Falsche Blüten von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 16: Wunscherfüllung --------------------------- Ein großer Vorteil, ein Naturgeist zu sein, war jener, dass sie keinerlei Schlaf benötigte, anders als ein Mensch. Wenn die Erschöpfung zu groß oder man es bereits gewohnt war, konnten sie zwar dennoch schlafen – wie Aurora und Rosans wieder einmal bewiesen – aber es war eigentlich ungewöhnlich. So kam es, dass Asterea wie in so mancher Nacht auch diese wieder damit verbrachte, gegen einen Baumstamm gelehnt dazusitzen und leise zu summen. Noch immer war sie darum bemüht, ein Lied zu schreiben, für den einzigen Menschen, der je ihr Herz berührt hatte, aber es fiel ihr nicht sonderlich leicht, immerhin war sie ein Naturgeist, der in den Sternen las und keine Muse, die Künstlern als Quell der Inspiration diente. Aber langsam, Schritt für Schritt kam sie voran und nun fehlte nur noch der passende Text, der ihr einfach noch nicht einfallen wollte und der in ihr den Gedanken weckte, dass es möglicherweise besser wäre, einen Lyriker damit zu beauftragen – aber das wiederum würde ihr Versprechen unterlaufen. Mit derartigen Gedanken beschäftigte sie sich stets, während sie summend dasaß und auf den Morgen wartete. Doch in dieser Nacht sollte das unterbrochen werden, als plötzlich ein Glühwürmchen herangeschwebt kam und ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Im Gegensatz zu Menschen, war es ihr häufig vergönnt, derartige Wesen zu sehen, weswegen sie nicht im Mindesten erstaunt war. Stattdessen streckte sie wie selbstverständlich die Hand aus, damit sich das Insekt auf ihrer Handfläche niederlassen konnte. „Was hast du mir zu erzählen, mein Freund?“ Sie führte es an ihr Ohr, damit sie das Flüstern würde verstehen können. Anfangs hatte sie geglaubt, dass Glühwürmchen unterschiedliche Stimmen hätten, genau wie Menschen und Naturgeister, aber mit der Zeit war ihr klar geworden, dass sie gar keine solche besaßen. Doch diese benötigten sie auch nicht, denn es war den Glühwürmchen auf eine mysteriöse Art und Weise möglich, die Stimme des Wünschenden zu speichern und dann an sie abzugeben. An diesem Tag war es die hoffnungsvolle Stimme eines Mädchens, möglicherweise fast einer jungen Frau, die ihr entgegenschall: „Ich wünsche mir, dass wir Richard retten können.“ Wie genau es funktionierte, konnte sie nicht so recht erklären, aber die Glühwürmchen schafften es stets, ihr mitzuteilen, wo der Wunsch ausgesprochen worden war und so wusste sie, dass es in Cherrygrove geschehen war – und diesen Ort kannte sie nur zu gut aus der ein oder anderen Vision. Aus irgendeinem, ihr noch unerfindlichen Grund war ihr Schicksal mit diesem Ort verknüpft, weswegen ihr Weg sie immer wieder dorthin zurückführte, so auch in dieser Nacht, in der sie ganz einfach beschloss, der Wünschenden einen Besuch abzustatten, um herauszufinden, worum es ging und was sie tun könnte. Normalerweise tat sie dies auf die einfachste erdenkliche Art und Weise: Sie unterhielt sich mit dem Wünschenden, aber in diesem Fall erschien es ihr eher unangebracht. Ihr Teleportationszauber – den sie zu ihrem Verdruss nur mithilfe der Glühwürmchen ausführen konnte – beförderte sie direkt in eine Bibliothek, in der eine grässliche Stille auf ihren Ohren lastete. Hinter einem Regal stehend, konnte sie einen Blick auf einen Tisch erhaschen, an dem drei Jugendliche saßen, die tief in Dokumente versunken schienen. Die sie umgebende Hoffnungslosigkeit war geradezu greifbar, sie hätte nur die Hand ausstrecken und die deprimierende Decke, gefüllt mit negativen Gedanken, zu sich ziehen müssen, um sie näher zu betrachten. Doch dieser Gedanke lag ihr fern, nicht zuletzt weil sie keinen dieser Jugendlichen in dessen Konzentration stören wollte. Sie hatte das Gefühl, dass es besser wäre, unentdeckt zu bleiben, auch wenn sie ihnen helfen wollte. Sie zog sich, so leise sie konnte, tiefer zwischen die Regale zurück, dabei legte sie eine Hand auf die Bücher und Akten, die dort verstaut waren und begann innerlich zu den Sternen zu beten, damit diese ihr verraten würden, was sie tun könnte. Zu ihrem Glück dauerte es auch nicht lange, bis die Himmelskörper reagierten und ihr einen Hinweis sendeten. Ohne jeden physisch erkennbaren Grund, schob sich plötzlich etwas aus einem der Regalfächer. Weit genug, um sichtbar auf sich aufmerksam zu machen und dennoch nicht genug, um zu Boden zu fallen und auch noch hörbar Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es war ein dünner Aktenordner, wie sie feststellte, als sie ihn aus dem Regal zog, um ihn näher zu betrachten, aber die Vorderseite war nicht beschriftet, weswegen sie ihn zuerst für leer befand und glaubte, er sei nur versehentlich dort eingeordnet worden. Doch als sie die Akte aufschlug, erkannte sie, dass darin tatsächlich ein einzelnes Blatt Papier eingeheftet war, es schien ein Brief zu sein, der an einen gewissen Hauptmann Caulfield gerichtet war. Worum genau es in diesem ging oder von wem er überhaupt kam, konnte sie allerdings nicht mehr herausfinden, da ein Kratzen, gefolgt von einer Stimme, sie ablenkte: „Ich suche mir mal noch weitere Akten, hier war auch nichts dabei.“ Einer der Jungen... ausgerechnet jetzt! Als sich die Schritte näherten, fiel ihr in einem Anfall von Panik nichts Besseres ein, als die Akte reflexartig von sich zu werfen. Sie landete auf dem Boden und schlitterte wenige Meter über den Boden, so dass derjenige, der gerade zwischen die Regale wanderte, sie auf jeden Fall bemerken würde. Hastig zog sie sich in die Schatten zurück und beobachtete so vorsichtig wie möglich, was als nächstes geschehen würde. Kurz vor Sonnenaufgang und vollkommen erschöpft, verlor Joshua langsam die Geduld an diesem Spiel. Da er ohnehin überzeugt war, dass Hauptmann Caulfield mit Sicherheit alle Beweise gut versteckt hatte, zweifelte er nicht im Mindesten daran, dass Richard nichts tun könnte, um seinem Schicksal zu entgehen. Warum auch immer der Hauptmann ihn aus dem Weg haben wollte, es würde ihm mit einer enorm hohen Wahrscheinlichkeit auch gelingen. Dieser Gedanke riss sein Inneres in zwei Teile. Die eine Hälfte verlangte, dass er wirklich etwas tat, um seinem Freund zu helfen – die andere lachte darüber und wies ihn darauf hin, dass der Hauptmann schon wüsste, weswegen er tat, was er tat und er diesem weiterhin loyal sein müsste. Und dann, so klein, dass es kaum noch auszumachen war, gab es da auch noch den Teil, der ihm immer wieder Bellindas hoffnungsloses Gesicht zeigte, das ihm das Herz zu zerreißen drohte. „Aber du findest ja ohnehin nichts“, flüsterte die loyale Stimme gehässig. „Also brauchst du dir keine Gedanken darum zu machen.“ Er wollte diese Stimme gerade verscheuchen, als ihm plötzlich eine auf dem Boden liegende Akte auffiel. Bei seinem letzten Durchgang hatte sie noch nicht dort gelegen, das wusste er noch – aber Faren war nach ihm ebenfalls noch einmal aufgestanden und dann mit einem ganzen Stapel Akten zurückgekehrt, also war es für ihn nur logisch, dass dieser sie hatte fallen lassen. Daher suchte er gar nicht erst weiter nach möglichen anderen Verursachern oder nahm gar ein außergewöhnliches Phänomen in Betracht. Er schlug die Akte auf und überflog den darin befindlichen Brief lediglich im ersten Moment desinteressiert. Erst als er Richards Namen darin entdeckte, wurde er wirklich aufmerksam und las den Brief noch einmal, dieses Mal allerdings wesentlich aufmerksamer und genauer und ihm wurde klar, dass er etwas in Händen hielt, das zwar nicht Richards Unschuld beweisen, aber doch nahelegen könnte, dass der Hauptmann ihn aus selbstsüchtigen Motiven hängen wollte. Sofort begaben sich seine beiden Hälften wieder in eine heftige Schlacht miteinander. Er wusste, es war seine Pflicht als Freund, diesen Beweis an eine höhere Instanz zu übergeben, damit dieser sich ein Urteil machen könnte, aber andererseits musste er auch seinem Hauptmann gegenüber Loyalität beweisen, denn er war derjenige, der direkt über ihm stand, ihm Befehle geben und dem er zum Gehorsam verpflichtet war – er musste recht haben, anders ging es gar nicht. Der Kampf in seinem Inneren wollte und wollte nicht enden, egal welches Argument die eine Seite fand, die andere wehrte sich strikt dagegen und schaltete auf stur und zwischendrin saß die traurige Bellinda, die nichts von alledem hören und ihn zu einer emotionalen Entscheidung, die er bereuen könnte, drängen wollte. Doch er wusste nicht, wie er sich entscheiden sollte, deswegen handelte er in einer Kurzschlussreaktion, indem er die Akte unter sein Hemd steckte, hoffte, dass sie nicht allzusehr auffallen würde und sich dann wahllos ein halbes Dutzend andere griff, um mit diesen zum Tisch zurückzukehren und so zu tun als würde er weiter nach etwas suchen, dessen Existenz er verleugnete. Als er den Stapel ablegte und sich wieder setzte, sahen seine Freunde nur kurz auf und bedachten ihn mit einem aufmunternden und hoffnungsvollen Blick, der seine Seele noch weiter zermürbte und sein Gewissen belastete. Aber noch immer zog er die Akte nicht hervor, sondern holte stattdessen die anderen nur noch näher zu sich, um sie aufzuschlagen. Glücklicherweise sahen die anderen ihn nicht länger an, sondern widmeten sich stattdessen wieder ihrer eigenen Arbeit, so dass sein Gewissen sich beruhigen und seine zerrissenen Seiten ihre Schlacht erneut aufnehmen konnten. Und obwohl er nicht allein war, fühlte er sich in diesem Moment so einsam wie noch nie zuvor. Die wieder nach vorne geschlichene Asterea presste wütend die Lippen aufeinander, als sie die in Arbeit versunkenen Jugendlichen betrachtete. So war das nun wirklich nicht von ihr geplant gewesen, aber wie hätte sie auch ahnen können, dass gerade derjenige der Gruppe, der einen inneren Konflikt mit sich ausfocht, die Akte finden würde? Manches verschwiegen ihr eben auch die Sterne. Zwar ärgerte es sie weiterhin ein wenig, aber sie vertraute darauf, dass der Junge sich noch umentscheiden würde – immerhin hatte er den Brief nicht sofort zerrissen, sondern ihn aufbewahrt. Ob sie ihm einen kleinen Schubs geben sollte, der ihn dazu bringen würde, nachzugeben? Aber das wollte sie nur ungern tun, immerhin predigte Cronus ihr oft genug, dass es besser war, wenn sich Naturgeister nicht zu sehr in die Angelegenheiten von Menschen mischten. Warum das so war, wollte – oder eher konnte – er zwar nicht erklären, aber höchstwahrscheinlich war es wirklich besser, wenn sie sich ausnahmsweise an seine Worte hielt. Außerdem lernt der Junge nur eine Lektion, wenn er auch wirklich selbst zu dieser Entscheidung kommt. Sonst fühlt er sich gegängelt und das wäre kontraproduktiv für seine Entwicklung... und ich habe keine Ahnung, was ich gerade alles gedacht hatte, denn das sind Worte, die ich nur von Cronus kenne. Sie unterdrückte das verlegene Lachen, das ihre Anwesenheit hätte verraten können und wollte sich gerade zurückziehen, um den Dingen ihren Lauf zu lassen, als sie plötzlich ein erstaunlich lautes Glockenläuten durch die Stadt hallen hörte. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber die Jugendlichen am Tisch offenbar schon. Das Mädchen fuhr nach einer kurzen Pause der Verwirrung von seinem Stuhl hoch. „Der Ausrufer! Ist es schon so spät?!“ Asterea fragte sich immer noch, was das bedeuten sollte oder könnte, aber die anderen reagierten bereits ebenfalls. „Werden zu Tode Verurteilte nicht normalerweise erst bei Sonnenuntergang hingerichtet?“, fragte der Braunhaarige, dem Asterea bislang keine Aufmerksamkeit hatte zukommen lassen. „Scheint als will der Hauptmann ihn wirklich schnell loswerden.“ Einen kurzen Moment schwiegen sie alle, die Hoffnungslosigkeit wurde nicht nur greif- sondern auch sichtbar, sie hing wie ein dunkler, schwarzer Schleier zwischen ihnen und drückte jedem, selbst dem konfliktbeladenen Jungen, die Schultern hinunter. Doch das Mädchen zerriss den Schleier schließlich wieder, ein zart glühendes Licht ging von ihr aus, aber das genügte, denn Asterea wusste, dass es der Funke der Entschlossenheit war, jener, den man benötigte, um andere Menschen zu entzünden und für die eigenen Ideen zu begeistern. „Wir müssen hinausgehen und noch einmal für Richards Unschuld plädieren!“ „Bringt das überhaupt etwas?“, fragte der konfliktbelastete Junge zaghaft. Der dritte im Bund neigte nachdenklich den Kopf. „Ich denke schon. Die Hinrichtungen müssen von der Königsfamilie bewilligt und dann auch begutachtet werden. Sicherlich ist mindestens ein Assistent des königlichen Beraters zur Stelle und es genügt, wenn wir diesen zum Zweifeln bringen.“ Der Funke ging auf ihn über, entzündete ihn und verbrannte auch seinen Schleier, so dass nur noch einer von ihnen mit Konflikten und Zweifeln beladet war. Dennoch stimmte er in das Nicken mit ein und schloss sich dann den anderen beiden an, nicht ohne zuletzt noch ein stilles Seufzen auszustoßen. Asterea wartete noch eine Weile, ehe sie ihnen folgte, um sich anzusehen, wie die ganze Geschichte ausgehen würde – in der Hoffnung, dass der Junge sich endlich für das Richtige entscheiden würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)