Falsche Blüten von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Prolog: Falsche Blüten ---------------------- Cherrygrove galt als gesegnet. Unzählige, für den Namen verantwortliche, Kirschbäume säumten das Dorf und es hieß, dass jedes Versprechen, das unter ihren Blüten ausgesprochen wurde, auch in Erfüllung ging, weswegen der Ort in jedem Frühling zu einer Pilgerstätte zahlreicher Reisender wurde, die aufgrund der Schönheit des Anblicks jeden Bewohner beneideten, der das ganze Jahr hindurch dort verbringen durfte. Aber ein einzelner Baum, der weit abseits von allen anderen stand, galt als verflucht. Was immer man sich unter diesem wünschte, wurde auf eine Weise erfüllt, die es jeden bereuen ließ. Deswegen wurde er von den Bewohnern gemieden, sogar ein Zaun war um ihn gezogen worden und jedem Touristen wurde geraten, sich ihm nicht zu nähern. Dabei war es ein außergewöhnlicher Baum, der das Interesse aller weckte. Sein Stamm war so weiß wie seine Blüten, so dass es wirklich aussah als würde Schnee auf den Weg fallen, wenn der Wind im Frühling stärker wurde. Die Früchte, die aus ihnen wuchsen, waren allerdings blau wie das Meer und galten als giftig, seit ein Kind einst nach dem Verzehr der fremdartigen Kirschen gestorben war. Seitdem war es Kindern nicht einmal mehr gestattet, sich in die Nähe davon zu begeben. So viel Segen auf den anderen Bäumen lag, so viel Unglück vereinte dieser eine in sich, weswegen seine Existenz totgeschwiegen und er von den Bewohnern nur mit Blicken gewürdigt wurde, wenn man einen Touristen oder seine Kinder wieder davor warnen musste – außerdem empfand man die Blüten als falsch, weil sie weiß und nicht rosa waren und das ließ so manchen Bewohnern vor Furcht erzittern. Noch ein Grund, diesen Baum zu ignorieren. Daher bemerkte auch nie jemand die Gestalt, die in manchen Nächten zwischen den hervorstehenden Wurzeln des Baumes saß und – einen Totenkopf in den bleichen Händen haltend – ins Dorf starrte so als wartete sie darauf, dass jemand zu ihr kam und ihr anbot, sie fortzubringen. Allerdings wäre sie niemals auf dieses Angebot eingegangen, denn ihr Platz war unter diesem Baum. Sie saß dort zu jeder Jahreszeit, immer in unterschiedlichen Nächten, manchmal monatelang sogar nicht mehr, egal ob es kalt oder nass war, es schien sie nicht im Mindesten zu kümmern, wenn sie auftauchte. Selbst wenn eine Stadtwache auf die Idee kam, in Richtung des Baumes zu blicken und dann die Gestalt entdeckte, sorgte das unheimliche Leuchten, das ihr weißes Äußeres umgab, dafür, dass die Wache das Gesehene lieber wieder vergaß und nicht einmal darüber sprach. Eine Wache hatte dieses Tabu einmal gebrochen und war wenige Wochen später tot in einem Brunnen gefunden worden, seitdem wurde dieses Wesen von der Stadtwache ignoriert. So saß die Gestalt jahrein- jahraus da, bis eines Tages tatsächlich jemand den niedrigen Zaun überwand, auf sie zukam und vor ihr stehenblieb. Ohne etwas zu sagen, hob sie den Kopf und strich dabei unwillkürlich über den blanken Schädel, der verriet, dass sie das öfter tat. Die Person vor ihr kniete sich hin, so dass sie auf derselben Augenhöhe waren. „Ich habe gehört, du erfüllst Wünsche... auf eine andere Art als die anderen Bäume hier.“ Die Gestalt antwortete nicht, aber ihr Besucher interpretierte das erneute Streichen über den Schädel als Zustimmung, so dass er fortfuhr: „Ich habe vor jedem Baum meinen Wunsch geäußert, außer vor diesem. Deswegen hoffe ich, dass du mich erhörst.“ Wieder antwortete die Gestalt nicht, gab nicht einmal zu verstehen, dass sie zuhörte, aber der Besucher zeigte sich dennoch zuversichtlich: „Mein Wunsch ist...“ Kapitel 1: Freunde ------------------ Unschlüssig stand er vor dem geöffneten Koffer und blickte immer wieder zwischen diesem und dem ebenfalls offenem Schrank hin und her. Sein Problem war nicht, dass er zu viele Sachen für den Koffer besaß, sondern im Gegenteil viel zu wenige. Die wenige Kleidung, die er sein eigen nannte, würde niemals reichen, um den ganzen Koffer zu füllen. Und aus einem ihm unerfindlichen Grund schien seine gerunzelte Stirn seine versammelten Freunde zu amüsieren. Mit genervtem Blick wandte er sich von seinem Schrank ab und sah zu den anderen hinüber. Zusammengedrängt saßen sie zu dritt auf Kierans Bett, das genau wie seines aus einem einfachen Holzgestell und einer alten Matratze bestand – genau wie jedes der anderen zehn Betten, die im Schlafsaal des Waisenhauses standen. Allerdings waren die anderen leer, genau wie die dazugehörigen Schränke, im Jungentrakt waren er und Kieran die letzten Verbliebenen und jedem von ihnen war klar, dass, sobald sie auch nicht mehr da waren, es nur noch eine Frage der Zeit war, bis das Waisenhaus endgültig seine Pforten schloss. Das war eine gute Entwicklung, wie selbst der Direktor der Einrichtung fand, denn es bedeutete wenig Krieg und damit noch weniger Waisen. „Könntet ihr vielleicht aufhören zu lachen?“, verlangte Richard. „Das ist nicht lustig.“ Während Kieran und Joshua schlagartig schuldbewusst verstummten, blieb das Grinsen auf dem Gesicht des ältesten Mitglieds erhalten, seine braunen Augen glühten geradezu, was einem verriet, dass er das alles gar nicht weiter ernst nahm. „Du hättest dir lieber einen kleinen Koffer leihen sollen, Richard. Was musst du auch immer so gierig sein?“ Nachdem er das gesagt hatte, strich er sich wie üblich durch das braune Haar, um zu unterstreichen, dass er das nicht sonderlich ernstmeinte. Dennoch konnte Richard nur genervt seufzen. „Sagt die Person, die mir den Koffer gebracht hat.“ Joshua, der rechts von Faren, am Fußende saß, lachte leise, während er zustimmend nickte. „Letztes Jahr, als ich endlich aus dem Heim durfte, hat er genau dasselbe mit mir gemacht.“ Richard erinnerte sich gut daran, damals hatte er bei jenen gesessen, die über Joshuas verwirrten Blick gelacht hatten. Sobald Kieran umziehen würde, so beschloss Richard, würde er ihm einen Koffer in der richtigen Größe besorgen. Genau genommen war es eigentlich kein großes Problem, darüber waren sie sich alle vier bewusst und das war möglicherweise auch der Grund, warum sie sich überhaupt darüber amüsierten, wenn einer von ihnen es doch als solches wahrnahm. Daher wandte Richard sich wieder ab und begann, seinen Koffer zu packen, auch wenn er damit nach kurzer Zeit bereits fertig war. „Vielleicht solltest du auch die Bettwäsche mitnehmen,“, schlug Faren vor, „dann sieht es nach mehr aus. Der Direktor braucht sie doch eh nicht mehr.“ Richard bedachte diesen Vorschlag nicht einmal mit einer Antwort, das übernahm bereits Joshua für ihn, die blauen Augen ungewöhnlich dunkel, was auf einen bevorstehenden Tadel hindeutete, der auch sofort folgte: „Faren, du bist ein Mitglied der Stadtwache! Wie kannst du Richard nur zu einer Straftat anstiften?“ Doch der Getadelte zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Ist ja nicht so als hätte ich ihn angewiesen, jemanden umzubringen.“ Unter den Wachen galt er allgemein als derjenige, der einmal ein Auge zudrückte, wenn etwas geschah, weswegen die Kinder und Jugendlichen des Ortes inzwischen genau wussten, dass sie nur auf seine Schicht warten mussten, wenn sie etwas planten. „Es geht hier um die Gerechtigkeit“, beharrte Joshua. „Du kannst nicht einfach Dinge stehlen, die einem anderen gehören!“ Aber auch das stieß bei Faren auf taube Ohren. „Du verbringst zu viel Zeit mit Bellinda, kann das sein?“ Ein leichter, kaum zu bemerkender Rotschimmer, legte sich auf Joshuas Gesicht, sein schwarzes Haar schien dadurch noch dunkler zu werden. „Ich verbringe absolut nicht zu viel Zeit mit Bellinda!“ Doch seine fast schon panische Reaktion sorgte dafür, dass Faren noch nachlegte: „Dann denkst du, dass du zu wenig Zeit mit ihr verbringst?“ Damit sprach er so ziemlich das einzige Thema an, auf das Joshua empfindlich reagierte, weswegen dieser demonstrativ den Blick abwandte und nichts mehr darauf sagte. Kieran, der am Kopfende saß und mit dem Rücken dagegen lehnte, nutzte die neu gewonnene Stille, um nun selbst etwas zu sagen: „Ich denke nicht, dass es angebracht ist, jemanden zum Stehlen aufzufordern, auch nicht, wenn der Besitzer des zu stehlenden Gegenstandes ohnehin genug davon hat – und da ist es egal, ob derjenige, der den Rat gibt, Stadtwache ist oder nicht.“ Faren, der wusste, dass es unsinnig war, mit dem stets ruhig bleibenden Kieran zu diskutieren, verschränkte schweigend die Arme vor der Brust. Joshua dagegen wandte den Kopf. „Danke, Kieran! Wenigstens einer, der auf meiner Seite ist.“ Der Angesprochene nickte nur und sah dann zu Richard, der den Koffer inzwischen schloss, ihn hochob und dann entschied, dass er das Positive sehen sollte: Immerhin war der Koffer nicht sonderlich schwer, aber sobald er Geld verdiente, musste er sich eindeutig mehr Sachen kaufen. „Es gibt auch keinen Grund, Bettwäsche mitzunehmen“, kommentierte nun Richard das zuvor besprochene Thema. „In dem Haus, das mir zugewiesen wurde, gibt es bereits welche.“ „Ist es nicht unheimlich, in ein Haus zu ziehen, dessen Bewohner vor kurzem gestorben sind?“, fragte Faren mit geneigtem Kopf. Als einziger in der anwesenden Gruppe war er in Cherrygrove geboren, weswegen er einfach in seinem Elternhaus wohnen konnte – im Gegensatz zu seinen Freunden, die allesamt von woanders gekommen waren und ihre Kindheit im Waisenhaus verbracht hatten. Richard machte eine ausholende Handbewegung, die den gesamten Schlafsaal einschloss. „Auch nicht viel unheimlicher als zu zweit hier zu schlafen.“ Wie auf eine stumme Einigung blickten sie zu Kieran, der aufgrund seines jungen Alters zurückbleiben musste. Dieser lächelte aber nur leicht und strich sich das schwarze Haar, das über sein linkes Auge fiel, ein wenig zurück. „Mir macht das nichts aus, ich habe keine Angst.“ Faren setzte gerade an, um etwas zu sagen, doch da wurde ihm bereits von Joshua das Wort abgeschnitten: „Musst du nicht langsam arbeiten gehen?“ „Du bist schlimmer als der Hauptmann. Ich kann nicht verstehen, warum du ihn nicht magst.“ Doch statt auf eine Erwiderung des anderen zu warten, der bereits missbilligend die Augenbrauen zusammenzog, stand Faren hastig auf, verabschiedete sich von seinen Freunden und ging davon. Joshua entspannte sich merklich, aber Kieran schüttelte den Kopf. „Du hättest ihn ruhig sagen lassen können, was er sagen wollte. Mich stört das nicht.“ „Nein, hätte ich nicht!“, beharrte Joshua. „Ich finde es nicht in Ordnung, wenn er so mit dir spricht.“ Kieran wandte den Blick ein wenig ab, aber Richard war es dennoch möglich, zu erkennen, dass sein Freund dankbar war. Auch wenn er es nicht zugab, aber er fühlte sich doch von Farens unbedachten – ja, Richard war überzeugt, dass Faren nicht bösartig sein wollte – Äußerungen angegriffen, er war nur nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren. Warum genau das so war, wusste Richard nicht, er kannte seinen besten Freund als mutig, unerschrocken und direkt – aber das galt wohl nur, solange es um keinen direkten Menschenkontakt ging. Das Glück war, dass auch Joshua die wortlose Dankbarkeit verstand und deswegen immer wieder für Kieran eintrat, egal wie oft dieser ihm sagte, dass er es nicht tun musste. Schließlich stand Joshua auf. „Ich muss dann mal los, ich habe noch was zu tun.“ Er verließ den Saal, ehe einer der anderen ihn aufhalten konnte, aber das hätte ohnehin keiner von ihnen gewollt, denn sie wussten beide, was er nun plante und da erschien ihnen eine Störung unangebracht. Außerdem war es ihnen ganz recht, wenn sie – als beste Freunde – das Folgende allein antreten würden. Kieran stand auf, als Richard den Koffer ergriff und ging gemeinsam mit ihm aus dem Saal. Auch im Gang herrschte eine ungewohnte Stille, die nichts mehr davon ahnen ließ, wieviel Leben früher in diesem Gebäude geherrscht hatte. Lediglich der abgetretene Holzboden und die Wachsmalspuren auf den ockerfarben gestrichenen Wänden, sowie die gerahmten Zeichnungen verrieten, dass viele Kinder einst hier gelebt hatten. „Irgendwie wird es mir fehlen“, meinte Richard in einem Anfall von Nostalgie. „Aber andererseits bin ich auch froh, wenn ich endlich mal wieder ein Zimmer für mich habe.“ Bis zur Zerstörung seines Heimatortes hatte er immerhin stets ein eigenes Zimmer sein Eigen genannt, in das nicht einmal seine jüngere Schwester hineindurfte. Aber er dachte lieber nicht an die Vergangenheit oder die Toten zurück. „Ich bin schon froh, ein Bett zu haben“, murmelte Kieran, er räusperte sich, ehe er lauter fortfuhr: „Du wirst ein ganzes Haus für dich haben. Wirst du dich nicht einsam fühlen?“ „Ich bin gern allein. Außerdem kannst du ja dauernd vorbeikommen, du bist alt genug, um dich nicht mehr an die Ausgangssperre halten zu müssen.“ Kieran lächelte wieder über dieses Angebot. Schweigend verließen sie das Waisenhaus, da Richard sich längst von dessen Direktor verabschiedet hatte und legten dann den Weg zu einem Haus am Stadtrand von Cherrygrove zurück. Der kleine Ort, der eine Mischung aus Stadt und Dorf zu sein schien, war in den letzten sechs Jahren zu einem Zuhause für Richard geworden. Nachdem er kurz nach der Zerstörung seiner Heimat hier angekommen war, hatte man ihn überraschend freundlich empfangen, nicht zuletzt, weil er Kierans Leben rettete – und so waren sie auch zu besten Freunden geworden. Richard konnte sich gar nicht mehr vorstellen, jemals irgendwo anders zu leben, dieser Ort war einfach... perfekt in seinen Augen. Es geschah nie etwas Aufregendes, nie etwas Gefährliches, es war immer angenehm ruhig. Er konnte es gar nicht oft genug betonen. Vor dem Haus blieben sie wieder stehen und blickten daran hinauf. Wie jedes andere in Cherrygrove war es aus dunklem Holz gefertigt und zweistöckig. Aber Richard war bereits einmal drin gewesen, auch wenn es von außen groß aussah, besaß es lediglich drei Zimmer, dafür aber auch eine Küche, eine Vorratskammer und ein Bad. Für ihn also mehr als genug. Wenn man hineinging, fand man sich direkt vor einer Treppe wieder, die nach oben führte. Nach rechts ging es ins Wohnzimmer, das wiederum in die Küche und der darin angrenzenden Vorratskammer führte. Links wiederum befand sich das Bad. Wie versprochen waren die Möbel allesamt geblieben, so dass Richard sich darum vorerst keine Sorgen machen musste. In wenigen Wochen würde er zwar ebenfalls seinen Posten bei der Stadtwache antreten, aber nicht von Anfang an etwas verdienen. Glücklicherweise war Cherrygrove inzwischen derart auf Waisenkinder eingestellt, dass man diese nach Erreichen der Volljährigkeit – die in Király 17 Jahre betrug – mit allen Kräften unterstützte, ihnen sogar Häuser zuwiesen und im geringen Umfang auch Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. „Bist du sicher, dass du nicht auch einziehen willst?“, fragte Richard. „Ganz sicher“, bestätigte Kieran. „So wie ich diese Gegend kenne, werde ich bis zu meinem 17ten Geburtstag ohnehin ein Haus in deiner Nähe bekommen.“ Am Stadtrand von Cherrygrove lebten hauptsächlich ältere Menschen, wie Richard wusste, ein Trend, der sich mit Sicherheit bald wieder legen würde – wenn sie erst einmal alle gestorben waren. „Und selbst wenn nicht, die Stadt ist nicht so groß als dass wir uns dann nicht trotzdem noch jeden Tag unbeabsichtigt über den Weg laufen würden.“ Kieran lächelte, als er das sagte, was auch Richard dazu bewegte, dasselbe zu tun. „Du hast recht, wir verlieren uns hier garantiert nicht aus den Augen. Aber bist du sicher, dass du ganz allein im Schlafsaal zurechtkommst? Es kann ziemlich unheimlich werden nachts.“ Richard erinnerte sich noch gut an die ein oder andere schlaflose Nacht, weil er irgendwelche Geräusche aus der Stadt oder dem restlichen Waisenhaus gehört hatte. Während er davon überzeugt war, dass die Mädchen in ihrem Schlafsaal nur zu laut gewesen waren – was die ganze Sache nicht minder unheimlich machte –, schien Kieran etwas anderes zu denken – aber er teilte seine Verdachtsmomente mit niemandem. „Mach dir doch nicht so viele Sorgen. Du kommst mir jetzt schon wie ein Vater vor.“ Unzufrieden zog Richard die Brauen zusammen. „Jetzt schon? Wenn es nach mir geht, werde ich niemals Vater.“ Kieran erwiderte darauf nichts, aber Richard wusste, dass es nicht daran lag, weil er ihm recht gab, sondern weil sie diese Diskussion bereits mehrmals geführt hatten und es immer auf dasselbe hinausgelaufen war. Er selbst sah sich nicht als Vater, niemals, während Kieran ihn für geradezu perfekt in dieser Beziehung hielt. Aber wenn es nach Richard ging, würden sie niemals erfahren, ob es so war oder nicht. Um von dem Thema wieder abzulenken, fiel Kieran sofort etwas Besseres ein: „Willst du mal nicht deine Kochkünste demonstrieren? Ich sterbe vor Hunger.“ Richard lachte, während er den Koffer in eine Ecke stellte, wo er niemanden stören würde. „Sicher, aber erwarte besser nicht zu viel. Ich war schon im Kochkurs eher schlecht.“ „Ich bin abgehärtet“, erwiderte Kieran unerschrocken und folgte Richard dann in die Küche, wo er den Rest des Tages damit verbringen sollte, sich über die Kochversuche zu amüsieren, so wie zuvor über das Kofferpacken. Kapitel 2: Sternenfest ---------------------- Normalerweise war Cherrygrove kein sonderlich festfreudiger Ort, denn immerhin bedeutete so etwas auch viel Arbeit und Aufregung. Man war genug von den Touristen amüsiert, die sich jedes Frühjahr aufs Neue versammelten, aber es gab ein Fest, das in ganz Király und damit auch Cherrygrove gefeiert wurde: man nannte es Sternenfest. Es wurde zu Ehren der Sternnenynmphe Asterea abgehalten, wenngleich sich niemand mehr so ganz sicher war, warum gerade sie ein eigenes Fest bekommen hatte. Aber da es ohnehin hauptsächlich darum ging, sich nachts mit allen Bewohnern der entsprechenden Stadt, in der es gefeiert wurde, zusammenzusetzen, zu trinken, zu essen und Spaß zu haben, war es ohnehin egal. Zumindest wenn man Faren Glauben schenkte. Dieser saß wie jedes Jahr während der Feier an genau dem Tisch auf dem ein Teller mit Fleischspießen auslag und kaute abwechselnd an dem Spieß in seiner linken oder dem in seiner rechten Hand. Zwischen den Bissen fand er allerdings die Zeit, den anderen zu erklären, warum sie feierten: „Also letztes Jahr hat mir jemand erzählt, wir feiern, weil an diesem Tag Asterea ihre erste Vision hatte. Dieses Jahr hat Granny Ann mir aber erzählt, dass wir eigentlich eher feiern, dass sich die Sternennymphe verliebt hat, weil es der erste und bislang einzig bekannte Naturgeist ist, der sich verliebte.“ „Und das ist ein Grund zu feiern?“, fragte Richard schlecht gelaunt. Als einziger der Freunde saß er nicht Faren zugewandt, stattdessen drehte er ihm den Rücken zu und blickte in eine andere Richtung, um die Feiernden zu beobachten. Es war bereits dunkel, aber neben den Sternen und dem Mond spendeten auch zahlreiche runde Lampions an Drähten, die quer durch die ganze Stadt gespannt waren, genügend Licht, um auch zu sehen, mit wem man sich unterhielt oder was genau man eigentlich aß – bei manchen Gerichten konnte man sich da nicht so sicher sein. Faren schwor sogar, jedes Jahr aufs Neue, dass der Salat der Witwe Gordon sich bewegte, wenn man lange genug hinsah – und so wie Kieran diesen ebenfalls immer wieder anstarrte, musste sogar etwas dran sein, aber Richard wollte das nur ungern genauer erkunden. Von irgendwo – bei all den Menschen war es nur schwer zu sehen, wo es herkam – war Musik hörbar, allerdings klang der Spieler nicht sonderlich talentiert, vermutlich zupfte nur irgendein angetrunkener Festbesucher an einer Gitarre oder einem anderen Instrument. „Was bist du schon wieder so schlecht drauf?“, fragte Faren. „Ich dachte, du wärst wesentlich entspannter, wenn du erst einmal allein wohnst, immerhin hast du dann ja genug Zeit, um-“ „Ich bin jedes Jahr so schlecht drauf zu diesem Zeitpunkt“, unterbrach Richard verärgert. „Und das hat nichts mit dem zu tun, was du schon wieder denkst.“ Faren neigte kauend den Kopf, doch dann nickte er plötzlich, noch ehe einer von ihnen zum Erklären ansetzen konnte. „Ah ja, ich erinnere mich, du glaubst ja nicht an Naturgeister und findest dieses Fest deswegen irgendwie blöd... oder so.“ „Nein!“, erwiderte Richard und wandte sich ihm nun doch zu, da es ihm zu anstrengend wurde, sich über seine Schulter hinweg zu unterhalten. „Ich glaube nicht an Naturgeister – aber nur weil ich weiß, dass sie existieren! Und ich hasse diese verdammte Asterea! Wenn die mir irgendwann wieder unter die Augen kommt, werde ich... ich...“ Er hielt inne, ein wenig ratlos, da er sich bislang noch keine Gedanken darüber gemacht hatte, was er mit ihr tun würde, wenn er sie wieder traf. Immerhin war sie ein Naturgeist – und sie hatte auch nichts getan, was es erfordern würde, dass er ihr etwas Schlimmes antat. Sie hatte seinen Stolz verletzt, aber was tat man, um diesen zu rächen? Da er nicht weitersprach und in seine eigenen Gedanken versunken war, wandten sich Faren und Joshua nun Kieran zu, der neben Richard saß und bislang schweigend, wie üblich eben, den anderen gelauscht hatte. Fragend erwiderte er die Blicke, obwohl er sich bereits denken konnte, was sie wissen wollten und sie ihm das auch im nächsten Moment bereits bestätigten: „Weißt du eigentlich, was es mit Richards Hass auf Naturgeister... und blonde Frauen... auf sich hat?“ Immerhin war jedem von ihnen bereits aufgefallen, dass Richard eine deutliche Abneigung gegenüber blonden Frauen empfand, was besonders seiner hartnäckigsten Verehrerin sauer aufstoßen durfte, an diesem Abend war allerdings noch nichts von ihr zu sehen gewesen. Da Richard noch immer gedanklich abwesend war – und sich gerade verschiedene Strafmethoden vorstellte – bekam er nicht mit, dass Kieran antwortete: „Nun, einmal, so sagt er, ist Asterea blond und sie hat offenbar einmal seinen Stolz verletzt, ich weiß aber auch nicht so recht, wie sie das gemacht haben soll, das sagt er mir nicht. Außerdem war seine jüngere Schwester, Kathreen, auch blond und er denkt nicht so gern an die Vergangenheit.“ Bei der Erwähnung dieses Namens zuckte Richard augenblicklich zusammen und sah Kieran an. „Wie kannst du ihnen das alles nur erzählen? Das ist meine Sache... meine vergangene Sache vor allem. Und ich rede nicht gern über die Vergangenheit.“ „Deswegen habe ich das für dich übernommen“, erwiderte Kieran trocken. „So musst du ihnen nichts mehr davon erzählen.“ Richard hatte zwar weiterhin das Gefühl, dass irgendwas daran nicht ganz stimmig war, aber er wusste nicht so recht, was es war, deswegen beließ er es dabei, sich am Kopf zu kratzen und sich dafür zu bedanken. Faren und Joshua lachten darüber amüsiert – bis plötzlich eine Stimme erklang, die sie dabei unterbrach: „Awww, ihr amüsiert euch hier, ohne mich?“ Im nächsten Moment saß bereits eine junge Frau neben Joshua. Neugierig betrachtete sie alle mit ihren braunen Augen durch ihre Brille hindurch, ihr nackenlanges schwarzes Haar fiel ihr dabei in die Stirn und verriet, dass sie wieder einmal einen Friseur besuchen sollte. „Worüber redet ihr?“, fragte sie interessiert und schob sich dabei die Ärmel ihrer viel zu großen blauen Jacke zurück, da sie ihr über die Hände gerutscht waren und sie daran hinderten, sich ebenfalls einen Fleischspieß zu nehmen. Kieran und Richard schwiegen und überließen die Antwort Joshua, doch da er offenbar noch viel zu überrascht über ihr plötzliches Auftauchen war, musste Faren das übernehmen: „Wir haben über Richards Vergangenheit gesprochen, Bell... und es ist doch deine eigene Schuld, was hängst du auch dauernd bei den Mädchen herum?“ Dabei warf er einen Blick zu dem Tisch, an dem die jungen Frauen, die im Waisenhaus lebten, gemeinsam mit jenen, die inzwischen ihr eigenes Haus hatten, saßen und sich miteinander unterhielten. Der Wind trug einzelne Gesprächsfetzen und Gelächter herüber. Bellinda nahm einen Bissen von dem Spieß und kaute sorgsam, ehe sie erwiderte: „Meine Mutter will, dass ich mehr Zeit mit Mädchen verbringe, sie fürchtet, dass du einen schlechten Einfluss auf mich ausübst.“ Faren stieß ein theatralisches Seufzen aus. „Da kennt deine Mutter mich so lange und traut mir so etwas zu? Ich bin wahrlich schockiert, meine Beste.“ „Ich auch“, stimmte sie zu. „Wenn es nicht so anständige Kerle wie Josh gäbe, würde ich sicher gar nicht mehr mit Männern sprechen dürfen.“ Joshua lachte verlegen, als er das hörte, ignorierte Farens gemurmeltes „Der tut doch nur so als ob“ und erwiderte stattdessen: „Ah, zu viel der Ehre.“ Sie lächelte ihm zu, dann wandte sie sich an Richard: „War Allegra eigentlich schon bei dir?“ „Beschrei es bloß nicht, am Ende taucht sie wirklich noch auf. Warum fragst du?“ Es wäre ihm neu, dass sie auch mit Allegra befreundet war, aber offenbar war sie das wirklich nicht, denn sie deutete mit dem Kopf zu einem etwas weiter entfernten Tisch, an dem vier Personen saßen. Faren verzog sofort das Gesicht, als er den erwachsenen Mann mit dem schwarzen Haar und der Augenklappe sah, unter der sich eine große Brandnarbe befand. „Irgh, der Hauptmann, auch das noch. Nicht mal beim Feiern hat man noch seine Ruhe.“ „Hast du etwa nicht vor, nachher arbeiten zu gehen?“, meinte Joshua missbilligend. „Doch, natürlich – schon allein, weil du ja immerhin auch mit mir Schicht hast...“ Normalerweise schaffte Faren es, sich seinen Schichten zu entziehen, indem er ihnen einfach fernblieb, solange er es damit nicht übertrieb, störte es auch niemanden. Aber bei Joshua war er auf verlorenem Posten, dieser suchte ihn stets, wenn sie eine Schicht miteinander teilten und zog ihn dann am Kragen in die Wachstation. Nach dem dritten Mal hatte Faren es daher aufgegeben – und seitdem hatte er doppelt so viele Schichten mit Joshua als früher. Neben dem Hauptmann saßen auch dessen Frau – eine blasse, furchteinflößende Frau mit grauem Haar –, sein Sohn Dario – ebenfalls ein schwarzhaariger, aber dafür junger Mann, dessen kantiges Gesicht auf die Verwandtschaft hindeutete – und auch eine junge Frau, deren blondes Haar zwar kurz geschnitten war, aber auf beiden Seiten ihres Gesichts hing eine lange Strähne herab, ihr Name war Allegra und sie war die Tochter des Hauptmanns. „Ich kann die Caulfields nicht leiden“, brummte Faren undeutlich. „Die ganze Familie ist so arrogant und gebieterisch...“ Bellinda nickte zustimmend und ergänzte kauend: „Und voll nervig. Als Dario hier seine Kavalleristenausbildung absolviert hat, ist er hier herumstolziert als müsste jedes Mädchen ihm zu Füßen liegen.“ „Ich finde nicht, dass wir über sie reden sollten“, meinte Richard, ehe Joshua auch noch seine Meinung dazu abgeben konnte. „Vielleicht sind sie in Wahrheit ganz anders als wir denken, ihr solltet nicht so oberflächlich sein.“ „Sagt die Person, die Allegra am laufenden Band abweist, weil sie blond ist“, erwiderte Faren schmunzelnd und erntete dafür einen finsteren Blick von Richard. Eine Bewegung am Tisch der Waisenhaus-Mädchen, lenkte Bellindas Aufmerksamkeit auf diesen und ließ sie amüsiert kichern. „Ich glaube nicht, dass er sie ablehnt, weil sie blond ist, eher, weil sein Interesse einer ganz anderen gilt.“ Keiner der anderen musste fragen, von wem sie sprach, denn man kannte sie nicht nur, sie kam in diesem Moment auch auf den Tisch zu. Die blaue Kappe, die sie trug, um ihr langes schwarzes Haar zumindest ein wenig zu bändigen, war farblich passend zu ihrem Kleid ausgewählt, das sie trug und ihre dunkelbraunen Augen leuchteten im Gegensatz zu denen von Allegra warm, es war nicht weiter verwunderlich für seine Freunde, dass Richard mehr Interesse an ihr besaß. Er stand auch sofort auf, als sie am Tisch ankam und die anderen freundlich grüßte. „Guten Abend, alle zusammen~.“ „Guten Abend, Blythe“, grüßten die anderen sie zurück. Aber Richard ließ ihnen nicht sonderlich viel Zeit, sich mit ihr zu unterhalten, das hatte er bereits oft genug miterlebt, um zu wissen, dass es peinlich werden könnte. Stattdessen griff er nach ihrer Hand und zog sie mit sich, weswegen sie sich unbeeindruckt von den anderen verabschiedete und mit ihm davonging. „Er mag sie echt, was?“, fragte Faren, der den beiden interessiert hinterhersah. Kieran zuckte mit den Schultern und nutzte die Ablenkung der anderen, um sich den letzten Fleischspieß zu nehmen, der für ihn allerdings der erste an diesem Abend war. „Ich denke schon. Im Waisenhaus haben sie auch oft Zeit miteinander verbracht. Aber er redet auch nicht darüber... allgemein redet er nicht gern über solch private Dinge.“ Es gab mit Sicherheit vieles, was er nicht einmal seinem besten Freund über sich erzählte. In gewisser Weise würde er wohl für jeden immer ein Fremder bleiben. „Vielleicht~.“ Bellinda war allerdings nicht allzu neugierig und wandte sich lieber Joshua zu. „Hast du das Buch eigentlich schon angefangen, das ich dir geliehen habe?“ „Ja, habe ich, bislang...“ Kieran blendete das Gespräch der beiden aus, da sie nun ohnehin in ihrer eigenen Welt gelandet waren und konzentrierte sich auf seinen Fleischspieß, da Faren ohnehin nie mit ihm sprach, wenn es nicht sein musste. Aber als er Allegra aufstehen sah, verfolgte er sie mit Blicken, bis er sie nicht mehr zwischen den Feiernden entdecken konnte – allerdings wusste er ohnehin, wo sie hingehen würde. Da blieb ihm nur zu hoffen, dass nichts eskalieren würde. Richard befand sich derweil mit Blythe hinter einem der Häuser, wo es ein wenig mehr Ruhe gab. Die Gespräche und die Musik waren nicht sonderlich deutlich zu hören und es gab mehrere Kisten, auf denen man sitzen konnte, so wie sie beide in diesem Moment. Während sie allerdings nervös schien, blickte er fast schon gelangweilt in die Dunkelheit hinaus. Er konnte sich denken, was sie wollte, aber er wollte es ihr auch nicht abnehmen, es selbst auszusprechen – schon allein, weil er sich vorstellte, dass es dann umso schmerzhafter werden würde, wenn er seine Erwiderung darauf gab. „Uhm, Richard...“ Er wandte sich ihr zu, als sie die Stimme hob, blickte aber nach wie vor desinteressiert, da sie das allerdings bereits gewohnt war, schien es sie nicht im Mindesten zu stören. „Ich will dir schon seit langer Zeit etwas sagen.“ „Hmm...“ Auch an seiner Einsilbigkeit störte sie sich nicht und fuhr stattdessen fort: „Also weißt du, ich...“ Doch bevor sie aussprechen konnte, was sie sagen wollte, erklangen plötzlich Schritte und im nächsten Moment stand Allegra vor ihnen. Sie bedachte Blythe nur mit einem verächtlichen Blick, ehe sie sich Richard mit dem Versuch eines warmen Lächelns zuwandte, das eher an eine Grimasse erinnerte. „Warum versteckst du dich hier, Richard?“ „Ich verstecke mich nicht“, erwiderte er. „Blythe wollte nur allein mit mir reden.“ Da sie ihm das bereits am Nachmittag angekündigt hatte, war ihm das bereits bewusst gewesen, als sie an den Tisch getreten war und deswegen hatte er sie auch hierher geführt. Allegra schnaubte. „Ein Liebesgeständnis am Abend des Sternenfestes, hm? Was für ein Klischee.“ Blythe wurde sofort rot, widersprach aber nicht, was Richard noch einmal darin bestätigte, dass er mit seiner Annahme recht hatte. „Wenn du mit mir reden willst, musst du warten, bis Blythe fertig ist.“ Allegra schnaubte noch einmal, warf ihrer Rivalin aber nicht einmal einen Blick zu. „Fein. Ich werde morgen mit dir reden. Meine Liebe kann warten – bis zu einem weniger klischeehaften Tag.“ Nach einem allerletzten Blick zu ihrer Rivalin hinüber, ging sie mit erhobenem Haupt wieder davon. „Sie ist furchteinflößend“, urteilte Blythe, als sie endlich wieder weg war. Richard zuckte allerdings mit den Schultern. „Nicht wirklich, sie tut nur so. Aber sag mir jetzt lieber, worüber du reden wolltest.“ „N-na ja, eigentlich hat Allegra es schon gesagt. Also, ich hab dich sehr gern und-“ „Tut mir Leid“, wehrte er endlich ab, nachdem sie es endlich ausgesprochen hatte und stand dabei bereits wieder auf. „Ich denke, es wäre besser, wenn du dir jemand anderen suchst. Ich mag dich als Freundin, aber da wird mit Sicherheit nicht mehr daraus. Du musst dir keine Hoffnungen machen.“ Blythe wurde augenblicklich blass. „A-aber...“ Diese brüske Abweisung tat ihm selbst ein wenig Leid, aber er hielt es für besser, ihr direkt zu sagen, dass es umsonst war, auf ihn zu hoffen. Egal, was seine Freunde alle glaubten, er empfand nicht mehr als Freundschaft für Blythe – und er zweifelte daran, jemals mehr für irgendwen empfinden zu können. „Du solltest lieber nach Hause gehen und schlafen“, sagte er noch, ehe er sich verabschiedete und davonging, um sich an seinen eigenen Rat zu halten. Dabei fragte er sich, bereits in Gedanken versunken, warum er eigentlich dauernd irgendwelche Liebeserklärungen abweisen musste, obwohl er keinerlei Interesse daran hatte und bemerkte dabei nicht, dass Blythe ihm mit vor Wut tränenden Augen und geballten Fäusten hinterhersah – und er ahnte auch nicht, dass es das letzte Mal sein würde, dass er sie lebend sah. Kapitel 3: Mordnacht -------------------- Spät in der Nacht war das Fest zum größten Teil bereits wieder vorbei. Die meisten Lampions waren gelöscht, bis auf wenige Besucher waren alle bereits heimgekehrt und die verbliebenen saßen zusammen, tranken den restlichen Alkohol, aßen das übriggebliebene Essen und unterhielten sich leise. Nur hin und wieder brach eine Gruppe in schallendes Gelächter aus, nur um im nächsten Moment direkt wieder leiser zu werden und sich flüsternd weiter zu unterhalten. Faren seufzte, während er das beobachtete. „Ich könnte auch ein Teil davon sein.“ Joshua sparte sich den finsteren Blick, den er seinem Kollegen zuwerfen wollte, da er ohnehin verschwendet wäre. „Jetzt bist du erst einmal ein Teil der Stadtwache, also arbeite gefälligst. Von mir aus kannst du nach der üblichen Runde nachsehen, was noch alles übrig ist und dir davon noch eine schöne Nacht machen, aber ich werde garantiert nicht allein arbeiten!“ „Früher warst du wesentlich entspannter“, maulte Faren, worauf Joshua sich jede weitere Erwiderung sparte. Es stimmte, er war einmal entspannter gewesen – bis er gut ein Dutzend seiner gemeinsamen Schichten, für die er mit Faren eingeteilt gewesen war, allein hatte hinter sich bringen müssen, inklusive des Berichts, der im Anschluss fällig gewesen war. Das hatte derart viel Zeit gefressen, dass er sich geschworen hatte, das nie wieder zuzulassen und seitdem brachte er Faren eben mit Gewalt dazu, zu arbeiten – Hauptmann Caulfield hatte immerhin bereits mehrmals klargestellt, dass er keinerlei Interesse an diesen Auseinandersetzungen hegte und seine Wachen das unter sich regeln sollten und Bellinda hatte bestätigt, dass es Faren wohl ganz guttat, wenn jemand anderes ein wenig Druck auf ihn ausübte. Er murrte zwar stets darüber, aber es kümmerte ihn offenbar auch nicht weiter, denn er tat nichts, um sich dem zu entziehen und arbeitete dann auch. Es war zwar Frühling, aber die Nächte waren immer noch reichlich kühl, weswegen sie beide braune Umhänge trugen, die sie vor der Kälte schützen sollten, Joshua hielt noch dazu eine gläserne Laterne in der Hand, um ihren Weg zu beleuchten. Ein leises Schluchzen lenkte die Aufmerksamkeit der beiden plötzlich hinter eines der Häuser. Als sie dem Laut folgten, entdeckten sie eine auf dem Boden kauernde Allegra, die sich gerade die Augen auszuweinen schien. Ein Anblick, der für sie beide absolut neu war, noch bis vor kurzem hätte Joshua alles geschworen, dass die Caulfields nicht in der Lage waren, Emotionen jeglicher Art zu empfinden – und nun saß sie hier und weinte bitterlich. Joshua drückte Faren die Laterne in die Hand, da er es für besser hielt, sie nicht zu viel Licht auszusetzen und kniete sich dann vor Allegra. „Was ist passiert? Bist du verletzt?“ Scheinbar nur widerwillig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und dabei bemerkte Joshua, dass sie wirklich verletzt war. Aus einer ungleichmäßigen Wunde, die sich quer über ihre rechte Wange zog, floss Blut, aber glücklicherweise nicht sonderlich viel. „Richard...“, brachte sie hervor, während das Schluchzen nachließ und sie sich bemühte, die altbekannte Gleichgültigkeit wieder anzunehmen. In abgebrochenen Sätzen erklärte sie, dass sie Richard noch einmal getroffen hatte, nachdem er bereits nach Hause gegangen war, doch als sie versucht hatte, mit ihm zu sprechen, war er anscheinend ausgerastet und hatte ihr mit einer Waffe, die sie nicht erkennen konnte, diesen Schnitt verpasst. Die Tränen waren wohl weniger das Ergebnis der Schmerzen, sondern eher des Schrecks und der ungewohnt harten Abweisung. Joshua half ihr dabei, aufzustehen. „Wir bringen dich besser zum Arzt, der soll sich die Verletzung mal ansehen.“ Denn, wenn er sich diese so ansah, würde es wohl auf eine Narbe hinauslaufen und das würde Allegras Stimmung noch weiter drücken, wenn sie das erst einmal begriffen hatte. Eine medizinische Behandlung könnte das allerdings noch verbessern, wenn er sich nicht irrte. Nachdem sie Allegra bei dem alternden Arzt von Cherrygrove abgeliefert hatten, setzten sie ihre Runde fort. „Was hältst du von ihrer Geschichte?“ Farens Stimme klang überraschend ernst, offenbar hatte er über ihre Worte eine ganze Weile nachgedacht, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Joshua hob die Schultern. „Sie ist eine Caulfield, ich würde ihr zutrauen, dass sie das nur erfindet, um Richard zu verunglimpfen – aber diese Verletzung gibt mir zu denken und sie klang auch sehr ehrlich. Ich glaube nicht, dass sie lügt.“ Auch wenn es ihn doch reichlich verwirrte, denn immerhin konnte er sich nicht vorstellen, dass Richard jemanden verletzen würde, nicht einmal wenn sie so aufdringlich wie Allegra war. „Hat Kieran ihn nicht nach Hause begleitet?“, fragte Faren. „Wir sollten ihn morgen fragen, wie Richard drauf war, als sie sich voneinander verabschiedet haben – und ob er irgendwelche Waffen mit sich führte.“ Dass er wirklich glaubte, dass Kieran so genau darüber Bescheid wusste, was hinter Richards desinteressierter Miene vor sich ging, beeindruckte Joshua im ersten Moment – aber dann fiel ihm wieder ein, dass Faren nur überzeugt war, dass die beiden gleichgültigen Personen der Gruppe auch beide genau dasselbe denken mussten. Also stimmte Joshua einfach nur zu und hielt gemeinsam mit Faren wieder inne, als ihnen ein reichlich ungewöhnlicher Festbesucher über den Weg lief. Sie muhte leise, als sie bemerkte, dass jemand ihr Aufmerksamkeit schenkte, Joshua dagegen seufzte leise und tätschelte ihren Kopf. „Wieder einmal ein Sternenfest auf dem Bauer Foremans Stall nicht standesgemäß abgeschlossen wurde.“ „Lass mich raten, wir müssen sie jetzt zurückbringen.“ Faren klang alles andere als begeistert, aber Joshua kümmerte sich nicht darum, sondern stimmte lediglich zu und führte die Kuh in Richtung ihres heimatlichen Stalles. Dieser lag gemeinsam mit der kleinen Farm des alten Foreman am Stadtrand, nicht weit entfernt von Richards Haus. Joshua warf einen Blick in diese Richtung, aber das Haus lag im Dunkeln, er ging also davon aus, dass sein Freund bereits schlief. Schon von weitem konnte er wirklich erkennen, dass die Stalltür offen stand, aber anders als sonst war von dem Bauern, der normalerweise bereits mit einer Mistgabel herumlief und versuchte, seine Tiere allesamt wieder einzufangen - auch wenn es sich in diesem Jahr nur um eines handelte -, nichts zu entdecken. Schlief er in dieser Nacht etwa so tief, dass er noch gar nichts mitbekommen hatte? Das sah ihm nicht sonderlich ähnlich. Wenige Schritte vom Stall entfernt, hielt Joshua wieder inne, was Faren ihm direkt nachtat. „Was ist?“, fragte er ratlos. „Lass sie uns reinbringen und dann wieder abschließen.“ „Ich habe ein ganz ungutes Gefühl...“ Ursprünglich stammte Joshua aus dem Inselreich südlich von Király, in diesem Land war er nur gelandet, weil er auf einer Reise mit seiner Familie Schiffbruch erlitten hatte – und das Gefühl vor dem Unglück war genau dasselbe wie jenes, das er in diesem Moment verspürte. Es schnürte ihm die Kehle zu und ließ gleichzeitig Übelkeit in ihm aufsteigen, am Liebsten wäre er weggelaufen, aber genau wie damals wusste er, dass es sinnlos war. Damals, weil er sich auf einem Schiff befunden hatte und in dieser Nacht, weil er spürte, dass er das Unvermeidliche damit nur hinauszögern würde. Ohne die Kuh weiter zu beachten, betrat Joshua den dunklen Stall. Er konnte irgendwo ein leises Rascheln von Stroh hören, beachtete es vorerst aber nicht weiter, da er direkt nach dem Eingang etwas auf dem Boden liegen sah, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Erst als Faren mit der Laterne dazukam, bestätigte sich sein Verdacht, was ihn erschauern ließ. Bauer Foremans Körper wurde bereits kalt, das aus seiner offenen Kehle geflossene Blut war in den erdigen Boden unter ihm gesickert. Während Joshua sich direkt wieder fing, da er den Anblick von Mordopfern bereits aus seiner alten Heimat gewohnt war, konnte er Faren hinter sich würgen hören. Verübeln konnte er es ihm jedenfalls nicht. „W-wer tut denn so etwas?“, fragte Faren schließlich, als er es ebenfalls geschafft hatte, sich wieder zu fangen. Joshua antwortete nicht, aber aufgrund von Allegras Worten zuvor, spann er eine Theorie, die ihm selbst nicht sonderlich gefallen wollte und die er auch nicht wirklich glauben konnte. Wäre irgendetwas davon wahr, dann würde ihn das nicht nur einen guten Freund kosten, es würde auch bedeuten, dass er sich in einem Menschen geirrt hatte wie noch nie zuvor. Das Rascheln des Strohs ließ nicht nach, weswegen dies das nächste Ziel für Joshuas Nachforschungen war, auch wenn Faren ihm nicht sonderlich begeistert folgte. Die Geräusche kamen aus einer der leeren Boxen und während er darauf zuging, konnte er auch Bewegungen von dort wahrnehmen. Aber was er sehen konnte, als auch Faren mit der Lampe dazukam, ließ ihn diesmal nicht nur erschauern, sondern auch erschrocken die Luft einsaugen. Auf dem rot gefärbten Stroh lag der leblose und mit blutigen Wunden überzogene Körper von Blythe und auf diesem thronte eine männliche Gestalt, die damit beschäftigt schien, den Brustkorb der Toten zu öffnen. Joshua konnte diesen Mann nur entsetzt anstarren, Faren war allerdings weniger nach Starren, sondern mehr nach einem entsetzten Ausruf: „Richard, was soll das!?“ Die Gestalt – Joshua weigerte sich einfach, diesen Mann als Richard anzuerkennen – hielt inne, drückte den Rücken durch und wandte ihnen dann über die Schulter hinweg den Kopf zu. Die Person sah wirklich aus wie Richard, nur in den Augen herrschte keinerlei Leben, nicht der Hauch einer Seele war zu erkennen. Dafür verzog die Gestalt plötzlich die Lippen zu einer furchteinflößenden Grimasse und entblößte dabei zwei Reihen überraschend scharfer Zähne. „D-das ist nicht Richard, oder?“, fragte Faren mit zitternder Stimme. Joshua wollte ihm antworten, dass es höchstens ihr Freund sein könnte, wenn er sich plötzlich in einen Dämon verwandelt hätte, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Stattdessen beobachtete er ungläubig, wie sich Richard in einer flüssigen Bewegung erhob und sich ihnen zuwandte, dabei ließ er eine nadelförmige Waffe aus seinem Ärmel – seine Kleidung war genau dieselbe, die Richard während des Festes getragen hatte – gleiten und schleuderte sie ihnen entgegen. Während Joshua zur Seite wich, zögerte Faren nicht lange, um die Nadel aufzufangen und sie wieder ihrem Besitzer zurückzugeben. Richard wich weder aus, noch fing er selbst den Angriff ab, die Nadel fuhr an seinem Hals vorbei und hinterließ einen feinen, sauberen, aber dennoch sichtbaren Schnitt auf seiner Haut. Doch statt sich über den Schmerz zu beklagen oder gar noch einmal anzugreifen, ergriff Richard die Flucht, Faren drückte seinem Kollegen die Laterne in die Hand und folgte dem Fliehenden. Joshua wiederum kniete sich neben Blythe, um sie ein wenig näher in Augenschein zu nehmen. Das Inselreich galt zwar als vereint, aber das änderte nichts daran, dass die einzelnen Inseln untereinander immer wieder in einen Clinch miteinander gerieten, so dass er quasi in einem Kriegsgebiet aufgewachsen war und fast jeden Tag Leichen in den unterschiedlichsten Stadien oder mit den unterschiedlichsten Verletzungen gesehen hatte. Dennoch machte Blythes Aussehen ihn unruhig, nicht zuletzt, weil es die erste Leiche war, die er zu Lebzeiten gekannt hatte, sondern auch, weil die erste war, die aus einem persönlichen Grund heraus umgebracht worden und nicht nur das unglückliche Opfer einer Schlacht war. Welche Verletzung genau für ihren Tod verantwortlich war, konnte er so nicht feststellen, sie war mit viel zu vielen Wunden übersät und voller Blut – aber aus irgendeinem Grund trug sie ein Lächeln auf dem Gesicht, was er gar nicht wirklich verstehen konnte. Möglicherweise hatte Richard auch da nachgeholfen. Aber was bedeutete das? Richard würde so etwas nie tun! Niemals! Und dieser Kerl war sicher nicht Richard! Faren kehrte mit einem viel zu ernsten Gesichtsausdruck zurück. „Er ist nach Hause geflohen.“ Wütend wandte Joshua sich ihm zu. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass das Richard war, oder!?“ Doch zu seiner Überraschung ließ Faren sich nicht im Mindesten verunsichern, stattdessen wirkte er zur Abwechslung sogar einmal professionell. „Wir werden ja sehen, wenn wir ihn jetzt aufsuchen. Wenn Richard am Hals verletzt ist, dann war er es, wenn nicht, dann war es irgendwer anderes – oder irgendwas.“ Joshua hatte sich bereits gewundert, warum der Angriff danebengegangen war, doch offenbar war es Absicht gewesen, ihm nur eine sichtbare, aber keineswegs gefährliche Verletzung zuzufügen – derart vorausschauend hatte er seinen Kollegen gar nicht eingeschätzt. „In Ordnung, aber lass uns vorher den Hauptmann und etwas Unterstützung holen, nicht, dass er uns noch einmal wegrennt.“ Faren nickte zustimmend und verließ gemeinsam mit Joshua den Stall, wenngleich beide ein ungutes Gefühl in ihrem Inneren mit sich trugen. Richard hatte sich noch nie daran gestört, morgens aufzuwachen. Aber das lag nur daran, weil er nachts gern durchschlief und jede Störung dieser Ruhe geradezu hasste – besonders wenn sie so lautstark war wie in dieser Nacht. Es war ein stetiges Klopfen und Hämmern gegen seine Haustür, das er zuerst zu ignorieren versuchte, doch da das nicht funktionierte, schien es wohl etwas Wichtiges zu sein, weswegen er aufstand. Er war zu verschlafen, um sich darüber zu wundern, dass er voll angezogen war, außerdem spürte er einen brennenden Schmerz an seinem Hals, weswegen er nicht weiter darüber nachdachte und stattdessen lieber die Tür öffnete – nur um sich direkt Hauptmann Severo Caulfield, zwei weiteren Wachen und dahinter auch Faren und Joshua gegenüberzusehen. Ihm blieb nicht einmal die Gelegenheit, etwas zu sagen oder nachzufragen, was passiert sein könnte, da ergriffen ihn die zwei Wachen, deren Namen er nicht kannte, an den Oberarmen, während Caulfield vortrat, um seinen Hals in Augenschein zu nehmen. „Sieht mir deutlich nach einer Verletzung aus“, brummte er. Richard blinzelte verdutzt. „Bitte?“ Allerdings beachtete ihn keiner, stattdessen wandte der Hauptmann sich Faren und Joshua zu. „Ist das auch die richtige Stelle?“ Joshua wurde augenblicklich blass, während Farens Mimik sich geradezu zu verhärten schien, aber sie nickten beide wortlos und ignorierten dabei offenbar Richards ratlosen und verwirrten Blick, mit dem er zumindest seine Freunde um Aufklärung bat. Zwar bekam er diese direkt danach, allerdings nicht von seinen Freunden, sondern von dem Hauptmann – und dessen Worte ließen ihn fast noch verwirrter als zuvor zurück: „Hiermit bist du wegen dem Mord an Bauer Foreman und der jungen Blythe verhaftet, Richard.“ Kapitel 4: Schuldig oder unschuldig? ------------------------------------ Wie so oft erwachte Kieran auch an diesem Tag nach dem Sternenfest auf dieselbe Art und Weise. Richard glaubte, dass sein bester Freund über eine innere Uhr verfügte, die ihm sagte, wann es Zeit wurde, aufzustehen. Faren sah es pragmatischer und tippte auf den Hunger, der ihn aus dem Bett trieb. Aber in Wahrheit war es das helle Lachen aus dem Mädchenschlafsaal, das ihn weckte und das nur er hörte. Man mochte glauben, dass er einfach über ein ausgeprägtes Gehör verfügte, das es ihm erlaubte, Geräusche aus der oberen Etage zu hören, aber auch diese Vermutung entsprach nicht der Wahrheit. Vielmehr war es so, dass dieses Lachen zu einem Wesen gehörte, das eigentlich gar nicht in dieser Welt weilte. Er fand, es war überzogen, es als Geist zu bezeichnen, denn immerhin hätte es dafür einmal gelebt haben müssen, aber ihm fiel auch keine bessere Bezeichnung ein, weswegen er es tunlichst vermied, irgendwem davon zu erzählen. Aus einem für ihn unerfindlichen Grund schien Richard dieses Wesen ebenfalls oft gehört zu haben, aber dennoch erklärte er diesem nicht, worum es sich dabei handelte. Er blendete das Wesen aus, in der vergeblichen Hoffnung, dass es irgendwann verschwinden würde, weil es von niemandem beachtet wurde. Aber selbst ohne jede Beachtung, trotz zahlreicher Nächte, in denen es erstickt geweint hatte, blieb es an diesem Ort. Er kümmerte sich, wie so oft, nicht weiter darum und zog sich stattdessen um, damit er zum Frühstück gehen konnte. Gespenstische Stille erfüllte den Saal, in dem er nun der einzige war und er tat auch nichts, um etwas daran zu ändern, er genoss diesen Zustand sogar. Absolute Stille gab es in seinem Leben immerhin selten, da war jeder Moment mit einer solchen ein Segen. Erst als er aus dem Schlafsaal in den Gang trat, wurde ihm die Stille ein wenig unheimlich. Normalerweise hörte er in diesem Moment dann immer die plaudernden Stimmen der bereits am Morgen gut gelaunten Mädchen oder die herrische von Mutter Margery, die sich um die Mädchen kümmerte, sie erzog und zu gutem Benehmen anzuhalten versuchte, wenngleich meistens vergebens. Für die Jungen war früher Vater Murdoch verantwortlich gewesen, aber als die Problemfälle alle ausgezogen waren und sich Joshua, Richard und Kieran als sehr genügsam herausgestellt hatten, war er in seinen wohlverdienten Ruhestand entlassen worden. Da keinerlei Geräusche zu hören waren, glaubte Kieran im ersten Moment, er sei zu früh aufgewacht, ließ sich davon aber nicht beirren und suchte dennoch den Speisesaal auf, da er davon ausging, dass er dort jemandem unter die Arme greifen könnte. Aber als er durch die Doppeltür in den großen, von Morgenlicht durchfluteten Saal trat, stellte er fest, dass die beiden zusammengestellten Tische besetzt waren. Da Mädchen wesentlich seltener adoptiert wurden – Jungen konnte man einfach wesentlich besser für anstrengende Arbeiten gebrauchen, so hieß es bei den Bauern – waren noch immer zehn von ihnen im Waisenhaus, aber von diesen konnte er an diesem Morgen nur neun entdecken. Blythe fehlte, wie er sofort feststellte. Margery stand am Tischende, die dünnen Arme kraftlos vor der Brust verschränkt. Ihr graues Haar war wie üblich zu einem Dutt hochgesteckt, der ihre Strenge unterstreichen sollte, aber an diesem Tag fielen einzelne Strähnen aus der Frisur und zeichneten das Bild einer von Sorge geplagten Frau, die Falten im Gesicht und die trüb blickenden grauen Augen unterstrichen es noch. Alle hoben den Blick, als sie hörten, wie Kieran die knarrende Tür öffnete, doch der Funken Hoffnung, der in ihren Augen aufgeflammt war, erlosch sofort wie eine Kerze bei einem Windstoß. Fast schon bekam er ein schlechtes Gewissen, hereingekommen zu sein. „Was ist passiert?“, fragte er leise. In der Stille schien seine Stimme wesentlich lauter zu klingen, etwas Unheilvolles, Unsichtbares lag noch dazu in der Luft und verstärkte seine unschuldige Frage noch mit einem ominösen Nachhall – zumindest schien es ihm so. Die Mädchen senkten ihre Köpfe wieder, Margery blickte ihn dafür direkt an. Nicht zum ersten Mal beschlich ihn das Gefühl, dass sie ihn musterte wie ein Falke seine Beute betrachtete, was nicht zuletzt daran lag, dass Faren eine Weile behauptet hatte, dass sich Margery bei Mitternacht in eine menschenfressende Bestie verwandelte. „Blythe ist letzte Nacht ermordet worden.“ Wäre dieser Satz von jemand anderem als Margery gekommen, hätte Kieran nun überlegt, ob er lachen sollte, aber da sie nicht zu Scherzen neigte, musste es sich um die Wahrheit handeln. Er wollte fragen, wer so etwas tun würde, besonders in einem Ort wie Cherrygrove, wo jeder jeden kannte und entweder mochte oder auf ihn angewiesen war. Hier geschahen keine Verbrechen, das war einfach nicht möglich. Aber noch ehe er fragen konnte, antwortete Margery ihm bereits: „Faren und Joshua fanden sie leider zu spät, Richard hatte sie bereits getötet.“ Es traf Kieran wie eine eiskalte Faust in den Magen, die Luft blieb ihm weg, er schwankte leicht, fing sich aber sofort wieder. Das Wesen, das hier lebte, seufzte laut, aber für jeden anderen unhörbar, offenbar war er nicht der einzige, der es nicht glauben konnte. „Das kann nicht sein“, keuchte er. Trotz der ernsten Atmosphäre kicherte eines der Mädchen und begann dann mit dem auf dem Platz nebenan zu tuscheln, aber Kieran besaß dafür keinen Blick. „Wo ist er jetzt?“ „Na wo wohl?“, erwiderte Margery und reckte dabei das Kinn in die Höhe. „Man hat ihn sofort eingesperrt, er wartet jetzt im Kerker auf sein Urteil.“ Der Kerker befand sich, soweit er wusste, im unteren Stockwerk der Wachstation. Er musste dorthin, sofort! Noch während er in Richtung der Tür strebte, hörte er Margerys verächtliche Stimme: „Ich wusste schon immer, dass diesem Richard nicht zu trauen ist. Jemand, der den Glauben an Naturgeister ablehnt, muss einfach etwas Dunkles im Sinn haben.“ Kieran blieb nicht stehen, um darauf etwas zu erwidern oder Richard in Schutz zu nehmen, er verließ den Speisesaal und dann das Waisenhaus selbst. Noch immer fiel ihm das Atmen schwer, während er durch die kleine Stadt hastete, die noch zu schlafen – oder zu trauern – schien, denn niemand begegnete ihm, Stille war sein stetiger Begleiter, doch hatte er sie zuvor noch begrüßt, wurde sie ihm nun langsam unheimlich. Die Wachstation befand sich in der Mitte der Stadt und bildete somit das Zentrum, in dem jederzeit mindestens eine Wache anwesend war, um sofort auf Beschwerden zu reagieren. Kieran kannte den Namen des Mannes, der ihn im Inneren des spartanisch eingerichteten Raumes begrüßte, nicht, aber er interessierte sich auch nicht weiter dafür, sondern brachte sofort sein Anliegen vor. Der Wachmann nickte verstehend – offenbar hatte er damit bereits gerechnet – und führte Kieran zu einer Tür, hinter der eine Treppe in das untere Geschoss hinabführte. Drei Zellen befanden sich hier unten, alle waren mit stabilen Eisenstäben versehen, durch hoch gelegene kleine Fenster fiel ein wenig Licht. Allerdings waren sie zu hoch und zu klein, um dadurch zu flüchten. Man müsste sich schon verkleinern und gleichzeitig die Fähigkeit zu fliegen bekommen, um zu fliehen. Die Atmosphäre war drückend und düster und etwas nicht Sichtbares in einer dunklen Ecke seufzte leise, ein tiefer Ton, der von einem ehemals Gefangenen stammen musste, dessen Körper nicht mehr hier war. Die ersten beiden Zellen, traurige Verschläge mit einem unbequem aussehenden Bett, waren leer, erst in der letzten fand Kieran den Gesuchten. Richard saß vornübergebeugt auf dem Bett, die Ellenbogen auf den Knien und das Kinn auf den Händen aufgestützt, seine gerunzelte Stirn und die abwesend dreinblickenden Augen verrieten, dass er gerade angestrengt über etwas nachdachte. Als er allerdings Kieran sah, sprang er sofort auf und huschte an die Gitterstäbe. Kurz vor diesen blieb er jedoch stehen, als fürchtete er, sich an ihnen zu verbrennen, wenn er ihnen zu nahe kam. „Ich habe gehört, was passiert ist“, brachte Kieran atemlos hervor, noch bevor der andere etwas sagen konnte. „Aber ich will auch deine Version hören.“ Richards Gesicht verfinsterte sich. „Es gibt keine Version. Nachdem ich zu Hause ankam, ging ich ins Bett, schlief ein – und als ich geweckt wurde, verhaftete man mich, nur wegen dieser Verletzung.“ Er deutete auf den inzwischen kaum noch erkennbaren Kratzer an seinem Hals und erklärte, dass er nicht wüsste, was dieser mit der ganzen Sache zu tun haben sollte. „Aber Faren und Joshua sahen es als eindeutiges Indiz, dass ich der Mörder bin.“ Kieran erinnerte sich, dass Margery erwähnt hatte, dass die beiden die Leiche und Richard gefunden hätten. Vermutlich war ihnen der Kratzer dabei an ihm aufgefallen oder sie hatten ihn selbst verursacht. Er würde mit ihnen darüber sprechen müssen. „Wie sieht es mit der Strafe aus?“, fragte Kieran. Richards Mundwinkel zuckten. „Hauptmann Caulfield hat mir vorhin bereits gesagt, dass ich mit der Todesstrafe zu rechnen habe. Er wird sie heute Abend verkünden und in drei Tagen vollstrecken.“ Das sagte Kieran mehrere Dinge: Caulfield war bereits von der Schuld Richards überzeugt und würde keinerlei Untersuchungen diesbezüglich anstellen und ihm blieb nicht viel Zeit, selbst etwas zu tun. Aber es lag ihm nicht sonderlich, die Hände im Schoß zusammenzulegen und darauf zu warten, dass etwas geschah, er musste Richard helfen. Die Frage, ob sein Freund unschuldig war, stellte sich für ihn gar nicht erst, Richard hatte nichts getan, davon war er überzeugt und er würde alles tun, um es auch allen anderen vor Augen zu führen. Blythes Tod schien ihn zwar nicht weiter zu bekümmern, aber das war eben Richard: Er zeigte nach außen nie, wie er sich fühlte, daraus durfte man ihm keine Schlinge drehen. Möglicherweise hatte er das auch nur noch nicht realisiert. Kieran selbst kümmerte sich immerhin auch nicht weiter um ihr Ableben – dafür hatte er bereits zu viele Tote gesehen und auch die Ermordung seines eigenen Vaters miterlebt – aber er war genausowenig der Mörder. Richard seufzte und lehnte sich nun doch mit dem Oberkörper gegen die Stangen, die ihn selbstverständlich nicht verbrannten. „Wenn diese verdammte Sternennymphe mich damals nur hätte sterben lassen“, murmelte er. „Dann hätte ich jetzt nicht diese Probleme.“ Die Worte stachen ungewohnt schmerzhaft in Kierans Brust. Nicht nur, dass er ohne Richards Hilfe ebenfalls tot wäre, er mochte seinen besten Freund auch sehr und wollte sich gar nicht vorstellen, wie das Leben wohl wäre, wenn es ihn nicht gäbe. Mit Sicherheit wäre er dann entweder selbst tot, erfroren oder ertrunken an jenem Wintertag, an dem er im Eis eingebrochen war oder er wäre der einsamste Junge von ganz Cherrygrove – oder er wäre nicht hier, sondern an einem anderen Ort, den er nur aus den Geschichten seines Vaters kannte und den er gar nicht persönlich kennenlernen wollte. „Sag das nicht“, bat er deswegen. „Ich werde dich schon wieder hier rauskriegen.“ „Wie denn?“ Richards Stimme klang kraftlos, als hätte er sich bereits selbst aufgegeben. „Sogar Joshua und Faren glauben, dass ich es war. Jeder ist von meiner Schuld überzeugt. Vielleicht war ich es dann ja wirklich.“ Wieder dieses Seufzen aus einer dunklen Ecke, Richard zuckte unwillkürlich zusammen, ließ sich aber nicht anmerken, es wirklich gehört zu haben. Kieran schüttelte entschieden mit dem Kopf. „Nein! Ich glaube an deine Unschuld! Du würdest so etwas nicht tun!“ Über diesen plötzlichen Ausbruch erstaunt, hob Richard den Kopf wieder, er musterte ihn, fast so als könne er nicht glauben, wirklich Kieran vor sich zu haben. Aber er sah ihn immerhin auch selten mit vor Leidenschaft geradezu sprühenden Augen, als er sich die Hand aufs Herz legte. „Ich schwöre dir, dass ich beweisen werde, dass du unschuldig bist und den wahren Schuldigen finde! Hauptmann Caulfield wird dich wieder freilassen müssen!“ Zuerst schien es als wollte Richard widersprechen und ihn auf die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens hinweisen, doch kaum hatte er den Mund geöffnet, schloss er diesen wieder und lächelte. Seine dann folgenden Worte klangen wesentlich zuversichtlicher: „Danke, Kieran. Was täte ich nur ohne dich?“ „Vermutlich hier versauern“, antwortete Kieran ebenfalls lächelnd. „Aber mach dir keine Sorgen mehr, ich werde alles in meiner Macht stehende tun.“ Und das war mehr als Richard oder sonst jemand ahnte. Auch wenn er absolut keine Erfahrung mit Kriminalfällen hatte, würde er das durch Ehrgeiz und seine speziellen Fähigkeiten wieder ausgleichen, daran glaubte er. „Ich werde als erstes mit Faren und Joshua reden“, beschloss er. „Also verzweifle nicht, verstanden?“ „Verstanden.“ Zufrieden mit der Reaktion, fuhr Kieran herum, damit er Faren und Joshua sofort aufsuchen und mit den Nachforschungen beginnen könnte. Als er an der Treppe ankam, hörte er noch einmal ein Seufzen, das aber dieses Mal wirklich von Richard kam: „Verdammte Sternennymphe...“ Weit entfernt von Cherrygrove und deswegen eigentlich gar nicht von Bedeutung für diese Geschichte, blieb in diesem Moment eine jung aussehende Frau stehen. Sie nieste und gab gleich darauf einen klagenden Laut von sich. „Mann...“ Sie schüttelte sich, worauf ihr langes blondes Haar um ihren Körper wirbelte. „Das ist schon das zehnte Mal heute.“ Ihre beiden Begleiterinnen, eine Frau mit rosa Haar und wachen goldenen Augen und eine Frau mit rotem Haar und sanften grünen Augen, blieben ebenfalls stehen und wandten sich ihr zu. „Stimmt etwas nicht, Asterea?“, fragte die Rothaarige. „Ich glaube, ich kriege eine Erkältung.“ Ihre beiden Begleiterinnen lachten einstimmig über diese geäußerte Vermutung. „Mach dich nicht lächerlich, Asti“, erwiderte die Rosahaarige. „Naturgeister kriegen keine Erkältung. Wahrscheinlich denkt jemand sehr intensiv an dich.“ Sie kicherte, als sie Astereas gerümpfte Nase bemerkte. „Ich hoffe, diese Person hört bald auf damit, sonst kommen wir nie voran. Wir brauchen ohnehin schon viel zu lange.“ „Ja, Cronus wird ausrasten“, kommentierte die Rothaarige sichtlich amüsiert. „Beeilen wir uns besser, bevor er glaubt, wir würden auch nicht wiederkommen.“ Damit setzten sie sich wieder in Bewegung, Asterea blieb allerdings noch ein wenig stehen und warf dabei einen Blick umher als würde sie sich beobachtet fühlen. Da sie allerdings niemanden entdecken konnte, stieß sie ein tonloses Seufzen aus und schloss sich dann rasch den anderen wieder an, ohne zu ahnen, wer gerade so stark an sie dachte oder warum. Ansonsten wäre sie mit Sicherheit sofort nach Cherrygrove geeilt, um Kieran in seinem Vorhaben zu unterstützen. So aber setzte sie ihre Suche, die an diesem Punkt absolut unerheblich ist, fort – nun endlich ohne zu niesen. Kapitel 5: Zeugenbefragung -------------------------- Mehr aus Intuition heraus lenkte Kieran seine Schritte zum Hauptplatz von Cherrygrove, wo man die Spuren der letzten Nacht auszulöschen versuchte als hätte sie nie existiert. Normalerweise waren diese Arbeiten stets mit fröhlichem Gelächter verbunden, während man sich gegenseitig lustige Geschichten über die betrunkenen Geschehnisse erzählte, aber an diesem Tag herrschte eine bedrückte Stille, die von Trauer durchdrungen war. Blythe mochte nicht in Cherrygrove geboren sein, aber sie war mit absoluter Sicherheit ein Teil der Gemeinschaft gewesen – zu diesem Zeitpunkt wusste Kieran noch nicht, dass sie nicht das einzige Opfer war. Wie erwartet, fand er Faren und Joshua etwas abseits des Platzes auf der Rasenfläche, auf der auch mehrere Kirschbäume wuchsen. Sie saßen dort an einen der Baumstämme gelehnt und beobachteten die Arbeiten, ohne selbst einen Finger zu rühren. Er schloss daraus, dass ihnen die Sache ebenfalls naheging, da sie sonst immer äußerst eifrig halfen, selbst Faren, der sich normalerweise nie um irgendetwas kümmerte, das ihn nicht direkt betraf. Als Kieran sich ihnen näherte, hoben sie beide den Blick, aber keiner von ihnen lächelte. Faren kniff die Augen zusammen, um ihn zu mustern. „Scheint als wärst du Richard schon begegnet und bereits unterrichtet über die Ereignisse.“ Seine Stimme ließ jeglichen Spott missen, den er sonst so gern zur Schau trug, wofür Kieran dankbar war, denn im Moment hätte er das nicht ertragen. „Das habe ich. Aber ich will wissen, was ihr beobachtet habt, erzählt mir bitte alles, woran ihr euch erinnert.“ Keiner der beiden dachte auch nur einen Moment darüber nach, warum er das wissen wollte, vermutlich glaubten sie, dass es nur Neugierde war und er hatte auch nicht die Absicht, ihnen die wahren Beweggründe zu erklären. So erzählten sie ihm von ihrer Begegnung mit Allegra, der anschließend herumirrenden Kuh und den Begegnungen im Stall. Es lief Kieran eiskalt den Rücken hinab, als er sich vorstellte, dass, wer auch immer für all das verantwortlich war, Allegra verletzte und zwei Menschen tötete und das zu allem Überfluss auch noch Richard unterschieben wollte. Denn auch wenn Joshua und Faren ihn gesehen hatten und sie ihn sogar zum Beweis verwundet hatten, so konnte Kieran einfach nicht glauben und akzeptieren, dass sein bester Freund so etwas tun würde und im Anschluss nicht einmal in der Lage wäre, zu seinen Verbrechen zu stehen. Zu seinem großen Glück musste er auch nicht glauben, dass es Richard gewesen war. Als er noch mit seinem Vater umhergereist war, hatte er unzählige solcher Geschichten gehört und alle hatten sie eines gemeinsam gehabt: Das Wirken eines Dämons. Das den anderen aber zu erklären, war ihm zu mühsam und vorher war es ihm wichtiger, herauszufinden, welcher Dämon hier wohl seine Finger im Spiel hatte. Da die beiden ihm allerdings gar nicht weiterhelfen konnten, weil sie offenbar an Richards Schuld glaubten – auch wenn sie davon nicht begeistert wirkten – musste er einen anderen Zeugen befragen und zu seinem Leidwesen war Allegra die einzige, die dafür in Frage kam. Er bezweifelte zwar, dass sie ihm wirklich weiterhelfen würde, aber einen Versuch war es immerhin wert und vielleicht besaß er ja die charmante Überzeugungskraft seines Vaters, wenn er sie wirklich brauchte – im Normalfall war das ja leider nicht der Fall. So verabschiedete er sich wieder von Faren und Joshua und machte sich auf den Weg zum Haus der Caulfields. Es war ein wenig größer als die anderen Gebäude der Stadt – wenn man von dem Waisenhaus und dem Gasthof absah – verfügte aber über keinerlei zusätzlichen Luxus, nicht einmal einen Koch, wie Dario einmal naserümpfend festgestellt hatte. Statt selbst zu kochen, aßen sie auswärts oder ließen sich das Essen tatsächlich bringen, wie ein erstaunter Faren einmal berichten konnte, nachdem er Zeuge der Übergabe geworden war. Kieran war von Geld oder dessen Besitzern nicht beeindruckt, er empfand keinen Respekt vor ihnen, aber auch keinen Neid. Egal, wie reich sie waren, irgendwann würden sie sterben, so wie jeder andere Mensch und dann hätten sie keinerlei Nutzen mehr für ihr Geld. Insofern waren sie nicht anders als er oder sonst jemand. Da die anderen beiden ihm erzählt hatten, was Allegra zugestoßen war, erwartete er nicht, sie draußen zu finden – und war deswegen umso überraschter, als er sie genau dort antraf. Sie war gerade dabei, mehrere weiße Laken auf einen Wäscheleine zu hängen und wirkte dabei mehr unglücklich als abweisend oder arrogant, wie er sie sonst kannte. Diese Beobachtung half ihm schließlich, auf sie zuzutreten. „Guten Morgen, Allegra.“ Sie hielt inne und fuhr zu ihm herum, so dass er einen besseren Blick auf ihr Gesicht bekommen würde. Der Schnitt auf ihrer Wange war nicht mit einem Pflaster bedeckt, sondern mit feineren Streifen, die, wie er wusste, helfen sollten, die Wunde atmen zu lassen, damit sie besser verheilte. Als sie ihn musterte, konnte er wieder offene Feindseligkeit in ihren blauen Augen sehen. Nach Meinung einiger Mädchen, war es ihr zuwider, dass er so viel Zeit mit Richard verbrachte und ihm derart nah war. Möglicherweise waren das nicht nur Hirngespinste dieser Mädchen, wie er bislang immer geglaubt hatte. „Was willst du?“, schnappte sie übel gelaunt und zum ersten Mal kam ihm der Eindruck, dass diese offene Aggressivität nur ein Mittel sein könnte, um ihre Verletzlichkeit zu verbergen, besonders im Moment, da sie diese unsägliche Wunde in ihrem Gesicht hatte. „Mit dir sprechen“, antwortete er sanft. „Ich wollte wissen, was gestern geschehen ist.“ Sie verzog ihr Gesicht, entspannte ihre Züge aber sofort wieder, weil sie wohl ebenso wie er wusste, dass das nicht gut für den Heilungsprozess ihrer Verletzung war. „Warum willst du das?“ „Richard wird zum Tode verurteilt, wenn ich seine Unschuld nicht beweisen kann. Deswegen befrage ich Zeugen der gestrigen Tat. Dir müsste doch auch daran gelegen sein, dass Richard nicht stirbt.“ Ihr darauf folgendes Lächeln war nur mit einem Wort zu beschreiben: Unheimlich. So etwas hatte Kieran noch nie gesehen, weswegen er unwillkürlich zurückwich. „Es ist unwichtig, ob er stirbt oder nicht. Vielleicht erkennt er im Tod endlich, dass ich die ideale Frau für ihn bin und dass er mich liebt.“ Er zweifelte daran, sprach das aber natürlich nicht aus. „Und sobald ich ihm gefolgt bin, werden wir im Jenseits glücklich werden.“ Da wurde ihm bewusst, dass sie tatsächlich plante, sich umzubringen und der Gedanke flößte ihm Furcht ein, immerhin wusste er, was aus Selbstmördern wurde – und es war nicht angenehm. Allerdings fragte er sich, ob der Hauptmann, ihr Vater immerhin, das nicht wusste, nicht wahrnehmen wollte – oder ob es ihm möglicherweise vollkommen egal war? Der Gedanke an einen derart herzlosen Vater ließ ihn schaudern und seinen eigenen vermissen. Sicher, er war kein Vorzeige-Vater gewesen, nicht zuletzt dadurch, dass er seinen Sohn den Gefahren der Jagd ausgesetzt hatte, aber dabei war er immer sehr liebevoll und herzlich gewesen. Er hatte sein Möglichstes getan, um seinem Sohn, der seine Mutter viel zu früh verloren und nie eine Heimat gekannt hatte, das Leben angenehm zu gestalten. Bei Allegra war es wohl angebracht, wenn jemand ihr das auszureden versuchte. „Aber wäre es nicht wesentlich schöner für dich, wenn er seine Liebe noch während seines Lebens entdecken würde?“, erwiderte er einschmeichelnd. „Dann könntet ihr beide noch glücklich werden, im Hier und Jetzt.“ Sie lachte spöttisch. „Mit dieser Narbe im Gesicht wird mich sicherlich niemand mehr lieben!“ Er betrachtete die Wunde so genau wie es ihm möglich war, dann schüttelte er den Kopf. „Ich glaube kaum, dass da eine Narbe zurückbleiben wird.“ „Woher willst du das wissen?“, schnappte sie. „Ich habe ein wenig Erfahrung mit Narben und kann das oft schon auf einen Blick erkennen.“ Sie warf ihm einen Blick zu, den er nicht zu deuten vermochte. Aber offenbar glaubte sie ihm, denn sie begann tatsächlich, ihm von den Ereignissen zu erzählen: „Es war schon spät und ich war auf dem Weg nach Hause, als ich plötzlich Richard traf. Er ignorierte mich, also bin ich ihm gefolgt und habe normal mit ihm gesprochen.“ Er konnte sich vorstellen, wie sie sich mit ihm unterhalten hatte, aber auch das erklärte nicht, dass jemand wie Richard jemanden verletzt haben sollte. „Dann fuhr er plötzlich herum und hat mich mit einer Waffe, die ich nicht sehen konnte, im Gesicht verletzt – und dann ist er einfach weitergelaufen!“ Ihre Stimme bebte, Tränen füllten ihre Augen, als sie sich an diesen Moment zurückerinnerte. Der Schock über diese Reaktion musste schlimm gewesen sein, wenn er selbst jemand so Gefasstes wie Allegra dazu brachte, derart zu reagieren. Er gab ihr einen Augenblick, um sich wieder zu fangen, doch bevor er noch weitere Fragen stellen konnte, fuhr sie bereits nachdenklich fort: „Aber es war schon seltsam. Er sah ganz anders aus als sonst... seine Augen waren so leer.“ Diese Aussage erschreckte ihn. Nicht weil sie so überraschend kam, immerhin hatte er damit gerechnet, dass ein Dämon was mit dieser ganzen Sache zu tun hatte, sondern weil es ausgerechnet Allegra war, die eine solche Feststellung machte, während Joshua und Faren offenbar nicht daran zweifelten, dass es Richard selbst gewesen sein musste. Möglicherweise sagte sie das nur, weil sie nicht daran glauben wollte, dass ihr Richard ihr so etwas antun könnte. Aber dennoch war sie vielleicht gerade deswegen eine wesentlich bessere Freundin für ihn als seine bisherigen Freunde. Ich sollte auch noch mit Bellinda darüber sprechen. Sie glaubt sicher auch nicht an Richards Schuld. „Hat dir das irgendwie geholfen?“, fragte Allegra direkt, aber auch mit einer gehörigen Portion Spott in der Stimme. Jemand anderes als Kieran hätte dieser Tonfall vermutlich aufgeregt, aber er blieb vollkommen ruhig. „Ja, hat es. Vielen Dank, Allegra.“ Sie hob erstaunt eine Augenbraue, aber er ignorierte das und verabschiedete sich von ihr. Hastig brachte er ein wenig Distanz zwischen sie und ihn, so dass er nicht einmal ihr abfälliges Murmeln richtig verstehen konnte. Wie er wusste, gab es keine weiteren Zeugen, also blieb ihm nur noch eine Sache übrig, in der Hoffnung, dort einen Beweis für die Unschuld Richards zu bekommen: Die Tatort-Besichtigung. Kapitel 6: Am Tatort -------------------- Wie Kieran feststellte, wurde der Tatort bewacht – auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, weswegen – so dass er tagsüber keine Gelegenheit fand, in den Stall zu kommen. Also blieb ihm nichts anderes übrig als bis in die Nacht hinein zu warten. Die inzwischen ausgewechselten Wachen passten zwar immer noch auf, aber er hatte im Laufe des Tages eine Strategie entwickelt, um die Männer abzulenken – und zu seinem Glück hatte die dafür notwendige Schlüsselfigur sich bereit erklärt, ihm zu helfen. Zufrieden beobachtete er, wie die Wachen allesamt davongingen, dann lächelte er Bellinda entgegen. „Vielen Dank für deine Hilfe.“ Sie rückte sich die Brille zurecht, wobei ein Ärmel ihrer marineblauen Jacke an ihrem dünnen Arm hinabrutschte. „Keine Ursache~. Ich kann doch nicht zulassen, dass irgendwer versucht, Richard die Schuld in die Schuhe zu schieben.“ Kieran war froh über ihre Worte, immerhin sagten sie ihm auch, dass er nicht der einzige war, der von Richards Unschuld überzeugt war – neben Allegra. „Wie hast du die Wachen überredet, wegzugehen?“ Vielleicht konnte er dieses Wissen auch gebrauchen, irgendwann einmal... wer wusste schon, was das Leben noch für ihn bereithielt? Doch sie schmunzelte. „Das ist ein Geheimnis. Eine Frau verrät doch nicht alles, was sie weiß.“ Er lächelte ein wenig, erwiderte aber nichts mehr darauf, sondern begab sich in den Stall hinein. Jemand hatte die Lampen, die an den Balken befestigt waren, angezündet, so dass ein wenig Licht das Innere erhellte und es ihm erlaubte, sich umzusehen. Bauer Foreman war bereits alt gewesen und hatte seine Tiere zum größten Teil an einen anderen Landwirt abgegeben, deswegen war der Stall leer – abgesehen von der einen Kuh, die in einer der Ecken stand und ihn interessiert betrachtete. Kieran sog scharf die Luft ein, als er sie bemerkte und wich einen Schritt zurück. Seine Beine zitterten ein wenig, während er das Tier auf Anzeichen von Aggressivität musterte. Bellinda trat neben ihn und sah ihn fragend an. „Was ist los, Kieran?“ Er deutete wortlos auf das Tier, sie folgte seinem Fingerzeig, verstand aber offenbar nicht, was er ihr damit sagen wollte. „Es ist doch nur eine Kuh.“ Das änderte nichts daran, dass er sich vor ihr fürchtete. Es war ja nicht so, dass er Tiere nicht mochte, solange sie in sicherer Entfernung waren, störten sie ihn nicht – aber sobald sie in greifbarer Nähe waren und er nicht erkennen konnte, was sie vorhatten, flößten sie ihm doch einiges an Respekt ein. Und Kühe gehörten zu jener Tierart, denen man nicht ansehen konnte, was sie planten. Hunde zeigten die Lefzen und knurrten, während Katzen die Ohren anlegten und einen Buckel formten, aber Kühe? „Oh, ich glaube es ist Bessy!“ Mit strahlendem Gesicht trat sie auf Bessy zu. Kieran wollte sie zurückziehen, war vor Furcht aber zu sehr gelähmt und beobachtete somit untätig, wie Bellinda vor der Kuh stehenblieb und dieser über den Kopf zu streicheln begann. „Awww, wer ist eine brave Bessy? Du bist eine brave Bessy~.“ „Sie ist kein Hund“, murmelte Kieran verstimmt, während seine Furcht langsam schwand, da Bessy diese Behandlung wohl zu gefallen schien. Bellinda beachtete ihn nicht weiter, sie schien viel zu sehr in ihrem Element der Tierliebenden zu sein und Kieran beschloss, sie nicht weiter zu stören. Immerhin hielt sie ihm damit auch die furchteinflößende Kuh vom Leib. Es grauste ihm, dass Bellinda sich diesem Wesen wirklich freiwillig näherte, aber solange ihr nichts geschah, könnte er das nutzen. Er widmete sich dem rotgefärbten Stroh, auf dem Blythe gefunden worden war. Sie hatte ruhig dagelegen, wenn er sich an Farens und Joshuas Aussage zurückerinnerte, hatte Richard auf ihr gesessen und ihren Brustkorb geöffnet. Er wollte ihr Herz essen... ihr Herz... Die beiden jungen Männer hatten nur davon gesprochen, dass er dabei gewesen war, ihren Brustkorb zu öffnen, aber er kannte dieses Tatmuster. Sein Vater, Cathan, hatte einst einen Dämon gejagt, der die Herzen von Menschen verschlang, um deren Lebenskraft in sich aufzunehmen. Er hatte diesen Dämon nie fangen können – war dieser etwa hier am Werk? Aber konnte er überhaupt seine Gestalt ändern? Cathan hatte ihm nie sehr viel über seine Arbeit oder die Merkmale der einzelnen Dämonen erzählt. „Ich will nicht, dass du so viel leidest wie ich“, hatte er stets dazu gesagt. „Es ist besser, wenn du nicht zu sehr in diese Welt hineingezogen wirst.“ Jetzt bin ich auch so in diese Welt geraten, dachte Kieran seufzend, und könnte dieses Wissen gut gebrauchen. Sein Blick wanderte über das rote Stroh, er versuchte sich vorzustellen, wie alles in der Tatnacht ausgesehen hatte und rief sich dabei auch ins Gedächtnis, was Faren und Joshua ihm erzählt hatten. Dabei schien es ihm als würden geisterhafte Figuren alles visuell vor ihm sichtbar werden lassen und nur für ihn das Schauspiel wiederholen. Sie haben ihn gestellt, er stand auf und warf diese Nadel, die sie ihm zurückschleuderten. Sie streifte seinen Hals und... Es müsste bedeuten, dass diese Nadel noch irgendwo hier war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand sie mitgenommen hatte, also müsste er sie nur finden, vielleicht bekam er somit weitere Einblicke, was den Mörder anging. Er sah sich noch einmal nach Bellinda um, die immer noch mit der Kuh sprach, als würde diese irgendein Wort davon verstehen und widmete sich dann wieder seiner Suche nach der Nadel. Er begann damit, indem er erst den Blick über den Boden wandern ließ, aber da dies erfolglos blieb, machte er mit der Wand weiter. Und dort wurde er nach kurzer Zeit fündig. Eine kaum sichtbare Nadel steckte in der Wand, deswegen war sie wohl noch von niemandem entdeckt worden. Kieran nahm sie an sich, um sie genauer zu betrachten. Die Oberfläche war seltsam rau, was dafür sprach, dass sie nicht aus einer Schmiede stammte, außerdem war sie warm, also konnte sie auch nicht aus Metall sein. Er wusste, dass manche Dämonen in der Lage waren, ihre Knochen als Waffen zu verwenden, das hatte seinem Vater das Leben gekostet und die Erinnerung daran zog wieder schmerzhaft in seiner Brust. Aber die Nadel in seiner Hand war auch nicht aus diesem Material. Es scheint eher... Holz zu sein. Wie seltsam. Holz war zerbrechlich und anfällig für Hitze, außerdem konnte es splittern, es war eine seltsame Idee, es zu einer ernstzunehmenden Waffe umzufunktionieren. Aber diese Waffe hier hatte eindeutig Richard verletzt und höchstwahrscheinlich auch Allegra und sie hatte in der Holzwand festgesteckt. Er spürte eine plötzliche Änderung in der Atmosphäre, so als wäre jemand mit lautlosen Schritten in den Stall getreten und würde ihn nun beobachten, aber er dachte sich nichts weiter dabei, da er nicht glaubte, dass jemand derart leise sein konnte und überlegte weiter, was es zu bedeuten hatte, dass die Waffe aus Holz war. Seine Gedanken wurden plötzlich von Bellinda unterbrochen: „Ähm, Kieran?“ „Was ist los?“, fragte er, ohne sich umzudrehen. „Du solltest wirklich... mal hersehen.“ Ihre Stimme klang weniger ängstlich, mehr verunsichert und verwirrt, dennoch konnte er nicht anders als anzunehmen, dass die Kuh plötzlich doch aggressiv geworden war oder ähnliches. Er drehte sich daher mit dieser Erwartung um und erstarrte geradezu, als er nicht einer Bessy mit roten Augen und Schaum vor dem Maul gegenüberstand. Zwischen ihm und Bellinda stand eine Gestalt mit hängendem Kopf, umgeben von einer finsteren Aura – aber das wirklich Furchteinflößende war die Tatsache, dass er aussah wie Kieran. „W-was bedeutet das?“, fragte Bellinda mit zitternder Stimme. Also hatte ich recht! Ein Dämon ist für diese Tat verantwortlich! Ich muss es nur noch irgendwie beweisen. Der beste Beweis wäre wohl, diesen Dämon zur Wache zu schleppen, aber er hatte bereits das Gefühl, dass es nicht so einfach werden würde – und das bestätigte sich auch bereits sofort, als das Wesen den Kopf hob, etwas aus dem Ärmel schnellen ließ und es auf Kieran schleuderte. Dieser wich hastig zur Seite aus. Die Nadeln blieben mit einem dumpfen Laut in der Wand stecken und verrieten erneut, wie scharf und widerstandsfähig sie waren. „Was soll das?“, fragte Bellinda ratlos. „Was geht hier vor?!“ Zu Kierans Erleichterung beachtete das Wesen sie nicht weiter, sondern konzentrierte sich vollkommen auf ihn. Er wollte nach einer Waffe greifen, stellte aber fest, dass er keine mit sich trug, immerhin war er nicht davon ausgegangen, dass er würde kämpfen müssen. Zwei finstere Klauen schossen aus dem Rücken des Dämons und wollten nach Kieran greifen. Er duckte sich darunter hinweg – die schattenhaften Hände trafen aufeinander und lösten sich auf – und startete aus der Hocke in einen Sprint auf seinen Gegenüber zu. Zu seiner Erleichterung und Verwunderung wich das Wesen aus, so dass er daran vorbeirennen konnte. Es würde vermutlich nichts bringen, zu fliehen versuchen, das kannte er zur Genüge, deswegen brauchte er eine Waffe. Eigentlich wollte er eine Heugabel ergreifen – falls er eine finden würde – aber Bellinda begriff die Situation sofort. Sie griff an ihren Gürtel und zog ihre eigene Waffe hervor, die sie Kieran reichte, als er neben ihr zu stehen kam. Es war eine Elefantenaxt, eine Waffe, die im ersten Augenblick an einen kurzen Speer erinnerte, dessen Griff mit Leder umwickelt war, aber die Klinge war die eines Kurzschwertes – soweit Kieran wusste, nutzte man diese Axt normalerweise, um auf Elefantenjagd zu gehen, weswegen er nicht verstand, warum sie so eine Waffe nutzte, aber im Moment kümmerte ihn das auch nicht weiter. Dankend ergriff er die Axt, die überraschend schwer war, wie er bemerkte und wechselte dann wieder seinen Standort, um Bellinda nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Er lief aus dem Stall hinaus und wurde dabei von dem Dämon verfolgt, der ein furchterregendes Lachen ausstieß, das nichts Menschliches an sich hatte. Kieran überlegte, das Wesen bis zur Wache zu locken, doch es schien das zu ahnen, denn plötzlich landete mehrere dieser Holznadeln vor ihm und wuchsen in rasender Geschwindigkeit zu einem hölzernen Zaun an, der ihm den Weg abschnitt. Leise fluchend blieb er stehen und fuhr herum, damit er sich seinem Doppelgänger stellen konnte, auch wenn er über keinerlei Erfahrung im Kampf verfügte. Ich darf nicht verlieren. Wenn ich sterbe, wird er mit Sicherheit auch Bellinda angreifen und dann wird niemand mehr Richard retten können. Der Dämon nutzte wieder die schattenhaften Klauen, diesmal in einem Versuch, seine Beine zu ergreifen, doch Kieran wich zur Seite aus, um ihm zu entgehen und sprintete dann erneut auf ihn zu, auch wenn es ihm mit der schweren Waffe in der Hand deutlich weniger leicht fiel. Dieses Mal wich der Dämon auch nicht aus, sondern erwartete den Angriff offenbar. Als die Axt ihn streifte – ohne Erfahrung im Umgang damit, konnte er keinen besseren Angriff zeigen – wusste Kieran auch sofort, weswegen er das Ausweichen für überflüssig empfand: Ein scharfer Schmerz zog sich an seinem linken Arm entlang; als er hinsah, entdeckte er, dass er zu bluten begonnen hatte und die Verletzung war dieselbe wie am Arm des Doppelgängers. Das erklärt, warum Richard verletzt war, obwohl sie den Dämon erwischt haben. Aber wie besiegt man ein solches Wesen? Er war zu sehr in Gedanken versunken, um die schattenhaften Klauen dieses Mal zu bemerken, so dass sie sich um ihn schließen und in die Luft heben konnten. Ohne jeden Kontakt zum Boden, fühlte er Hilflosigkeit in sich aufsteigen, die mit Panik einherging, von ihm aber mit Logik gekontert wurde. Würde er panisch und kopflos werden, wäre dies auf jeden Fall sein Ende und er war nicht gewillt, einfach so zu sterben. Er versuchte sich zu befreien, aber obwohl diese Klauen aus Schatten oder Rauch zu bestehen schienen und nicht einmal an seinem verletzten Arm für Schmerzen sorgten, hielten sie ihn erstaunlich fest. Sein Doppelgänger grinste und enthüllte dabei zwei Reihen lächerlich scharfer Zähne, die direkt aus dem Maul eines kleinen Hais entnommen sein mussten. Doch gerade als Kieran sich seinem Schicksal ergeben wollte, schrie der Dämon schmerzerfüllt auf und ließ ihn wieder fallen, so dass er schmerzhaft auf dem Boden aufkam. Ein kurzer Blick verriet ihm, dass Bellinda eine Schleuder hervorgezogen und etwas auf den Rücken des Wesens gefeuert hatte. Sie ist wirklich tapfer, das muss ich ihr lassen... Ihre impulsive Tat hatte ihn aber nicht nur aus den Fängen seines Gegners befreit, sondern diesem offenbar auch noch derart zugesetzt, dass er es nicht mehr schaffte, seine Form dauerhaft beizubehalten. Immer wieder verschwamm die Gestalt Kierans und gab den Blick auf sein wahres Wesen frei, das eine nackte und haarlose Marionette zu sein schien. Es drehte sich zu Bellinda um, so dass Kieran auf den Rücken sehen konnte – und dort eine Art blau schimmernder Kristall entdeckte. Die Kraftquelle? Zwar bestand die Gefahr, dass er sich selbst schaden würde, wenn er diesen Kristall angriff, aber ihm blieb auch keine Zeit, um darüber nachzudenken, denn das Wesen hatte es nun auf Bellinda abgesehen, da es sie als akute Bedrohung wahrnahm. Ihm blieb also nur das Risiko oder der Verlust einer Freundin. „Wenn der Moment kommt, wirst du wissen, was zu tun ist“, hörte er die Stimme seines Vaters und erkannte erstmals, was diese Worte zu bedeuten hatte. Kurzentschlossen stürmte er also mit erhobener Axt auf das Wesen zu und ließ die Klinge auf den Kristall niederfahren, der im selben Moment in unzählige Scherben zersplitterte. Ein lautes Kreischen erklang und ließ Kieran wieder zurückweichen. Das Wesen fiel zu Boden, verlor endgültig seine Gestalt als Doppelgänger und blieb reglos liegen. Die Erleichterung, dass Bellinda blass, aber gesund war und der Blutverlust, ließen das Adrenalin in seinem Inneren abflauen und ersetzten es durch ein dumpfes Gefühl, auf das sich ein dunkler Schleier legte. Noch bevor er Angst haben konnte, möglicherweise selbst nicht mehr aufzuwachen, wenn er erst einmal bewusstlos war, fiel er selbst zu Boden. Er sah noch, wie Bellinda schockiert auf ihn zulief, hörte wie durch Watte, dass sie seinen Namen rief, dann fiel der Vorhang und ließ vorerst seine Schmerzen verschwinden. Kapitel 7: Gebrochene Herzen ---------------------------- Der Mann weinte. Er schluchzte hemmungslos, sein ganzer Körper bebte, während die Tränen auf seine Brille fielen. Die leblose Frau in seinen Armen reagierte nicht darauf, ihre Augen blickten starr in den dunklen Himmel. Der Junge, der wenige Meter entfernt von ihnen stand und das alles beobachtete, hatte noch nicht verstanden, was eigentlich geschehen war. Sein schwarzes Haar war mit Blut verklebt, genau wie seine Kleidung, aber er schien unverletzt. Hätte man ihn allerdings gefragt, so wäre er jede Antwort schuldig geblieben, denn er war sich selbst nicht sicher, ob ihm etwas fehlte. Es dauerte einen Moment, bis der Mann sich über seine Anwesenheit bewusst wurde. Er hob den Kopf und betrachtete den Jungen, ehe er ihn zu sich winkte. „Komm her, Kieran.“ Langsam ging er zu ihm hinüber und ließ es zu, dass der Mann ihn in den Arm nahm, nachdem er die Frau vorsichtig abgelegt hatte. „Geht es dir gut?“, fragte der Mann leise. Kieran überlegte eine Weile, damit er eine korrekte und keine leichtfertige Antwort geben könnte, dann nickte er. „Ja, Papa.“ „Ich bin so froh.“ Cathan seufzte erleichtert. „Ich dachte schon, ich wäre zu spät gekommen.“ In einem Versuch, ihn zu trösten, fuhr Kieran ihm mit der Hand durch das schwarze Haar, was Cathan trotz der Tränen leise lachen ließ. „Ich werde ab sofort auf dich aufpassen“, versprach sein Vater. „Ich werde nicht zulassen, dass dir dasselbe passiert wie deiner Mutter.“ Kieran schaffte es, einen Blick auf die leblose Frau zu werfen. Ihr schwarzes Haar war fächerartig auf dem Boden ausgebreitet, ihre weiße Kleidung war blutgetränkt, die offene Wunde in ihrem Brustkorb verriet kundigen Beobachtern, was geschehen war. Er war sogar dabei gewesen und hatte alles mitangesehen, aber dennoch war es ihm noch nicht möglich, es wirklich zu verstehen, noch hatte er nichts hiervon verarbeitet. Was er allerdings wusste und begriff war, dass sein Vater entschlossen war, ihn zu beschützen und dass er das auch schaffen würde, wie ihm sein unerschöpfliches Vertrauen verriet. Selbst gegen alle Widrigkeiten – und zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, wie recht er haben würde. Ich fühlte zu diesem Zeitpunkt nichts. Aber ich war froh, dass du bei mir warst und ich nicht allein sein musste – und ich fühlte mich sicher bei dir. Ich dachte, nichts könnte mir schaden. Zu Kierans Verwunderung besuchten sie nur selten Städte. Cathan vermied es, sich zwischen andere Menschen zu mischen und tat das nur, wenn er absolut keine andere Wahl hatte oder Kieran ihn darum bat, weil er die Gesellschaft anderer vermisste. Dabei war es nicht so, dass er sich unter die anderen Kinder mischte, es genügte ihm, sie aus der Ferne zu beobachten und sich dabei vorzustellen, wie sie wohl lebten. Er vermisste dieses normale Leben nicht, weil er es nie gekannt hatte und er war glücklich darüber, bei seinem Vater sein zu können. Vor dem Tod seiner Mutter war er stets mit ihr zusammen gewesen, sie waren zwar zu dritt umhergereist, doch Cathan war stets mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen, also hatte Granya sich um Kieran gekümmert – bis sie gestorben war. Aber daran dachte Kieran nicht, als er gemeinsam mit seinem Vater auf einer Bank saß und eine noch warme Waffel mit Erdbeeren aß. Stattdessen beobachtete er, wie die anderen Eltern mit ihren spielenden Kindern umgingen und diese zum Essen nach Hause holten. Cathan tat dasselbe und seufzte plötzlich. „Es tut mir Leid, Kieran.“ Fragend hob der Junge den Kopf und sah ihn an, offensichtlich wusste er nicht, wovon sein Vater sprach, weswegen dieser fortfuhr: „Dass ich dir kein normales Leben bieten kann. Meine Umstände lassen das einfach nicht zu.“ Er wirkte bedrückt, was Kierans Herz schwer werden ließ und dafür sorgte, dass er näher an ihn heranrutschte und ihn anlächelte. „Das ist schon in Ordnung. Mir reicht es, dass du bei mir bist. Mir hat es auch früher schon gereicht, bei dir und Mama zu sein.“ Die Worte erreichten Cathans Verstand nur langsam, aber als sie es endlich taten, ließen sie ihn ebenfalls lächeln. „Danke, Kieran. Du bist wirklich der beste Sohn, den jemand wie ich haben kann.“ „Und du der beste Papa~“, erwiderte Kieran, was ihm eine vorsichtige Umarmung einbrachte, damit die Waffeln nicht beschädigt wurden. Zufrieden aßen sie beide weiter, in der nun sicheren Erkenntnis, dass sie beide eine kleine, glückliche Familie waren. Ich kann verstehen, dass du bis dahin gezweifelt hast. Aber ich war wirklich glücklich mit dir an meiner Seite. Ich habe nichts vermisst. Absolut nichts. Cathan ging leicht in die Knie, dann schnellte er in die Luft und direkt auf das Monster zu. Es ähnelte einem Drachen, aber statt einem gewaltigen Leib verfügte es über vier schuppenbewehrte lange Hälse, die in kräftigen Kiefern endeten. Sie kamen direkt aus dem Boden und schlängelten sich von dort in die Luft, also musste der Körper sich irgendwo unter der Erde befinden. Keinerlei Augen saßen auf den Köpfen, aber dennoch verfolgten sie Cathans Bewegungen genau, so als könnten sie ihn spüren – oder sogar riechen. Kieran beobachtete den Kampf zwischen Cathan und diesem Wesen, während er auf dem blattlosen Ast eines knorrigen Baumes saß, genau so wie sein Vater ihn angewiesen hatte. Die Köpfe versuchten nach Cathan zu schnappen, verfehlten ihn und schlugen mit voller Kraft in den Boden ein, wo sie jede Menge Staub und Dreck aufwirbelten. Cathan schien zu schweben, während er auswich, aber dann wurde seinem Körper offenbar bewusst, dass das gar nicht möglich war, weswegen er auf einem der Hälse aufkam und dann diesen entlanglief. Helle Lichter erschienen an seinen Händen und im nächsten Moment hielt er in beiden ein glühendes Schwert. Die Köpfe brachen aus anderen Stellen der Erde wieder hervor und versuchten erneut, ihn zu fassen zu bekommen, doch er wich durch einfache Sprünge auf andere Hälse aus, so dass sich zwei der Angreifer ineinander verbissen, als sie ihn verfehlten. Ein schmerzerfülltes Kreischen erklang aus den Tiefen der Erde, als der Schmerz den Kern des Wesens erreichte. Kieran reckte den Hals ein wenig und entdeckte Cathans Ziel – es war ein gelbes Auge mit einer geschlitzten roten Pupille, die direkt aus der Erde heraus nach oben zu sehen schien. Cathan sprang erneut, zielte mit den Waffen auf das Auge und schaffte es tatsächlich dieses zu erreichen und aufzuschlitzen. Statt Blut oder anderen Flüssigkeiten, strömte Licht heraus und nach wenigen Sekunden wurden Kierans Augen von Helligkeit überschattet. Er hörte erneut einen gellenden Schrei, während er den Blick abgewandt hielt und als das Licht erloschen war und er wieder hinsehen konnte, stand Cathan siegreich und vor allem allein in Mitte eines Kraters, in dem zuvor das Monster gelebt hatte, hell leuchtende Funken lagen auf seinem schwarzen Haar. Er hob den Kopf, rückte seine verrutschte Brille zurecht und winkte Kieran dann zu. Nichts deutete wirklich darauf hin, dass er soeben gegen ein riesiges Ungetüm gekämpft hatte. Kieran lächelte erleichtert und erwiderte das Winken überaus zufrieden. Für mich warst du immer der stärkste Mann der Welt, schon bevor ich dich das erste Mal kämpfen sah. Ich war mir sicher, dass du alles und jeden würdest besiegen können. „Könnte ich auch so werden wie du?“ Kieran blickte Cathan neugierig an und wartete auf die Antwort. Sein Vater starrte in die Flammen des Lagerfeuers, das sie in dieser Nacht wärmen sollte und wirkte alles andere als froh über diese Frage. „Ich möchte nicht, dass du so wirst wie ich, das ist nicht gut für dich.“ „Warum?“ Kieran verstand nicht, was Cathan dagegen haben könnte, wenn er in seine Fußstapfen folgte. Sollte er nicht eher stolz darauf sein, dass sein Sohn derart ambitioniert war? Er wusste von anderen Familien, die sie auf ihrer Reise gesehen hatten, dass Eltern dort sich oft freuten, wenn ihre Kinder ähnliche Pläne wie sie verfolgten. Sein Vater seufzte allerdings. „Ich will nicht, dass du so viel leidest wie ich. Es ist besser, wenn du nicht zu sehr in diese Welt hineingezogen wirst.“ Das verstand er noch weniger. Was meinte er mit dieser Welt? Er hatte doch bereits gesehen, was sein Vater alles bekämpfte und er war auch Zeuge des Todes seiner Mutter gewesen. Wie tief könnte er denn noch hineingeraten? „Meine Welt mag auf den ersten Blick heldenhaft erscheinen, aber bei genauerem Hinsehen ist sie alles andere als das“, begann Cathan mit seiner Erklärung. „Leute wie ich kämpfen gegen mächtige Dämonen, um Menschen zu retten, die dafür alles andere als dankbar sind. Menschen, die uns abstoßend finden.“ „Aber wenn es so schlimm ist, warum tust du es dann?“, fragte Kieran ratlos. Cathan lächelte sanft, mit einem Hauch von Traurigkeit dahinter. „Wenn wir es nicht tun, macht es niemand – und ich möchte diese Welt auch für dich erhalten und ich will solange ich kann, verhindern, dass du kämpfen musst.“ Kieran neigte ein wenig den Kopf. Ihm wurde bewusst, wie sehr sein Vater ihn liebte, dass er dieses Opfer auf sich nahm. Diese Erkenntnis brachte ihn dazu, näher an ihn heranzurutschen, damit er sich an Cathan schmiegen konnte, was dieser offenbar wohlwollend zur Kenntnis nahm, der traurige Schimmer hinter seinem Lächeln verschwand. „Aber was, wenn ich irgendwann doch kämpfen muss?“, fragte Kieran nachdenklich, als seine Gedanken in die für ihn ungewisse Zukunft abschweiften. „Wenn der Moment kommt, wirst du wissen, was zu tun ist“, antwortete Cathan einfach und das war das einzige, was er dazu sagen wollte, denn danach schwieg er. Und so lauschten sie beide dem Knistern der lodernden Flammen, das in der Stille der Nacht noch lauter klang als es eigentlich sollte. Ich liebte diese Zeit, die ich mit dir verbringen konnte und denke immer noch gern daran zurück. Diese Zeit gehört nur uns beiden – und deswegen darf auch niemand anderes etwas davon wissen. Nie hätte er geglaubt, Cathan einmal so sehen zu müssen. Blut floss aus allerlei Wunden, die diese Dämonin ihm zugefügt hatte. Er atmete schwer, den Oberkörper vornübergebeugt. Die Dämonin, die in Kierans Erinnerung nur ein schwarzer Fleck mit leuchtenden goldenen Augen war, stieß ein unheimliches, rasselndes Lachen aus und wollte sich direkt auf Kieran stürzen. Der Schreck nahm ihm die Fähigkeit, sich zu bewegen. Aber dennoch spürte er keinen Schmerz, als das reißende Geräusch von Krallen erklang, die etwas aufrissen. Es dauerte einen kurzen Moment, ehe sein Verstand akzeptierte, was geschehen war, dann spürte er auch Cathans Arme um seinen Körper und spürte das Blut, das von seinem Vater auf ihn tropfte. „P-Papa...“ Er hatte sich zwischen den Angriff und Kieran geworfen und ihn somit abgefangen – aber zu einem Preis, der nach Kierans Meinung viel zu hoch war. Tränen füllten rasch seine Augen, so wie damals Cathans nach dem Tod seiner Mutter. „Papa, nein!“ Auch ohne es zu sehen, wusste er, dass sein gesamter Rücken nun eine einzige Wunde war, die Dämonin stieß erneut ihr rasselndes Lachen aus, machte dieses Mal aber keinerlei Anstalten, noch einmal anzugreifen. „Bist du... in Ordnung?“, fragte Cathan atemlos. Ein dünnes Blutrinnsal lief aus seinem Mund, er hatte seine Brille verloren, in seinen dunklen Augen standen Tränen wie in denen seines Sohnes. Auch wenn dieser nicht antwortete, so nahm er das als Ja und lächelte. „Zum Glück. Kieran...“ Er wusste, was sein Vater sagen wollte, aber er wollte es nicht hören, deswegen schüttelte er heftig mit dem Kopf. „Nein! Das darfst du nicht! Papa, du kannst mich nicht allein lassen!“ „Es tut mir Leid... Ich kann dich nicht mehr beschützen. Hör mir deswegen gut zu.“ Kieran starrte ihn unverwandt an und dachte dabei schon gar nicht mehr an die Dämonin, die in unregelmäßigen Abständen ein rasselndes Lachen hören ließ, sonst aber nichts mehr tat. „Du musst unbedingt unter Menschen. Allein zu leben ist kein... erstrebenswerter Zustand. Du brauchst Freunde, Familie...“ Er hustete und unterbrach sich damit für einen Moment. „Außerdem musst du sichergehen, dass du nie... nie stirbst.“ Diese Worte verstand er nicht so wirklich. Es sollte doch ohnehin im Interesse eines jeden liegen, nicht zu sterben – jedenfalls nicht bevor man ein langes Leben hinter sich gebracht hatte. Aber ihm blieb auch keine Zeit, das zu hinterfragen, denn Cathans nächstes Husten war bereits wesentlich schwächer als jenes zuvor. „Am besten gründest du eine Familie und lebst ein normales Leben...“ Er lächelte wieder. „Ein glückliches Leben.“ Seine Augen schlossen sich und mit einem entsetzten Kreischen verschwand die Dämonin, so als hätte sie seinen Tod eigentlich gar nicht gewollt und war nun schockiert darüber, dass es doch so weit gekommen war. Er atmete nicht mehr, so viel konnte Kieran auch durch den Vorhang aus Tränen erkennen, der ihm die Sicht erschwerte, aber dennoch kniete er immer noch aufrecht und hielt die Arme um seinen Sohn geschlungen, so dass es diesem schwerfiel, diese Tatsache wirklich zu akzeptieren. „Papa?“, flüsterte er leise. „Papa, wach auf, bitte.“ Vielleicht half es ja, wenn er seine Stimme hörte? Vielleicht würde er dann aufhören, so zu tun als sei er nicht mehr am Leben und Kieran von dem Schmerz befreien, der seine Brust eng werden ließ? Doch Cathan antwortete nicht – und in diesem Moment begriff er, dass sein Vater tot und er nun vollkommen allein war. In diesem Moment glaubte ich, mein Leben würde enden. Aber ich lebte weiter und kam nach Cherrygrove, wo ich Richard und all die anderen traf. Und nun ist er derjenige, der meine Hilfe braucht, so wie ich damals die von meinem Vater und so wie die vielen anderen Menschen, die er beschützt hat... Ich werde nicht zulassen, dass ein Dämon hier in Cherrygrove wütet wie es es ihm gefällt. Ich werde diese Welt erhalten, koste es, was es wolle. Kapitel 8: Die nächsten Schritte -------------------------------- Noch bevor er die Augen öffnete, wusste er, dass gerade eine Diskussion in seiner Nähe stattfand. Die Stimmen der anderen waren ein wenig erhoben, nicht laut und wütend genug, um es als Streit zu bezeichnen, aber auch nicht sanft genug, dass es eine ruhige Unterhaltung war. Schon nach wenigen Sekunden wusste er bereits, dass es sich bei den Anwesenden um Faren, Joshua und Bellinda handelte und es beruhigte ihn auf eine seltsame Art und Weise, dass sie alle bei ihm waren, während er im Aufwachen begriffen war. „Ich sage ja nicht, dass ich dir diese Geschichte nicht glaube“, sagte Faren, „aber du musst doch zugeben, dass es reichlich außergewöhnlich klingt und du schon immer eine lebhafte Fantasie hattest.“ Auch ohne es zu sehen, konnte Kieran sich gut vorstellen, wie Bellinda – es musste sich einfach um diese handeln – unzufrieden die Stirn runzelte und ihn tadelnd ansah. „Das heißt, du denkst ich habe mir das alles nur eingebildet oder ausgedacht?“ „Das sage ich doch gar nicht“, verteidigte er sich sofort. „Aber es ist einfach eine sehr seltsame Geschichte. Sag doch auch mal etwas dazu, Joshua.“ Er wusste, dass nun beide den Dritten im Bunde ansahen, jeder von ihnen mit der Erwartung behaftet, dass er ihnen zustimmen würde, weswegen Joshua geradezu panisch zwischen ihnen hin und her sah und sich fragte, was er nun tun sollte. Um ihm zu helfen, beschloss Kieran, die Augen zu öffnen und sich aufzusetzen, damit er erst einmal keine Antwort geben müsste. Tatsächlich wandten sich alle sofort ihm zu, als sie Bewegungen von ihm bemerkten. Bellinda lächelte strahlend. „Kieran! Den Naturgeistern sei Dank! Ich hatte schon Angst, du würdest nicht mehr aufwachen.“ „Ich sagte dir doch, er würde wieder aufwachen“, erwiderte Faren und rollte mit den Augen. Sie ignorierte ihn und setzte sich zu Kieran auf die Bettkante. Er blickte an sich herab und stellte fest, dass sein linker Arm bandagiert war, sie lieferte ihm sofort die Erklärung: „Dein Arm hat nicht aufgehört zu bluten, deswegen mussten wir ihn verbinden.“ Er sah sich weiter um, stellte aber fest, dass er das Zimmer, in dem er sich befand, nicht kannte. Es gab aber auch keinerlei Hinweis, der auf den Besitzer schließen ließ. Joshuas Räuspern lenkte seine Aufmerksamkeit auf diesen. Ausnahmsweise trug er seine Brille mit dem breiten schwarzen Rahmen, die er im Gegensatz zu Bellinda nicht ständig tragen musste. Er hatte einmal erklärt, dass er sie nur brauchte, wenn er müde war und seine Konzentration nachließ, denn dann verschwamm anscheinend immer sein Sichtfeld. Er sah aber auch erschöpft aus, dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Kieran vermutete sofort, dass er seit Richards Verhaftung nicht mehr geschlafen hatte. „Willkommen in meinem Zuhause“, sagte Joshua förmlich, mit ausgebreiteten Armen. „Eigentlich habe ich mir deinen ersten Besuch bei mir anders vorgestellt, aber nun kam es so.“ Über diese Eröffnung war Kieran nun doch erstaunt. Er war immer davon ausgegangen, dass Joshua sein Zuhause mit vielen individuellen Kleinigkeiten ausstatten würde, die einem kundigen Beobachter sofort verrieten, dass es sich um sein Heim handelte. Aber hier war nichts davon zu entdecken, die Wände waren kahl, nicht einmal ein Buch lag auf dem Nachttisch. Entweder hatte er ihn falsch eingeschätzt oder Joshua war einfach noch nicht dazu gekommen. „Gut, dass du wach bist“, sagte Faren. „Kannst du uns nochmal erzählen, was passiert ist?“ „Willst du ihn nicht vorher fragen, wie es ihm geht?“, fragte Bellinda empört. Kieran schüttelte mit dem Kopf. „Das ist schon in Ordnung.“ Also erzählte er von seiner Befragung Allegras und dem anschließenden Untersuchen des Tatorts, auch wenn ihm klar war, dass sie beide als Mitglieder der Stadtwache damit die Befugnis erhalten würden, ihn und auch Bellinda deswegen festzunehmen. Doch er wusste, dass er dieses Risiko eingehen und ehrlich zu ihnen sein musste, wenn er sie als Verbündete für seine Sache gewinnen wollte. Sie anzulügen hätte lediglich dazu geführt, dass sie ihm misstrauten und das konnte er sich nicht leisten. „... und dann verlor ich das Bewusstsein“, endete er seine Geschichte, ehe er Bellinda ansah. „Was wurde dann aus der Marionette?“ „Sie hat sich aufgelöst und ist spurlos verschwunden, genau wie dieser Zaun.“ Genau wie ich erwartet hatte. Faren hatte während der Erzählung die Arme vor der Brust verschränkt und die Stirn nachdenklich gerunzelt, so als würde er tatsächlich ernsthaft über all das nachdenken, was Kieran erstaunlich fand, da er ihn sonst nicht so kannte. Der Schluss, den Faren allerdings schließlich zog, gefiel ihm absolut nicht: „Du siehst aus als würdest du dich mit solchen Phänomenen auskennen.“ Auf diese Worte hin, konnte Kieran ihn nur perplex und auch ein wenig erschrocken ansehen. Es gab keinen wirklichen Grund, dass er vor den anderen sein Wissen über Dämonen verheimlichte – er musste ja nicht zwangsläufig etwas über seinen Vater erzählen – aber er hatte auch nicht das Gefühl als wäre es wirklich gut, seine Freunde zu sehr in diese andere Welt hineinzuziehen. Sollten sie ruhig skeptisch über die Existenz von Dämonen bleiben oder glauben, dass es nur wenige Übergriffe von solchen gab. Es gab keinen Grund, sie noch weiter zu beunruhigen. Sein Schweigen, so wusste er, konnte ihm gut und gern als Beweis dafür angelastet werden, dass er log, aber die Antwort wurde ihm glücklicherweise von Bellinda abgenommen, die Faren strahlend ansah. „Heißt das, du glaubst uns?!“ „Woah-woah-woah!“ Abwehrend hob er die Hände. „Das habe ich nicht gesagt. Aber nehmen wir nur mal an, dass das, was ihr sagt, wirklich der Wahrheit entspricht, dann finde ich, dass Kieran nicht den Eindruck macht als wäre er das erste Mal mit so etwas konfrontiert.“ Automatisch sahen alle Anwesenden zu ihm, worauf er den eigenen Blick senkte. Er konnte ihnen nicht in die Augen sehen und ihnen sagen, dass er sich nicht erinnerte, obwohl er das sehr wohl tat. Bislang hatte es ihn nicht gestört, aber nun brauchte er sie als Verbündete, um jemanden zu retten und da konnte er sie nicht mehr anlügen. Aber er konnte ihnen auch nicht die Wahrheit sagen, wenn er sie nicht in Gefahr bringen wollte. Dieses Mal war es Joshua, der ihn aus diesem Dilemma erlöste: „Ist es nicht egal, woher er das alles weiß? Wenn es uns helfen kann, Richard zu retten, sollten wir das eher nutzen. Du glaubst doch jetzt nicht immer noch, dass es wirklich Richard war, oder?“ Faren antwortete nicht sofort. Als Kieran den Blick wieder hob, konnte er deutlich sehen, wie es hinter der Stirn des anderen arbeitete, wie er die ihm bekannten Fakten neu sortierte und sie mit dem eben Gehörten in Verbindung zu bringen versuchte. Doch schließlich schüttelte er seufzend den Kopf. „Da mir der Gedanke nie gefallen hat, spiele ich euer Spiel einfach mal mit – und hoffe, dass es Richard hilft.“ Bellinda klatschte begeistert in die Hände. „Danke, Faren!“ Er lächelte ihr zu, konnte dieses Gefühl aber nicht lange genießen, denn Joshua fuhr direkt dazwischen: „Aber was wollen wir jetzt tun?“ Schweigen senkte sich wie ein schwerer Vorhang über sie. Das Untersuchen des Tatorts hatte ihm nur so viel gebracht, dass es ihm die Einmischung eines Dämons bestätigt hatte, aber um welchen es sich dabei handelte oder warum er das getan hatte, das war ihm nach wie vor ein Rätsel. Aber gibt es überhaupt noch einen Punkt, an dem man ansetzen könnte? „Wir sollten mit dem Bürgermeister sprechen“, schlug Bellinda plötzlich vor. „Vielleicht kann er Richards Strafe ja aufheben, bis es zu einem Prozess gekommen ist.“ „Und du denkst, der würde dann fair ablaufen?“, fragte Faren. „Caulfield ist doch so versessen darauf, Richard hängen zu sehen, dass er seinen gesamten Einfluss nutzen würde. Außerdem darfst du weiterhin nicht vergessen, dass Allegra, Joshua und ich ihn – oder etwas, das so aussah wie er – gesehen haben und er trug die Verletzung, die ich ihm zugefügt habe. Das ist erdrückendes Beweismaterial, findest du nicht?“ Bellinda verzog ihr Gesicht, sie seufzte leise. Selbst ihr Optimismus musste bei einer solch logischen Erklärung aufgeben. Aber es bot Joshua einen Punkt zum Einhaken: „Warum ist der Hauptmann eigentlich so versessen darauf, Richard hängen zu lassen? Was hat Richard ihm getan?“ „Spontan würde ich sagen, dass es etwas mit Allegra zu tun hat“, meinte Faren. „Immerhin hat Richard sie mehr als einmal mit seiner Zurückweisung verletzt.“ Das glaube ich nicht... Kieran erinnerte sich gut, viel zu gut, an seine Unterhaltung mit Allegra und seine Erkenntnis, dass sie Selbstmord begehen würde, sobald Richard tot war, was ihr definitiv einen Platz in der Riege der Dämonen einbrächte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Vater, dem solche Anzeichen vollkommen egal zu sein schienen, wirklich jemanden töten wollte, der ihr wehtat. Es musste einen anderen Grund dafür geben, auch wenn er diesen im Moment noch nicht durchschauen konnte. „Das kann ich nicht glauben“, sagte Bellinda nachdenklich, was Kieran überrascht aufsehen ließ. Da auch die anderen beiden sie fragend anblickten, fühlte sie sich genötigt, sich zu erklären: „Manchmal rede ich ein wenig mit Allegra, immerhin sind wir beide Mädchen und da ist es schon angebracht, finde ich.“ Diese Logik konnte zwar keiner von ihnen nachvollziehen, aber sie ließ sich davon nicht stören und fuhr fort: „Ihre Eltern beachten sie kaum, beide sind mehr auf ihren Bruder, Dario, fixiert. Ihnen ist es ziemlich egal, was aus ihr wird. Deswegen hängt sie sich auch so sehr an Richard, weil er anfangs einmal nett zu ihr war.“ Das macht sogar Sinn. Er ist zu jedem höflich und das wird oftmals mit Nettigkeit verwechselt. „Ich würde sagen, damit haben wir zwei Hauptverdächtige, denen wir unsere Aufmerksamkeit widmen sollten“, schloss Faren daraus. „Caulfield und Allegra.“ Doch Joshua schüttelte mit dem Kopf. „Der Hauptmann würde unter Umständen noch Sinn machen, aber da bleiben immer noch die Fragen, warum er Blythe als zu opfernde Schachfigur gewählt haben soll und wie er einen Dämon dazu gebracht hat, da mitzumachen. Während wir bei Allegra die Frage haben, warum sie einen derartig umständlichen Weg wählt, statt ihn direkt zu töten und danach sich selbst.“ Faren wollte etwas einwenden – Kieran vermutete, dass er auf die physischen Unterschiede zwischen Allegra und Richard hinweisen wollte – aber Joshua kam ihm direkt zuvor: „Sie hätte unzählige Möglichkeiten gehabt, ihn umzubringen, ohne dass er in der Lage gewesen wäre, sich zu wehren und ohne dass man ihr etwas hätte nachweisen können oder ihr Vater nicht in der Lage gewesen wäre, sie da irgendwie wieder herauszuholen. Es macht keinen Sinn, dass sie einen derart umständlichen Weg wählt.“ Und sie will sich ohnehin selbst umbringen, wenn er stirbt. Faren schloss den bereits geöffneten Mund wieder, als er Joshuas Erklärung gehört hatte und ließ sich das durch den Kopf gehen. Aber Bellinda brachte bereits die Schlussfolgerung: „Wir sollten uns also vorerst nur auf den Hauptmann konzentrieren und die noch offenen Fragen klären.“ „Das wird nicht einfach“, warf Faren ein. „Er ist nicht umsonst so schnell Hauptmann der Stadtwache geworden, er hat einiges drauf, auch wenn sich das zum Teil nur auf das Spinnen von Intrigen bezieht. Und wir sind keine Detektive und haben zu allem Überfluss auch nur noch zwei Tage Zeit.“ Ein Blick nach draußen bestätigte Kieran in der Annahme, dass es bereits wieder dunkel wurde. Ihnen lief wirklich die Zeit davon. „Wir kriegen das schon hin!“, sagte Bellinda optimistisch und gleichzeitig entschlossen. „Wir lassen Richard nicht einfach hängen – buchstäblich.“ „Das war ein schlechter Witz“, kommentierte Faren schmunzelnd. Sie schnitt ihm eine Grimasse und wurde dann direkt wieder ernst. „Wir müssen jetzt unbedingt überlegen, was wir tun sollen, um weiterzukommen, um Richard zu retten. Also lasst uns die Köpfe zusammenstecken, bis sie rauchen!“ Kapitel 9: Teyra ---------------- Mehrere Stunden später ging es bereits auf Mitternacht zu und trotz Joshuas Angebot, noch eine Nacht bei ihm zu verbringen, machte Kieran sich auf den Rückweg ins Waisenhaus, wo man mit Sicherheit noch wütend genug auf ihn sein würde, dass er so lange fortgewesen war. Bellinda hatte zwar versichert, dass der Leiter des Waisenhauses über seinen Aufenthaltsort informiert war, aber es war Kieran doch lieber, wenn er sich selbst dort melden würde. Außerdem wollte er nicht Joshua auf der Tasche liegen. Sie hatten nicht sonderlich viel Sinnvolles besprochen, wie er glaubte. Keinem von ihnen war eine Idee gekommen, wie sie Caulfield etwas nachweisen könnten – und Kieran war auch nicht davon überzeugt, dass der Hauptmann überhaupt etwas mit dieser ganzen Sache zu tun hatte. Sein Begehren, Richard hängen zu lassen, war wirklich seltsam, aber das musste einen anderen Grund haben, es gab keine Möglichkeit für den Mann, einen Dämon für all das eingespannt zu haben und es machte auch keinen Sinn bei seinem Einflussreichtum. Aber diese Gedanken brachten ihn im Moment nicht weiter. Normalerweise waren auch die Nächte in Cherrygrove nie wirklich still oder einsam, aber die Ereignisse der letzten Zeit mussten wohl eine gestiegene Vorsicht bei allen Einwohnern bewirkt haben, denn es war niemand auf der Straße. Das konnte Kieran nur recht sein, immerhin war sein linker Arm immer noch verbunden – Bellinda hatte die Bandagen sogar noch einmal gewechselt – und er konnte auf jegliche Fragen diesbezüglich verzichten. Er wäre zwar nicht um eine Ausrede verlegen, aber all das Lügen und Verschweigen der letzten Jahre setzte ihm schon genug zu. Da er sich vollkommen allein wähnte, blieb er mitten auf dem Dorfplatz stehen, der noch vor knapp 48 Stunden ein Ort eines lebhaften Festes gewesen war. Nun war davon nichts mehr zu erkennen und es gab ihm das Gefühl... einsam zu sein. Allein in einer Welt, in die niemand außer ihm Zutritt hatte und deren Ziel es war, ihn leiden zu lassen. Um sich nicht unnötiger Trauer hinzugeben, verwarf er diesen Gedanken und griff stattdessen in seine Tasche. Schon während seiner Anwesenheit in Joshuas Haus war ihm aufgefallen, dass sich die gefundene Nadel in seiner Tasche befand. Er musste sie gedankenlos eingesteckt haben, ehe er den Kampf gegen die Marionette begonnen hatte. Er glaubte nicht, dass diese Nadel ihm irgendwie weiterhelfen könnte, immerhin gab es an ihr keinerlei Hinweis, der ihm etwas sagte – aber dafür hörte er ein erschrockenes Einatmen. Perplex, da er sich bislang allein gewähnt hatte, ließ er den Blick schweifen, bis er zwischen den Kirschbäumen eine Bewegung entdeckte. Sein Körper versteifte sich sofort, da er in dieser Gestalt erneut eine feindliche Entität vermutete, aber etwas sagte ihm auch, dass er sich irrte. Was immer sich dort verbarg, war keineswegs auf einen Kampf aus, es war friedlich – aber es war auch nicht menschlich. Er erinnerte sich, dass er früher, als Kind, oft derartige Wesen gesehen hatte. Aber seit dem Tod seines Vaters war es ihm nicht mehr möglich gewesen. Er hatte sie noch hören können, sofern ihre emotionalen Bindungen zur menschlichen Welt kurzzeitig stark genug geworden waren, aber mehr nicht. Nun schien es ihm aber wieder möglich zu sein. Wieso...? Oh, es muss mit dieser Marionette zusammenhängen und dem darauf folgenden Traum. Irgendwie... auch wenn ich das alles nicht verstehe. Es ist zu kompliziert. Mit langsamen Schritten ging er auf das Wesen zu, nur für den Fall, dass es doch noch seine Meinung ändern und feindlich werden würde. Aber selbst als er direkt vor dem Baum stand, hinter dem sich das Wesen verbarg, spürte er keinerlei bösen Willen. „Hallo“, grüßte er freundlich und mit sanfter Stimme, um es nicht zu verschrecken. Scheu lugte es um den Baum herum, was Kieran erlaubte, einen genaueren Blick darauf zu werfen. Es sah nicht vollständig menschlich aus, aber zumindest die Körperform ähnelte dem eines kleinen Kindes. Ihre Haut war türkis, die Hände besaßen lediglich drei Finger und der Kopf war eher oval, aber am meisten fasziniert war er von den tropfenförmigen Augen, deren Farbe ihn an die eines Granat erinnerte. Sie glühten leicht, was die mysteriöse Aura des Wesens verstärkte und beständig den Blick darauf lenkte. „Hallo“, antwortete es ebenso sanft, ohne den Mund zu öffnen, auch wenn es deutlich einen solchen besaß, obwohl ihm die Lippen fehlten. Ähnlich stand es um die Nase, die lediglich zwei schwarze Löcher mitten im Gesicht waren. Kieran kniete sich vor das Wesen, um auf Augenhöhe damit zu sein. „Wer bist du?“ Ihm schien, sein Gegenüber müsste erst darüber nachdenken, vermutlich weil es nicht so häufig nach seinem Namen gefragt wurde oder aber es wusste nicht, ob es einfach so darauf antworten könnte, ohne dafür Schwierigkeiten zu bekommen. Doch schließlich kam es wohl zu der Entscheidung, dass es antworten dürfte: „Teyra...“ Kieran legte sich eine Hand auf die Brust, ehe er sich vorstellte. „Sehr erfreut“, replizierte sie – er beschloss, das Wesen aufgrund seiner glockenhellen Stimme als sie zu bezeichnen – und neigte dabei höflich ein wenig den Oberkörper. „Was tust du hier?“, fragte er weiter. Sie blickte sich einen Moment lang um, als würde sie nach etwas suchen, ohne es zu entdecken, ehe sie darauf antwortete: „Ich war schon immer hier.“ In einem ersten Impuls wollte er fragen, warum, aber er glaubte nicht, dass sie ihm eine vernünftige Antwort würde geben können. Es schien ihm, dass sie selbst nicht so genau wusste, weswegen sie hier war und er musste sich nicht ständig dieselbe Aussage von ihr anhören. „Warum kannst du mich sehen?“, fragte sie nun. „Eine lange Geschichte. Kennst du diese Gilde der Dämonenjäger?“ Er vermied es sorgfältig, den Namen auszusprechen, den sie sich gaben, er war der festen Überzeugung, dass es Unglück bringen würde. Sie nickte, neigte dann aber den Kopf und erklärte ihm frei heraus, dass sie nicht glaubte, dass er ein Mitglied sei, worauf er ein wenig lächelte. „Bin ich auch nicht. Ich bin nur der Sohn eines solchen.“ Damit schien für sie dieses Thema genug geklärt, sie schwieg wieder und betrachtete ihn nur eingehend. Er wusste nicht, warum sie das tat, fragte aber auch nicht danach, ihn interessierte etwas anderes im Moment weitaus mehr: „Du hast erschrocken eingeatmet, als ich die Nadel hervorgezogen habe, warum?“ Zur Demonstration hielt er diese hoch, worauf sich Teyras Blick auf diese fixierte. Es war schwer zu sagen, da sie über keinerlei Mimik verfügte, aber er glaubte, ihre Furcht spüren zu können. Da sie nicht antwortete, hakte er weiter nach: „Weißt du etwas über diese Nadel?“ Teyra hob die Hand, als würde sie die Nadel berühren wollen, hielt aber inne als würde sie sich doch nicht trauen. „Du kannst sie ruhig anfassen. Sie tut dir nichts.“ Zumindest auf ihn hatte sie bislang keinerlei negative Auswirkungen gehabt und ihn hätte das ebenfalls betreffen müssen, wenn damit etwas wäre. Doch Teyra schüttelte entschieden mit dem Kopf. „Nein, lieber nicht.“ „Also?“, hakte er noch einmal nach, statt sie auf ihre Abneigung direkt anzusprechen. „Woran erinnert sie dich?“ „An gar nichts“, sagte sie hastig und warf dabei erneut einen nervösen Blick umher. „Aber in der letzten Zeit sind hier viele schlimme Dinge passiert und... oh!“ Sie verstummte plötzlich und sah ihn an, die Augen noch größer als zuvor. „Du bist der Junge, der gestern von der Marionette angegriffen wurde!“ Er verzog einen Mundwinkel zu einer freudlosen Grimasse. „Ja, das war ich. Furchtbar, oder?“ Statt die Nadel zu berühren, streckte sie sich nun ein wenig, um seinen Kopf zu tätscheln als würde sie versuchen, ihn zu trösten. „Du hast dich gut geschlagen, wirklich.“ Sonderlich aufgebaut fühlte er sich durch diese Worte zwar nicht, aber er verlangte auch keinerlei Trost von ihr, daher überging es in diesem Moment. „Und du weißt wirklich nicht, wem diese Nadel gehört und diese Marionette...?“ Sie nickte, um diese Aussage zu bestätigen. Während er überlegte, ob eine Unterhaltung so überhaupt noch Sinn machte, hörte er plötzlich, wie jemand über den Platz eilte. Er wandte den Kopf, in der sicheren Erwartung, lediglich eine Wache zu entdecken – und erblickte stattdessen Joshua, ohne jegliche Uniform. Er achtete nicht auf seine Umgebung oder ob sich noch jemand in der Nähe befand. Kieran fragte sich, wohin er ging, er hatte angenommen, dass Joshua sofort schlafen gehen würde, sobald alle aus dem Haus waren. Teyra sah ebenfalls hinüber und neigte dabei ein wenig den Kopf. „Da ist er wieder.“ „Du kennst ihn?“, fragte Kieran leise, um die Aufmerksamkeit des anderen nicht auf sich zu lenken. „Er geht oft zu diesem großen Haus, in dem der böse Mann lebt.“ Es gab in Cherrygrove nicht viele Männer, die als böse bezeichnet werden konnten. Das konnte für Kieran nur eines bedeuten: Joshua suchte die Caulfields auf. Und plötzlich erinnerte er sich wieder an etwas, das sein Freund zuvor gesagt und dem Kieran im Laufe der Unterhaltung keinerlei Bedeutung beigemessen hatte: „Der Hauptmann würde unter Umständen noch Sinn machen...Während wir bei Allegra die Frage haben, warum sie einen derartig umständlichen Weg wählt, statt ihn direkt zu töten und danach sich selbst.“ Joshua empfand es tatsächlich als sinnig, dass der Hauptmann versuchen könnte, Richard ans Messer zu liefern, also musste er mehr über Caulfields Abneigung ihrem Freund gegenüber wissen. Und er wusste ebenfalls, dass Allegra selbstmordgefährdet war, was bedeutete, dass er hin und wieder Kontakt mit ihr pflegte, der nicht in der Öffentlichkeit stattfand und von dem er nicht wollte, dass einer der anderen etwas erfuhr, sonst hätte er nicht Bellinda diese Erklärung übernehmen lassen. Aber weswegen das alles? Um das herauszufinden, wollte er sich aufrichten und ihm folgen, auch wenn er wusste, dass er spätestens am Haus Probleme bekommen würde, da er nicht einfach hineingehen könnte. Doch ehe er das auch nur ansatzweise erörtern konnte, spürte er, wie Teyra ihn am Ärmel zupfte. Ungeduldig wandte er sich wieder ihr zu. „Du kannst ihm nicht folgen – aber ich kann dir helfen.“ „Wie?“, fragte er verdutzt über dieses plötzliche Angebot. Sie ließ sein Hemd wieder los und hielt ihm stattdessen wortlos die Hand hin. Offenbar wollte sie, dass er es von selbst herausfand. Er streckte seine Hand aus, zögerte aber noch einen kurzen Moment, die ihre zu ergreifen. Er wusste nichts über Teyra, außer dass sie ein Wesen war, das aus irgendeinem Grund hier lebte und alles beobachtete, was in Cherrygrove vor sich ging. Nicht einmal, warum sie ihm ein solches Angebot machte oder woher sie wusste, dass er Joshua hatte folgen wollen, war ihm bekannt. Ihm schien, dass sie manche Dinge einfach wusste und da es sich bei ihr um ein übernatürliches Wesen handelte, hinterfragte er lieber nicht weiter. Wenn er ehrlich war, interessierte ihn im Moment auch brennend, was sie vorhatte, um ihn erfahren zu lassen, was Joshua bei Caulfield wollte. Also zögerte er nicht länger und ergriff ihre Hand, die überraschend warm war. Im nächsten Moment überkam ihn das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, etwas hob ihn geradewegs in die Luft, ohne dass er sich wehren oder auch nur im Mindesten bewegen konnte. Der Flug nach oben stoppte, noch bevor er sich an das Gefühl gewöhnen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde war es ihm möglich, sich selbst zu sehen, wie er mit Teyra am Fuß des Baumes stand, dann ging der Blick ohne sein Zutun wieder nach oben, er hörte das Schlagen von Flügeln, glaubte zu spüren, wie sich seine Arme – Flügel – ausbreiteten und einen Augenblick später, befand er sich bereits wieder in der Luft. Er fürchtete nicht, dass er abstürzen konnte; eine tiefsitzende Selbstverständlichkeit, die er normalerweise nur beim Laufen verspürte, legte sich wie eine wärmende Decke auf einen Frierenden und gab ihm das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, obwohl er diese Situation nicht einmal im Ansatz verstehen konnte. Er entdeckte das Haus der Caulfields und landete dort auf einem Fensterbrett, das zu einem erleuchteten Zimmer gehörte. Hier war es ihm nun möglich, einen Blick auf sein Spiegelbild in der Fensterscheibe zu erhaschen, doch was er sah, erschreckte ihn so sehr, dass er sich für den Bruchteil einer Sekunde wieder mit Teyra am Baum wiederfand, ehe sie seine Hand fester griff und er erneut zurückkehrte. Er war eindeutig eine Eule... oder ein Uhu, er kannte sich mit Tieren nicht sonderlich aus und im Moment interessierten ihn derartige Haarspaltereien auch nicht, ihn schockierte die Tatsache, dass er ein Vogel war zu sehr. Doch statt sich seiner Panik, Furcht und Verständnislosigkeit hinzugeben und so möglicherweise vom Fensterbrett zu stürzen und sich zu verletzen, versuchte er, sich auf die Geschehnisse im Inneren des Hauses zu konzentrieren. Das Zimmer, vor dem er gelandet war, schien ein Arbeitszimmer zu sein, jedenfalls war der prunkvolle Schreibtisch mit den unzähligen Unterlagen und der im Moment entzündeten Gaslaterne darauf, ein eindeutiges Zeichen für ihn. Caulfield und Joshua betraten den Raum, der Hauptmann wirkte so grimmig wie immer, sein Untergebener dagegen sah nicht im Mindesten erfreut über dieses Treffen aus. Das beruhigte Kieran zumindest ein wenig, denn es sagte ihm, dass Joshua nicht aus tiefer Überzeugung heraus zu ihm gegangen war. Caulfield setzte sich auf einen der drei Sessel, die im Raum standen und vermutlich für derartige Gespräche gedacht waren und bat Joshua, auf dem ihm gegenüber Platz zu nehmen. Sein Untergebener tat das auch, lehnte sich allerdings nicht zurück, sondern rutschte bis auf die Kante vor, so dass er jeden Moment einfach herunterfallen könnte. Sein ganzer Körper verriet, wie unangenehm ihm diese Situation war. „Was führt dich zu mir?“, fragte der Hauptmann. Joshuas Mundwinkel zuckten, für einen kurzen Augenblick schien es als würde er aufstehen und wortlos wieder gehen wollen, doch stattdessen blieb er sitzen und antwortete: „Kieran und Bellinda haben mir erzählt, was geschehen ist, als sie am Tatort waren.“ Caulfield nickte bedächtig und wartete darauf, dass Joshua fortfuhr, aber dieser brachte nur eine Frage vor: „Glauben Sie an Dämonen, Hauptmann?“ Er hielt einen kurzen Moment inne, da ihn das Thema wohl überraschte, dann schnaubte er verächtlich. „Natürlich nicht. Dämonen sind nur Ausreden für Leute, die sich nicht eingestehen wollen, dass es böse Menschen in dieser Welt gibt.“ Er log nicht, denn sonst, so wusste Kieran, hätte er entweder ein wenig länger überlegt, um sich irgendwelche Worte zurechtzulegen, die keine richtige Antwort gewesen wären oder er hätte viel zu schnell und unüberlegt eine bereitgelegte Aussage geliefert. So aber klang es wie die ehrliche Äußerung eines Mannes, der sich zwar mal über dieses Thema Gedanken gemacht hatte, dann aber zu dieser Erkenntnis gekommen war. Dennoch ließ Joshua nicht locker. „Kieran und Bellinda sagen, es wäre ein Dämon und nicht Richard gewesen, der das getan hat.“ „Du solltest ihnen nicht alles glauben“, erwiderte Caulfield. „Die beiden würden mit Sicherheit alles mögliche behaupten, um Richard zu decken. Da ihnen aber nichts einfällt, kommen sie mit einer solch abstrusen Geschichte.“ „Warum gibt es keinen Prozess für Richard?“, hakte Joshua nach. „Normalerweise-“ „Es gibt keinen Sinn, einen Prozess zu führen, wenn wir drei Augenzeugen haben, die Richard eindeutig identifizieren konnten.“ Caulfield bedachte ihn dabei mit einem stechenden Blick, immerhin war er ebenfalls einer dieser Zeugen. „Dazu kommt noch diese Verletzung, die zu Farens und deiner Beschreibung des Tathergangs passt. Denkst du wirklich, ein Prozess würde daran noch etwas ändern? Aus dem Nichts Zeugen erscheinen lassen, die euch widersprechen?“ Auf diese Fragen wusste Joshua keine Antwort mehr. Er senkte resignierend den Kopf, als er erkannte, dass er nichts mehr für Richard tun könnte, dann richtete er seinen neuerlich Blick wieder auf den Hauptmann. „Faren und Bellinda wollen Ihre Zusammenhänge zur Tat erforschen.“ Caulfield stieß ein überraschtes und gleichzeitig amüsiertes Lachen aus. „Da werden sie nicht viel herausfinden können. Ich gebe zu, es war ein Glücksfall für mich, dass Richard mir derart in die Hände spielt und ich endlich eine Gelegenheit fand, ihn loszuwerden – aber mit diesem Mord habe ich nicht das Mindeste zu tun.“ Er zuckte mit den Schultern. „Sollen sie forschen so viel sie wollen, vielleicht sind sie dann endlich mal ausgelastet. Du wirst ihnen weiterhin helfen – oder besser so tun als ob und mir übermitteln, was und warum sie es tun.“ Joshua seufzte leise. „Verstanden.“ Damit schien dieses Gespräch bereits beendet, denn die beiden verabschiedeten sich voneinander und Joshua machte sich bereit, aufzustehen. Kieran jedenfalls entschied, genug gehört zu haben und den Rest auf einen anderen Weg in Erfahrung zu bringen. Mit aller Macht riss er sich von Teyras Hand los und wich einen Schritt zurück, damit sie nicht noch einmal nach ihm greifen könnte. Die abrupte Rückkehr in seinen eigenen Körper, ließ ihn würgend in die Knie gehen, ein saurer Geschmack von Magensäure stieg seine Speiseröhre herauf. „W-was war das?“ „Ich habe dein Bewusstsein für einen Moment an eine Eule gebunden“, erklärte Teyra emotionslos. „Es hat funktioniert, oder?“ „Es war schmerzhaft.“ Und furchteinflößend, fügte er in Gedanken dazu. Auch ohne jegliche Mimik auf Teyras Gesicht, wusste er, dass sie nicht verstand, warum es sich für ihn so angefühlt hatte. Etwas, das kein Mensch ist und es auch niemals gewesen war, konnte immerhin nicht dasselbe wie ein solcher fühlen. „Aber du hast erfahren, was du wissen wolltest, oder?“ Er nickte leicht, die Übelkeit flaute nur langsam wieder ab. „Ja, habe ich und...“ Sein Blick ging zum Platz, als er wieder Schritte hörte. Es war wie erwartet Joshua, aber diesmal lief er langsam und mit gesenktem Kopf, er war deutlich bedrückt. Kieran überlegte, ihn erst einmal gehen zu lassen und ihn ein andermal darauf anzusprechen – aber seine Verwirrung war zu groß, er konnte nicht mehr warten. Also rief er seinen Namen und ging dann auf Joshua zu, als dieser stehenblieb. Der vermeintliche Verräter musterte ihn erst erschrocken und dann fragend. „Wolltest du nicht ins Waisenhaus gehen?“ Kieran hielt wenige Schritte von ihm entfernt inne, darauf bedacht, eine klare Distanz zwischen sie beide zu bringen. „Da gehe ich auch noch hin. Aber vorher wollte ich dich etwas fragen?“ Er glaubte regelrecht sehen zu können, wie Joshua zu schwitzen begann, wartete aber nicht darauf, ob er überhaupt mit einer Frage einverstanden wäre, sondern tat das sofort: „Warum arbeitest du für Severo Caulfield?“ Diese Unverblümtheid ließ Joshua nach Luft schnappen, er öffnete bereits den Mund, vermutlich um es zu dementieren, aber etwas ließ ihn innehalten – und schließlich seufzen. „Ich mache das ja nicht gern“, verteidigte er sich. „Aber, verstehst du, ich bin damit aufgewachsen, dass man seinen Vorgesetzten zu gehorchen hat! Dort, wo ich herkomme, war es unabdingbar, seinem Vorgesetzten zu gehorchen und notfalls auch den Spion für ihn zu spielen!“ „War es auch unabdingbar, seine Freunde zu verraten?“ Wütend runzelte Joshua seine Stirn. „Natürlich! Wenn sie etwas getan haben, das den Frieden des Landes gefährdet, dann hat man auch sie verraten!“ Kieran wich ein wenig zurück, als er in den Augen des anderen einen fanatischen Schimmer entdeckte, den er bislang noch nie an ihm gesehen hatte. Er war immer erstaunt von Joshuas Geschichten über dessen Kindheit gewesen, weil Kieran immer im Glauben gewesen war, dass nichts von der dort üblichen Indoktrination seinen Freund beeinflusst hatte – und nun wurde er so eines Besseren belehrt. „Und Bellinda und Faren gefährden den Frieden?“, fragte Kieran leise, fast schon eingeschüchtert. Als er diese beiden erwähnte, zuckte Joshua zusammen, der entschlossene Schimmer in seinen Augen flackerte. Doch er kehrte sofort wieder. „Nein, aber Richard tut es sehr wohl. Wenn der Hauptmann sagt, es ist besser, Richard zum Wohle des Landes hinzurichten, dann... dann...“ Er beendete den Satz nicht, stattdessen schluckte er schwer, Kieran konnte Tränen in den Augen des anderen sehen. Also besaß er zumindest noch ein Gewissen. „Wie sollte Richards Tod dem Land dienen?“, fragte er. Auf diese Frage konnte Joshua allerdings nur mit den Schultern zucken, er senkte den Kopf und murmelte dabei kaum verständlich, dass er das auch nicht so recht wusste. „Aber wenn der Hauptmann es sagt... der Hauptmann hat immer recht, er wird es schon wissen.“ Kieran fiel nicht ein, was er darauf erwidern sollte, ihm kam lediglich ein Gedanke: Dann wird es Zeit, dass wir einen neuen Hauptmann bekommen. Sollten sie Beweise dafür finden, dass Caulfield egoistische Gründe für Richards schnelle Hinrichtung hatte, würde das ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit einen neuen Hauptmann bringen. Kieran konnte also nur hoffen, dass Bellinda und Faren erfolgreich waren und Joshua sie nicht davon abhalten würde, diese Beweise öffentlich zu machen. „Joshua...“ Der Blick des anderen festigte sich wieder, er hob den Kopf, um ihn anzusehen. Der fanatische Schimmer war noch immer da, aber wesentlich weniger ausgeprägt als noch zuvor, was es Kieran schwer machte, genug Entschlusskraft aufzubringen, um seine nächsten Worte zu sagen: „Ich werde den anderen nichts hiervon erzählen – aber du musst deine Prioritäten klären und herausfinden, was dir wichtiger ist: Richard und deine Freunde oder der Hauptmann.“ Joshuas Mundwinkel zuckten ein wenig nervös, aber er sagte nichts, sondern nickte nur. Kierans Gesichtszüge verhärteten sich. „Aber lass dir eines gesagt sein: Wenn du dich gegen Richard entscheidest, wirst du sein Feind – und jeder Feind Richards ist auch der meine!“ Auf diese Worte wich jegliches Blut aus Joshuas Gesicht, aber er nickte verstehend, mit einem Blick, der verriet, dass er seinen Gegenüber fürchtete und ihn nicht wirklich als Gegner haben wollte. Ohne noch etwas zu sagen, fuhr Kieran herum und kehrte wieder zu Teyra zurück. Er hörte, dass Joshua hinter seinem Rücken eilig davonlief – und auf einmal fühlte er sich erneut so einsam wie zuvor. Er hätte diese Worte nicht sagen sollen, auch wenn sie ehrlich gemeint gewesen waren, sie klangen einfach nicht nach ihm. Allerdings hätte gleichermaßen er nie vermutet, dass Joshua ihnen so in den Rücken fallen könnte, obwohl ihm bewusst war, dass es sich dabei nur um das Ergebnis jahrelanger Indoktrination im Kindesalter handelte. Auf jeden Fall habe ich jetzt wohl einen Freund weniger... aber ich kann nicht zulassen, dass Richard wegen ihm etwas geschieht. Irgendwann, wenn alles vorbei war, davon war er überzeugt, würde sich alles wieder einrenken und sie könnten wieder Freunde sein – auf irgendeine Art und Weise. Vorerst gab es aber andere Dinge, die es zu tun gab. „Danke, Teyra.“ Sie neigte verständnislos den Kopf. „Wofür?“ „Ohne dich wäre mir nie bewusst geworden, auf welchen meiner Freunde ich achten muss.“ Er hätte Faren eher als Verräter gesehen, aber niemals Joshua. Allein der Gedanke daran, ließ ihn innerlich immer wieder seufzen. Ich hoffe, er entscheidet sich richtig. „Ich muss jetzt aber wirklich gehen“, sagte Kieran. „Also muss ich mich von dir verabschieden.“ Sie nickte leicht. „Natürlich, Menschen müssen sich ab und zu ausruhen, ich weiß. Komm wieder vorbei, wenn du Zeit hast.“ Er versprach ihr, das zu tun, dann drehte er sich um, damit er seinen Weg fortsetzen könnte, als ihre folgenden Worte ihn noch einmal irritiert innehalten ließen: „Wenn du Aria siehst, sag ihr bitte, dass sie niemanden mehr zum falschen Kirschbaum schicken soll. Das bekommt dem Frieden in Cherrygrove nicht.“ Kapitel 10: Der Morgen danach ----------------------------- Am nächsten Morgen war Kieran nicht nach Aufstehen. Vollständig angezogen auf der Bettdecke liegend, den Kopf unter dem Kissen begraben, die Nase auf dem frisch gewaschenen Laken, wünschte er sich, die Welt würde ihn hier einfach vergessen. Seine Gedanken wanderten zu Richard und erinnerten ihn daran, dass er ihm möglicherweise nicht würde helfen können und das deprimierte ihn weiter und wollte ihn wirklich nie wieder aufstehen lassen. Er hatte jetzt zwar diesen Hinweis auf Aria erhalten – aber er wusste nicht, wo er diese finden sollte und noch dazu war Joshua ein Verräter, was ihm immer noch zusetzte. Er wünschte sich, die letzten Tage wären nur ein schlechter Traum gewesen, ein finsterer Albtraum, der ihn nicht aus seinen Klauen entlassen wollte, bevor nicht auch noch der letzte Lebenswille seines Traum-Ichs zerschmettert worden wäre. Aber die Realität, so wusste er bereits, sah wie immer anders aus. Seufzend entschied er sich schließlich, doch noch aufzustehen, wenngleich weniger aus Vernunftsgründen, sondern eher, weil es an der Tür des Schlafsaals klopfte. Das Geräusch hallte durch den ganzen Saal und dröhnte in seinen Ohren, obwohl das Kissen darauf lag. Also stand er auf und lief die wenigen Schritte bis zur Tür, um diese zu öffnen. Er erwartete, eines der Mädchen aus dem Waisenhaus vorzufinden, denn seine Freunde hätten nicht geklopft und Margery hätte ihn schon längst mit ihrer durchdringenden Stimme darauf vorbereitet, dass sie in drei Sekunden eintreten würde, ob er wollte oder nicht. Aber stattdessen fand er sich einem älteren Mann gegenüber, der zwar nicht viele Falten im Gesicht sein eigen nannte, diese waren dafür aber umso tiefer. Sein ergrautes Haar und der gleichfarbige Vollbart waren noch beneidenswert voll für sein Alter, aber akkurat gestutzt. Faren hatte früher stets gescherzt, dass er jeden Abend vor dem Spiegel stehen und mit Nagelschere und Lineal jedes Haar auf dieselbe Länge schneiden würde. Bellinda hatte ihm sogar geglaubt. „Herr Direktor...“ In den eisblauen Augen von Ben, dem Leiters des Waisenhauses, war Besorgnis zu sehen, während sein Gesicht überraschend neutral blieb. „Wie geht es dir, Kieran?“ Er wusste nicht genau, was Bellinda seinem Gegenüber erzählt hatte, deswegen entschied er sich, mit den Schultern zu zucken. „Ganz gut, schätze ich.“ „So siehst du nicht aus.“ Kieran war sich bewusst, dass er im Moment blass aussehen musste, sein Haar war vermutlich durcheinander, da er es sich noch nicht gekämmt hatte und er erinnerte sich nicht, wann er zuletzt etwas gegessen oder getrunken hatte. Aber er machte sich darum keine Gedanken und schüttelte deswegen nur den Kopf. Der Blick des Direktors fiel auf seinen verbundenen Unterarm. „Ist mit deiner Verletzung auch alles in Ordnung?“ Kieran hob den Arm ein wenig. Das schmerzhafte Pochen darin war immer noch vorhanden, aber es hatte bereits deutlich nachgelassen, seit er Teyra begegnet war. „Ja, das geht schon. Ich habe gutes Heilfleisch.“ Diese Aussage stimmte zwar nicht, aber da er sich bislang noch nie verletzt hatte, konnte Ben ihn auch keiner Lüge überführen. Der Direktor sah in den Schlafsaal hinein und ließ den Blick schweifen. „Fühlst du dich einsam, so ganz allein im Saal?“ Kieran bekam den Eindruck, dass Ben auf etwas ganz anderes hinauswollte, es aber für besser befand, erst einmal unverfänglich zu plaudern. Da es ihn nicht weiter störte, ging Kieran auf dieses Spiel ein. „Nein, es ist ganz in Ordnung. Immerhin habe ich so auch endlich Ruhe.“ Nicht, dass er sich von Geräuschen großartig stören ließ, aber manchmal waren das Schnarchen, die Schlafgespräche und auch das ständige Herumwälzen derart laut gewesen, dass es unmöglich gewesen war, Ruhe zu finden. Da ihm nun die unverfänglichen Themen ausgegangen waren, seufzte Ben. „Was mit Richard geschehen ist, muss dir sehr zusetzen. Ihr beide standet euch sehr nah.“ Er musterte Kieran bei diesen Worten genau. Der Gefragte wusste, dass dies daran lag, weil auch an dem Direktor die Gerüchte, die bei den Mädchen die Runde machten, nicht vorübergegangen waren. „Mir geht es eher darum, dass Richard unschuldig ist“, erwiderte Kieran, seine ausdruckslose Mimik verriet nicht im Mindesten, was er dachte oder fühlte und er war dankbar dafür. „Ich kann nicht hinnehmen, dass jemand unschuldig hingerichtet wird.“ Für einen kurzen Moment flackerte Gerechtigkeitsbewusstsinn in seinen Augen, aber es war sofort wieder erloschen. Ben hob dennoch eine graue Augenbraue. „Oh... ich verstehe. Aber wie willst du seine Unschuld beweisen?“ Er antwortete nicht darauf, weil er seine Rückschläge nur ungern zugeben wollte. Aber Ben hakte auch nicht weiter nach, offenbar hatte er ohnehin nicht damit gerechnet, dass er einen wirklichen Plan besaß. „Du solltest jedenfalls etwas essen, also komm mit zum Frühstück.“ Obwohl er nicht hungrig war oder auch nur Appetit verspürte, nickte Kieran. Wenn er entkräftet zusammenbrechen würde, wäre das ebenfalls nicht hilfreich für Richard. Er musste sich also am Leben halten, wenn er seinen Freund retten wollte – auch wenn er sich dafür zum Essen zwingen musste. Joshua war ebenfalls nicht sonderlich hungrig, aber er zwang sich genauso zum Essen – allerdings hatte er dafür andere Gründe als Kieran. Im Gegensatz zu diesem saß er nämlich gemeinsam mit Faren und Bellinda an seinem Esstisch und wollte keinem der beiden Anlass geben, ihm zu misstrauen. Außerdem wollte er Bellinda keine Sorgen bereiten, ihre Gedanken waren schon genug mit Richard belastet. Missmutig kaute er auf einem der Brötchen, die von Faren gebracht worden waren. Dieser aß mit demselben Appetit wie eh und je, nichts schien ihn wirklich beeinflussen zu können. Bellinda dagegen blickte niedergeschlagen auf ihren Teller und zerrupfte das Brötchen geradewegs. „Ist es okay, dass wir Kieran nicht auch eingeladen haben?“ Joshua zuckte bei der Erwähnung dieses Namens kaum merklich zusammen, aber Bellindas Aufmerksamkeit war bereits auf Faren gerichtet, der mit den Schultern zuckte. „Nah, außer Richard verbindet uns doch eigentlich nicht sonderlich viel. Ich habe immer so ein unangenehmes Gefühl, wenn er bei uns ist.“ Bellinda runzelte missbilligend die Stirn. „Was soll das denn heißen?“ „Das heißt“, antwortete er sofort bereitwillig, „dass ich sein Gesicht immer mit irgendwelchen negativen Ereignissen verknüpfe. Frag mich nicht, warum, ich habe keine Ahnung.“ Er winkte hastig ab, ehe sie noch weiter nachhaken könnte, obwohl ihr Kopf bereits fragend geneigt und selbst Joshuas Neugierde nun geweckt war, dann nahm er noch einen großen Bissen, um erst einmal nichts mehr sagen zu müssen. „Ich finde trotzdem, dass wir ihn hätten einladen sollen“, bestand Bellinda. „Immerhin sind wir jetzt Verbündete der Gerechtigkeit!“ Es schmerzte Joshua, dass sie davon wirklich noch überzeugt war, obwohl er hier gerade die Rolle des Spions einnahm – und doch sagte seine Erziehung ihm, dass er genau richtig handelte und seine Freunde diejenigen waren, die sich im Unrecht befanden. Sie rupfte weiter an ihrem Brötchen herum, bis Farens Mund wieder leer genug war, dass er das Gespräch weiter voranbringen konnte: „Wir müssen uns jetzt überlegen, wie wir dahinter kommen, was Hauptmann Caulfield mit dieser ganzen Sache zu tun hat.“ Da könnt ihr lange suchen... er hat gesagt, es gibt nichts, was ihn damit in Verbindung bringt. Joshuas Mundwinkel zuckten bereits, um das auch zu sagen, aber er hielt sich gerade noch zurück. Dafür war seine Zunge schneller als sein Kopf, so dass er folgenden Vorschlag machte: „Wir könnten ins Archiv der Stadt gehen und dort nach Unterlagen suchen, die mit Richard und dem Hauptmann zu tun haben.“ Am Liebsten hätte er sich direkt die Zunge abgebissen, es kam ihm vor als wäre sein Unterbewusstsein gegen ihn, aber als er noch einmal genauer darüber nachdachte, kam ihm der Gedanke, dass es möglicherweise auch einfach für Richard war – und vielleicht war es wirklich einen Versuch wert, immerhin ging es hier um das Leben eines Freundes. „Was sollte dort zu finden sein?“, fragte Faren ratlos. „Es ist das öffentliche Stadtarchiv, der Hauptmann wäre ziemlich...“ Plötzlich brach er den Satz ab, starrte für einen Moment in die Luft und wirkte im nächsten Augenblick aufgeregt und gleichzeitig entschlossen. „Aber natürlich! Wenn er glaubt, unangreifbar zu sein, wird er alle Beweise dort aufbewahren, wo jeder rankommt!“ Bellindas Augen funkelten, als er das vorbrachte, während Joshua am Liebsten im Boden versunken wäre. Er konnte nur noch hoffen, dass der Hauptmann mit der Aussage, dass es keine Beweise gegen ihn gab, im Recht gewesen war. „Dann werden wir auf jeden Fall ins Archiv gehen!“, verkündete Bellinda. „Und wir werden erst wieder von dort weggehen, wenn wir etwas gefunden haben!“ Sie und Faren schlugen begeistert ein, während Joshua innerlich seufzte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Vorschlag auf derartige Gegenliebe stoßen würde. Nun war es aber zu spät, ihn zurückzunehmen und außerdem gab es auch die Möglichkeit, dass sie Richard damit wirklich helfen könnten, also sollten sie es durchziehen, egal wie sehr es ihm missfiel. Aber vorerst würden sie das Frühstück beenden, nun da Bellinda endlich Appetit zeigte – während Joshua endgültig übel wurde. Er wusste nicht, wie sehr seine Freunde darum kämpften, ihn aus dieser ganzen Sache wieder herauszuholen. Aber es kümmerte ihn im Moment auch nicht weiter, da er sich von den unheimlichen Geräuschen im Kerker abzulenken versuchte. Auf dem Bett liegend starrte er an die dunkle Decke und fragte sich seit Tagen, welchen Fehler er in seinem Leben begangen hatte, dass er nun im Kerker auf seine Hinrichtung warten musste. Aber er kam immer wieder zum selben Ergebnis: Mein Fehler war es, dass ich in jener Nacht aus meinem Zimmer abgehauen bin. Hätte ich auf meine Eltern gehört und den Hausarrest eingehalten... Er stoppte erstmals seit seiner Inhaftierung in seinen Gedanken, als ihm bewusst wurde, was er da gerade dachte und welche Konsequenzen sein möglicher Tod damals mit sich brächte. Kieran wäre dann ebenfalls tot. Immerhin war es Richard gewesen, der ihn gerettet hatte, nachdem er im Eis eingebrochen war. Er erinnerte sich noch viel zu gut an diesen eiskalten Wintertag, an dem er in Cherrygrove angekommen war; an die brennende Kälte, als er im Kontakt mit dem Wasser gekommen war; an Kierans schockiertes und gleichzeitig seltsam gelassenes Gesicht, als wäre er bereit zu sterben; aber vor allem erinnerte er sich an das Gefühl, während er versucht hatte, Kieran aus dem Wasser zu ziehen. Es war als ob etwas im See versuchen würde, ihn nach unten zu ziehen. Es war nicht so wie bei Kathreen... Richards kleine Schwester war einmal im Winter ebenfalls in einem See, unweit ihrer Heimatstadt eingebrochen und auch damals war er der Held gewesen, der sie wieder herausgezogen hatte. Aber es war wesentlich einfacher gewesen, als bei Kieran und das nicht nur wegen dem unterschiedlichen Gewicht der beiden. Kieran ist irgendwie... anders... So viel war ihm schon immer bewusst gewesen, auch wenn er ihn nie darauf angesprochen hatte. Immerhin wäre es Kierans Sache, ob und wann er sich dazu äußern wollte und möglicherweise gab es einen vernünftigen Grund, warum er es für sich behielt. Richard würde ihn jedenfalls nicht dazu drängen. Aber eines war ihm klar: Wenn es jemanden gab, der ihm helfen könnte, dann war es sicherlich sein bester Freund, er müsste nur abwarten und auf ihn vertrauen – und das ließ ihn erstmals wieder Mut fassen. Oder diese nervige Sternennymphe kommt wieder, um mich noch einmal zu retten, aber die wird sicherlich nicht auftauchen. Damit wanderten seine Gedanken wieder zu Asterea weiter, die, ohne dass er etwas davon ahnte, genau in diesem Moment erneut niesen musste. Kapitel 11: Ein Hauch von... alt -------------------------------- Nicht lange nach dem Frühstück hatte Bellinda darauf gedrängt, das Archiv aufzusuchen. Aber schon nach wenigen Metern trafen sie auf einen irritiert dreinblickenden Kieran. „Wohin geht ihr?“, fragte er, aber sein Blick blieb dabei auf Bellinda gerichtet, die, so vermutete Joshua, im Moment die einzige von den Freunden war, der er noch irgendwie vertraute. „Ins Stadtarchiv“, antwortete sie sofort entschlossen, sagte aber zu Joshuas Erleichterung nichts weiter, immerhin waren sie gerade in der Öffentlichkeit und konnten von wer weiß wem belauscht werden, das wollte er ungern riskieren. Kieran schien auch so zu verstehen. „Oh.“ „Willst du mitkommen?“, fragte Bellinda sofort. Sowohl Joshua als auch Faren runzelten missbilligend die Stirn, aber Kieran schüttelte ohnehin sofort den Kopf. „Nein, lieber nicht. Ich wollte mir nur ein wenig die Beine vertreten und dann wieder ins Waisenhaus zurückgehen.“ Joshua war sichtlich überrascht über die plötzliche Passivität des anderen, nachdem er ihm noch vor wenigen Stunden als seinen Feind deklarierte, sollte er sich gegen Richard stellen. Nun sah es aber so aus als hätte er bereits aufgegeben und sich bereits mit dem Gedanken abgefunden, dass ihr Freund so gut wie tot war. Faren verschränkte die Arme vor der Brust. „Liegt dir nichts mehr an Richards Leben?“ Kieran warf ihm einen unterschwellig feindseligen Blick zu, anders als jener, den Joshua in der Nacht hatte erleben dürfen und doch nicht minder furchteinflößend. Aber Faren ließ sich davon nach außen nicht beeindrucken und konterte mit offensiver Gelassenheit. „Ich habe meine eigenen Mittel und Wege, um ihm zu helfen“, antwortete Kieran schließlich. „Aber ich erwarte nicht, dass irgendjemand sie versteht.“ Faren lachte amüsiert und hob die Hände. „Woah, wer wird denn da gleich die Nerven verlieren? Eigentlich meinte ich das nicht ernst. Du bist nicht der Typ dafür, dich stundenlang in ein Archiv zu setzen und dort nach irgendwas zu suchen, was es vielleicht gar nicht gibt.“ Während Bellinda ihm einen empörten Blick zuwarf, blieb Kierans Gesicht so ausdruckslos wie zuvor. „Du auch nicht“, konterte er. Das brachte Faren tatsächlich zum Grinsen. „Wie wahr. Aber was tut man nicht alles für eine alte Freundin – und Richard?“ Diese Worte ließen Bellinda glücklich lächeln und begeistert in die Hände klatschen. „Das ist die richtige Einstellung.“ Joshua rollte mit den Augen. Er selbst war zwar von dieser Szene gerührt, aber die Erziehung sagte ihm, dass es lediglich ekelhafter Kitsch war, den man normalerweise nur in schlechten Romanen fand und der im echten Leben nichts zu suchen hatte, weil er ohnehin immer nur vergeblich war und die dadurch entstehende falsche Hoffnung nur zu Bitterkeit führte. Glücklicherweise bemerkte keiner der anderen seine Reaktion, nicht zuletzt, weil Kieran sich nun an Bellinda wandte: „Ich wollte dich noch etwas fragen.“ „Was denn?“, fragte sie interessiert. „Wenn jemand in Cherrygrove von einem falschen Kirschbaum spricht, welchen meint er damit?“ Sie überlegte nicht lange, aber ihr Gesicht wurde ein wenig blass, sie runzelte die Stirn. „Okay, okay, ich sag es dir – aber nur, weil ich will, dass du dich von dem Baum fernhältst.“ Faren nickte bestätigend, mit einer Mimik, die der eines Oberlehrers ähnelte. „Meine Mutter erzählte mir schon immer, dass man sich diesem Baum nicht nähern soll, weil man dann garantiert innerhalb eines Tages stirbt, egal ob man ein gutes Kind war oder nicht.“ Joshua, der eigentlich nicht an derartige Phänomene glaubte, wurde bei der Vorstellung plötzlich kalt, so dass er die Schultern hochzog, in der Hoffnung, dass er damit ein wenig Wärme in seinem Inneren retten konnte. Aber auf ihn achtete immer noch niemand. Bellinda deutete in die Richtung, in der sich dieser Kirschbaum befand, nach dem Kieran gefragt hatte. „Er ist da hinten. Du wirst ihn sofort erkennen, es ist der mit den weißen Blüten und den blauen Kirschen.“ Dann sah sie ihn so eindringlich wie nur möglich an. „Halte dich wirklich fern von ihm, es ist besser, wenn du ihm nicht zu nah kommst.“ „Ich habe verstanden, danke.“ Damit verabschiedete er sich von den Freunden und setzte seinen Weg fort, genau wie diese. Faren neigte im Laufen den Kopf. „Ich frage mich, warum er das wohl wissen wollte.“ Joshuas Gedanken waren zu sehr mit dem Hauptmann und den Plänen seiner beiden Freunde beschäftigt, um sich darum zu kümmern, aber selbst er empfand Kierans plötzliche Neugier an diesem Baum, vor allem in dieser Situation, als seltsam. Eigentlich konnte es nur bedeuten, dass er tatsächlich einen eigenen Weg gefunden hatte, Richard zu helfen – nur wie? Bellinda zuckte auf Farens Aussage mit den Schultern. „Vielleicht hat er von den Mädchen im Waisenhaus Gerüchte darüber gehört und möchte nun wissen, was dran ist. Man muss eben nach jedem Strohhalm greifen.“ Keiner ihrer beiden Begleiter erwiderte etwas darauf, nicht zuletzt, weil sie endlich angekommen waren. Das Stadtarchiv war eines der ältesten Gebäude von Cherrygrove und es war eines von zweien, das nicht aus Holz, sondern Steinen gebaut war. Dies diente der reinen Vorsicht, denn es sollte widerstandsfähig gegen Feuer und auch Stürme sein – außerdem stand es im Vergleich zu den anderen leicht erhöht, nur für den Fall, dass es zu einer spontanen Überschwemmung kommen sollte... auch wenn Cherrygrove von jeglichen Wassermassen weit entfernt war. Sie betraten das Gebäude durch die schwere Tür, deren dunkles Holz mit kunstvollen Schnitzereien verziert war, die derart tief gingen, dass selbst der Zahn der Zeit es noch nicht geschafft hatte, sie unkenntlich werden zu lassen. Der Vorraum war schlicht, Sonnenlicht fiel durch die Fenster herein und wurde von den unzähligen Staubkörnern in der Luft reflektiert, so dass sie wie tanzende, glitzernde Funken wirkten. Erst nach diesem ersten Eindruck, bemerkte man erneut eine Holztür, die tiefer ins Archiv hineinführte und dann fiel einem auch der Empfangsschalter auf, hinter dem eine Frau saß. An dieser entdeckte man immerhin direkt im ersten Augenblick die Ähnlichkeit zwischen ihr und Bellinda. Sie trugen dasselbe Lächeln, dasselbe rabenschwarze Haar – und sogar ihre Brillen ähnelten sich. „Na, was kann ich denn für euch tun?“, fragte sie amüsiert. „Guten Morgen, Mama“, grüßte Bellinda sie erst einmal gut gelaunt. Die anderen beiden schlossen sich der Begrüßung an, worauf das Lächeln von Anne noch ein wenig herzlicher wurde. „Nun sagt mir mal, was ihr im Archiv zu suchen habt.“ Joshua warf einen nervösen Blick zu Bellinda und hoffte, dass sie nicht zu viel sagen würde – und diese Hoffnung erfüllte sich: „Oh, nichts Besonderes. Wir wollen ein wenig was über mögliche Dämonenübergriffe lesen.“ „Da werdet ihr hier nicht viel finden“, meinte Anne amüsiert. „Aber ihr könnt euch gerne umsehen, solange ihr keine Unordnung anstellt.“ Die drei versprachen einstimmig, auf Ordnung zu achten und wurden dann ins Archiv gelassen, wo ihnen allen die Luft wegblieb. Von außen betrachtet wirkte es nicht sonderlich groß, aber im Inneren offenbarte sich eine ganz eigene Welt. Von der Galerie, auf der man stand, sobald man hereinkam, blickte man direkt auf die andere Seite des Raumes, wo sich mehrere, dicht bepackte Regale aneinanderreihten. Über die Brüstung sah man in einen tiefer gelegten Raum – einen Keller, wenn man so wollte –, wo noch wesentlich mehr Regale auf einen warteten, sowie drei lange Tische, die für eventuelle Recherchearbeiten gedacht waren. Legte man dann den Kopf in den Nacken, weil man noch nicht überwältigt genug war von den Massen an Informationen, die an diesem Ort lagerten, entdeckte man eine weitere Ebene, die man über eine Wendeltreppe erreichen konnte, unter der Kuppel. Dieser Ort, so machten die Kette und das Betreten verboten-Schild an der Treppe allerdings sofort verständlich, war nur für den Archivar gedacht, der dort zu arbeiten hatte. Kein Sonnenlicht fiel in diesen Raum, um die empfindlichen Unterlagen nicht möglicherweise ausbleichen zu lassen, stattdessen entzündeten sich wie von Geisterhand mehrere Gaslaternen, die in regelmäßigen Abständen an den Wänden und auch den Regalen befestigt waren. Ohne jegliche Fenster war es stickig und ein nicht definierbarer Geruch hing in der Luft – was Faren aber nicht davon abhielt, diesen zu erklären versuchen: „Hier liegt ein Hauch von... alt in der Luft.“ „Wenigstens ist es trockenes alt“, erwiderte Joshua, noch bevor die vom Archiv begeisterte Bellinda ihre Empörung über Farens Aussage ausdrücken konnte. „Wäre es nass, würde es modrig riechen und das ist richtig ekelhaft.“ Er rümpfte die Nase, um seine Worte zu unterstreichen, was bei Bellinda endlich zu einem empörten Schnauben führte. „Oh, ihr seid beides Banausen! Hier lagert hundert Jahre altes Wissen über Cherrygrove und Király und euch fällt nichts Besseres ein als dieses wundervolle Aroma zu beleidigen!“ Als Tochter der aktuellen Stadtarchivare aufgewachsen, war sie mit diesem Geruch geradezu groß geworden und ihm daher vertraut, weswegen es ihr schwerfiel, nachzuvollziehen, wie jemand anderes sich daran stören konnte. Joshua fühlte sich ihr dadurch noch näher, auch wenn seine Erziehung wesentlich mehr Nachteile mit sich brachte als ihre. „Schon gut“, meinte Faren direkt, um sie wieder zu beruhigen. „Sag uns lieber, wo wir deiner Meinung nach anfangen sollten. Wir haben immerhin keine Ahnung, wonach wir suchen sollen.“ Das brachte sie allerdings nicht von ihrem Optimismus ab. Stattdessen schlug sie mit ihrer Faust auf ihre senkrecht gehaltene Handfläche. „Dann fangen wir auf gut Glück irgendwo in den letzten drei Jahren an, seit Severo Caulfield hier ist. Wir sind auf der Seite der Gerechtigkeit, Asterea wird uns also schon hold sein.“ Joshua neigte ratlos den Kopf. „Was hat denn diese Sternennymphe damit zu tun?“ Statt Bellinda, setzte Faren zur Erklärung an: „Sternschnuppen erfüllen bekanntlich Wünsche. Wunscherfüllung bedeutet Glück, also ist Asterea gleichbedeutend mit einer Glücksfee.“ „So in etwa“, stimmte Bellinda zu. Für jemanden, der nicht in Király geboren war und der den Großteil seines Lebens nicht dort verbracht hatte, waren ihm die Geschichten über Naturgeister vollkommen fremd. Er hatte sich zwar bemüht, sich die Grundzüge anzueignen, aber solche Details waren ihm nicht bekannt gewesen, weswegen er über den Vergleich einer Nymphe mit einer Glücksfee nur irritiert eine Augenbraue heben konnte. „Fangen wir lieber an“, wies Bellinda ihre Begleiter an und ging bereits mutig voraus. Die Männer warfen sich noch einen letzten, fast schon verzweifelten Blick zu, dann zuckten sie beide mit den Schultern und folgten ihr, auch wenn keiner von ihnen wusste, was nun auf sie zukommen würde. Kieran war Bellindas Beschreibung gefolgt und stand nun wenige Meter von dem fraglichen Baum entfernt. Er war von einem niedrigen Zaun umgeben, der auf den ersten Blick vollkommen willkürlich gesetzt worden war, aber für Kieran war sichtbar, dass ein Netz, so etwas wie eine Barriere, um den Baum gesponnen war, daher wagte er im Moment nicht, näher zu gehen. Er war sich zwar sicher, dass ihm nichts geschehen würde, wenn er die Barriere berührte, aber er wusste nicht, was passieren könnte und er wollte keine Experimente eingehen. Doch auch ohne das auszuprobieren, war ihm bewusst, dass dieser Baum der Ursprung dessen war, was Richards Gestalt angenommen und auch ihn angegriffen hatte. Fragt sich nur noch, was ich mit diesem Wissen anfange. Er könnte natürlich nähergehen, dabei riskieren, dass die Barriere einen extrem negativen Effekt hatte und das Wesen, das den Baum bewohnte, direkt fragen, weswegen Richard und Blythe sein Ziel gewesen waren, aber er glaubte nicht, dass es antworten würde, selbst wenn es sprechen könnte, was bei weitem nicht selbstverständlich war. Wenn ich diese Aria finden könnte... nur um sicherzugehen... Auf seinem Weg durch Cherrygrove hatte er bereits nach Teyra Ausschau gehalten, aber das menschenscheue Wesen vermied es offenbar, tagsüber zu erscheinen. Er hätte sie ja in der Nacht zuvor gefragt, aber sie war direkt nach ihren letzten Worten verschwunden und auch auf seine Bitte hin zurückzukommen, um ihm mehr zu erklären, nicht mehr aufgetaucht. Was mache ich, wenn ich diese Aria nicht rechtzeitig finde? Oh Richard... Er fuhr herum, damit er wieder seinen Rückweg zum Waisenhaus antreten konnte. Vielleicht würde das dortige Wesen ihm helfen können, wenn er es dazu brachte, vor ihm zu erscheinen. Mit etwas – oder viel – Glück, würde es sich bei diesem sogar bereits um Aria handeln. Falls es eine Glücksgöttin gibt, hoffe ich, dass sie mir zusieht und meinen aussichtslosen Kampf unterstützt. Während er den Baum hinter sich ließ, konnte er nicht wissen, dass Asterea an einem anderen Ort gerade wieder zu niesen begann und dabei sogar einen leisen Fluch über die vermeintliche Allergie ausstieß. Kapitel 12: Und der Mörder ist... --------------------------------- Den ganzen Tag durchstreifte Kieran das Waisenhaus. Vom staubigen Dachboden bis in den kühlen Keller, dabei lauschte er stets den Unterrichtseinheiten der Mädchen oder deren Plaudern in den Pausen. Dabei fühlte er sich wieder ausgeschlossen und als ob er auf einer gänzlich anderen Bewusstseinsebene existieren würde, die es ihm unmöglich machte, mit all diesen fröhlichen Menschen in Kontakt zu treten. Aber vielmehr beschäftigte ihn, dass er den ganzen Tag ziellos durch das Gebäude gelaufen war, ohne auch nur den kleinsten Hinweis auf Aria zu entdecken. Nicht einmal ihr Lachen oder auch ihr Seufzen war zu hören, weswegen er sich bei Einbruch der Nacht schließlich geradezu enttäuscht auf einer der Bänke im Empfangsbereich des Waisenhauses fallen ließ. Er überlegte, ob es vielleicht eine gute Entscheidung wäre, Teyra noch einmal aufzusuchen oder ob er damit nur seine Zeit verschwendete und er überlegte auch, wie es Richard wohl ging und ob dieser bereits wieder dabei war, die Sternennymphe zu verfluchen. Während er so in Gedanken versunken war, bemerkte er, wie ein ihm bekannter Gesang durch das Gebäude hallte. Schon früher hatte er ihn oft gehört, weswegen er sich in diesem Moment nichts dabei dachte und sogar mitsummte. Doch plötzlich, mitten in der zweiten Strophe, wurde ihm etwas bewusst: Der Gesang kam nicht aus dem oberen Stockwerk, wo der Mädchenschlafsaal lag, was ihn irritierte, da er bislang angenommen hatte, dass es die weiblichen Bewohner des Heims gewesen waren, die da sangen. Aber stattdessen erklang die Stimme aus dem für die Kinder gesperrten Bereich des Waisenhauses. Kieran wusste selbstverständlich nicht, was sich dort befand, da er sich nie dieser Regel widersetzt hatte und selbst in diesem Moment stand er zögernd vor der Tür und fragte sich, ob er wirklich einfach hindurchgehen könnte. Sicher, er tat das für Richard und nicht einfach nur aus Neugierde, aber es fiel ihm schwer, sich gegen Regeln aufzulehnen. Aber wenn das die einzige Gelegenheit ist, Aria zu treffen... Doch noch während er überlegte, brach das Singen plötzlich ab und für einen kurzen Moment lief es ihm eiskalt den Rücken hinab, als er sich vorstellte, seine einzige Chance vertan zu haben – doch da hörte er bereits das altbekannte Lachen und das direkt hinter sich. Er fuhr herum, in der sicheren Erwartung, einem Wesen gegenüberzustehen, das wie Teyra aussah und war dann angenehm überrascht, als das nicht der Fall war. Es war ein blondes Mädchen, das aussah wie eine Puppe, die in der Luft schweben konnte und dabei über jegliche menschliche Mimik verfügte, die es gab. Ein Glöckchen hing am Handgelenk des Wesens und klingelte bei jeder Bewegung laut. „Ah, du kannst mich sehen“, stellte sie mit einer angenehm klaren Stimme fest, die eindeutig zu dem altbekannten Lachen gehörte. „Kieran, nicht wahr?“ Dass sie seinen Namen kannte, wunderte ihn nicht – umgekehrt hätte er die Stirn runzeln müssen, immerhin lebte sie schon mindestens so lange wie er in diesem Waisenhaus. „Richtig. Und du bist Aria, nehme ich an.“ Sie strahlte geradewegs, was nicht nur ihre braunen Augen leuchten ließ, sondern ihn auch in seiner Annahme bestätigte. „Du hast mich den ganzen Tag gesucht“, bemerkte sie. Er musste sich fast schon schmerzhaft auf die Zunge beißen, um sich einen Konter zu verkneifen, den sie höchstwahrscheinlich nicht sonderlich positiv aufgefasst hätte. Stattdessen nickte er wortlos und wollte gerade zu einer weiteren Erklärung ansetzen, als sie bereits die Hand hob. „Sag nichts mehr. Ich weiß Bescheid. Blythe ist tot und Richard im Gefängnis, weil ein am falschen Kirschbaum geäußerter Wunsch außer Kontrolle geriet.“ „Du weißt also über das alles Bescheid?“ „In etwa“, erwiderte sie ausweichend. Wie gern hätte er seiner Frustration über dieses Wesen Ausdruck verliehen, aber er bemühte sich, weiterhin so neutral wie möglich dreinzublicken und auch so zu denken, da sie offenbar seine Gedanken lesen konnte und er sie nicht verärgern wollte. „Ich hatte gehofft, du könntest mir etwas sagen, was mir hilft, Richard zu retten.“ Sie antwortete nicht sofort, schien ihm nicht einmal zugehört zu haben, da sie bereits etwas Interessanteres entdeckt hatte und nun auf der Lehne der Bank, auf der er zuvor gesessen hatte, zu balancieren begann. „Aria...“ Er konnte sich das leicht gereizte Nachhaken nicht verkneifen. „Es ist wirklich wichtig!“ Sie hielt inne und neigte den Kopf ein wenig. „Ich kann dir keine direkte Antwort geben.“ Das hatte er sich bereits gedacht. Aber- „Warum?“ „Maeve könnte ziemlich wütend werden, wenn sie erfährt, dass ich jemandem wie dir so etwas verrate. Ich mag es nicht, wenn jemand wütend ist auf mich.“ Also ist der Name dieses Wesens, das zum Baum gehört, Maeve. Er konnte sich denken, was sie mit jemandem wie dir meinte, dabei hatte er sich noch nicht einmal entschieden, ob und was er mit jenem Wesen anstellen wollte. Vielleicht konnte man tatsächlich mit Maeve reden und es davon überzeugen, dass Richard es nicht verdient hatte, sterben zu müssen. „Bitte, nur einen Hinweis, das genügt mir. Ich muss wissen, wer sich was gewünscht hat.“ Nur wenn er genau wusste, welchen Hintergrund diese Tat hatte, könnte er vernünftig mit Maeve sprechen und versuchen, es mit Argumenten zu überzeugen. Dämonen, die in der Lage waren, menschliche Laute von sich zu geben, neigten dazu, reichlich arrogant zu sein, wenn er einem solchen also ohne jedes Wissen gegenübertrat, bestand die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht einmal mit ihm sprechen würde. Aria presste nachdenklich die Lippen aufeinander, warf die Gedanken offensichtlich hin und her – und dann seufzte sie. „Ich kann dir nur eines sagen: Du solltest dir die Leiche von Blythe einmal ansehen. Genauer gesagt, ihren linken Arm.“ Noch ehe er weiter nachhaken konnte, verschwand Aria bereits wieder und ließ ihn mit der Frage zurück, was sie ihm damit hatte sagen wollen. Aber es gab wohl nur einen Weg, das herauszufinden: Ich muss das Leichenschauhaus aufsuchen. Auch wenn er, genau wie alle anderen Bewohner, diesen Ort sonst eher mied. Er war einfach mit viel zu vielen schlechten Schwingungen verbunden, die zwar nicht sichtbar, aber umso deutlicher spürbar waren. Gram, Schmerz, Unverständnis und auch Reue formten ein Netz aus negativer Energie, das jeden fernhielt, der auch nur den Hauch einer solchen in seinem Herzen trug. Daher war es, zumindest für Kieran, nicht weiter verwunderlich, dass der Totenwärter ein fröhlicher, unbekümmerter Mann war, der scheinbar keine Probleme kannte. Kieran wollte gerade gehen, um ihn trotz seiner Bedenken gegenüber dem Gebäude aufzusuchen, als er die schwere Schritte von Ben hörte. Der Direktor stand, eine Petroleumlampe haltend, vor ihm. Die Jungen hatten sich oft gefragt, weswegen er es bevorzugte, diese veraltete Lampe mit dem nach oben hin dünner werdenden Glas mit sich herumzutragen, statt sich eine modernere Gaslaterne anzuschaffen, aber es war stets das gut gehütete Geheimnis des Direktors geblieben. „Hast du noch etwas vor?“, fragte Ben. Kieran blickte zwischen ihm und der Tür hin und her, so als könne er sich nicht entscheiden, was er tun sollte, obwohl es für ihn längst keine Frage mehr gab. „Habe ich tatsächlich.“ Er sagte nicht mehr, immerhin fand er, dass es seine eigene Sache war, er war niemandem eine Rechtfertigung schuldig. Zu seinem Glück fragte Ben auch nicht mehr, dafür seufzte er allerdings schwer. „Bevor ich Leiter dieser Einrichtung wurde, war ich ein Mitglied der Armee von Király.“ Kieran wusste nicht, warum er ihm das plötzlich erzählte, unterbrach ihn allerdings nicht, sondern lauschte stattdessen weiter. „Damals habe ich gelernt, dass es gut ist, auf mein Bauchgefühl zu hören – und in diesem Moment sagt es mir, dass ich dich das letzte Mal sehe, falls du durch diese Tür gehen solltest.“ Der Schauer, der Kierans Rücken hinunterlief, wurde von den Worten seines Vaters begleitet. „Außerdem musst du sichergehen, dass du nie... nie stirbst.“ Aber auch wenn er hiermit nun seinen Vater enttäuschen würde, er konnte nicht einfach aufgeben. Richards Leben war nun wichtiger und er wusste, dass Cathan es genauso sehen würde. „Ich werde sicherstellen, dass ich zurückkomme“, erwiderte Kieran. Ben nickte verstehend, seine Mimik verriet, dass er mit einer solchen Antwort bereits gerechnet hatte und trat nun selbst an die Tür, die in den gesperrten Bereich führte. „Bevor du gehst, solltest du vielleicht etwas mitnehmen.“ Er bedeutete Kieran ihm zu folgen und brachte ihn in den angrenzenden Raum. In all den Jahren hatten die Jungen sich stets alle möglichen Wunderdinge hinter dieser Tür vorgestellt. Ein luxuriöses Bad, ein riesiger Kühlraum voller Köstlichkeiten oder auch ein improvisierter Weinkeller – aber sicherlich hätte niemand erwartet, dass es sich bei dem gesperrten Bereich um eine Waffenkammer handelte. Mit großen Augen betrachtete er die ausgestellten Schwerter, die hinter Glas verschlossenen Speere oder die an der Wand befestigten Bögen. Keine dieser Waffen ähnelte jenen, mit denen sein Vater gekämpft hatte, aber dennoch fühlte er sich unwillkürlich wieder in jene Zeit der Schlachten zurückversetzt. „Was sind das alles für Waffen?“, fragte er. Ben legte den Kopf in den Nacken als würde er sich an etwas zurückerinnern, das vor langer Zeit geschehen war. „Das sind Relikte jener Kämpfer, die hier in Cherrygrove während des Krieges ihr Leben ließen. Ich bewahre sie hier für deren Kinder auf und übergebe sie diesen, sobald sie volljährig sind.“ Es waren derart viele Waffen, dass es Kierans Herz schwer werden ließ, als er sich vorstellte, dass jede einzelne nicht nur für einen gefallenen Krieger, sondern auch für trauernde Hinterbliebene stand. Ohne zu wissen, was sein Vater durchgemacht hatte, um zu seiner Überzeugung zu gelangen, fühlte Kieran sich ihm plötzlich noch naher als zuvor. Während seine Gedanken bei seinem Vater waren, ließ er den Blick wandern und entdeckte dabei etwas, das ihm äußerst vertraut war. „Diese Armbrust...!“ Ben folgte seinem Blick, dann nickte er. „Das ist die Waffe, die du bei dir hattest, als du das erste Mal zu uns gekommen bist. Du sagtest mir damals, sie würde deinem Vater gehören, der gestorben ist, als er dich beschützt hat.“ Kierans Körper zitterte, als er von Erinnerungen und Emotionen überfallen wurde. „I-ich dachte, sie wäre in meinem Schrank...“ Das Sprechen fiel ihm schwer, der entstandene Kloß in seinem Hals machte es ihm nicht gerade einfach. „Dort war sie auch“, antwortete Ben. „Aber ich dachte mir, es wäre sicherer für alle, wenn ich sie ebenfalls hier unterbringen würde. Es tut mir Leid, dass ich dir nichts davon gesagt habe.“ Kieran wollte ihm versichern, dass es schon gut wäre, aber statt den entsprechenden Worten kam nur ein trockenes Schluchzen hervor. Hastig ging er sich mit dem Arm über die Augen, obwohl diese gar nicht nass waren, dann nahm er die Armbrust von Ben entgegen und betrachtete sie verwirrt. Nicht nur, weil sie ihm früher, als er klein gewesen war, noch schwerer vorgekommen war, sondern auch weil er etwas nicht verstand: „Warum geben Sie mir die? Ich bin doch noch gar nicht volljährig.“ Ben lächelte ein wenig traurig. „Ich sagte es dir bereits: Mein Gefühl flüstert mir zu, dass ich dich nicht mehr sehen werde, wenn du gehst. Aber es sagt mir auch, dass du eine sehr wichtige Entscheidung getroffen hast und viel Verantwortung auf dich lädst und das ist der Inbegriff des Erwachsenwerdens.“ Noch auf dem Weg zum Leichenschauhaus, den er mit der Armbrust auf seinem Rücken antrat, gingen Kieran diese Worte nicht mehr aus dem Kopf. Er sah sich nicht selbst als Erwachsenen, deswegen konnte er nicht nachvollziehen, warum jemand das anders betrachten sollte. Aber wenn der Direktor es sagte, stimmte es höchstwahrscheinlich. Ich hoffe nur, er irrt sich mit meinem Tod. Das Leichenschauhaus stand ein wenig außerhalb von Cherrygrove und war neben dem Stadtarchiv das zweite Gebäude, das vollkommen aus Stein gebaut war. In diesem Fall lag es allerdings daran, dass man das ganze Jahr über eine angenehme Kühle garantieren wollte, um die Verwesung der Verstorbenen, die auf ihre Beerdigung warteten, nicht unnötig schnell voranzutreiben. Bislang war es Kieran nicht möglich gewesen, aber nun konnte er das sehen, was dieses Gebäude umgab und er musste seine Meinung revidieren: Die Emotionen der Toten waren nicht zu einem Netz gesponnen, sondern bildeten ein Schild aus zahlreichen Waben, was ihn für einen Moment fasziniert stehenließ, um es zu betrachten. Es war derart eindrucksvoll für ihn, dass er sogar vergaß, wie groß der Einfluss hinter diesem Schild wurde und er ohne nachzudenken hindurchging. Mit schnellen Schritten lief er die letzten Meter bis zum Leichenschauhaus, ignorierte dabei die furchtbar deprimierenden Gedanken und die kaum hörbaren Stimmen, die ihn fragten, was geschehen sei. Es waren keine Geister, die ihren Tod betrauerten oder diesen noch nicht realisiert hatten, aber was es war, wusste er ebenfalls nicht. Im Moment kümmerte es ihn aber auch nicht weiter, als er mit seiner Faust gegen die Tür schlug. Zu seinem Glück dauerte es nicht lange, bis jemand öffnete – und wie üblich begrüßte der Totenwärter ihn mit einem freundlichen Lächeln. „Herzlich Willkommen, Lebender“, flötete der Mann und warf dabei das dunkelbraune Haar zurück, das zwar bereits zu einem Pferdeschwanz gebunden war, aber immer noch lange Strähnen in sein Gesicht fallen ließ. Die fliederfarbenen Augen hinter der Brille musterten Kieran nur einen kurzen Moment. „Äh, ja...“ Er räusperte sich. „Ich wollte mir die Leiche von Blythe ansehen, das ist-“ „Das Mädchen, das vor kurzem getötet wurde“, unterbrach der Totenwärter ihn und winkte ihn bereits mit sich hinein. Es wunderte Kieran nicht im Mindesten, dass er wusste, wer Blythe war – auch wenn niemand zu wissen schien, wie dieser Totenwärter eigentlich hieß oder wo er wohnte, er war einfach da – aber es überraschte ihn, dass er einfach hereingelassen und direkt zu einer nur wenige Schritte von der Tür entfernte Bahre geführt wurde auf der eine von einem weißen Tuch verdeckte Gestalt lag, die nur auf ihn gewartet zu haben schien. Aber im Moment konnte er sich nicht um so etwas kümmern. Die Suche nach Aria hatte derart viel Zeit gekostet, dass er nun nicht über derartige Details nachdenken konnte. „Also, was möchtest du sehen?“, fragte der Totenwärter in einem Ton, der verriet, dass er es ohnehin bereits wusste und es rein rhetorisch zu verstehen war. „Du solltest dir die Leiche von Blythe einmal ansehen“, hörte er Arias Stimme in seinem Kopf. „Genauer gesagt, ihren linken Arm.“ Kieran trat an diesen Arm und schlug das Tuch zurück, wobei er streng darauf achtete, nicht zu viel zu entblößen. Er hatte befürchtet, dass er nicht wüsste, worauf er achten sollte, aber es war derart deutlich, dass es ihm sofort ins Auge sprang. Seine Hand fuhr an den Narben entlang, die den Namen Richard bildeten. Aber auch ohne es zu spüren, war ersichtlich, dass die Wundheilung bereits eingesetzt hatte, was bedeutete- „Diese Verletzung wurde ihr bereits lange vor ihrem Tod zugefügt.“ Der Totenwärter nickte vergnügt. „Das stimmt, das stimmt.“ „Sie war es selbst...“, murmelte Kieran weiter. „Sie war derart verrückt nach ihm, dass sie sich etwas an diesem Baum wünschte und das geriet dann außer Kontrolle...“ Das breite Lächeln des Totenwärters war ihm ein wenig unheimlich, aber seine Gedanken waren zu sehr damit beschäftigt, nach jeglichen früheren Anzeichen für diesen Ausgang der Situation zu suchen, um darüber nachzudenken. Allerdings ließ er sich nicht genug Zeit, um die Erinnerungen vollständig durchzugehen, er musste so schnell wie möglich weiter. „Ich muss los“, rief er aus, dann fuhr er bereits herum und rannte hastig hinaus, ohne sich zu verabschieden. Der Totenwärter blickte ihm sichtlich zufrieden hinterher und neigte sogar ein wenig den Kopf. „Viel Erfolg, Kieran Lane. Obwohl ich eigentlich schon weiß, dass du diesen Zuspruch sicher nicht brauchen wirst.“ Er lachte ein wenig amüsiert und begann dann damit, die Leiche von Blythe wieder an den für sie bestimmten Platz zurückzubringen. Kapitel 13: Lazarus' Erwachen ----------------------------- Auch wenn sie es gewohnt war, ganze Tage im Archiv zu verbringen, weil sie gern ihre Eltern bei deren Arbeit unterstützte, deprimierte es sie, dass sie bis in die Nacht hinein keinen einzigen Hinweis gefunden hatten, der ihnen weiterhelfen könnte. Mit jeder vergangenen Stunde war Bellindas Hoffnung gesunken und nun, mitten in der Nacht, hatte sie ihren Nullpunkt erreicht. Mit der Entschuldigung, dass sie nur ein wenig frische Luft schnappen wollte, war sie schließlich nach draußen gegangen und saß nun vor dem Gebäude, an dessen Wand gelehnt, die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen und den Kopf auf die Knie gelegt. Sie glaubte nicht mehr daran, Richard retten zu können und so blieb ihr nur noch zu hoffen, dass es Kieran gelingen würde – aber selbst daran zweifelte sie im Moment. Ein solcher Augenblick verriet ihr, warum sie ihren Optimismus liebte und weswegen auch die anderen, davon war sie überzeugt, so von ihr angetan waren. Ohne diesen fehlte ihr somit das, was andere an ihr mochten und deswegen war es besser, wenn sie derartige Phasen nicht bei den anderen auslebte. Doch gerade als sie leise schluchzen und zu weinen beginnen wollte, um den aufgestauten Stress abzubauen, hörte sie, wie jemand neben sie trat. Hastig hob sie den Blick und erkannte zu ihrem eigenen Erstaunen Joshua – obwohl sie eher mit Faren gerechnet hätte. „Darf ich mich setzen?“ Sie nickte, nahm sich die Brille ab und ging sich über die Augen, während er neben ihr Platz nahm. Als sie die Brille wieder aufsetzte, versuchte sie zu lächeln. „Ich muss gerade einen reichlich erbärmlichen Eindruck machen, was?“ „Wovon sprichst du?“ Er wirkte ernsthaft verwirrt und nicht so als würde er lediglich aus reiner Höflichkeit diese Gegenfrage stellten. „Na ja, dass ich hier draußen herumsitze und sämtliche Hoffnung für Richard verloren habe... das passt einfach nicht zu mir.“ Joshua legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Sternenhimmel. „Jeder hat einen solchen Augenblick in seinem Leben. Dass er etwas tut, das nicht zu ihm passt, meine ich. Das ist nichts Schlimmes oder Verwerfliches. Ich denke sogar, es ist manchmal besser, diesen Augenblick früher als später zu erleben.“ „Hattest du so einen ebenfalls schon einmal?“ Faren hätte sie so etwas nie gefragt, aber er war ohnehin nicht sonderlich an ernsten Gesprächen interessiert, ihm ging es mehr darum, nur die guten und amüsanten Seiten des Lebens mitzunehmen oder sich zumindest lediglich an diese zu erinnern. Sie kannte ihn bereits seit ihrer Geburt und in all dieser Zeit war er noch nie schlecht gestimmt gewesen. Er hatte sicherlich noch nie einen solchen Augenblick durchgemacht. Joshua nickte jedoch. „Ich bin in einem Kriegsgebiet aufgewachsen, bis meine Familie in einen Schiffbruch geriet und ich in Király landete. Ich habe also in meinem Leben schon viele Dinge getan, die moralisch nicht unbedingt einwandfrei waren.“ Das zu hören, erschrak sie ein wenig, denn es offenbarte ihr eine Seite, die sie bislang nicht an ihm kennengelernt hatte und es ließ sie fürchten, dass es noch mehr Dinge in seinem Leben gab von denen sie nichts wusste, die ihr aber nicht gefallen würden. „Aber du hast es nicht gern getan, oder?“ Sie ahnte nicht im Mindesten, dass er auch im Moment mit sich selbst rang, ob er seine Erziehung oder seine Freunde verraten sollte, sonst hätte sie mit Sicherheit nicht gefragt. Er wägte seine Antwort ab, ehe er antwortete: „Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich habe nie viel darüber nachgedacht, sondern nur das getan, was mir das eigene Überleben sichern sollte. Ich bin das erste Mal in einer Situation, in der es nicht mich betrifft, sondern einen Freund – aber ich hatte früher auch nie viele Freunde.“ Er lächelte ein wenig, als er sie ansah. „Du solltest froh sein, dass dein Augenblick darin besteht, dass du verzweifelst, weil du jemandem nicht helfen kannst, statt darin, dass du überlegst, ob du sterben oder jemand anderen ins Verderben schicken willst.“ Sie wusste, dass er es nur gut meinte, aber seine Worte schmerzten sie dennoch. Nicht weil sich ihre Meinung über ihn verschlechterte, sondern weil sie es furchtbar fand, dass er so etwas hatte durchmachen müssen. Sie wollte nicht weiter darüber sprechen, nicht darüber nachdenken, deswegen wechselte sie schnell wieder das Thema zu etwas anderem: „Glaubst du, wir werden etwas finden, was Richard hilft?“ „Glaubst du wirklich, dass er unschuldig ist?“, kam prompt die Gegenfrage von ihm. „Ich weiß, dass er unschuldig ist! Ich habe dieses Wesen gesehen, das Kierans Aussehen angenommen hat und-“ Doch sie schaffte es nicht, ihren Satz zu beenden, denn Joshua unterbrach sie mit ungewohnt versteinerter Miene: „Woher willst du wissen, dass es nicht eine Illusion von Kieran war? Was macht dich so sicher, dass er nicht hinter alldem steckt? Wo ist er denn gerade, statt uns hier zu helfen?“ Sie presste die Lippen aufeinander und senkte den Blick wieder. Natürlich glaubte sie nicht daran, dass Kieran etwas damit zu tun hatte und seine Abwesenheit genau das bewies, aber allein die Tatsache, dass Joshua das vorbrachte – auch wenn sie nicht glaubte, dass er es ernst meinte –, ließ ihr jedes Wort im Hals steckenbleiben. Während sie versuchte, ihre Gedanken für einen Widerspruch zu ordnen, bemerkte sie etwas golden Glühendes außerhalb ihres Blickfelds. Erneut hob sie den Kopf und sprang im nächsten Moment auf. „Ein Glühwürmchen!“ Es kam ihr fast wie ein Wunder vor, dass es genau dann auftauchte, wenn sie es am meisten gebrauchen konnte, aber Joshua verstand offenbar nicht im Mindesten, warum sie so aufgeregt war: „Was ist denn los?“ Sie deutete auf das Glühwürmchen, das scheinbar nicht die Absicht hatte, wegzufliegen und sich sogar auffällig nah bei ihnen aufhielt. „Wenn du so etwas einfängst und dir dann etwas wünschst, wird es wahr!“ Er neigte den Kopf, offenbar fiel es ihm schwer, das zu verstehen, was wohl nicht zuletzt daran lag, dass man diesen Glauben nur in Király hegte, ähnlich wie den an die Naturgeister, sondern auch weil er ohnehin nicht sonderlich viel von derartigen Mythen hielt. Im Moment war ihr allerdings nicht danach, ihn darüber aufzuklären, wieso man bei ihnen an solche Dinge glaubte, stattdessen streckte sie die Hand aus – und stellte erfreut fest, dass sich das Glühwürmchen direkt zu ihr begab als wäre es wirklich nur wegen ihr aufgetaucht. Vorsichtig schloss sie die Hand darum und bildete eine hohle Faust, die sie an ihre Lippen führte, um dem Insekt, dessen Leuchten durch ihre Finger schien, ihren Wunsch zuzuflüstern. Erst danach öffnete sie ihre Hand wieder und dann flog das Glühwürmchen auch rasch in Richtung Himmel davon, wo ihr Wunsch, wie sie hoffte, Gehör finden würde. Joshua blickte ihm ebenfalls, wenngleich eher skeptisch, hinterher. „Wird es etwas bringen?“ Sie ließ sich nicht im Mindesten verunsichern, sondern lächelte zuversichtlich. „Ganz bestimmt wird es das.“ Während Bellinda neuen Mut fasste, eilte Kieran mit großen Schritten in Richtung des Baumes. Was genau er dort tun sollte, war ihm noch unklar, aber es erschien ihm nur logisch, dass lediglich der Dämon, bei dem Blythe ihren Wunsch geäußert hatte, ihm helfen könnte, Richards Unschuld zu beweisen. Ob dieser es allerdings tun würde, war eine andere Frage, auf die er erst eine Antwort erhalten würde, sobald er ihm gegenüberstand. Dieses Mal beachtete er die Barriere, die den Baum umgab, nicht weiter und übersprang den Zaun. Einen kurzen Augenblick lang blieb ihm die Luft weg, seine Atmung erschwerte sich derart, dass er glaubte, etwas würde ihm die Kehle zuschnüren und nur langsam wieder locker genug lassen, damit er nicht einfach ersticken könnte. Es ließ ihn innehalten, bis seine Lungen sich wieder, wenn auch nur widerwillig, mit genug Sauerstoff gefüllt hatten, dass er seinen Weg fortsetzen konnte. Vor dem Baum saß eine Gestalt, die er zuerst nur undeutlich ausmachen konnte, weil sie sich kaum von diesem unterschied. Sie war bleich, fast kalkweiß, genau wie das Gewand, das sie trug und die falschen Blüten hinter ihr, selbst ihr langes Haar ließ jegliche Farben vermissen. Nur ihre Augen waren blau, so wie die Kirschen dieses Baumes und sie trug eine mit blauen Rosen verflochtene Dornenkrone auf dem Haupt. In ihren Händen hielt sie einen weißen, furchteinflößenden Schädel, über den sie immer wieder strich. Die weit aufgerissenen Augen starrten ihn ohne jede Emotion an, als würden sie einer Toten gehören, die noch nicht begriffen hatte, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte und diesen Fakt zu verneinen versuchte. Sie sagte nichts, was ihn trotz seiner Vergangenheit schaudern ließ. „Bist du Maeve?“, fragte er atemlos, noch immer fiel es ihm schwer, die eingeatmete Luft vernünftig ihrem Zweck zukommen zu lassen. Aber die Erwähnung ihres Namens, brach zumindest ihr Schweigen. „Ich frage mich, wer dir das verraten hat. Mit Sicherheit war es Aria, nicht wahr? Sie ist viel zu gesprächig.“ Er ging nicht darauf ein, immerhin hatte er kein Interesse daran, ausgiebige Gespräche mit einer Dämonin – zumindest hielt er sie für eine solche – zu führen. „Vor kurzem war ein Mädchen namens Blythe bei dir“, sagte er stattdessen. „Ich muss wissen, was sie sich gewünscht hat, es ist wichtig!“ „Aria hat dir sicher auch gesagt, dass ich mit Leuten wie dir nicht spreche.“ Sie rümpfte die Nase, als sie das sagte, so als hätte sie gerade einen widerlichen Geruch wahrgenommen. „Du fühlst dich zwar noch nicht an wie so jemand, aber dein Blut stinkt danach.“ Er wusste nicht, wovon sie sprach... jedenfalls nicht wirklich. „Wonach?“ Sein Vater war ein Dämonenjäger gewesen, aber einen Beruf konnte man wohl kaum über das Blut an seine Kinder weitervererben und er selbst... war ein Mensch. Also was störte sie so sehr an ihm? Doch statt zu antworten, senkte sie den Blick. „Ich rate dir im Guten, zu verschwinden. Ich füge Personen, die ich nicht kenne, nur ungern Schmerzen zu.“ So leicht wollte er sich allerdings nicht abspeisen lassen, immerhin ging es um Richards Leben. „Ich werde nicht gehen! Ich brauche einfach nur deine Aussage, um Richard zu retten!“ Aus einem ihm unerfindlichen Grund, brachte die Erwähnung dieses Namens sie wieder dazu, ruckartig den Kopf zu heben. Ihre zuvor so emotionslosen Augen waren nun mit wütenden Funken durchzogen, die ihm deutlich verrieten, dass sie nicht gut auf seinen besten Freund zu sprechen war. „Du gehst mir auf die Nerven!“, fauchte sie allerdings statt einer Erklärung. „Und ich hasse Leute, die mir auf die Nerven gehen! Ich rate dir ein letztes Mal, zu verschwinden!“ Auch wenn seine Vernunft ihm riet, fortzugehen und das eigene Leben zu retten, blieb er nach wie vor stehen und schüttelte mit dem Kopf. „Ich werde erst gehen, wenn du mir gesagt hast, was Blythe sich gewünscht hat.“ Die Luft um ihn herum schien zu explodieren, als Maeves Zorn stärker als zuvor aufflammte, noch einmal schaffte er es kaum zu atmen und glaubte bereits, ersticken zu müssen, doch bevor das geschah, schlich sich plötzlich ein Grinsen auf das zuvor so unbeteiligte Gesicht der Dämonin. „Wenn du nicht hören willst, musst du eben fühlen! Verschwinde!“ Kaum sichtbare Klingen, die durch die Luft schnitten, jagten auf ihn zu – und drangen im nächsten Moment in seinen Körper ein, zerfetzten ihn innerlich, ohne irgendeine äußere Verletzung zu hinterlassen, ließen ihn Blut spucken, ohne dass er die Schmerzen wirklich realisieren konnte und ihn dann zu Boden stürzen. Noch bevor sein Körper aufkam, war die Persönlichkeit namens Kieran bereits erloschen. Ihr Grinsen erstarb und die Emotionslosigkeit kehrte auf Maeves Gesicht zurück. Jemand würde kommen, um die Leiche zu holen, das bedeutete, nur noch mehr Aufregung für sie in ihrem bereits bekannten Leben. Mit einem tiefen Seufzen fuhr sie herum, damit sie sich vorerst in ihr Versteck würde zurückziehen können, ohne ständig diese Leiche sehen oder sich der neugierigen Masse aussetzen zu müssen. Doch plötzlich konnte sie hinter sich das Klirren von Ketten hören, was sie innehalten ließ. Sie wollte sich umdrehen, damit sie überprüfen könnte, was es mit diesem Geräusch auf sich hatte, doch bevor ihr das möglich war, hörte sie noch etwas – und im nächsten Moment schlug etwas in den weißen Stamm ihres Baumes ein. Sie ignorierte den Schmerz, der daraufhin in ihrer Brust stach und betrachtete den im Holz steckenden Bolzen an dem die Kette befestigt war, die sie zuvor gehört hatte. Mit den Augen folgten sie den Eisengliedern, die direkt zu der Leiche ihres nervenden Gastes führten – nur dass dort kein lebloser Körper mehr zu sehen war. Die schwebende Kette schlang sich um den aufrecht stehenden jungen Mann und endete in seinem rechten Handgelenk mit dem er die Armbrust einhändig hielt. Nichts an ihm deutete darauf hin, dass er gerade eben noch tot gewesen war, aber er war auch nicht mehr derselbe wie zuvor. Sie konnte es deutlich wahrnehmen, es war nun nicht mehr nur der Geruch seines Blutes, auch seine gesamte Ausstrahlung war schlagartig derart machtvoll geworden, dass ihr geübtes Auge nun einen blauen Schimmer auf seinem Körper wahrnehmen konnte. „Ich hatte recht!“, fauchte sie wütend. „Du bist einer von denen! Du bist ein Lazarus!“ Kapitel 14: Die Tragödie der Lazari ----------------------------------- Kieran musste nicht nachhaken. Dunkel, ganz verschwommen, erinnerte er sich daran, dass seine Eltern einmal darüber gesprochen hatten, als sie im festen Glauben gewesen waren, dass er eingeschlafen sei. „Wir sind Menschen, die ein außergewöhnliches Geschenk bekommen haben“, hörte er Cathans Stimme in seinen Gedanken. „Und als Ausgleich helfen wir denen, die nicht die Macht haben, sich gegen diese Wesen zu verteidigen. Man könnte uns als Dämonenjäger bezeichnen. Aber die Menschen fürchten uns, deswegen darf niemand wissen, dass ich ein Lazarus bin.“ Lang verschüttet geglaubte Erinnerungen kehrten nach und nach an die Oberfläche seines Bewusstseins zurück und verdeutlichten ihm, wie wichtig seine Aufgabe war, worin sie bestand und erfüllten ihn gleichzeitig mit dem Wissen darum, was seine neu erworbenen Fähigkeiten waren und wie man sie einsetzte. Maeve knirschte hörbar mit den Zähnen, als er nichts sagte und ihr weiterhin nur ernst entgegenblickte – doch schlagartig begann sie zu lächeln. Es war kein nettes, einladendes Lächeln, dem man sogar in einen verzauberten Wald folgen würde, es war finster, arglistig, wie man es sich bei einem intelligenten Raubtier vorstellte, das gerade seine Beute in eine Falle lockte und in Gedanken bereits bei der leckeren Mahlzeit war, die folgen würde. „Aber vielleicht sollte ich sagen, du bist einer von uns“, sagte sie unheilvoll und strich dabei deutlich betont über den Schädel in ihren Händen. „Was meinst du damit?“, fragte er tonlos. Etwas in seinem Inneren verlangte, dass er ihr nicht zuhören und sie einfach töten sollte, solange sie noch einfach so dastand und nichts tat. Aber etwas wesentlich Stärkeres, die Sorge um Richard, hielt ihn davon ab, immerhin brauchte er noch ihre Antwort auf die Frage nach Blythes Wunsch und ihre darauf folgende Handlung – und nun war er auch noch neugierig, warum sie ihn als einen der ihren bezeichnete. Er spürte keinerlei Lazarus-Energie von ihr ausgehen, der dunkelblaue, fast schwarze, Schimmer, der sie und den Kirschbaum hinter ihr umgab, war bedrohlich und furchteinflößend, statt rein und voller Hoffnung wie jener farblose Schimmer von dem sein Vater umgeben gewesen war. „Oh, du weißt es also gar nicht.“ Sie wirkte nicht im Mindesten über diese Offenbarung überrascht. „Das wundert mich nicht. Jene Lazari, die davon wissen, verschweigen es eher oder bekommen keine Gelegenheit mehr, es jemandem zu erzählen. Ich wusste es auch nicht.“ „Ich habe keine Lust auf deine Spielchen“, erwiderte er. „Sag du es mir oder lass es.“ Das Lächeln erlosch, ihr Blick wurde wieder hart und undurchdringlich. „Zuerst ziehst du diesen verdammten Bolzen aus meinem Baum! Hast du nur den Hauch einer Ahnung, wie schmerzhaft das ist!?“ Statt sich auf eine Diskussion einzulassen, beschloss er, dieser Aufforderung nachzukommen, um seinen guten Willen zu demonstrieren. Nach einem kurzen Ruck seines Handgelenks flog der Bolzen aus dem Stamm, die Kette zog sich automatisch in seinen Körper zurück und beförderte das Geschoss wieder zur Armbrust. Weiße Funken erschienen um die Wunde im Baumstamm und innerhalb weniger Sekunden war sie verschlossen. Maeve begutachtete die Stelle ein wenig genauer, dann nickte sie zufrieden und wandte sich erneut Kieran zu. „Dann werde ich dir jetzt von der Tragödie der Lazari erzählen.“ Er erwartete, dass sie weitersprechen würde, doch stattdessen bildeten sich plötzlich Risse in der Luft, so als wäre die gesamte Umgebung nur eine Projektion auf einer Glaskuppel, die im nächsten Moment klirrend zerbrach. Jenseits davon erstreckte sich endlos blaue Farbe, die in Wasser zu wabern schien und daher derart unruhig war, dass er nicht lange hinsehen konnte. Aber das musste er auch nicht, denn die herabfallenden Splitter begannen zu leuchten und formten schon bald die Bühne für ein Schattenspiel. Die dunklen Silhouetten eines Mannes und einer Frau erschienen und gleichzeitig erklang Maeves leicht distanzierte Stimme: „Vor langer Zeit war ich wie du noch vor kurzem: Ich war ein ganz normaler Mensch, der auch eben so leben wollte.“ Die Figur des Mannes bewegte sich, was Kieran sofort eines verriet: Maeve war zu ihren Zeiten als Mensch ein Mann gewesen, was ihn reichlich verwunderte – aber noch mehr überraschte ihn, dass sie einst ein Lazarus gewesen sein wollte, weswegen er ihr weiterhin lauschte. „Ich war glücklich mit einer jungen Frau zusammen, die ich über alles liebte.“ Die weibliche Figur wurde ebenfalls bewegt, so dass es aussah als würden sie gemeinsam durch etwas laufen, das durch die schwarzen Bäume im Hintergrund wie ein Wald aussah. „Als wir eines Tages unterwegs waren, wurden wir hinterrücks von einem Dämon überfallen.“ Aus dem Nichts erschien die brüllende Silhouette eines Wesens, dessen Körper aus Flammen zu bestehen schien, wenn er die Zacken rund herum richtig interpretierte. „Natürlich stellte ich mich schützend vor meine Liebe – und wurde getötet.“ Das Monster schoss auf den Mann zu, der darauf zu Boden fiel. „Aber dann geschah genau dasselbe wie bei dir gerade eben.“ Bevor der Dämon weiter handeln konnte, leuchtete die gefallene Figur in einem blauen Licht auf und im nächsten Moment stand er wieder, umgeben von einem hellen Schimmer. „Ich erwachte als Lazarus und bekam die Macht, das Monster zu bekämpfen.“ Das Wesen stieß einen feurigen Atem aus, doch die Figur des Mannes wich diesem gekonnt aus und mit einem funkelnden Lichteffekt griff er selbst an – und nach wenigen weiteren Lichtblitzen, die weitere Schlagabtäusche der beiden Silhouetten darstellen sollten, wurde das Monster von Flammen verzehrt und die Silhouette verschwand. „Natürlich war ich siegreich“, erklärte Maeve mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. „Aber dann geschah etwas, womit ich nicht hatte rechnen können. Gerade als ich mich meiner Liebe zuwandte...“ Die männliche Figur wandte sich der Frau zu, die wich jedoch zurück, ein erschrockener, schriller Schrei erklang. Selbst ohne jede Mimik oder weitere Gestik war klar erkennbar, dass sie Angst vor ihm hatte. „Ich hatte nicht wissen können, dass die Menschen Lazari fürchteten, denn bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht einmal ihre Existenz bekannt gewesen. Aber die Person, die ich liebte, nannte mich Monster und wollte vor mir wegrennen.“ Schlagartig wandelte sich das bislang beruhigende blaue Licht in ein beängstigendes Rot und gleichzeitig wurde Maeves Stimme geradezu gehässig: „Da habe ich die Schlampe umgebracht!“ Kieran glaubte, sein Herz würde für einen Moment aussetzen, als die Frau erneut ein Kreischen ausstieß und schon einen Wimpernschlag später ihren Kopf verlor. Er wollte fragen, warum Maeve das getan hatte, wenn sie diese Frau doch kurz zuvor noch als ihre große Liebe betitelt hatte, doch kein Laut kam aus seiner Kehle. Während er darüber nachzudenken versuchte, wie das sein konnte, wurde ihm bewusst, dass er kaum in der Lage war zu atmen. Einen kurzen Moment lang bekam er Panik, dass er ersticken könnte, aber da ihm wieder in den Sinn kam, dass er bislang auch überlebt hatte, beruhigte er sich rasch wieder. „Im selben Augenblick in dem sie starb, wurde meine Verzweiflung derart groß, dass mein Dasein als Lazarus und als Mann endete – und ich zur Dämonin Maeve wurde.“ Die Figur des Mannes bekam plötzlich mehr Leben, sie hob die Arme, krümmte sich, ging in die Knie – und schon eine Sekunde später war sie plötzlich keine einfache Silhouette mehr, kein Mann, sie war zu Maeve geworden, die direkt vor Kieran stand, den Schädel, der eindeutig zu der getöteten Frau gehören musste, immer noch in den Händen. Aber warum ist das so?, fuhr es ihm durch den Kopf. Was ist geschehen? „Lazari kämpfen gegen Dämonen, das ist allgemein bekannt, so mancher sieht sich selbst als strahlender Held, der die Menschheit vor dem Untergang bewahrt.“ Schlagartig musste Kieran wieder an seinen Vater denken, aber dieser war, seiner Ansicht nach, auch ein Held gewesen, bis zu seinem Tod, der nur eingetreten war, weil er ihn beschützt hatte – wie ein Held eben. „Was viele aber nicht wissen: Auch das Töten von Dämonen ist mit Schuld verbunden, die Lazari mit jedem ihrer Opfer auf sich laden. Sie selbst merken davon nichts, denn es ist ihre Anima oder ihr Animus, der unter dieser Schuld zu leiden hat.“ Zuerst wusste er nicht, was sie meinte, aber dieses selbstverständliche Wissen in seinem Inneren erklärte ihm, dass es sich dabei um das weibliche Ich im Inneren eines Mannes oder das männliche Ich in Frauen handelte, eine psychologische Sache, wie er schnell feststellte, weswegen er dem keinen weiteren Gedanken widmete, ehe er sich nur unnötig selbst verwirrte. „Wird die Schuld zu groß und fehlt der entsprechende Ausgleich, fällt das andere Ich dem Wahnsinn anheim, übernimmt den Körper des Lazarus – und wandelt ihn zu einem Dämon.“ Die Worte hallten dumpf in Kierans Inneren wider. Die Lazari bekämpften Dämonen und wurden im Gegenzug selbst zu einem solchen, der wieder von anderen Jägern getötet wurde, bis diese sich in einen solchen verwandelten – es war eine ewige, blutige Spirale des Todes, die kein Ende kannte und sie selbst wussten nicht einmal etwas davon, bis es zu spät war. Der Gedanke deprimierte und frustrierte ihn gleichermaßen, noch bevor er seinen ersten Dämon auch nur ernsthaft verwundet hatte. Würde er eines Tages ebenfalls so enden? Würde er zu dem werden, was er verabscheute und andere Jäger ins Verderben treiben? Gerade als er eine derartige Furcht entwickelte, begann der Boden unter seinen Füßen wegzubrechen und nur den Bruchteil einer Sekunde später befand er sich bereits im freien Fall kopfüber in Richtung Unendlichkeit. „Du hast es erkannt“, sagte Maeve anerkennend. „Lazari bringen mehr Leid über die Menschen als sie bekämpfen und deswegen ist ihr Dasein eine einzige Paradoxie. Es wäre besser, sie würden allesamt ausgelöscht werden, bevor sie zu Dämonen werden, nur so kann die Menschheit wirklich geschützt werden. Du stimmst mir doch zu, oder?“ Im allerersten Moment wollte er das tatsächlich, aber etwas in seinem Inneren widersprach ihm sofort. Es brauchte keine Armee an Lazari, die sich von Wahnsinn überfallen ließ. Wenn er an seinen Vater dachte, wusste er, dass die Welt nur einen einzigen Lazarus benötigte, dessen Gerechtigkeitssinn, Leidenschaft und Bescheidenheit ein Schild erschufen, das seine Anima schützte und nicht zuließ, dass sie wahnsinnig und verzweifelt und vom Helden zum Bösewicht wurde. Es brauchte nur einen, um die Welt zu ändern! Im selben Augenblick, in dem ihm das bewusst wurde, schaffte er es auch wieder, sich zu bewegen und sich im Fall zu drehen. Die Armbrust, die er noch immer in seiner Hand hielt, reagierte auf seine Entschlossenheit und wandelte ihre Form, was für ihn absolut normal erschien, weswegen er sich keine weiteren Gedanken darum machte, als er plötzlich einen hölzernen Griff mit einer ausgeklappten Klinge hielt. Mit einem entschiedenen Hieb zerteilte er das blau wabernde Etwas, das seine Umgebung darstellte. Sein Fall endete abrupt, er fand sich selbst vor dem Kirschbaum wieder, so als wäre er nie fortgewesen. Selbst Maeve war immer noch da und sah ihn missbilligend an. „Du bist also wieder da. Willst du die Menschen weiter leiden lassen? Da habe ich dir bereits die Gelegenheit gegeben, dich einfach aus der Affäre zu ziehen, ohne dass du sterben oder zu einem Dämon werden musst und du wirfst mein freundliches Angebot einfach fort.“ „Ich benötige es nicht“, erwiderte er gefasst. „Mich wird niemals der Wahnsinn besiegen, denn ich weiß es, mein Vater hat es mir oft genug gesagt, eine Person kann die Welt verändern, wenn sie genug Entschlossenheit aufbringt. Und meine Entschlossenheit kennt keine Grenzen.“ Nicht vorrangig für all die Menschen, die er nicht einmal kannte, sondern für Richard, Bellinda, Faren, Joshua, Ben, sogar für Allegra und für jeden anderen Lazarus – und auch für seinen Vater, der diese Welt geliebt hatte, frei von jedem Wahn gewesen und gestorben war, um ihn zu beschützen. Er war nun in der ewigen Pflicht, diese von so vielen Menschen geliebte Welt zu schützen, egal was kommen würde und er war bereit, diese Aufgabe anzugehen, egal wieviel Leid er sich damit selbst aufbürden müsste. Er hob die Klinge in die Luft, zwei Ketten brachen aus seinen Schulterblättern und schlangen sich locker um seinen Körper, so dass sie einen klirrenden Wirbel bildeten, der ihn vor allem, was ihn anzugreifen versuchte, beschützen würde. Erstaunen und auch ein wenig Ehrfurcht waren in Maeves geweiteten Augen zu erkennen, aber das war nicht der Grund für seinen imposanten Auftritt. Er sollte seine Entschlossenheit unterstreichen, seinen neuen Lebensabschnitt beginnen und den alten ehrwürdig verabschieden. „Die Lazari und diese Welt verdienen eine grundlegende Änderung ihrer Prinzipien!“, sagte er mit fester Stimme, die selbst für ihn plötzlich einen überraschend autoritären Klang besaß, der ihm aber wie gerufen kam, um seinem Entschluss mehr Nachdruck zu verleihen. „Und ich werde diese Veränderung sein!“ Kapitel 15: Kirschblüten ------------------------ Maeves Gesichtsausdruck kehrte bald zu der emotionslosen Maske von zuvor zurück, jegliches Erstaunen und auch die Ehrfurcht verschwanden aus ihren Augen. „Was hast du jetzt vor?“ „Ich werde dich jetzt noch einmal fragen, was du mit Blythes Tod zu tun hast“, erwiderte Kieran. „Ich muss es wissen, um Richard aus dem Kerker zu bekommen.“ Die Dämonin lachte humorlos. „Dachtest du wirklich, ich würde dich überleben lassen, um ein solches Wissen zu nutzen? Sei nicht so naiv, du bist ja ein ganz furchtbarer Lazarus – besser ich erlöse dich sofort von deinem Leid!“ Mit diesen Worten hob sie den Schädel, der in einem unheilvollen blauen Licht zu glühen begann. Im selben Moment erhob sich ein Sturm, der die weißen Kirschblüten vom Baum riss und Kieran die Sicht zu nehmen drohte. Doch bevor das geschehen konnte, rannte er los, durch die wirbelnden Blüten hindurch – nur um festzustellen, dass Maeve sich nicht mehr dort befand, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Ein hämisches Lachen ließ ihn herumfahren und gleichzeitig die zu einer Klinge gewordenen Armbrust hochreißen, um einen möglichen Angriff abzuwehren. Es überraschte ihn ein wenig, dass tatsächlich etwas auf das Metall traf, daran abprallte und zu Boden fiel. Allerdings konnte er nicht mit den Augen verfolgen, worum es sich bei diesem Ding gehandelt hatte, da Maeve mit einem weiteren Lachen auf ihn zustürmte. Im nächsten Moment wurde er von ihr gegen den Stamm geschleudert, jegliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, sein Rücken begann derart heftig zu schmerzen, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Maeves Hände, die ihn an dem Baum gepresst hielten, waren überraschend stark, er schaffte es kaum, sich zu rühren, seine Schultern fühlten sich an als könnten sie jeden Moment zerbrechen, wenn sie nur noch ein wenig fester zudrücken würde. Ob sie sich dessen bewusst war oder nicht, sie verzichtete darauf und ließ stattdessen von ihm ab. Doch bevor es ihm wieder möglich war, sich zu bewegen und sich zu entfernen, schlangen sich aus dem Nichts kommende Ranken um seinen Körper, um ihn am Stamm festzuhalten. Er fluchte leise, sah nach unten auf die Ranken, die durchaus zäh zu sein schienen, und hielt dann nach der erneut verschwundenen Maeve Ausschau, während eine seiner Ketten sich daran machte, ihn zu befreien. Die andere dagegen machte sich bereit, Maeve diesmal abzuwehren. Es fiel ihm, zu seinem Bedauern, noch schwer, die Ketten wirklich bewusst einzusetzen und zu koordinieren. Das muss ich dringend üben, wenn ich hier fertig bin. Die Frage, ob er das überhaupt überleben würde, stellte sich ihm nicht einmal, er war davon absolut überzeugt, immerhin hatte er keine andere Wahl. „Gut, ich will mal nicht so sein“, hörte er plötzlich Maeves Stimme, die von überall herzukommen schien. „Du wirst nicht überleben, also werde ich dir erzählen, was dieses Mädchen sich gewünscht hat, damit du wenigstens deinen Frieden auf der anderen Seite haben wirst.“ Er lauschte angestrengt, während er sich weiterhin auf die Tätigkeiten seiner Ketten konzentrierte, die Maeve nicht einmal zu stören schienen. „Es war vor wenigen Wochen, da kam dieses Mädchen vollkommen aufgelöst zu mir. Sie war ja soooo unsterblich verliebt.“ Maeves Stimme triefte geradezu vor Abscheu und Spott, offenbar konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie Blythe hassen oder sich über sie amüsieren sollte. „Sie sagte, sie hätte bereits unter jedem dieser Kirschbäume gebetet und gefleht, aber nichts sei geschehen.“ Kieran versuchte, sich vorzustellen, wie es wohl aussah, wenn Blythe möglicherweise weinend vor diesem Baum kniete und zu flehen begann. Es passte einfach nicht zu jenem Bild, das er von ihr hatte. „Sie wusste um das Risiko, aber ich war ihre allerletzte Hoffnung, um das Herz ihres Geliebten zu gewinnen.“ Die Ranken schienen sich ein wenig enger um Kieran zu spannen, erschwerten ihm das Atmen und den Umgang mit beiden Ketten, nicht zuletzt, weil seine Konzentration beeinträchtigt wurde. „Der Name dieses Mannes war Richard.“ Wieder einmal spie sie den Namen aus als wäre er etwas vollkommen Abscheuliches. „Da ich ihre Schmerzen kannte, wollte ich ihr helfen. Richard ist eine harte Nuss, die übliche Methodik funktionierte nicht, also prüfte ich verschiedene mögliche Szenarien, mit dem Ziel ein solches zu nutzen, um sie zusammenzubringen.“ Mit jedem Wort wuchs der Zorn in ihrer Stimme, also war dies ihr eigentliches Problem an Richard wie es aussah. „Weißt du, dass es Millionen von Möglichkeiten gibt, wie ein einzelnes Leben verlaufen kann? Sie alle hängen oft nur von winzigen kleinen Entscheidungen ab, denen du nicht einmal irgendeine Form von Bedeutung zumessen würdest. Ich habe schon die Möglichkeiten vieler Menschen betrachtet und oft sind sie derart unterschiedlich, dass es wirklich erstaunlich ist.“ Vor seinem inneren Auge sah Kieran einen riesigen Baum mit unzähligen Ästen und Blättern und Blüten, die alle für ein anderes Schicksal standen und allein diese Vorstellung überforderte Kieran beinahe. „Aber jede einzelne Möglichkeit, jede Entscheidung führte diesen verdammten Richard immer nur zum selben Ende!“ Unwillkürlich hielt er die Luft an, hoffte, dass sie ihm nun nicht sagen würde, dass all seine Bemühungen umsonst waren, weil am Ende ohnehin Richards Tod stand. Aber was sie wirklich sagte, überraschte ihn dann tatsächlich: „Eine Hochzeit mit der Sternennymphe!“ Das erklärte auch, warum er derart besessen von ihr war, es war gut möglich, dass Richard das bereits spürte und es auf seine ganz eigene Art zum Ausdruck brachte. „Es gab also nur eine einzige Alternative, um die beiden zusammenzubringen: Sie mussten beide sterben.“ So kühl wie sie es aussprach, ohne jede Form von Hass oder Abscheu, verfehlte es fast seine schockierende Wirkung auf Kieran. Er erschauderte regelrecht, seine Kette fuhr wieder angestrengt damit fort, ihn freizubekommen. „Also schickte ich eine Marionette mit Richards Aussehen, um Blythe zu töten, in der sicheren Erwartung, dass man ihn anschließend hinrichten würde – und ich hatte recht.“ Sie klang zufrieden, nicht so als ob sie gerade zugegeben hatte, für jemandes nahen Tod verantwortlich zu sein. „Aber das war es nun“, schloss Maeve, als sie wieder vor ihm erschien. „Ich werde dich hier und jetzt töten und dann zusehen, wie dein Freund endlich mit Blythe vereint wird. Egal, ob du bereit bist oder nicht.“ Damit stürmte sie vor, in den Händen scharf aussehende, blitzende Klingen. Gerade noch rechtzeitig lösten sich die Ranken, so dass er ihr ausweichen konnte, statt zu versuchen, sie abzuwehren. Er blickte ihr hinterher und erkannte, dass sie im Baumstamm verschwand als würde sie mit diesem geradezu verschmelzen. Dieser Baum muss ein Teil ihres Körpers sein. Die sie umgebende Aura haftete zwar nicht an diesem, aber es könnte tatsächlich Sinn ergeben, wenn er so darüber nachdachte, immerhin hatte sie zuvor bereits gesagt, dass es schmerzte, wenn er den Stamm traf. Auch wenn er nicht wusste, ob es aussichtsreich war, war ihm nun bewusst, was er tun müsste. Statt darauf zu warten, dass Maeve wieder auftauchen würde, schwang er die Klinge der einstmaligen Armbrust, um einige der näheren Äste abzutrennen, während seine Ketten sich klirrend weiter hinaufarbeiteten, um sich dort um Schaden zu kümmern. Kaum regneten die ersten Blüten zu Boden, erklangen wirklich Schmerzensschreie von Maeve, die Kierans Knochen geradewegs zum Zittern brachten, weswegen er sich stärker anstrengen musste, als es eigentlich üblich sein müsste. Mit jedem Schlag, den er gegen den Stamm vollführte, brach ein weiteres Stück von diesem ab und verlor sich als glitzernder Staub im Nichts. Maeve erschien nicht mehr, stattdessen versuchte sie, mit wild wirbelnden, aus dem Nichts erscheinenden, Klingen anzugreifen. Während eine seiner Ketten diese abzuwehren versuchte – was dazu führte, dass die nun unkontrollierbaren Schneiden ihm haarscharf an den Ohren vorbeisausten – stellte er fest, dass es die Kirschblüten und Blätter waren, die sich in diese Klingen verwandelten und zum Angriff benutzt wurden. Aber er ließ sich davon nach der Feststellung nicht mehr beeindrucken und fuhr weiter damit fort, auf den Stamm einzuschlagen. Aber die wenigen Millimeter, die er damit jedes Mal vom Baum abtrennte, waren nicht genug, er kam einfach nicht voran und er fürchtete, jeden Moment von einer der Klingen getroffen zu werden. Seine Vernunft riet ihm, sich in Sicherheit zu bringen und sein Wissen zu gebrauchen, um Richard zu befreien. Aber gleichzeitig wusste er, dass seine Flucht unglücklich enden würde und selbst falls das nicht so sein sollte, war ihm dennoch bewusst, dass Maeve niemals zuließ, dass er seinen besten Freund rettete. Sie wollte ihn tot sehen, nachdem sie so viel Zeit damit verbracht hatte, einen Weg zu finden, ihn mit Blythe zu vereinen und er wollte das verhindern. Nein, er musste das verhindern und danach musste er eine neue Zeit für die Lazari einläuten – und das ging nur, wenn er hier überlebte und seinen Freund rettete, sozusagen als ersten Erfolg. Diese Entschluss erweckte in seinem Inneren eine neue Kraft, die – so wusste er instinktiv – jedem einzelnen Lazarus bekannt war. Seine rechte Hand begann in einem hellen Licht zu glühen, er griff damit direkt in den Stamm hinein als würde er sie ins Wasser tauchen. Obwohl er nichts sehen konnte, fanden seine Finger das, wonach er gesucht hatte, schlossen sich darum und zogen es langsam heraus. Der Gegenstand entpuppte sich als blau glühendes Schwert, dessen Bedeutung ihm erst bewusst wurde, als er noch einmal Maeves entsetztes Kreischen hörte, das in seinem Kopf zu dem leidvollen Schreien eines Mannes wurde. Es ist seine Seele... deswegen sind er und der Baum eins... Damit war es lediglich nur noch ein einziger Hieb und der weiße Kirschbaum mit den falschen Blüten löste sich in glitzernde Funken auf, die nach oben schwebten als wäre es ihre Natur, sich den kürzesten Weg in den Himmel zu suchen. Das blaue Leuchten der Klinge erlosch, das Schreien verstummte, während Kieran den Funken hinterhersah, die langsam aus seiner Sicht verschwanden. Noch verstand er nicht so recht, dass es nun vorbei war und Maeve nie wieder jemandes Wunsch auf eine solch furchtbare Art und Weise, die ihr vollkommen natürlich erschien, erfüllen würde. Egal, wie es ausgehen würde mit Richard, er hatte dieses Dorf vor einem albtraumhaften Dämon gerettet und damit würde seine Karriere als Monsterjäger beginnen. Eine Karriere, mit der er die ganze Welt retten würde – zumindest wenn es so verlief, wie er es sich in diesem Moment vorstellte. Allerdings musste er zugeben, dass er nicht im Mindesten euphorisch über diesen Sieg war, jedenfalls nicht so sehr wie er erwartet hätte. Ich wünschte... Er beendete den Gedanken nicht, aber als er den Blick senkte, bemerkte er, dass ein einzelner weißer Ast auf dem Boden lag. Die farblosen Blüten waren frisch, ihnen war noch nicht aufgefallen, dass sie nicht mehr an ihrem Körper befestigt waren. Die fremde Klinge in seiner rechten Hand verschwand – ließ ihn aber mit der Zuversichtlichkeit zurück, dass sie jederzeit zurückkommen würde, wenn er sie benötigte – und ohne so recht zu verstehen weswegen, hob er den Zweig auf und drehte ihn ein wenig zwischen den Fingern. Noch immer pulsierte Maeves Energie schwach hindurch, es kam ihm vor als würde sich mit allerletzter Kraft an das Leben klammern, als wäre dieser zerbrechliche Ast ein Strohhalm, der sie davor bewahrte, endgültig zu verschwinden. Kieran kam das durchaus entgegen. Er fuhr herum und entfernte sich mit langsamen, geradezu traumgleichen Schritten von dem Ort, an dem einst ein weißer Kirschbaum voller falschen Blüten gestanden hatte und von dem er nun lediglich noch einen einzelnen Zweig in Händen hielt. Sein Weg führte ihn zu einer Kirschbaumallee, in deren Nähe sich ein alter Brunnen befand, der schon lange nicht mehr genutzt wurde und bei dem man darauf verzichtet hatte, ihn zu verschließen, wie es eigentlich üblich war. Dunkelheit begrüßte Kieran, als er in den Schacht hinabsah, aber das kümmerte ihn nicht weiter. Er ließ den Ast hinabfallen, in der Hoffnung, dass er dort unten überleben und von niemandem entdeckt werden würde, niemals. „Beobachte von dort, wie ich die Welt verändere. Das ist mein Wunsch.“ Kaum hatte er diese Worte gesagt, spürte er, wie die Spannung von ihm abfiel und seine Knie weich wurden. Er sank auf den Boden und lehnte sich gegen das Steinwerk des Brunnen. Seine Lider wurden rasch immer schwerer, so dass er die Augen schloss. Auch wenn er wusste, dass er damit Richards Leben gefährdete, konnte er nicht gegen die Müdigkeit ankämpfen, die von ihm ihren Tribut forderte und ihn in einen oberflächlichen Schlaf fallen ließ. Wäre es ihm möglich gewesen, in den Brunnen hinabzusehen, hätte er festgestellt, dass der Ast so gelandet war wie von ihm vorgesehen. Das abgebrochene Stück steckte in der Erde auch wenn ihm klar war, dass es keine Wurzeln schlagen konnte, aber seine Hoffnung wollte, dass es funktionierte. Ein einzelnes Blütenblatt löste sich von dem Zweig und während es sacht zu Boden schwebte konnte man das Echo von Maeves Stimme hören: „Ich bin gespannt, Lazarus.“ Kapitel 16: Wunscherfüllung --------------------------- Ein großer Vorteil, ein Naturgeist zu sein, war jener, dass sie keinerlei Schlaf benötigte, anders als ein Mensch. Wenn die Erschöpfung zu groß oder man es bereits gewohnt war, konnten sie zwar dennoch schlafen – wie Aurora und Rosans wieder einmal bewiesen – aber es war eigentlich ungewöhnlich. So kam es, dass Asterea wie in so mancher Nacht auch diese wieder damit verbrachte, gegen einen Baumstamm gelehnt dazusitzen und leise zu summen. Noch immer war sie darum bemüht, ein Lied zu schreiben, für den einzigen Menschen, der je ihr Herz berührt hatte, aber es fiel ihr nicht sonderlich leicht, immerhin war sie ein Naturgeist, der in den Sternen las und keine Muse, die Künstlern als Quell der Inspiration diente. Aber langsam, Schritt für Schritt kam sie voran und nun fehlte nur noch der passende Text, der ihr einfach noch nicht einfallen wollte und der in ihr den Gedanken weckte, dass es möglicherweise besser wäre, einen Lyriker damit zu beauftragen – aber das wiederum würde ihr Versprechen unterlaufen. Mit derartigen Gedanken beschäftigte sie sich stets, während sie summend dasaß und auf den Morgen wartete. Doch in dieser Nacht sollte das unterbrochen werden, als plötzlich ein Glühwürmchen herangeschwebt kam und ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Im Gegensatz zu Menschen, war es ihr häufig vergönnt, derartige Wesen zu sehen, weswegen sie nicht im Mindesten erstaunt war. Stattdessen streckte sie wie selbstverständlich die Hand aus, damit sich das Insekt auf ihrer Handfläche niederlassen konnte. „Was hast du mir zu erzählen, mein Freund?“ Sie führte es an ihr Ohr, damit sie das Flüstern würde verstehen können. Anfangs hatte sie geglaubt, dass Glühwürmchen unterschiedliche Stimmen hätten, genau wie Menschen und Naturgeister, aber mit der Zeit war ihr klar geworden, dass sie gar keine solche besaßen. Doch diese benötigten sie auch nicht, denn es war den Glühwürmchen auf eine mysteriöse Art und Weise möglich, die Stimme des Wünschenden zu speichern und dann an sie abzugeben. An diesem Tag war es die hoffnungsvolle Stimme eines Mädchens, möglicherweise fast einer jungen Frau, die ihr entgegenschall: „Ich wünsche mir, dass wir Richard retten können.“ Wie genau es funktionierte, konnte sie nicht so recht erklären, aber die Glühwürmchen schafften es stets, ihr mitzuteilen, wo der Wunsch ausgesprochen worden war und so wusste sie, dass es in Cherrygrove geschehen war – und diesen Ort kannte sie nur zu gut aus der ein oder anderen Vision. Aus irgendeinem, ihr noch unerfindlichen Grund war ihr Schicksal mit diesem Ort verknüpft, weswegen ihr Weg sie immer wieder dorthin zurückführte, so auch in dieser Nacht, in der sie ganz einfach beschloss, der Wünschenden einen Besuch abzustatten, um herauszufinden, worum es ging und was sie tun könnte. Normalerweise tat sie dies auf die einfachste erdenkliche Art und Weise: Sie unterhielt sich mit dem Wünschenden, aber in diesem Fall erschien es ihr eher unangebracht. Ihr Teleportationszauber – den sie zu ihrem Verdruss nur mithilfe der Glühwürmchen ausführen konnte – beförderte sie direkt in eine Bibliothek, in der eine grässliche Stille auf ihren Ohren lastete. Hinter einem Regal stehend, konnte sie einen Blick auf einen Tisch erhaschen, an dem drei Jugendliche saßen, die tief in Dokumente versunken schienen. Die sie umgebende Hoffnungslosigkeit war geradezu greifbar, sie hätte nur die Hand ausstrecken und die deprimierende Decke, gefüllt mit negativen Gedanken, zu sich ziehen müssen, um sie näher zu betrachten. Doch dieser Gedanke lag ihr fern, nicht zuletzt weil sie keinen dieser Jugendlichen in dessen Konzentration stören wollte. Sie hatte das Gefühl, dass es besser wäre, unentdeckt zu bleiben, auch wenn sie ihnen helfen wollte. Sie zog sich, so leise sie konnte, tiefer zwischen die Regale zurück, dabei legte sie eine Hand auf die Bücher und Akten, die dort verstaut waren und begann innerlich zu den Sternen zu beten, damit diese ihr verraten würden, was sie tun könnte. Zu ihrem Glück dauerte es auch nicht lange, bis die Himmelskörper reagierten und ihr einen Hinweis sendeten. Ohne jeden physisch erkennbaren Grund, schob sich plötzlich etwas aus einem der Regalfächer. Weit genug, um sichtbar auf sich aufmerksam zu machen und dennoch nicht genug, um zu Boden zu fallen und auch noch hörbar Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es war ein dünner Aktenordner, wie sie feststellte, als sie ihn aus dem Regal zog, um ihn näher zu betrachten, aber die Vorderseite war nicht beschriftet, weswegen sie ihn zuerst für leer befand und glaubte, er sei nur versehentlich dort eingeordnet worden. Doch als sie die Akte aufschlug, erkannte sie, dass darin tatsächlich ein einzelnes Blatt Papier eingeheftet war, es schien ein Brief zu sein, der an einen gewissen Hauptmann Caulfield gerichtet war. Worum genau es in diesem ging oder von wem er überhaupt kam, konnte sie allerdings nicht mehr herausfinden, da ein Kratzen, gefolgt von einer Stimme, sie ablenkte: „Ich suche mir mal noch weitere Akten, hier war auch nichts dabei.“ Einer der Jungen... ausgerechnet jetzt! Als sich die Schritte näherten, fiel ihr in einem Anfall von Panik nichts Besseres ein, als die Akte reflexartig von sich zu werfen. Sie landete auf dem Boden und schlitterte wenige Meter über den Boden, so dass derjenige, der gerade zwischen die Regale wanderte, sie auf jeden Fall bemerken würde. Hastig zog sie sich in die Schatten zurück und beobachtete so vorsichtig wie möglich, was als nächstes geschehen würde. Kurz vor Sonnenaufgang und vollkommen erschöpft, verlor Joshua langsam die Geduld an diesem Spiel. Da er ohnehin überzeugt war, dass Hauptmann Caulfield mit Sicherheit alle Beweise gut versteckt hatte, zweifelte er nicht im Mindesten daran, dass Richard nichts tun könnte, um seinem Schicksal zu entgehen. Warum auch immer der Hauptmann ihn aus dem Weg haben wollte, es würde ihm mit einer enorm hohen Wahrscheinlichkeit auch gelingen. Dieser Gedanke riss sein Inneres in zwei Teile. Die eine Hälfte verlangte, dass er wirklich etwas tat, um seinem Freund zu helfen – die andere lachte darüber und wies ihn darauf hin, dass der Hauptmann schon wüsste, weswegen er tat, was er tat und er diesem weiterhin loyal sein müsste. Und dann, so klein, dass es kaum noch auszumachen war, gab es da auch noch den Teil, der ihm immer wieder Bellindas hoffnungsloses Gesicht zeigte, das ihm das Herz zu zerreißen drohte. „Aber du findest ja ohnehin nichts“, flüsterte die loyale Stimme gehässig. „Also brauchst du dir keine Gedanken darum zu machen.“ Er wollte diese Stimme gerade verscheuchen, als ihm plötzlich eine auf dem Boden liegende Akte auffiel. Bei seinem letzten Durchgang hatte sie noch nicht dort gelegen, das wusste er noch – aber Faren war nach ihm ebenfalls noch einmal aufgestanden und dann mit einem ganzen Stapel Akten zurückgekehrt, also war es für ihn nur logisch, dass dieser sie hatte fallen lassen. Daher suchte er gar nicht erst weiter nach möglichen anderen Verursachern oder nahm gar ein außergewöhnliches Phänomen in Betracht. Er schlug die Akte auf und überflog den darin befindlichen Brief lediglich im ersten Moment desinteressiert. Erst als er Richards Namen darin entdeckte, wurde er wirklich aufmerksam und las den Brief noch einmal, dieses Mal allerdings wesentlich aufmerksamer und genauer und ihm wurde klar, dass er etwas in Händen hielt, das zwar nicht Richards Unschuld beweisen, aber doch nahelegen könnte, dass der Hauptmann ihn aus selbstsüchtigen Motiven hängen wollte. Sofort begaben sich seine beiden Hälften wieder in eine heftige Schlacht miteinander. Er wusste, es war seine Pflicht als Freund, diesen Beweis an eine höhere Instanz zu übergeben, damit dieser sich ein Urteil machen könnte, aber andererseits musste er auch seinem Hauptmann gegenüber Loyalität beweisen, denn er war derjenige, der direkt über ihm stand, ihm Befehle geben und dem er zum Gehorsam verpflichtet war – er musste recht haben, anders ging es gar nicht. Der Kampf in seinem Inneren wollte und wollte nicht enden, egal welches Argument die eine Seite fand, die andere wehrte sich strikt dagegen und schaltete auf stur und zwischendrin saß die traurige Bellinda, die nichts von alledem hören und ihn zu einer emotionalen Entscheidung, die er bereuen könnte, drängen wollte. Doch er wusste nicht, wie er sich entscheiden sollte, deswegen handelte er in einer Kurzschlussreaktion, indem er die Akte unter sein Hemd steckte, hoffte, dass sie nicht allzusehr auffallen würde und sich dann wahllos ein halbes Dutzend andere griff, um mit diesen zum Tisch zurückzukehren und so zu tun als würde er weiter nach etwas suchen, dessen Existenz er verleugnete. Als er den Stapel ablegte und sich wieder setzte, sahen seine Freunde nur kurz auf und bedachten ihn mit einem aufmunternden und hoffnungsvollen Blick, der seine Seele noch weiter zermürbte und sein Gewissen belastete. Aber noch immer zog er die Akte nicht hervor, sondern holte stattdessen die anderen nur noch näher zu sich, um sie aufzuschlagen. Glücklicherweise sahen die anderen ihn nicht länger an, sondern widmeten sich stattdessen wieder ihrer eigenen Arbeit, so dass sein Gewissen sich beruhigen und seine zerrissenen Seiten ihre Schlacht erneut aufnehmen konnten. Und obwohl er nicht allein war, fühlte er sich in diesem Moment so einsam wie noch nie zuvor. Die wieder nach vorne geschlichene Asterea presste wütend die Lippen aufeinander, als sie die in Arbeit versunkenen Jugendlichen betrachtete. So war das nun wirklich nicht von ihr geplant gewesen, aber wie hätte sie auch ahnen können, dass gerade derjenige der Gruppe, der einen inneren Konflikt mit sich ausfocht, die Akte finden würde? Manches verschwiegen ihr eben auch die Sterne. Zwar ärgerte es sie weiterhin ein wenig, aber sie vertraute darauf, dass der Junge sich noch umentscheiden würde – immerhin hatte er den Brief nicht sofort zerrissen, sondern ihn aufbewahrt. Ob sie ihm einen kleinen Schubs geben sollte, der ihn dazu bringen würde, nachzugeben? Aber das wollte sie nur ungern tun, immerhin predigte Cronus ihr oft genug, dass es besser war, wenn sich Naturgeister nicht zu sehr in die Angelegenheiten von Menschen mischten. Warum das so war, wollte – oder eher konnte – er zwar nicht erklären, aber höchstwahrscheinlich war es wirklich besser, wenn sie sich ausnahmsweise an seine Worte hielt. Außerdem lernt der Junge nur eine Lektion, wenn er auch wirklich selbst zu dieser Entscheidung kommt. Sonst fühlt er sich gegängelt und das wäre kontraproduktiv für seine Entwicklung... und ich habe keine Ahnung, was ich gerade alles gedacht hatte, denn das sind Worte, die ich nur von Cronus kenne. Sie unterdrückte das verlegene Lachen, das ihre Anwesenheit hätte verraten können und wollte sich gerade zurückziehen, um den Dingen ihren Lauf zu lassen, als sie plötzlich ein erstaunlich lautes Glockenläuten durch die Stadt hallen hörte. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber die Jugendlichen am Tisch offenbar schon. Das Mädchen fuhr nach einer kurzen Pause der Verwirrung von seinem Stuhl hoch. „Der Ausrufer! Ist es schon so spät?!“ Asterea fragte sich immer noch, was das bedeuten sollte oder könnte, aber die anderen reagierten bereits ebenfalls. „Werden zu Tode Verurteilte nicht normalerweise erst bei Sonnenuntergang hingerichtet?“, fragte der Braunhaarige, dem Asterea bislang keine Aufmerksamkeit hatte zukommen lassen. „Scheint als will der Hauptmann ihn wirklich schnell loswerden.“ Einen kurzen Moment schwiegen sie alle, die Hoffnungslosigkeit wurde nicht nur greif- sondern auch sichtbar, sie hing wie ein dunkler, schwarzer Schleier zwischen ihnen und drückte jedem, selbst dem konfliktbeladenen Jungen, die Schultern hinunter. Doch das Mädchen zerriss den Schleier schließlich wieder, ein zart glühendes Licht ging von ihr aus, aber das genügte, denn Asterea wusste, dass es der Funke der Entschlossenheit war, jener, den man benötigte, um andere Menschen zu entzünden und für die eigenen Ideen zu begeistern. „Wir müssen hinausgehen und noch einmal für Richards Unschuld plädieren!“ „Bringt das überhaupt etwas?“, fragte der konfliktbelastete Junge zaghaft. Der dritte im Bund neigte nachdenklich den Kopf. „Ich denke schon. Die Hinrichtungen müssen von der Königsfamilie bewilligt und dann auch begutachtet werden. Sicherlich ist mindestens ein Assistent des königlichen Beraters zur Stelle und es genügt, wenn wir diesen zum Zweifeln bringen.“ Der Funke ging auf ihn über, entzündete ihn und verbrannte auch seinen Schleier, so dass nur noch einer von ihnen mit Konflikten und Zweifeln beladet war. Dennoch stimmte er in das Nicken mit ein und schloss sich dann den anderen beiden an, nicht ohne zuletzt noch ein stilles Seufzen auszustoßen. Asterea wartete noch eine Weile, ehe sie ihnen folgte, um sich anzusehen, wie die ganze Geschichte ausgehen würde – in der Hoffnung, dass der Junge sich endlich für das Richtige entscheiden würde. Kapitel 17: Momente der Entscheidung ------------------------------------ Das unangenehm helle Klingeln riss Kieran schließlich aus seinem ohnehin nicht sonderlich tiefen Schlaf. Unter freiem Himmel, an einen Brunnen gelehnt, war es immerhin nicht sonderlich einfach, wirklich zu schlafen, er war wohl nicht erschöpft genug. Als er die Augen öffnete, stellte er fest, dass es immer noch Nacht war, das Klingeln musste dazu dienen, die Einwohner zur Hinrichtung zu laden. Ihm schauderte bereits bei dem Gedanken, wie viele Leute sich dieses Spektakel wohl ansehen würden, da es so etwas sonst nie in Cherrygrove zu sehen gab. Aber er würde dafür sorgen, dass dieses Ereignis auch an diesem Tag ins Wasser fiel. Doch gerade als er sich fragen wollte, wie genau er das eigentlich anstellen sollte, da der Hauptmann sicherlich nach einem Beweis für die Existenz eines Dämons verlangen würde, spürte er, wie jemand nach seiner Schulter griff. Er zuckte erschrocken zusammen und wandte den Kopf, nur um dann hastig fortzurutschen und ein wenig Abstand zwischen sich und das zu bringen, was da saß. Nicht einmal im ersten Augenblick wäre ihm in den Sinn gekommen, dass dieses Wesen Richard sein könnte, auch wenn es genau wie er aussah. Aber die leblosen Augen verrieten, dass es sich bei ihm nur um eine dieser Marionetten handelte. So sehr es Kieran auch widerstrebte, aber dies war der ideale Beweis für Richards Unschuld, er müsste diese Marionette nur zum Dorfplatz bringen. Bislang machte sie keinerlei Anstalten, ihn anzugreifen, auch ging keine bedrohliche Aura von ihr aus, sie saß einfach nur da und blickte ihn gleichgültig an. Als er aufstand, folgten die Augen nur träge seinen Bewegungen, als würden sie keinerlei Gefahr von ihm erwarten, aber Kieran zweifelte ohnehin daran, dass eine Marionette um ihr Leben fürchtete. Erst als er ihr mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass sie ebenfalls aufstehen sollte, tat sie das auch mit überraschend gelenkigen Bewegungen. „Ich habe keine Ahnung, warum du hier bist“, sagte Kieran nachdenklich, „aber ich nehme das einfach mal als eine großzügige letzte Geste von Maeve.“ Sie war nicht wirklich bösartig gewesen, vor allem nicht zu den Zeiten, als sie noch ein Mensch gewesen war, so viel hatte er durch das Berühren ihrer Seele lernen können. Es war niemals Maeves Wunsch gewesen, Verderben über die Menschheit zu bringen, aber die Zurückweisung ihrer Liebsten, die Ermordung derselben und die Erkenntnis, ein Monster zu sein, hatten Bitterkeit in ihrem Herzen Einzug halten lassen, wo sie Wurzeln geschlagen und schließlich Früchte des Hasses hervorgebracht hatte. Kieran konnte nicht anders, als Mitleid mit ihr zu empfinden und genau dasselbe fühlte er auch, wenn er diese Marionette ansah. Vielleicht hatte Maeve sie ihm deshalb überlassen, weil sie wusste, dass er sie nicht mit Verachtung oder reinem Nutzdenken betrachtete, sondern mit Mitgefühl. Aber was auch immer der Grund dafür war, Kieran akzeptierte dieses Geschenk mit Dankbarkeit und begann in Richtung des Dorfplatzes zu laufen. Die Marionette folgte ihm gehorsam mit nur wenigen Schritten Abstand und es wäre ihm nicht im Mindesten seltsam vorgekommen, wenn sie auch noch zu tanzen begonnen hätte. Allerdings warf er keinen Blick hinter sich, denn innerlich wusste er genau, dass es ihn doch erschrecken würde, sollte das der Fall sein. In diesem Moment aber wollte er nur nach vorne sehen, Richards Befreiung entgegen – und so bekam er nicht mit, wie die Marionette tatsächlich einen kleinen Sprung vollführte, als würde sie sich freuen, hier zu sein. Der Platz war hell erleuchtet, fast so als wäre die Sonne bereits aufgegangen, um das Dorf in ihr Licht zu tauchen. Aber noch versteckte sie sich jenseits des Horizonts und würde man Richard fragen, hätte sie an diesem Tag auch dort bleiben können, denn falls sie aufgehen sollte, wäre es der letzte Tagesanbruch seines Lebens. Die Arme hinter dem Rücken gefesselt, stand er auf einem hastig zusammengebauten Podest mitten auf dem Dorfplatz, wo sich nach und nach immer mehr Bewohner versammelten, die von der Glocke des Ausrufers aus dem Bett geholt worden waren. Sie alle sahen mit betrübtem Blick zu ihm herauf, aber keiner von ihnen machte irgendwelche Anstalten, ihm zur Hilfe zu kommen – nicht, dass er damit gerechnet hätte. Allerdings hatte er doch gehofft, dass zumindest einer seiner Freunde hier sein würde, aber noch war von keinem etwas zu sehen. Möglicherweise war es ihnen nicht gelungen, etwas zu finden, um ihn zu befreien und sie wollten nicht mitansehen, wie er sterben müsste, das konnte er gut verstehen. Neben einigen bekannten Gesichtern aus dem Waisenhaus – Direktor Ben, der mit vor Sorge gerunzelter Stirn dastand, Mutter Margery, die immer noch streng dreinblickte und nicht im Mindesten so wirkte als würde sie dies als etwas Schlechtes empfinden und verschiedene Mädchen, die zwischen Unglauben, Trauer und Vorfreude schwankten – entdeckte er auch Allegra, die übermüdet wirkte, so als wäre sie in den letzten Tagen kaum zum Schlafen gekommen und ihn überkam sogar ein wenig Mitleid, denn er hatte mindestens ebensowenig geschlafen und glaubte daher, zu wissen, wie sie sich fühlte. Direkt vor der Bühne stand Hauptmann Severo Caulfield, gewohnt griesgrämig wie immer, neben ihm stand die einzig fremde Person, die er ausmachen konnte. Es war ein Mann, der edel aussehende dunkelgrüne Kleidung mit goldenen Stickereien trug, sein dunkelbraunes Haar war unter einem cremefarbenen, dreieckigen Hut mit hochgeklappter Krempe verborgen. Das, was Richard aber am deutlichsten auffiel, war die goldene Feder, die an dieser Kopfbedeckung angebracht war. Er wusste selbst, wie lächerlich es einem vorkommen musste, dass er in dieser Situation eine Feder bewunderte, aber sie war ungewöhnlich, denn sie glühte sogar leicht. Von welchem Vogel auch immer sie stammte, es musste ein wahrhaft außergewöhnliches Tier sein. Die Person, der dieser Hut gehörte, war wesentlich weniger besonders. Im Kerker hatte er sich Richard als Nathan, Berater der Königin von Király, vorgestellt und erklärt, dass er hier sei, um zu überwachen, dass diese Hinrichtung allen Richtlinien des Königinnenreichs folgte. Zu diesem Zweck betrachtete er gerade zum wiederholten Male sämtliche Protokolle der Stadtwache, aber die gerunzelte Stirn verriet, dass er sich nicht sonderlich über den Inhalt freute. Er hob den Blick, um Richard anzusehen, ehe er sich wieder Caulfield zuwandte. „Er hat sich also nicht zur Tat geäußert, sehe ich das richtig?“ Der Hauptmann nickte grimmig. „Korrekt. Er behauptet, geschlafen zu haben, wofür es keine Zeugen gibt. Ich dagegen habe Augenzeugen und noch dazu stimmt seine Verletzung mit der eines Zeugen überein. Und wir müssen bedenken, dass beide Zeugen Freunde von ihm sind und daher eher in seinem Sinne lügen würden.“ Nathan nickte verständig, aber immer noch nicht sonderlich zufrieden, ihm lag wohl nicht sonderlich viel daran, eine Hinrichtung erlauben und begleiten zu müssen und sofern nicht doch noch ein Wunder geschah, schien es Richard als wäre dieser Mann seine letzte Hoffnung. Nach mehreren Minuten des Klingelns, ließ der Ausrufer schließlich den Arm sinken, so dass die Glocke verstummte. Immerhin war inzwischen fast die gesamte Stadt anwesend, es wurde Zeit, fortzufahren, egal wie sehr es dafür sorgte, dass sich Richards Magen zusammenzog. In seinem Inneren hatte er sich bereits viele Varianten ausgemalt, wie sein Leben enden könnte, aber keine davon war daraus bestanden, dass er für ein Verbrechen hingerichtet werden würde, das er nicht einmal begangen hatte. Verfluchte Sternennymphe! Wenn sie damals nicht so erpicht darauf gewesen wäre, mich zu retten...! „Verehrte Gemeinschaft!“ Caulfields dröhnende Stimme unterbrach ihn in seinen Gedanken und riss ihn unbarmherzig in die Wirklichkeit zurück. „Wir haben uns heute hier versammelt, um gemeinsam mitzuerleben, wie ein Verbrecher seine gerechte Strafe erhält. Ein Verbrecher, der einen geliebten Menschen aus unserer Mitte riss – oder in anderen Worten: Ein Mörder!“ Das entstehende Gemurmel im Anschluss an diese Worte drückte weiterhin eine gespaltene Meinung darüber aus, nur wenige schienen erpicht darauf, ihm zuzustimmen, viel mehr neigten den Kopf und flüsterten leise, um ihren Unglauben über Richards Beteiligung auszudrücken. „Da wir Augenzeugen und Beweise haben, die seine Schuld eindeutig belegen, ist ein Gerichtsverfahren in diesem speziellen Fall unnötig und so wurde das Todesurteil lediglich von mir gefällt. Sofern es keinerlei Einspruch gibt-“ „Den gibt es!“ Richard schickte ein kurzes Stoßgebet des Dankes an den Himmel und alle Götter, die es dort oben geben könnte, als er Bellindas aufgebrachte Stimme hörte. Sie arbeitete sich gemeinsam mit Faren und Joshua an den anderen Leuten vorbei, um in die erste Reihe zu kommen und sich dort einem nicht sonderlich erfreuten Caulfield zu stellen. „Was ist denn jetzt noch?“, brummte er sofort. „Ich denke, ich muss dich nicht daran erinnern, dass wir dieses Gespräch schon mehrere Male miteinander geführt haben? Und dass es jedes Mal auf dieselbe Weise endete? Also wollen wir es dieses Mal nicht abkürzen, indem du dich jetzt wutschnaubend umdrehst und davonrennst?“ Bellinda schnaubte tatsächlich wütend, aber sie rannte nicht davon, sondern erwiderte seinen stechenden Blick weiterhin. Jedenfalls bis Nathan die Aufmerksamkeit mit einem Räuspern auf sich zog. „Hauptmann Caulfield, wäre es nicht angebracht, die junge Dame zu fragen, ob sie irgendwelche Beweise besitzt, die sie ihrem Einspruch beilegen möchte?“ Bellinda zuckte ein wenig zurück, was Richard verriet, dass sie einen solchen nicht besaß. Es war immer noch ihr unerschütterlicher Glaube an ihn, der sie an seine Unschuld glauben ließ – und das war das Rührendste, was Richard in den letzten Tagen erlebt hatte, weswegen er sogar ein wenig lächeln musste. Allerdings entging auch Caulfield dieses Zucken nicht. „Na also, sie hört sich nur gern selbst reden, sie besitzt keinen einzigen Beweis. Können wir also fortfahren?“ Um Hilfe heischend sah sie ihre beiden Freunde an, doch während Faren nur bedrückt mit den Schultern zuckte, hatte Joshua den Blick gesenkt und starrte betroffen zu Boden. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, als ob er mit sich selbst kämpfen müsste und Richard hoffte, dass es darum ging, dass er ihm am Liebsten zur Flucht verhelfen wollte und nicht, dass er unsicher war, was die Schuldfrage anging. „Den Beweis liefere ich gerne!“, ertönte eine andere Stimme, die Richard noch besser kannte als jene von Bellinda und die ihn nicht nur aufgrund des Gesagten erleichtert seufzen ließ. Aber die Erleichterung wandelte sich sofort in Verwirrung, als er sah, wer Kieran folgte. Im Gegensatz zu Bellinda hatte er keinerlei Probleme, nach vorne zu kommen, die anderen bildeten automatisch eine Gasse für ihn, so dass er und sein Begleiter, verfolgt von dem verwirrten Murmeln der Bewohner, mühelos bis zum Podest vorlaufen konnten. Bellinda und Caulfield schienen nicht im Mindesten überrascht, während Nathan sich der allgemeinen Verwirrung anschloss und die Augenbrauen hochzog. „Hat Richard zufällig einen Zwillingsbruder?“ „Das muss ich verneinen“, erwiderte Kieran. „Aber Richard hat einen persönlichen Erzdämon.“ „Nun kommt doch nicht ständig mit der selben alten Leier“, beklagte Caulfield sich, doch im Anbetracht des monoton dastehenden Richards, fast zu Füßen des gefesselten Richards, erreichten seine Worte nicht mehr denselben Effekt wie zuvor. Selbst diejenigen, die sich zuvor auf die Hinrichtung gefreut hatten, schienen nun unsicher und nicht mehr sonderlich erpicht darauf. „Wie sonst ließe sich das hier erklären?“, fragte Kieran und machte eine ausladende Handbewegung zum falschen Richard, dessen starrer Blick ins Nichts ging. Doch der Hauptmann ließ sich davon nicht in Erklärungsnot bringen: „Das ist kein Beweis. Du selbst könntest dieses Etwas erschaffen haben, wer weiß, welche Hexenkräfte ein Findelkind wie du in seinem Inneren verbirgt.“ Offenbar waren alle Anwesenden zu schockiert über diese Erwiderung, um ein Wort hervorzubringen – alle bis auf Nathan, der sich Caulfield mit gerunzelter Stirn zuwandte. „Was meint Ihr damit?“ „Ich war damals noch nicht Hauptmann oder gar in dieser Stadt, aber ich habe mir sagen lassen, dass man einen sehr schweigsamen Kieran blutüberströmt am Eingang der Stadt fand.“ Etwas an diesem Satz ließ Nathan offenbar aufhorchen, denn plötzlich blickte er Kieran überaus interessiert an. Die anderen Stadtbewohner begannen wieder leise miteinander zu tuscheln, dies war normalerweise die Stelle, an der Richard zur Verteidigung seines Freundes einschritt, aber in diesem Fall kam er zu spät, da jemand anderes das überraschenderweise übernahm: „Was soll das denn für eine Argumentation sein, Hauptmann?“ Sämtliche Blicke richteten sich auf Faren, der die Arme locker vor dem Körper verschränkt hielt und dabei ungewohnt ernst aussah. „Wie wir eigentlich alle wissen dürften, hat der Krieg gegen Monerki viele Opfer erfordert und nicht wenige Kinder zu Waisen gemacht – und noch viele mehr dieser Waisen mussten miterleben, wie die eigene Familie gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde. Damals wurden viele blutüberströmte Kinder in der Nähe von Cherrygrove aufgegriffen.“ Dieses Mal gab es nicht nur Murmeln, einige der Waisenhausbewohner riefen ihre Zustimmung über diese Aussage und ihre Abscheu über Caulfields Worte sogar lautstark heraus. Faren schmunzelte zufrieden über diesen Rückhalt. „Deswegen sollten wir davon ausgehen, dass das, was Kieran uns über dieses Wesen sagt, stimmt und es wirklich von einem Dämon geschaffen wurde, der Richard ans Leder will.“ Allgemeine Zustimmung ertönte, die Caulfield in die Ecke drängte. Er sagte nichts mehr, ließ aber wütend den Blick über alle Anwesenden wandern. Nathan ergriff als nächstes das Wort, um die Situation voranzutreiben: „Vielleicht wäre es leichter für uns, zu entscheiden, wenn Kieran uns einmal zeigen würde, wie dieses Wesen in Wirklichkeit aussieht?“ Wieder gab es allgemeine Zustimmung, wenngleich dieses Mal auch wesentlich verhaltener. Zufrieden wandte Nathan sich wieder Kieran zu. „Wenn du so freundlich wärst...“ Er reagierte sofort und griff nach der Klinge, die er an seinem Gürtel befestigt hatte. Als Richard genauer hinsah, erkannte er allerdings, dass es sich dabei tatsächlich um eine Armbrust handeln müsste, die nur irgendwie zu einem Schwert geworden war. Nach einem kurzen Zögern hob er die Waffe und stieß sie dem anderen Richard in den Rücken – ein helles Blitzen später war dieser verschwunden und stattdessen befand sich dort eine nackte und haarlose Marionette, die kraftlos zu Boden stürzte. Die Bewohner stießen allesamt einen überraschten Schrei aus und auch Faren und Joshua wirkten bei diesem Anblick verwirrt, während Bellinda ihn bereits kannte und Nathan nur ausdruckslos auf die Marionette hinabsah. Caulfield sog tief und hörbar ungeduldig die Luft ein, ehe er wieder knurrte. „Das bedeutet gar nichts! Selbst die Existenz dieses Wesens beweist nicht die Unschuld dieses Jungen. Bin ich denn der einzige hier, dem etwas an Gerechtigkeit liegt!?“ Nach diesen Worten blickte er herausfordernd in die Runde, worauf sich tatsächlich betretenes Schweigen ausbreitete und auch Nathan die Stirn runzeln ließ, so als würde er angestrengt darüber nachdenken, was er noch tun oder sagen könnte, um das hier zu verhindern. Richard wäre aufgrund der Absurdität am Liebsten in freud- und humorloses Gelächter ausgebrochen und inzwischen wünschte er sich bereits, einfach gehängt zu werden, damit er dieses unselige Tauziehen hinter sich hätte, auch wenn er damit die Anstrengungen all seiner Freunde für null und nichtig erklären würde, anstatt sie anständig zu würdigen. Siegessicher reckte Caulfield das Kinn, doch da wurde er – zum letzten Mal, wie Richard hoffte – erneut in seiner Vorfreude unterbrochen: „Wirklich, Hauptmann? Euch liegt an Gerechtigkeit?“ Wieder wendete sich die allgemeine Aufmerksamkeit zu Richards Freunden, doch dieses Mal war es Joshua, der das Wort ergriffen hatte und Caulfields Blick kampfeslustig erwiderte. „Woran sollte mir denn sonst liegen, Joshua?“ In seinem Blick lag eine unausgesprochene Drohung, unter der so mancher nachgegeben hätte, aber Joshua griff unter sein Hemd und zog eine Akte hervor. Caulfield wurde blass, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. „Was soll das werden?“ „Um Richards Unschuld zu beweisen, haben Bellinda, Faren und ich das Archiv unserer Stadt durchsucht und wir wurden tatsächlich fündig. Offenbar glaubtet Ihr nicht daran, dass irgendjemand dort etwas finden könnte.“ „Natürlich nicht“, sagte Faren schmunzelnd. „Wo versteckst du einen Baum besser als in einem Wald?“ Joshua nickte ihm zu und fuhr fort: „Der Inhalt dieser Akte besteht lediglich aus einem einzigen Brief, den ein gewisser Albert Berahts an unseren Hauptmann geschrieben hat.“ Allgemeine Irritation bemächtigte sich den Anwesenden, lediglich Richard gab ein überraschtes Keuchen von sich, das allerdings nur von Kieran bemerkt zu werden schien. „Worum geht es in diesem Brief?“, fragte Nathan, da Caulfield inzwischen die Kiefer aufeinanderpresste als würde er versuchen, seine Zähne zu zermahlen. Joshua öffnete die Akte, hielt den Blick aber weiterhin auf den Hauptmann gerichtet. „Albert Berahts bittet darin ausdrücklich darum, den aus dem niedergebrannten Beraht stammenden Richard auf möglichst unauffällige Art und Weise loszuwerden, um keine Aufmerksamkeit nicht näher spezifizierten Entitäten darauf zu ziehen.“ Diese Ausführung ließ Richard den Blick senken, aber wieder einmal war es Kieran, dem dies auffiel und niemandem sonst. Die anderen sahen weiterhin stur auf Joshua und wartete auf weitere Erklärungen, die er auch sogleich lieferte: „Im Ausgleich dafür, so Albert Berahts, verspricht er unserem Hauptmann, Stillschweigen über den Grund seines raschen Aufstiegs bei der Stadtwache von Cherrygrove zu wahren.“ Erst als er wieder schwieg, bemerkte er, dass jeder ihn ansah, was ihn ein wenig verlegen machte. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und errötete sogar ein wenig. „Ü-über den Grund an sich steht hier nichts.“ Während die Bewohner ein wenig enttäuscht darüber wirkten, freute sich jemand anderes dennoch. „Also gibt es einen Grund!“, stieß Nathan fast schon glücklich aus. „Ich wusste es immer!“ Seine Augen glühten regelrecht und zum ersten Mal lächelte er, als er Caulfield ansah. „Von Anfang war mir klar, dass da etwas nicht mit rechten Dingen vor sich gegangen war und nun habe ich endlich die Bestätigung! Das ist ein Glückstag für mich!“ Der Hauptmann knurrte leise, aber Nathan ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ich nehme an, Ihr habt dazu nichts weiter zu sagen, also übernehme ich einfach mal.“ Behände kletterte er auf das Podest hinauf und löste Richards Fesseln, ehe er sich den Versammelten zuwandte: „Im Namen Ihrer Majestät, der Königin von Király, erkenne ich Severo Caulfield hiermit seinen Titel als Hauptmann der Stadtwache von Cherrygrove ab. Als höchste anwesende Instanz, übernehme ich, Nathan Greenrow, bis zur Ernennung eines angemessenen neuen Hauptmannes, die Führung der Stadtwache. Zuallererst spreche ich Richard frei von jeder Schuld und sage damit auch die Vollstreckung des Todesurteils ab. Mein zweiter Befehl geht direkt an die anwesenden Mitglieder der Stadtwache.“ Er machte eine Pause, um erst einmal den Jubel verklingen und die Wachen wieder aufmerksam werden zu lassen. Offenbar verstand er es, sehr zur Freude aller Zuhörer, einen wundervollen Auftritt hinzulegen. Er hob die Arme. „Ich befehle euch, Severo Caulfield festzunehmen und in den Kerker zu werfen!“ In diesem Moment zeigte sich, wie wenig die Menschen aus Cherrygrove von ihrem Hauptmann gehalten hatten, denn ein wahrer Freudensturm brach plötzlich los, als mehrere Wachen aus dem Zuschauerbereich traten und Caulfield festnahmen. Er leistete keinerlei Widerstand. Richard rieb sich die taub gewordenen Handgelenke, während er betrachtete, wie der ehemalige Hauptmann weggeführt wurde und die Anwesenden sich einem Freudentaumel hingaben. Er beobachtete, wie Bellinda Joshua um den Hals fiel, während Faren ihm auf die Schultern klopfte und er gleichzeitig versuchte, dem wieder hinuntergesprungenen Nathan die Akte zu reichen. Er sah, wie Allegra sich die Hand auf den Mund presste und hastig durch die Menge davonrannte, ohne von jemandem aufgehalten zu werden. Irgendwo, hinter der Ecke eines Hauses, glaubte er, eine ihm bekannte Gestalt zu sehen, die allerdings aus seiner Sicht verschwand, noch ehe er sie wirklich identifizieren konnte. Zuletzt wanderte sein Blick zu Kieran, der neben der Marionette kniete und schon beinahe ein wenig traurig über diese strich, als hätte er gerade einen Freund verloren. Doch noch während er darin vertieft schien, kam Faren plötzlich zu ihm und klopfte ihm nicht nur auf die Schulter, sondern legte sogar seinen Arm um ihn und sagte etwas grinsend, was Richard auf die Entfernung nicht verstehen konnte, aber offenbar so viel wie Gute Arbeit bedeuten sollte und Kieran sogar ein Lächeln abrang. Richard beobachtete all dieses Glück zu seinen Füßen, aber er selbst spürte es nicht. Er fühlte sich nicht erleichtert, nicht glücklich und auch nicht im Mindesten befreit. Stattdessen fühlte er sich leer, als ob das alles nur ein Traum, eine Vision, kurz vor oder nach seinem Tod wäre und das für ihn nicht greifbare Glück der anderen half ihm da nicht gerade, seine Stimmung zu verbessern. Um sich das alles nicht weiter mitansehen zu müssen, wandte er den Blick in Richtung Osten, wo er gerade etwas beobachten konnte, von dem er geglaubt hatte, es nie wieder zu sehen. Die Sonne erhob sich am Horizont und sandte ihre ersten Strahlen über das Land, das sich wieder einmal mehreren, verschieden großen Änderungen gegenübersah – und Richards Tod war keine davon. Erst diese Erkenntnis war es, die schließlich dazu führte, dass die Dämme brachen und ihm die Tränen über das Gesicht liefen und dieser Anblick wiederum war es, der all seine Freunde dazu brachte, auf das Podest zu kommen und sich um ihn zu scharen, um ihn zu trösten und das lange vermisste Gemeinschaftsgefühl wieder zu genießen. Endlich waren sie alle wieder vereint und so schnell würde sie hoffentlich nichts mehr trennen. Und zum allerersten Mal in seinem Leben, war Richard froh, dass die Sternennymphe ihn damals gerettet hatte. Er wusste nicht, dass sie in diesem Moment leise kichernd die Stadt verließ, damit sie zu ihren Gefährtinnen zurückkehren könnte. „Keine Ursache, Richard, keine Ursache~.“ Kapitel 18: Klärende Worte -------------------------- Schweigend standen sie zu fünft vor dem Grabstein, die Köpfe gesenkt und die Hände gefaltet. Sie alle beteten, auch wenn einer von ihnen den Glauben an Naturgeister eigentlich ablehnte – aber um seinen Respekt zu bezeugen und seinen Dank an diese Wesen für sein Überleben auszudrücken, sprach er in Gedanken dennoch mit ihnen und bat sie, die Seele der Verstorbene sicher zu führen. Nachdem eine Minute verstrichen war, beendeten sie das Gebet. „Wollen wir dann gehen?“, fragte Faren. Die anderen nickten ihm zu, worauf sie sich allesamt vor dem Grabstein, auf dem Blythes Name eingraviert war, verbeugten und dann gemeinsam zum Friedhofstor zurückgingen. Es waren inzwischen zwei Wochen vergangen, seit der Hauptmann verhaftet worden war und Nathan Greenrow das Kommando über die Stadtwache übernommen hatte – wenngleich er diese auch seit gut zehn Tagen sich selbst überlassen hatte, um sich in New Kinging um den inhaftierten Severo Caulfield zu kümmern, der dort vor der Königin aussagen sollte. Einer der dienstältesten Wachleute hatte die Führung auf Geheiß des Bürgermeisters übernommen und machte seine Sache, wenn man Faren und Joshua glauben wollte, sehr gut, weswegen bereits spekuliert wurde, dass er noch offiziell zum nächsten Hauptmann ernannt werden würde. An diesem Tag waren alle Freunde bereit gewesen, der inzwischen begrabenen Blythe ihren Respekt zu zollen. Kieran behielt für sich, dass es Blythes Wunsch gewesen war, der zu diesem Ergebnis geführt hatte, denn es würde nichts ändern, außer die Meinung der anderen über eine Person, die sich nicht mehr wehren konnte. Stattdessen ließ er sie alle im Glauben, dass es ein Pakt zwischen Maeve und Caulfield gewesen wäre, um Richard loszuwerden, genau wie der Brief es verlangte. Es war das Beste, fand Kieran, für die Lebenden und die Toten. „He, seht mal, wer wieder da ist“, sagte Faren plötzlich und riss ihn damit aus den Gedanken. Er deutete zum Ausgang des Friedhofs, wo deutlich sichtbar Nathan Greenrow, gegen das Tor gelehnt, stand. An diesem Tag war er weitaus legerer gekleidet, statt eines Anzugs trug er eine einfache Hose aus Leinen und ein grob gewebtes Baumwollhemd. Nicht einmal seinen Hut trug er, die goldene Feder war an seiner Brusttasche befestigt, offenbar ging er nirgends ohne sie hin. „Worüber er wohl reden will?“, fragte sich Bellinda laut. Kieran war weitaus weniger ratlos, er konnte sich denken, dass es darum ging, dass eine Entscheidung im Fall von Caulfield gefallen war und möglicherweise noch mehr. Nathan stellte sich aufrecht hin, als er die Gruppe auf sich zukommen sah und begrüßte sie lächelnd. „Wie schön, dass ich euch endlich gefunden habe.“ „Was gibt es denn?“, fragte Bellinda neugierig, worauf sie ein kurzes Lächeln von ihm geschenkt bekam. „Erst einmal möchte ich mich im Namen Ihrer Majestät bei euch allen für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die durch Severo Caulfield entstanden sind, besonders bei dir, Richard.“ Er legte eine Hand auf sein Herz und beugte den Oberkörper ein wenig vor . „Und wir möchten uns bei euch anderen bedanken, für die Arbeit, die ihr euch gemacht habt, um Richards Unschuld zu beweisen.“ „Das haben wir doch gern gemacht“, erwiderte Bellinda sofort, begleitet von Farens zustimmendem Nicken. „Immerhin ging es um das Leben unseres besten Freundes.“ Richard hatte noch kein einziges Wort dazu verloren, sich nicht einmal bedankt – aber jeder aus der Gruppe wusste, dass er ihnen dankbar war und das genügte ihnen vollauf. „Es bedeutet der Königin viel“, fuhr Nathan fort, „denn sie möchte die Verurteilung Unschuldiger vermeiden, so gut es geht.“ „Was wird denn nun aus Caulfield?“, fragte Faren. „Wird er angeklagt?“ „Ah ja, genau, das wollte ich euch auch noch sagen“, fiel es Nathan in diesem Moment ein. „Nach längerer Befragung und Nachforschung, konnten wir zwar nicht beweisen, dass Severo Caulfield für den Tod von Blythe verantwortlich ist, aber wir haben erfahren, womit Albert Berahts ihn erpressen wollte und wie er es hatte schaffen können, den Posten als Hauptmann eurer Stadtwache zu erlangen.“ Die anderen schwiegen erwartungsvoll, aber Nathan ließ sich erstaunlich viel Zeit für die Antwort. Sein Blick verfinsterte sich, während er offenbar noch über die richtigen Worte nachdachte, doch dann seufzte er plötzlich. „Es ist keine sehr schöne Geschichte, muss man vielleicht dazufügen. Severo Caulfield hatte einen Gönner im Königshaus, der derlei Entscheidungen begünstigen konnte. Ihr wisst ja sicher, dass die Königin und ihr Beraterstab selbst solch kleine Entscheidungen, wie den Hauptmann eurer Stadtwache betreffend, gutheißen muss, oder?“ Sie nickten zwar, aber etwas ließ Bellinda doch stutzen. „Ein Beraterstab? Ich dachte immer, es gibt nur einen einzigen, nämlich Euch?“ „Nein“, erwiderte er milde lächelnd. „Ich bin nur sowas wie der Sprecher des Stabs, der im Hintergrund bleibt, eben um solche Dinge zu vermeiden. Dass es aber dennoch ausgenutzt werden konnte, ist bitter – und Ihre Majestät wird das System deswegen höchstwahrscheinlich abschaffen und wieder durch ein neues ersetzen.“ Wieder nickten sie alle verstehend und warteten auf weitere Erklärungen, was Caulfield anging, die ihnen auch sofort geliefert wurden: „Jedenfalls kannte er die Vorliebe eines Beratermitglieds für... kleine Mädchen, nicht zwingend noch Kinder, aber eben doch minderjährig.“ Bellinda verzog angewidert das Gesicht, während die anderen lediglich die Stirn runzelten – abgesehen von Richard, dessen Ausdruck nicht verriet, was er dachte. „Er hat ihm Allegra überlassen?“ Nathan nickte ernst. „Richtig, so lange bis sein Vertragspartner genug von ihr hatte und sie wieder entließ.“ Bellinda rümpfte die Nase bei dem Gedanken daran, während für Kieran einiges klar wurde, was Allegra anging. Sie mochte vielleicht auch verzogen und verhätschelt worden sein, als sie noch ein Kind gewesen war, aber dass ihr Vater sie einfach so verkauft hatte, an einen fremden Mann, der dann Dinge mit ihr anstellte, das musste ihre Welt vollkommen zersplittert und sie zu dem geformt haben, was sie schließlich geworden war. Ihre Obsession für Richard erklärte das zwar nicht, aber auch dafür musste es Gründe geben, davon war er überzeugt. „Arme Allegra“, kommentierte Joshua schließlich. „Ich hätte nicht gedacht, dass er so etwas Grausames tun könnte.“ „Na ja“, erwiderte Nathan langsam, „man sagte den Caulfields im Allgemeinen nach, dass sie sehr skrupellos sind, wenn es darum geht, ihre Ziele zu erreichen. Vielleicht stimmt es tatsächlich.“ Er zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls wird er deswegen noch vor Gericht kommen und eine angemessene Strafe erhalten.“ Kieran wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Sicher, Gerechtigkeit war eine gute Sache, aber es kümmerte ihn auch nicht weiter, was aus diesem Mann werden würde. Er war ein Mensch und jene neigten dazu, dumme Dinge zu tun, davon wollte er sich nicht einmal ausnehmen, auch wenn er ein Lazarus war. Aber sein Entschluss, eine neue Zeit für die Lazari einzuläuten und die Menschen zu schützen, egal, ob gute oder böse, war nach wie vor vorhanden und nicht im Mindesten ins Schwanken geraten. „Seid Ihr deswegen heute hier?“, fragte Faren. „Auch“, gab Nathan zu. „Außerdem wollte ich einen neuen Hauptmann ernennen – oder es jedenfalls offiziell machen – und ich wollte meinen Ausflug nutzen, um mit Kieran zu sprechen.“ Alle blickten ihn an, worauf er ein Stück zu schrumpfen schien. „Aber warum?“, fragte Faren. „Geht es um das Ding da hinten?“ Er deutete auf eine Gruppe von Kirschbäumen, hinter einem der Stämme lugte die Marionette hervor, die ihm Maeve mitgegeben hatte. Da er sie nach der Zerstörung des Kristalls nicht einfach hatte liegenlassen wollen, war ihm nichts Besseres eingefallen, als sie erst einmal mit sich zu nehmen, aber nun war wieder Leben in sie gekommen und sie folgte ihm auf Schritt und Tritt, nur um sich zu verstecken, sobald er sich länger an einem Ort aufhielt. „Ich habe gehört, dass sie einigen ziemlich viel Angst macht“, fuhr Faren fort. „Mir erzeugt sie auch eine Gänsehaut“, gab Kieran seufzend zu. Aber vielleicht wollte diese Marionette nur einen Freund? Dieser Gedanke war es, der ihn dazu überredete, sie weiter in seiner Nähe bleiben zu lassen. Nathan warf nur einen kurzen Blick zu ihr hinüber. „Nein, um die geht es nicht. Das würde ich außerdem gern allein mit ihm besprechen, wenn es euch nichts ausmacht.“ Die anderen warfen sich kurze Blicke zu, dann verabschiedeten sie sich knapp von Nathan und gingen davon, um ihn und Kieran allein zu lassen. „Lass uns ein wenig herumlaufen, ja? Ich hab noch längst nicht alles von Cherrygrove gesehen und vielleicht redet es sich beim Laufen ein wenig besser.“ Kieran wusste nichts einzuwenden, schon allein, weil er nicht einmal ahnen konnte, worüber der Berater mit ihm sprechen wollte. Während sie liefen, schloss sich die Marionette ihnen an, blieb aber immer ein wenig auf Abstand, so dass sie keinen von ihnen störte. Es dauerte etwa zwei Minuten in denen sie einfach nur nebeneinander herliefen, bis Nathan schließlich das Schweigen beendete. „Darf ich dich nach deinen Eltern fragen? Oder wäre das unangebracht?“ Kieran hob die Schultern. Er empfand es es nicht als sonderlich unangebracht, außerdem waren seine Eltern schon seit einigen Jahren tot und inzwischen hatte er das auch einigermaßen verarbeitet oder es zumindest akzeptiert. „Meine Mutter hieß Granya und mein Vater Cathan.“ „Lane?“ „Ja, ich denke, das hat er mal erwähnt.“ Nathan schwieg wieder und Kieran wurde an diesem Punkt bewusst, dass sich die Namen seines Vaters und dieses Mannes überraschend ähnlich waren. Allerdings nahm er an, dass es sich nur um einen reinen Zufall handelte – bis Nathan tatsächlich weitersprach: „Weißt du eigentlich, dass ich nur ein paar Jahre älter bin als du? Und dass ich nach deinem Vater benannt wurde?“ Kieran blickte ihn erstaunt an. Es war dem Berater kaum anzusehen, wie jung er war, er wirkte wesentlich reifer. Aber noch etwas anderes irritierte ihn. „Dann wisst Ihr von...?“ „Den Lazari?“ Nathan unterbrach ihn, den Blick stur geradeaus gerichtet. „Ja, ich weiß von ihnen. Niemand aus meiner Familie ist einer von ihnen, aber wir standen immer im guten Kontakt zur Gilde.“ Er klopfte auf die goldene Feder an seiner Brusttasche, vereinzelte Funken fielen von ihr ab und verschwanden fast sofort wieder. Kieran fragte allerdings nicht, warum er eine solche besaß und zu welchem Vogel sie wohl gehören mochte. „Kurz bevor ich geboren wurde“, fuhr Nathan fort, „war Cathan ein großer Held bei der Gilde. Wann immer es ein Problem gab, wurde er als erstes damit beauftragt und in so gut wie jedem Fall war er dann auch erfolgreich. Aber als Granya starb, gab er sich die Schuld daran – und verließ die Gilde. Ich weiß nicht, was er danach getan hat.“ „Er hat weiter Dämonen getötet“, antwortete Kieran. „Wir sind umhergereist, haben sie aufgespürt und dann hat er sie getötet.“ Nathan nickte verstehend. „Ja, das würde Sinn machen, Cathan war immerhin nicht umsonst eine Heldenfigur und ein Vorbild für uns alle.“ Kieran wusste nichts darauf zu erwidern. „Warum erzählt Ihr mir das?“ „Ich wollte nur, dass du weißt, dass ich mir im Klaren darüber bin, wer und was du bist. Es ist mir wichtig, mit offenen Karten zu spielen.“ Etwas an seinem Tonfall verriet Kieran aber noch mehr: „Und Ihr wollt, dass ich Euch noch etwas sage, was damit zu tun hat.“ „Ganz genau.“ Nathan lächelte, als würde er sich darüber freuen, dass sein Gesprächspartner so verständig war. „Ich bin mir sicher, dass du mit dem Dämon gesprochen hast, bevor du ihn getötet hast. Hat er dir die Gründe genannt, weswegen es Blythe und Richard getroffen hat?“ Er verzichtete darauf, Nathan darüber aufzuklären, dass er Maeve gar nicht wirklich getötet hatte und nickte stattdessen. „Es war Blythes Wunsch gewesen, mit Richard vereint zu sein und dies war die einzige Möglichkeit gewesen, es Wahrheit werden zu lassen. Erst sollte sie durch die Hand einer Marionette mit seinem Aussehen sterben und dann sollte Richard hingerichtet werden.“ Nathan nickte langsam, während er sich das anhörte. „Genau wie ich mir dachte. Natürlich können wir das der Königin nicht vortragen, aber es trifft sich, dass Severo Caulfield ebenfalls den Wunsch hegte, Richard loszuwerden, so können wir das einfach auf ihn schieben.“ „Geht das wirklich?“, fragte Kieran zweifelnd, aber Nathans selbstbewusstes Nicken verriet ihm, dass es wohl so sein musste. „Hast du eigentlich vor, dich der Gilde anzuschließen?“, lenkte der Berater das Gespräch auf ein anderes Thema. „Ich bin erst vor kurzem erwacht und habe bislang nichts von ihnen gehört.“ „Und wenn du etwas von ihnen hörst?“ Kieran wusste sofort, worauf Nathan anspielte, aber er konnte nur mit den Schultern zucken, denn er wusste die Antwort noch nicht. Sobald er etwas von der Gilde hörte, würde er sich entscheiden, doch bis es dazu kam, wollte er keinen Kontakt mit ihnen anstreben und versuchen, es allein durchzustehen. Immerhin musste es noch mehr Gründe gegeben haben, dass sogar sein Vater ausgetreten war und ihm vor seinem Tod nicht geraten hatte, dorthin zurückzukehren. „Lass dir Zeit mit deinen Überlegungen“, riet Nathan. „Seht lieber zu, dass ihr euch wieder ein normales, menschliches Leben ermöglicht. Das habt ihr euch nach diesen ereignisreichen Tagen und eurer Vergangenheit im Allgemeinen wirklich verdient.“ „Vielen Dank, Sir Greenrow.“ Der Berater lächelte ihm zufrieden zu. „Nenn mich Nathan.“ Erst am Tag nach Nathans Besuch, fanden Kieran und Richard wieder einmal Zeit für sich. Die Begeisterung über Richards Unschuld war abgeklungen, genau wie die Freude all seiner Freunde, dass er nun nicht mehr in Gefahr war. Der Alltag war wieder eingekehrt und jeder von ihnen begrüßte das. Sie saßen zusammen in Richards Küche und tranken Tee, schweigend, genau wie sie früher immer zusammengesessen hatten. Im Gegensatz zu früher saß vor dem Haus, gegen einen Baum gelehnt, die Marionette, die offenbar eine Abneigung gegen Gebäude hegte. Früher erschien Kieran inzwischen unendlich weit entfernt, als wäre es ein Zeitpunkt aus einem vollkommen anderen Leben, an das er sich nur noch vage erinnern konnte. Aber Richard störte sich offenbar nicht daran, er sah aus wie immer, wie früher, nur noch nachdenklicher. Doch Kieran musste erst gar nicht danach fragen, denn plötzlich öffnete er den Mund. „Warum will Albert, dass ich sterbe?“ Kieran wusste darauf keine Antwort, deswegen erwiderte mit einer Gegenfrage: „Wer ist er überhaupt?“ Normalerweise sprach Richard nicht über seine Vergangenheit, aber an diesem Tag schien er wesentlich gewillter dazu zu sein. „Du weißt doch, dass ich aus Beraht komme, oder? Albert Berahts war... ist der Sohn des Ortsvorstehers. Mein Vater war ein Ritter, Wachmann, nenn es wie du willst und deswegen lernte ich Albert kennen, als ich noch ein Kind war.“ Er erzählte Kieran davon, wie sie beide oft und gern die Gegend erkundet hatten, auch an jenem Tag, an dem Dämonen – so bezeichnete Richard sie jedenfalls – seine Heimatstadt in Schutt und Asche gelegt hatten. „Als wir zurückkamen, brannte alles, Albert rannte in die Flammen hinein... Ich dachte, er wäre tot.“ Er legte den Kopf in den Nacken, blickte an die Decke und schien die Erinnerungen damit wieder verscheuchen und in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses verdrängen zu wollen. Kieran fragte nicht weiter, was damals geschehen sein mochte, dafür waren seine Gedanken ebenfalls mit der Frage beschäftigt, warum man einem Freund so etwas antun wollte. Was mochte Albert in den letzten Jahren nur zugestoßen sein? „Warum will er, dass ich sterbe?“, wiederholte Richard seine Frage noch einmal. „Woher weiß er, wo ich bin?“ In diesem Moment sah Kieran eine Seite an seinem besten Freund, die ihm gänzlich unbekannt war. Eine verletzliche, von allen Lieben verratene Seite, die empfindlich und aufgewühlt war, unfähig, diesen Fakt zu akzeptieren und deswegen kalt und abweisend zu sein versuchte, wenn auch ohne großen Erfolg. Kieran empfand kein Mitleid für ihn, denn er wusste, dass er das nicht wollen würde. Aber er fühlte mit ihm und das bestärkte ihn nur darin, dass er als Freund an seiner Seite bleiben wollte. Sie beide hatten herbe Verluste in ihrem Leben erlitten und befanden sich in Situationen, die sie nicht verstehen und die ihnen niemand erklären konnte. Sie beide waren auf denselbem Kenntnisstand, nur in unterschiedlichen Gebieten, aber das war nur eines der Dinge, die sie miteinander verband und die sie Freunde sein ließ. Kieran war, nach den letzten Tagen, entschlossener denn je, diese Welt für Richard und alle anderen zu schützen. Er würde, für ihn und alle anderen eine Antwort zu finden, egal wie schwer es werden mochte. Er würde eine neue Welt schaffen – aber vorerst würde er sein normales Leben wiederaufnehmen, für seine Freunde da sein, den Umgang mit seinen Kräften lernen und sich dann neu orientieren. Aber er zweifelte nicht daran, dass er das schaffen könnte, er war immerhin der Sohn eines Helden der Lazari und er war entschlossen genug dazu. Nur an diesem Abend wollte er schweigend in Richards Küche sitzen, Tee trinken und die Ruhe genießen, solange er das noch konnte. Epilog: Ein Ende kann ein Anfang sein ------------------------------------- Ein eigenes Haus zu besitzen, war wirklich etwas vollkommen anderes als im Schlafsaal des Waisenhauses zu schlafen. Bis zu diesem Tag hatte er das nicht glauben wollen, aber nun war er davon überzeugt wie nie zuvor. Ungeachtet der Schauermärchen, die Faren ihm über dieses Haus, nicht weit von Richards entfernt, erzählt hatte, liebte Kieran es seit der ersten Sekunde. Egal, ob die alten Besitzer einen Doppelselbstmord verübt haben sollten und deswegen noch immer im Gebäude spuken sollten oder ob sie doch von einem Geisterwolf getötet worden waren – wie auch immer er darauf gekommen war – er spürte von alldem nichts, sondern genoss jede einzelne Sekunde im Haus. Außerdem hatte Richard ihm versichert, dass nichts von diesen seltsamen Erzählungen geschehen und die letzte Besitzerin an einfacher Altersschwäche gestorben war, friedlich eingeschlafen, mit einem Lächeln auf den Lippen. Es war bereits dunkel, als Kieran sich endlich allein im Haus bewegen konnte, weil alle anderen nach Hause gegangen waren und sich die Marionette im Anschluss in den Keller zurückgezogen hatte, wo sie anscheinend leben wollte. Es herrschte eine angenehme Stille, die er seit der Sache mit Richard nicht mehr hatte genießen dürfen. Inzwischen waren fast sechs Monate seit diesem Vorfall vergangen und seitdem war er nie mehr allein gewesen. Entweder war er von Menschen, die ihn nun in ihrer Mitte willkommen hießen oder von Teyra und Aria umgeben gewesen. Die beiden Wesen nutzten wohl gern die Gelegenheit, dass er sie sehen und hören konnte, um auch mal mit anderen als nur der jeweils anderen zu sprechen. Auch wenn Kieran sich nicht daran störte, so genoss er doch die Zeit, die er nun endlich allein sein konnte. Erleichtert fiel er auf sein Bett und seufzte tief, genoss den Duft der Freiheit, nicht zuletzt, weil er der erste Einwohner des Waisenhauses war, der noch mit 16 ein eigenes Haus bekam. Der Grund dafür war sein Einsatz im Kampf um Richards Leben gewesen. Er war ein wenig stolz darauf, musste er zugeben, immerhin war das ein großer Schritt nach vorne in seinem Leben, da er nun würde trainieren können, um seine Fähigkeiten zu verbessern, wann immer er wollte. Doch just als er diesem Gedanken nachhing, hörte er ein leises Klopfen. Im ersten Moment ignorierte er es, doch als es wiederholte Male erklang, setzte er sich doch auf, um herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Auf dem äußeren Fensterbrett saß ein Wesen, von dem er erst gar nicht glauben konnte, dass es wirklich da war. Er öffnete das Fenster, um es genauer zu betrachten, doch kaum war es geöffnet, breitete das Wesen seine ledernen Schwingen aus und flatterte herein. Die blauen Schuppen glitzerten regelrecht im Schein der Öllampe, die goldenen Augen glühten als würde ihnen ein eigenes Feuer innewohnen. Es war kein echter Drachen, jedenfalls kein ausgewachsener, er war gerade mal so groß wie eine junge Katze, aber es war der erste, den Kieran sah, weswegen er ihn erstaunt anstarrte. Erst nach einigen Sekunden bemerkte er die Schriftrolle, die der Drache in seinen Vorderklauen hielt und die er ihm entgegenstreckte. Kieran nahm sie ihm mit einem flauen Gefühl im Magen ab und blickte auf das angebrachte Siegel, das die Rolle verschlossen hielt. Es zeigte ein L, umrankt von dem stacheligen Schwanz eines Drachen, der erhobenen Hauptes danebensaß. Es war das Siegel der Lazari – die Gilde hatte ihn gefunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)