Falsche Blüten von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 15: Kirschblüten ------------------------ Maeves Gesichtsausdruck kehrte bald zu der emotionslosen Maske von zuvor zurück, jegliches Erstaunen und auch die Ehrfurcht verschwanden aus ihren Augen. „Was hast du jetzt vor?“ „Ich werde dich jetzt noch einmal fragen, was du mit Blythes Tod zu tun hast“, erwiderte Kieran. „Ich muss es wissen, um Richard aus dem Kerker zu bekommen.“ Die Dämonin lachte humorlos. „Dachtest du wirklich, ich würde dich überleben lassen, um ein solches Wissen zu nutzen? Sei nicht so naiv, du bist ja ein ganz furchtbarer Lazarus – besser ich erlöse dich sofort von deinem Leid!“ Mit diesen Worten hob sie den Schädel, der in einem unheilvollen blauen Licht zu glühen begann. Im selben Moment erhob sich ein Sturm, der die weißen Kirschblüten vom Baum riss und Kieran die Sicht zu nehmen drohte. Doch bevor das geschehen konnte, rannte er los, durch die wirbelnden Blüten hindurch – nur um festzustellen, dass Maeve sich nicht mehr dort befand, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Ein hämisches Lachen ließ ihn herumfahren und gleichzeitig die zu einer Klinge gewordenen Armbrust hochreißen, um einen möglichen Angriff abzuwehren. Es überraschte ihn ein wenig, dass tatsächlich etwas auf das Metall traf, daran abprallte und zu Boden fiel. Allerdings konnte er nicht mit den Augen verfolgen, worum es sich bei diesem Ding gehandelt hatte, da Maeve mit einem weiteren Lachen auf ihn zustürmte. Im nächsten Moment wurde er von ihr gegen den Stamm geschleudert, jegliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, sein Rücken begann derart heftig zu schmerzen, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Maeves Hände, die ihn an dem Baum gepresst hielten, waren überraschend stark, er schaffte es kaum, sich zu rühren, seine Schultern fühlten sich an als könnten sie jeden Moment zerbrechen, wenn sie nur noch ein wenig fester zudrücken würde. Ob sie sich dessen bewusst war oder nicht, sie verzichtete darauf und ließ stattdessen von ihm ab. Doch bevor es ihm wieder möglich war, sich zu bewegen und sich zu entfernen, schlangen sich aus dem Nichts kommende Ranken um seinen Körper, um ihn am Stamm festzuhalten. Er fluchte leise, sah nach unten auf die Ranken, die durchaus zäh zu sein schienen, und hielt dann nach der erneut verschwundenen Maeve Ausschau, während eine seiner Ketten sich daran machte, ihn zu befreien. Die andere dagegen machte sich bereit, Maeve diesmal abzuwehren. Es fiel ihm, zu seinem Bedauern, noch schwer, die Ketten wirklich bewusst einzusetzen und zu koordinieren. Das muss ich dringend üben, wenn ich hier fertig bin. Die Frage, ob er das überhaupt überleben würde, stellte sich ihm nicht einmal, er war davon absolut überzeugt, immerhin hatte er keine andere Wahl. „Gut, ich will mal nicht so sein“, hörte er plötzlich Maeves Stimme, die von überall herzukommen schien. „Du wirst nicht überleben, also werde ich dir erzählen, was dieses Mädchen sich gewünscht hat, damit du wenigstens deinen Frieden auf der anderen Seite haben wirst.“ Er lauschte angestrengt, während er sich weiterhin auf die Tätigkeiten seiner Ketten konzentrierte, die Maeve nicht einmal zu stören schienen. „Es war vor wenigen Wochen, da kam dieses Mädchen vollkommen aufgelöst zu mir. Sie war ja soooo unsterblich verliebt.“ Maeves Stimme triefte geradezu vor Abscheu und Spott, offenbar konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie Blythe hassen oder sich über sie amüsieren sollte. „Sie sagte, sie hätte bereits unter jedem dieser Kirschbäume gebetet und gefleht, aber nichts sei geschehen.“ Kieran versuchte, sich vorzustellen, wie es wohl aussah, wenn Blythe möglicherweise weinend vor diesem Baum kniete und zu flehen begann. Es passte einfach nicht zu jenem Bild, das er von ihr hatte. „Sie wusste um das Risiko, aber ich war ihre allerletzte Hoffnung, um das Herz ihres Geliebten zu gewinnen.“ Die Ranken schienen sich ein wenig enger um Kieran zu spannen, erschwerten ihm das Atmen und den Umgang mit beiden Ketten, nicht zuletzt, weil seine Konzentration beeinträchtigt wurde. „Der Name dieses Mannes war Richard.“ Wieder einmal spie sie den Namen aus als wäre er etwas vollkommen Abscheuliches. „Da ich ihre Schmerzen kannte, wollte ich ihr helfen. Richard ist eine harte Nuss, die übliche Methodik funktionierte nicht, also prüfte ich verschiedene mögliche Szenarien, mit dem Ziel ein solches zu nutzen, um sie zusammenzubringen.“ Mit jedem Wort wuchs der Zorn in ihrer Stimme, also war dies ihr eigentliches Problem an Richard wie es aussah. „Weißt du, dass es Millionen von Möglichkeiten gibt, wie ein einzelnes Leben verlaufen kann? Sie alle hängen oft nur von winzigen kleinen Entscheidungen ab, denen du nicht einmal irgendeine Form von Bedeutung zumessen würdest. Ich habe schon die Möglichkeiten vieler Menschen betrachtet und oft sind sie derart unterschiedlich, dass es wirklich erstaunlich ist.“ Vor seinem inneren Auge sah Kieran einen riesigen Baum mit unzähligen Ästen und Blättern und Blüten, die alle für ein anderes Schicksal standen und allein diese Vorstellung überforderte Kieran beinahe. „Aber jede einzelne Möglichkeit, jede Entscheidung führte diesen verdammten Richard immer nur zum selben Ende!“ Unwillkürlich hielt er die Luft an, hoffte, dass sie ihm nun nicht sagen würde, dass all seine Bemühungen umsonst waren, weil am Ende ohnehin Richards Tod stand. Aber was sie wirklich sagte, überraschte ihn dann tatsächlich: „Eine Hochzeit mit der Sternennymphe!“ Das erklärte auch, warum er derart besessen von ihr war, es war gut möglich, dass Richard das bereits spürte und es auf seine ganz eigene Art zum Ausdruck brachte. „Es gab also nur eine einzige Alternative, um die beiden zusammenzubringen: Sie mussten beide sterben.“ So kühl wie sie es aussprach, ohne jede Form von Hass oder Abscheu, verfehlte es fast seine schockierende Wirkung auf Kieran. Er erschauderte regelrecht, seine Kette fuhr wieder angestrengt damit fort, ihn freizubekommen. „Also schickte ich eine Marionette mit Richards Aussehen, um Blythe zu töten, in der sicheren Erwartung, dass man ihn anschließend hinrichten würde – und ich hatte recht.“ Sie klang zufrieden, nicht so als ob sie gerade zugegeben hatte, für jemandes nahen Tod verantwortlich zu sein. „Aber das war es nun“, schloss Maeve, als sie wieder vor ihm erschien. „Ich werde dich hier und jetzt töten und dann zusehen, wie dein Freund endlich mit Blythe vereint wird. Egal, ob du bereit bist oder nicht.“ Damit stürmte sie vor, in den Händen scharf aussehende, blitzende Klingen. Gerade noch rechtzeitig lösten sich die Ranken, so dass er ihr ausweichen konnte, statt zu versuchen, sie abzuwehren. Er blickte ihr hinterher und erkannte, dass sie im Baumstamm verschwand als würde sie mit diesem geradezu verschmelzen. Dieser Baum muss ein Teil ihres Körpers sein. Die sie umgebende Aura haftete zwar nicht an diesem, aber es könnte tatsächlich Sinn ergeben, wenn er so darüber nachdachte, immerhin hatte sie zuvor bereits gesagt, dass es schmerzte, wenn er den Stamm traf. Auch wenn er nicht wusste, ob es aussichtsreich war, war ihm nun bewusst, was er tun müsste. Statt darauf zu warten, dass Maeve wieder auftauchen würde, schwang er die Klinge der einstmaligen Armbrust, um einige der näheren Äste abzutrennen, während seine Ketten sich klirrend weiter hinaufarbeiteten, um sich dort um Schaden zu kümmern. Kaum regneten die ersten Blüten zu Boden, erklangen wirklich Schmerzensschreie von Maeve, die Kierans Knochen geradewegs zum Zittern brachten, weswegen er sich stärker anstrengen musste, als es eigentlich üblich sein müsste. Mit jedem Schlag, den er gegen den Stamm vollführte, brach ein weiteres Stück von diesem ab und verlor sich als glitzernder Staub im Nichts. Maeve erschien nicht mehr, stattdessen versuchte sie, mit wild wirbelnden, aus dem Nichts erscheinenden, Klingen anzugreifen. Während eine seiner Ketten diese abzuwehren versuchte – was dazu führte, dass die nun unkontrollierbaren Schneiden ihm haarscharf an den Ohren vorbeisausten – stellte er fest, dass es die Kirschblüten und Blätter waren, die sich in diese Klingen verwandelten und zum Angriff benutzt wurden. Aber er ließ sich davon nach der Feststellung nicht mehr beeindrucken und fuhr weiter damit fort, auf den Stamm einzuschlagen. Aber die wenigen Millimeter, die er damit jedes Mal vom Baum abtrennte, waren nicht genug, er kam einfach nicht voran und er fürchtete, jeden Moment von einer der Klingen getroffen zu werden. Seine Vernunft riet ihm, sich in Sicherheit zu bringen und sein Wissen zu gebrauchen, um Richard zu befreien. Aber gleichzeitig wusste er, dass seine Flucht unglücklich enden würde und selbst falls das nicht so sein sollte, war ihm dennoch bewusst, dass Maeve niemals zuließ, dass er seinen besten Freund rettete. Sie wollte ihn tot sehen, nachdem sie so viel Zeit damit verbracht hatte, einen Weg zu finden, ihn mit Blythe zu vereinen und er wollte das verhindern. Nein, er musste das verhindern und danach musste er eine neue Zeit für die Lazari einläuten – und das ging nur, wenn er hier überlebte und seinen Freund rettete, sozusagen als ersten Erfolg. Diese Entschluss erweckte in seinem Inneren eine neue Kraft, die – so wusste er instinktiv – jedem einzelnen Lazarus bekannt war. Seine rechte Hand begann in einem hellen Licht zu glühen, er griff damit direkt in den Stamm hinein als würde er sie ins Wasser tauchen. Obwohl er nichts sehen konnte, fanden seine Finger das, wonach er gesucht hatte, schlossen sich darum und zogen es langsam heraus. Der Gegenstand entpuppte sich als blau glühendes Schwert, dessen Bedeutung ihm erst bewusst wurde, als er noch einmal Maeves entsetztes Kreischen hörte, das in seinem Kopf zu dem leidvollen Schreien eines Mannes wurde. Es ist seine Seele... deswegen sind er und der Baum eins... Damit war es lediglich nur noch ein einziger Hieb und der weiße Kirschbaum mit den falschen Blüten löste sich in glitzernde Funken auf, die nach oben schwebten als wäre es ihre Natur, sich den kürzesten Weg in den Himmel zu suchen. Das blaue Leuchten der Klinge erlosch, das Schreien verstummte, während Kieran den Funken hinterhersah, die langsam aus seiner Sicht verschwanden. Noch verstand er nicht so recht, dass es nun vorbei war und Maeve nie wieder jemandes Wunsch auf eine solch furchtbare Art und Weise, die ihr vollkommen natürlich erschien, erfüllen würde. Egal, wie es ausgehen würde mit Richard, er hatte dieses Dorf vor einem albtraumhaften Dämon gerettet und damit würde seine Karriere als Monsterjäger beginnen. Eine Karriere, mit der er die ganze Welt retten würde – zumindest wenn es so verlief, wie er es sich in diesem Moment vorstellte. Allerdings musste er zugeben, dass er nicht im Mindesten euphorisch über diesen Sieg war, jedenfalls nicht so sehr wie er erwartet hätte. Ich wünschte... Er beendete den Gedanken nicht, aber als er den Blick senkte, bemerkte er, dass ein einzelner weißer Ast auf dem Boden lag. Die farblosen Blüten waren frisch, ihnen war noch nicht aufgefallen, dass sie nicht mehr an ihrem Körper befestigt waren. Die fremde Klinge in seiner rechten Hand verschwand – ließ ihn aber mit der Zuversichtlichkeit zurück, dass sie jederzeit zurückkommen würde, wenn er sie benötigte – und ohne so recht zu verstehen weswegen, hob er den Zweig auf und drehte ihn ein wenig zwischen den Fingern. Noch immer pulsierte Maeves Energie schwach hindurch, es kam ihm vor als würde sich mit allerletzter Kraft an das Leben klammern, als wäre dieser zerbrechliche Ast ein Strohhalm, der sie davor bewahrte, endgültig zu verschwinden. Kieran kam das durchaus entgegen. Er fuhr herum und entfernte sich mit langsamen, geradezu traumgleichen Schritten von dem Ort, an dem einst ein weißer Kirschbaum voller falschen Blüten gestanden hatte und von dem er nun lediglich noch einen einzelnen Zweig in Händen hielt. Sein Weg führte ihn zu einer Kirschbaumallee, in deren Nähe sich ein alter Brunnen befand, der schon lange nicht mehr genutzt wurde und bei dem man darauf verzichtet hatte, ihn zu verschließen, wie es eigentlich üblich war. Dunkelheit begrüßte Kieran, als er in den Schacht hinabsah, aber das kümmerte ihn nicht weiter. Er ließ den Ast hinabfallen, in der Hoffnung, dass er dort unten überleben und von niemandem entdeckt werden würde, niemals. „Beobachte von dort, wie ich die Welt verändere. Das ist mein Wunsch.“ Kaum hatte er diese Worte gesagt, spürte er, wie die Spannung von ihm abfiel und seine Knie weich wurden. Er sank auf den Boden und lehnte sich gegen das Steinwerk des Brunnen. Seine Lider wurden rasch immer schwerer, so dass er die Augen schloss. Auch wenn er wusste, dass er damit Richards Leben gefährdete, konnte er nicht gegen die Müdigkeit ankämpfen, die von ihm ihren Tribut forderte und ihn in einen oberflächlichen Schlaf fallen ließ. Wäre es ihm möglich gewesen, in den Brunnen hinabzusehen, hätte er festgestellt, dass der Ast so gelandet war wie von ihm vorgesehen. Das abgebrochene Stück steckte in der Erde auch wenn ihm klar war, dass es keine Wurzeln schlagen konnte, aber seine Hoffnung wollte, dass es funktionierte. Ein einzelnes Blütenblatt löste sich von dem Zweig und während es sacht zu Boden schwebte konnte man das Echo von Maeves Stimme hören: „Ich bin gespannt, Lazarus.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)