Falsche Blüten von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 14: Die Tragödie der Lazari ----------------------------------- Kieran musste nicht nachhaken. Dunkel, ganz verschwommen, erinnerte er sich daran, dass seine Eltern einmal darüber gesprochen hatten, als sie im festen Glauben gewesen waren, dass er eingeschlafen sei. „Wir sind Menschen, die ein außergewöhnliches Geschenk bekommen haben“, hörte er Cathans Stimme in seinen Gedanken. „Und als Ausgleich helfen wir denen, die nicht die Macht haben, sich gegen diese Wesen zu verteidigen. Man könnte uns als Dämonenjäger bezeichnen. Aber die Menschen fürchten uns, deswegen darf niemand wissen, dass ich ein Lazarus bin.“ Lang verschüttet geglaubte Erinnerungen kehrten nach und nach an die Oberfläche seines Bewusstseins zurück und verdeutlichten ihm, wie wichtig seine Aufgabe war, worin sie bestand und erfüllten ihn gleichzeitig mit dem Wissen darum, was seine neu erworbenen Fähigkeiten waren und wie man sie einsetzte. Maeve knirschte hörbar mit den Zähnen, als er nichts sagte und ihr weiterhin nur ernst entgegenblickte – doch schlagartig begann sie zu lächeln. Es war kein nettes, einladendes Lächeln, dem man sogar in einen verzauberten Wald folgen würde, es war finster, arglistig, wie man es sich bei einem intelligenten Raubtier vorstellte, das gerade seine Beute in eine Falle lockte und in Gedanken bereits bei der leckeren Mahlzeit war, die folgen würde. „Aber vielleicht sollte ich sagen, du bist einer von uns“, sagte sie unheilvoll und strich dabei deutlich betont über den Schädel in ihren Händen. „Was meinst du damit?“, fragte er tonlos. Etwas in seinem Inneren verlangte, dass er ihr nicht zuhören und sie einfach töten sollte, solange sie noch einfach so dastand und nichts tat. Aber etwas wesentlich Stärkeres, die Sorge um Richard, hielt ihn davon ab, immerhin brauchte er noch ihre Antwort auf die Frage nach Blythes Wunsch und ihre darauf folgende Handlung – und nun war er auch noch neugierig, warum sie ihn als einen der ihren bezeichnete. Er spürte keinerlei Lazarus-Energie von ihr ausgehen, der dunkelblaue, fast schwarze, Schimmer, der sie und den Kirschbaum hinter ihr umgab, war bedrohlich und furchteinflößend, statt rein und voller Hoffnung wie jener farblose Schimmer von dem sein Vater umgeben gewesen war. „Oh, du weißt es also gar nicht.“ Sie wirkte nicht im Mindesten über diese Offenbarung überrascht. „Das wundert mich nicht. Jene Lazari, die davon wissen, verschweigen es eher oder bekommen keine Gelegenheit mehr, es jemandem zu erzählen. Ich wusste es auch nicht.“ „Ich habe keine Lust auf deine Spielchen“, erwiderte er. „Sag du es mir oder lass es.“ Das Lächeln erlosch, ihr Blick wurde wieder hart und undurchdringlich. „Zuerst ziehst du diesen verdammten Bolzen aus meinem Baum! Hast du nur den Hauch einer Ahnung, wie schmerzhaft das ist!?“ Statt sich auf eine Diskussion einzulassen, beschloss er, dieser Aufforderung nachzukommen, um seinen guten Willen zu demonstrieren. Nach einem kurzen Ruck seines Handgelenks flog der Bolzen aus dem Stamm, die Kette zog sich automatisch in seinen Körper zurück und beförderte das Geschoss wieder zur Armbrust. Weiße Funken erschienen um die Wunde im Baumstamm und innerhalb weniger Sekunden war sie verschlossen. Maeve begutachtete die Stelle ein wenig genauer, dann nickte sie zufrieden und wandte sich erneut Kieran zu. „Dann werde ich dir jetzt von der Tragödie der Lazari erzählen.“ Er erwartete, dass sie weitersprechen würde, doch stattdessen bildeten sich plötzlich Risse in der Luft, so als wäre die gesamte Umgebung nur eine Projektion auf einer Glaskuppel, die im nächsten Moment klirrend zerbrach. Jenseits davon erstreckte sich endlos blaue Farbe, die in Wasser zu wabern schien und daher derart unruhig war, dass er nicht lange hinsehen konnte. Aber das musste er auch nicht, denn die herabfallenden Splitter begannen zu leuchten und formten schon bald die Bühne für ein Schattenspiel. Die dunklen Silhouetten eines Mannes und einer Frau erschienen und gleichzeitig erklang Maeves leicht distanzierte Stimme: „Vor langer Zeit war ich wie du noch vor kurzem: Ich war ein ganz normaler Mensch, der auch eben so leben wollte.“ Die Figur des Mannes bewegte sich, was Kieran sofort eines verriet: Maeve war zu ihren Zeiten als Mensch ein Mann gewesen, was ihn reichlich verwunderte – aber noch mehr überraschte ihn, dass sie einst ein Lazarus gewesen sein wollte, weswegen er ihr weiterhin lauschte. „Ich war glücklich mit einer jungen Frau zusammen, die ich über alles liebte.“ Die weibliche Figur wurde ebenfalls bewegt, so dass es aussah als würden sie gemeinsam durch etwas laufen, das durch die schwarzen Bäume im Hintergrund wie ein Wald aussah. „Als wir eines Tages unterwegs waren, wurden wir hinterrücks von einem Dämon überfallen.“ Aus dem Nichts erschien die brüllende Silhouette eines Wesens, dessen Körper aus Flammen zu bestehen schien, wenn er die Zacken rund herum richtig interpretierte. „Natürlich stellte ich mich schützend vor meine Liebe – und wurde getötet.“ Das Monster schoss auf den Mann zu, der darauf zu Boden fiel. „Aber dann geschah genau dasselbe wie bei dir gerade eben.“ Bevor der Dämon weiter handeln konnte, leuchtete die gefallene Figur in einem blauen Licht auf und im nächsten Moment stand er wieder, umgeben von einem hellen Schimmer. „Ich erwachte als Lazarus und bekam die Macht, das Monster zu bekämpfen.“ Das Wesen stieß einen feurigen Atem aus, doch die Figur des Mannes wich diesem gekonnt aus und mit einem funkelnden Lichteffekt griff er selbst an – und nach wenigen weiteren Lichtblitzen, die weitere Schlagabtäusche der beiden Silhouetten darstellen sollten, wurde das Monster von Flammen verzehrt und die Silhouette verschwand. „Natürlich war ich siegreich“, erklärte Maeve mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. „Aber dann geschah etwas, womit ich nicht hatte rechnen können. Gerade als ich mich meiner Liebe zuwandte...“ Die männliche Figur wandte sich der Frau zu, die wich jedoch zurück, ein erschrockener, schriller Schrei erklang. Selbst ohne jede Mimik oder weitere Gestik war klar erkennbar, dass sie Angst vor ihm hatte. „Ich hatte nicht wissen können, dass die Menschen Lazari fürchteten, denn bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht einmal ihre Existenz bekannt gewesen. Aber die Person, die ich liebte, nannte mich Monster und wollte vor mir wegrennen.“ Schlagartig wandelte sich das bislang beruhigende blaue Licht in ein beängstigendes Rot und gleichzeitig wurde Maeves Stimme geradezu gehässig: „Da habe ich die Schlampe umgebracht!“ Kieran glaubte, sein Herz würde für einen Moment aussetzen, als die Frau erneut ein Kreischen ausstieß und schon einen Wimpernschlag später ihren Kopf verlor. Er wollte fragen, warum Maeve das getan hatte, wenn sie diese Frau doch kurz zuvor noch als ihre große Liebe betitelt hatte, doch kein Laut kam aus seiner Kehle. Während er darüber nachzudenken versuchte, wie das sein konnte, wurde ihm bewusst, dass er kaum in der Lage war zu atmen. Einen kurzen Moment lang bekam er Panik, dass er ersticken könnte, aber da ihm wieder in den Sinn kam, dass er bislang auch überlebt hatte, beruhigte er sich rasch wieder. „Im selben Augenblick in dem sie starb, wurde meine Verzweiflung derart groß, dass mein Dasein als Lazarus und als Mann endete – und ich zur Dämonin Maeve wurde.“ Die Figur des Mannes bekam plötzlich mehr Leben, sie hob die Arme, krümmte sich, ging in die Knie – und schon eine Sekunde später war sie plötzlich keine einfache Silhouette mehr, kein Mann, sie war zu Maeve geworden, die direkt vor Kieran stand, den Schädel, der eindeutig zu der getöteten Frau gehören musste, immer noch in den Händen. Aber warum ist das so?, fuhr es ihm durch den Kopf. Was ist geschehen? „Lazari kämpfen gegen Dämonen, das ist allgemein bekannt, so mancher sieht sich selbst als strahlender Held, der die Menschheit vor dem Untergang bewahrt.“ Schlagartig musste Kieran wieder an seinen Vater denken, aber dieser war, seiner Ansicht nach, auch ein Held gewesen, bis zu seinem Tod, der nur eingetreten war, weil er ihn beschützt hatte – wie ein Held eben. „Was viele aber nicht wissen: Auch das Töten von Dämonen ist mit Schuld verbunden, die Lazari mit jedem ihrer Opfer auf sich laden. Sie selbst merken davon nichts, denn es ist ihre Anima oder ihr Animus, der unter dieser Schuld zu leiden hat.“ Zuerst wusste er nicht, was sie meinte, aber dieses selbstverständliche Wissen in seinem Inneren erklärte ihm, dass es sich dabei um das weibliche Ich im Inneren eines Mannes oder das männliche Ich in Frauen handelte, eine psychologische Sache, wie er schnell feststellte, weswegen er dem keinen weiteren Gedanken widmete, ehe er sich nur unnötig selbst verwirrte. „Wird die Schuld zu groß und fehlt der entsprechende Ausgleich, fällt das andere Ich dem Wahnsinn anheim, übernimmt den Körper des Lazarus – und wandelt ihn zu einem Dämon.“ Die Worte hallten dumpf in Kierans Inneren wider. Die Lazari bekämpften Dämonen und wurden im Gegenzug selbst zu einem solchen, der wieder von anderen Jägern getötet wurde, bis diese sich in einen solchen verwandelten – es war eine ewige, blutige Spirale des Todes, die kein Ende kannte und sie selbst wussten nicht einmal etwas davon, bis es zu spät war. Der Gedanke deprimierte und frustrierte ihn gleichermaßen, noch bevor er seinen ersten Dämon auch nur ernsthaft verwundet hatte. Würde er eines Tages ebenfalls so enden? Würde er zu dem werden, was er verabscheute und andere Jäger ins Verderben treiben? Gerade als er eine derartige Furcht entwickelte, begann der Boden unter seinen Füßen wegzubrechen und nur den Bruchteil einer Sekunde später befand er sich bereits im freien Fall kopfüber in Richtung Unendlichkeit. „Du hast es erkannt“, sagte Maeve anerkennend. „Lazari bringen mehr Leid über die Menschen als sie bekämpfen und deswegen ist ihr Dasein eine einzige Paradoxie. Es wäre besser, sie würden allesamt ausgelöscht werden, bevor sie zu Dämonen werden, nur so kann die Menschheit wirklich geschützt werden. Du stimmst mir doch zu, oder?“ Im allerersten Moment wollte er das tatsächlich, aber etwas in seinem Inneren widersprach ihm sofort. Es brauchte keine Armee an Lazari, die sich von Wahnsinn überfallen ließ. Wenn er an seinen Vater dachte, wusste er, dass die Welt nur einen einzigen Lazarus benötigte, dessen Gerechtigkeitssinn, Leidenschaft und Bescheidenheit ein Schild erschufen, das seine Anima schützte und nicht zuließ, dass sie wahnsinnig und verzweifelt und vom Helden zum Bösewicht wurde. Es brauchte nur einen, um die Welt zu ändern! Im selben Augenblick, in dem ihm das bewusst wurde, schaffte er es auch wieder, sich zu bewegen und sich im Fall zu drehen. Die Armbrust, die er noch immer in seiner Hand hielt, reagierte auf seine Entschlossenheit und wandelte ihre Form, was für ihn absolut normal erschien, weswegen er sich keine weiteren Gedanken darum machte, als er plötzlich einen hölzernen Griff mit einer ausgeklappten Klinge hielt. Mit einem entschiedenen Hieb zerteilte er das blau wabernde Etwas, das seine Umgebung darstellte. Sein Fall endete abrupt, er fand sich selbst vor dem Kirschbaum wieder, so als wäre er nie fortgewesen. Selbst Maeve war immer noch da und sah ihn missbilligend an. „Du bist also wieder da. Willst du die Menschen weiter leiden lassen? Da habe ich dir bereits die Gelegenheit gegeben, dich einfach aus der Affäre zu ziehen, ohne dass du sterben oder zu einem Dämon werden musst und du wirfst mein freundliches Angebot einfach fort.“ „Ich benötige es nicht“, erwiderte er gefasst. „Mich wird niemals der Wahnsinn besiegen, denn ich weiß es, mein Vater hat es mir oft genug gesagt, eine Person kann die Welt verändern, wenn sie genug Entschlossenheit aufbringt. Und meine Entschlossenheit kennt keine Grenzen.“ Nicht vorrangig für all die Menschen, die er nicht einmal kannte, sondern für Richard, Bellinda, Faren, Joshua, Ben, sogar für Allegra und für jeden anderen Lazarus – und auch für seinen Vater, der diese Welt geliebt hatte, frei von jedem Wahn gewesen und gestorben war, um ihn zu beschützen. Er war nun in der ewigen Pflicht, diese von so vielen Menschen geliebte Welt zu schützen, egal was kommen würde und er war bereit, diese Aufgabe anzugehen, egal wieviel Leid er sich damit selbst aufbürden müsste. Er hob die Klinge in die Luft, zwei Ketten brachen aus seinen Schulterblättern und schlangen sich locker um seinen Körper, so dass sie einen klirrenden Wirbel bildeten, der ihn vor allem, was ihn anzugreifen versuchte, beschützen würde. Erstaunen und auch ein wenig Ehrfurcht waren in Maeves geweiteten Augen zu erkennen, aber das war nicht der Grund für seinen imposanten Auftritt. Er sollte seine Entschlossenheit unterstreichen, seinen neuen Lebensabschnitt beginnen und den alten ehrwürdig verabschieden. „Die Lazari und diese Welt verdienen eine grundlegende Änderung ihrer Prinzipien!“, sagte er mit fester Stimme, die selbst für ihn plötzlich einen überraschend autoritären Klang besaß, der ihm aber wie gerufen kam, um seinem Entschluss mehr Nachdruck zu verleihen. „Und ich werde diese Veränderung sein!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)