Wolfswege von Melange ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Im dunklen Saal kreuzen sich Blicke aus Augenwinkeln, Blitze an Aufmerksamkeit, zitternde Hände. Der Geruch von Schweiß. Bedruckte T-Shirts, schwarze Kapuzen, Taschen übersät mit Buttons und bekritzelt mit Schriftzügen beherrschen den Raum. Dazwischen kleine Bildschirme, summende Betriebbsysteme und blinkende Lichter. In der dritten Reihe leuchtet feuerrotes Haar. Das Mädchen streicht die Strähnen aus der Stirn und schiebt die Brille zurecht. Der Assistenzrofessor kommt die Treppen herab, wirft die Tasche aufs Pult und schält sich aus der schwarzen Sportjacke. Schlanker Körper und Sommersprossen auf den Oberarmen. Im Hemdausschnitt baumelt ein silbernes Pentagramm. Der Blick des Mädchens bleibt an ihm hängen. Später tritt sie ans Pult und beginnt mit leiser Stimme: „Ich hätte da noch eine Frage ...“ Zwei Meter gekrönt von erdbeerblonder Windfrisur: Er grinst auf sie herab. „Ja?“ Spitze Eckzähne blitzen auf. Aber sie hängt an seiner Stimme, Intelligenz. Vor der knisternden Gefahr in seinem Grinsen schließt sie die Augen. Worte verlassen ihre kirschroten Lippen. „Für Fragen wie diese bin ich Professor geworden“, sagt er lachend und holt zu der Erklärung aus, die den Rahmen der Vorlesung gesprengt hätte. Schokoladebraune Flüssigkeit plätschert im Plastikbecher von Rand zu Rand: geschlossener Kreislauf ohne Chance auf Unterbrechung. Amina hebt ihn an weiche Lippen, zuckt aber zischend vor der Hitze zurück. „Empfindlich?“, fragt er, eine grinsende 2-Meter-Statue, die sich an den Automaten lehnt, Hände in Armeehosentaschen. Dunkle Augen fixieren den neonblauen Aufdruck iTod nebst Sensenmann auf schwarzem Stoff. Die verbrannten Lippen haben nichts zu sagen. „Keine Fragen heute?“, bohrt er, immer weiter. Sein Mundwerk spuckt Fragen, Witze und Spott aus wie eine rauchende Manufaktur. Innen klappert und scheppert alles, Uhrwerke und Rädchen. „Was machen Sie, wenn ich keine Fragen habe?“ Tatsächlich ist sie innerlich leer. Das Wissen hat er in zuckrigen Fäden herausgezogen, den Teich leergefischt. Sie haben ihn mit weißen Fischaugen angestarrt, aber er hat sie grinsend abgewehrt. „Was ich mache ...“ Seine Augen, so blau und unbändig wie der Sommerhimmel, blicken in die Luft. Als könnten sie durch die Decke sehen und entkommen. Aber er braucht sie noch. Sie nickt. Richtig. „Ich stelle dir einen Freund vor.“ Dunkelheit legt sich über ihren Blick wie Nebel. Die paar Tropfen im Plastikbecher steigen in ihre Gedanken auf und schwirren über ihrem Kopf herum. Selbst wenn sie ihn schüttelt, verschwinden sie nicht. Portion Kaffee mit Zucker und Kakaopulver, so süß wie sie nie sein kann. Die Fakten wirbeln im Raum durcheinander, die Schubladen stehen offen. Nur ist niemand überstürzt ausgezogen. „Hallo?“, sagt sie leise in den dunklen Raum hinein. Etwas raschelt. Über das Bett fallen helle Streifen, einzige Lichtquelle, von den Jalousien geformte Hieroglyphen. Amina studiert die falsche Sprache. Sanfter Druck in ihrem Rücken. Er haucht eine Aufforderung in ihr Ohr, der Assistenzprofessor, der jetzt hinter ihr steht. Sie macht einen Schritt, noch einen und noch einen. Der Raum dreht sich, aber ein Blinzeln rückt die Schatten gerade und vertreibt die Monster. „Es freut mich, dich zu sehen.“ Klingendes Kristall in einer Stimme, deren Jahre sie an beiden Händen abzählen könnte. Aber der Pappbecher schmiegt sich in Schweiß und Blässe. Ob sie im Zwielicht leuchtet, ihre Haut? „Freut mich ebenfalls.“ Sie spielt mit regenbogenfarbenen Phrasen während die Dunkelheit sich verdichtet. Nichts bleibt so wie es war und nichts ist wie es scheint. Regeln, die jeder lernt, aber manche früher als andere. Eine Hand zerrt und schiebt an schweren Vorhängen. Gefängnis in Nicht-Farben – oder Kokon und warme Geborgenheit. „Irgendwann schlüpft ein Schmetterling“, flüstert er von hinten. So naiv ist sie nicht, sie, deren Füße auf den Holzdielen Wurzeln schlagen. Poliert wie der schärfste Spiegel. „Warum kommst du nicht näher, ich ...“ Den Rest verschluckt er, fressen die unsichtbaren Monster, die vor ihr zurückweichen. Sie zählt die Schritte. Fünf, sechs. Ein Meter vor dem Bett, die Grenze in gelber Neonschrift. Ein Kopfschütteln, das grelle Farben vertreibt. Der Raum ist monochrom. Sagt sie im Kopf auf wie ein Gedicht für Schulkinder. Aus dem Bett hebt sich etwas, ein Kopf, ein Schädel, eine Maske. Weiße Haut spannt sich über schmale Knochen. Bleiches Fleisch, das sie an etwas erinnert, das sie vergessen wollte. Der Grabstein, der kalte Grabstein. Und irgendwo ein Rest Wärme von seiner Hand. „Wie darf ich dich nennen?“, fragt sie in die Dunkelheit. Zur Antwort kommt eine Hand, lebendes Gerippe, das gerade nicht klappert. Berührt einen Rockzipfel, streicht über Ärmel und Handgelenk. Ruckartig weicht sie zurück. „Tut mir leid.“ Es sinkt zurück. „Du brauchst nicht.“ Keine Entschuldigung, keine Flucht. Die großen Hände des Assistenzprofessors legen sich auf ihre Schultern, tauen ihren Körper von oben nach unten auf und wärmen sie durch. „Danke“, sagt sie draußen und fixiert seine Schuhe. Sneakers, staubig vom Pflaster und von Straßenbahnböden. „Nichts zu danken. Du hast ihn an einem schwierigen Tag erwischt.“ Sein Grinsen begleitet sie auf die Straße und die Straße hinab. Die nächste Woche fallen zwei Vorlesungen aus. Studenten pflastern die Halle mit Stoffbannern zu, Buchstaben, die in dicken Punkten enden und die Augen anspringen, spielen Rock und House im Hof und besetzen Hörsäle. Sie sitzt im Studentenheim, wirft einen Blick aus dem Fenster und fragt den Himmel, welches Wetter in Paris herrscht. Eine Woche später ist er zurück, frische Geschichten von der Konferenz im Gepäck. Wie immer sitzt sie in der dritten Reihe und grinst in sich hinein, wenn diejenigen, die vor Tagen noch protestiert und mit Phrasen um sich geworfen haben, laut herauslachen. Sie sehen nicht, sie hören nicht. Amina ignoriert sie und ihr Verhalten zieht die Grenze, die niemand überschreitet. „Wäre eine Schande, wenn ich nichts von Ihnen gelernt hätte“, meint sie nach der Vorlesung und entdeckt einen Keim Spott im Ton. „Na, das sollten wir feiern!“, ruft er und erschreckt das Häufchen zurückgebliebener Studenten. Helles Gelächter dringt bis in die obersten Reihen, leer und dunkel. Ein Ticken, fast unhörbar, teilt die Zeit in mundgerechte Stücke. Später. Sie stehen in der üblichen Ecke. Seine Worte sind überall, fallen und fallen und fallen, aber das Glitzern in seinen Augen verrät. Liegt auf der Lauer im Unterholz. Um zu sehen, was er macht, tritt sie vor und stellt sich auf die Zehenspitzen. Gerade groß genug. Aftershave wie frisch aus der Dusche. Der Duft von Männerparfüm, wie sie ihn liebt. Und er sagt nichts. Sprudelnder Brunnen versiegt endlich. „Der geht auf mich.“ Amina bricht die Stille, wie die Regeln vorsehen. Im goldenen Käfig werden die Rollen verdreht – beide spüren sie jede Bewegung. Und Mutter Großzügigkeit veranlasst sie, das Flackern in seinen Augen zu übersehen. Das Flackern, das nur einer Sendestörung im Fernsehen gleicht. Die Geschichte schreibt es vor: Sie besucht den Jungen ein weiteres Mal, betritt seinen Kokon und taucht in verbotenes Land ein. Aus den Tiefen des Schokoladenflusses fällt ihr ein Wort in den Schoß: Aleph. Sicher ist es bittere Schokolade. „Das ist nicht dein richtiger Name, oder? Was bedeutet er?“ Durch die dicke Masse wandern weitere Worte herüber, steigen aus dem Bett und zwischen den Vorhängen auf wie Luftblasen im Wasser. „Ursprung, Anfang und Ende von allem.“ An einer Hand kann sie die Blasen abzählen. Ihr Gedächtnis produziert automatisch das Zeichen für ‚Ursprung‘, wie es in der Sprache des Assistenzprofessors ausgedrückt wird. Ihrer Sprache. Jetzt auch ihrer Sprache. Das Flackern in diesen Augen, die nie zögern ... „Was machst du nur hier?“, fragt sie in den Raum und beobachtet, wie die Worte den polierten Boden treffen, zittern und zucken. Leise, für niemand anderen als Amina selbst, aber jemand hört sie trotzdem. „Heute ist er erschöpft“, sagt der Professor von hinten, am Türrahmen lehnend wie beim ersten Mal. Wächter des Lichts. „Gehen wir lieber“, sagt er. „Nein ...“ Wellen laufen durch dunkles Rot und sie erstarrt in der Waagrechten. „Bleib noch.“ Etwas drückt sie auf den Stuhl zurück, eine Kraft, die sie nicht kennt und vor der sie zurückgewichen wäre. Aber die Regeln sehen vor, dass sie nicht aus eigener Kraft verschwindet. Es steht geschrieben. „Gibt es etwas Bestimmtes? Willst du mich etwas fragen?“, vermutet sie. Pfeile, blind ins Dunkel geschossen. Natürlich verfehlen sie jedes Ziel, aber das zischende Geräusch verharrt im Raum. Stille. Die blauen Augen des Professors bohren ein Loch in ihren Rücken. Es pulsiert und juckt, süßer Schmerz. Aleph antwortet nicht. So lange, dass sie bereits nach anderen Wegen tastet, eine Blinde in völliger Dunkelheit, die seine Gegenwart ausstrahlt. Ja, die Dunkelheit ist er selbst. Aber was wartet hinter dem Schleier und was passiert, wenn jemand ihn lüftet? „Komm näher“, schwebt eine Bitte aus dem Nichts. Amina hat keinen Willen mehr. Als Puppe neigt sie sich vor, an Fäden in die Dunkelheit gezogen, die Sphäre, in der ihre Augen allen Nutzen verlieren. Sie schließt sie und ihre Ohren erwachen prickelnd zum Leben. An der Tür saugt der Professor zischend Luft ein und sein Schuh scharrt über den Boden. „Du weißt aber, was du tust?“, sagt er leise. Der Junge antwortet nicht. Aus den Tiefen des Lagers schälen sich Strähnen hellen Haars. In monochromem Licht tanzt ein weicher Schimmer und verleiht ihm die Farbe frischen Schnees. Sie haucht das Wort in der Sprache und merkt, dass ihre Augen offen sind. „Sieh zu, wenn du willst“, kommt ein Flüstern aus der Stille. Dieselbe knochige Hand berührt ihre Schulter, leere Haut über Stoff. Sie zuckt, hält die Stellung. „Gut, du lernst schnell.“ Wie kann er so viel sprechen? Die Krankheit sinkt in unbewusste Tiefen hinab und die Oberfläche glättet sich. Spiegelsee. Das Gesicht einer Leiche steigt aus der Schwärze herauf und nähert sich ihrer Seite. Zerbrechliche Knochen in ihrem Nacken ersticken Fluchtideen im Keim. An zwei Stellen berührt etwas Weiches Aminas Hals. Als die Elektrizität durch ihren Körper pulsiert, überlässt sie sich seufzend dem Strom. Blinde Augen sehen die Möglichkeit eines Paradieses. „Warum?“ Der Schlag trifft sie hart und sie blinzelt die Hand an, die weiße Wand neben ihr würgt. Unter der Haut zeichnen Adern Hieroglyphen, die niemand übersetzen kann. „Was.“ Nur ein Hauch, aber er würgt sie ab. „Warum musstest du so weit gehen?!“ Die Knöpfe an seinem erbsengrünen Hemd, Plastikknöpfe und zwei locker: Sie fixiert sie, um nicht seine Augen zu sehen. „Ich konnte nichts tun ...“ „Erzähl das jemand anderem! Er ist ein Kind und du ...“ Ich bin weniger als ein Kind, ich stolpere und stürze und schmecke Staub und und und. Hör auf zu reden. Stille senkt sich. Ein Leichentuch über die Vergangenheit, eigentlich nur ein paar Tage. Ein harter Kloß in der Kehle, widersteht dem Speichel. „Was erwartest du von mir?“ Ärger durchbricht die Wand, verspritzt rote Ziegelsteine in alle Richtungen. Rotes Haar in zu heißer Luft. „Ich? Warum sollte ich ...“ Seine Gedanken holen sie ein. „Ach so.“ „Ist das alles?“, zischt sie und Fäuste ballen sich. Trommeln einen müden Rhythmus auf seine Brust, zerstören die Zeichnungen der Hieroglyphen. Über sein Hemd laufen weiße Linien, die sie nicht lesen will. Langsam sinkt seine Hand und gibt das Weiß frei. Langsam tritt er einen Schritt zurück. Ein dünnes Tut mir leid schwebt in dem Raum, den er frei gegeben hat. Blicke weichen einander aus, beide Seiten in verschiedenen Sümpfen verloren. „Du wirst es aushalten“, sagt sie schließlich leise, leise. Passiert ihn und verlässt das Gebäude, zwischen neugierigen Blicken der Studenten hindurch. Meute, die nur auf einen Grund zur Rebellion, auf die besten Geschichten wartet. Erst auf der Straße verschwimmt ihre Sicht. Selbst heftiges Blinzeln hält die Tränen nicht zurück. Irgendwo zwischen dem Campus und der U-Bahn gibt sie auf. Schluchzt. Du wirst es aushalten. Aleph ist stark, viel zu stark als dass ... Du wirst es aushalten. Weil er nichts weiß, gibt es nur einen Weg. Dessen Rand jeden Morgen bitterer Tau säumen wird, Grasbüschel zwischen den Grabsteinen ihrer Vergangenheit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)