es kaum zu atmen und glaubte bereits, ersticken zu müssen, doch bevor das geschah, schlich sich plötzlich ein Grinsen auf das zuvor so unbeteiligte Gesicht der Dämonin. „Wenn du nicht hören willst, musst du eben fühlen! Verschwinde!“ Kaum sichtbare Klingen, die durch die Luft schnitten, jagten auf ihn zu – und drangen im nächsten Moment in seinen Körper ein, zerfetzten ihn innerlich, ohne irgendeine äußere Verletzung zu hinterlassen, ließen ihn Blut spucken, ohne dass er die Schmerzen wirklich realisieren konnte und ihn dann zu Boden stürzen. Noch bevor sein Körper aufkam, war die Persönlichkeit namens Kieran bereits erloschen. Ihr Grinsen erstarb und die Emotionslosigkeit kehrte auf Maeves Gesicht zurück. Jemand würde kommen, um die Leiche zu holen, das bedeutete, nur noch mehr Aufregung für sie in ihrem bereits bekannten Leben. Mit einem tiefen Seufzen fuhr sie herum, damit sie sich vorerst in ihr Versteck würde zurückziehen können, ohne ständig diese Leiche sehen oder sich der neugierigen Masse aussetzen zu müssen. Doch plötzlich konnte sie hinter sich das Klirren von Ketten hören, was sie innehalten ließ. Sie wollte sich umdrehen, damit sie überprüfen könnte, was es mit diesem Geräusch auf sich hatte, doch bevor ihr das möglich war, hörte sie noch etwas – und im nächsten Moment schlug etwas in den weißen Stamm ihres Baumes ein. Sie ignorierte den Schmerz, der daraufhin in ihrer Brust stach und betrachtete den im Holz steckenden Bolzen an dem die Kette befestigt war, die sie zuvor gehört hatte. Mit den Augen folgten sie den Eisengliedern, die direkt zu der Leiche ihres nervenden Gastes führten – nur dass dort kein lebloser Körper mehr zu sehen war. Die schwebende Kette schlang sich um den aufrecht stehenden jungen Mann und endete in seinem rechten Handgelenk mit dem er die Armbrust einhändig hielt. Nichts an ihm deutete darauf hin, dass er gerade eben noch tot gewesen war, aber er war auch nicht mehr derselbe wie zuvor. Sie konnte es deutlich wahrnehmen, es war nun nicht mehr nur der Geruch seines Blutes, auch seine gesamte Ausstrahlung war schlagartig derart machtvoll geworden, dass ihr geübtes Auge nun einen blauen Schimmer auf seinem Körper wahrnehmen konnte. „Ich hatte recht!“, fauchte sie wütend. „Du bist einer von denen! Du bist ein Lazarus!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)