Let go von Sassassin (Loslassen (US x UK)) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Let go Ich bin ein Nostalgiker. Ich bin traurig, ich bin verbittert. Ich bin zynisch, ironisch und sarkastisch geworden. Ich habe viel Fantasie. Ich bin ein Teeliebhaber. Obwohl ich es mir nicht eingestehen will, bin ich kein guter Koch. Ich bin leicht reizbar. Ich sehe die Welt aus einer anderen Sicht. Ich bin nah am Wasser gebaut. Ich bin schlecht im Verzeihen. Aber vor allem bin ich eines: Ich bin einsam. Ja, müsste ich beschreiben wie ich bin, und müsste ich das in einem Satz tun, dann wäre die Einsamkeit ein sicherer Bestandteil dieses Satzes. Mit einem leisen Seufzen ziehe ich die Decke enger um meinen Körper und nippe an meinem warmen Tee. Schon seit heute morgen sitze ich an meinem Küchentisch, habe mich in eine dicke Decke eingewickelt um mich vor der Kälte zu schützen, die draußen und inzwischen auch in meinem Haus herrscht. Manchmal komme ich auf den verrückten Gedanken, dass ich mir die Kälte nur einbilde, dass der einzige Grund dafür, dass ich friere, derjenige ist, dass ich einsam bin. Ein Gedanke, der mir nicht absurd erscheint, den ich aber schnell wieder aus meinem Kopf vertreibe. Dennoch kehrt er immer wieder zurück. Ich stelle meine Tasse ab und zucke kurz zusammen, als ein Ast der alten englischen Ulme gegen das Küchenfenster schlägt. Draußen herrscht ein ziemliches Unwetter, seit gestern Abend hört es nicht auf zu regnen. Nicht, dass Regen etwas ungewöhnliches wäre, aber so sehr hat es hier schon lange nicht mehr gewütet. Es ist, als hätte sich das Wetter meinem Gemütszustand angepasst. Aber das ist ziemlicher Schwachsinn, nicht einmal ich kann mir das einreden. Noch während ich denke, dass ich diesen Baum noch in den nächsten Tagen fällen sollte, klingelt erneut mein Telefon, das ich vor mich auf den Tisch gestellt habe. Die Nummer erkenne ich sofort und mein Blick trübt sich wieder. Ich nehme meine Tasse und wärme meine Hände daran. Immer wenn das Telefon klingelt, fühle ich mich noch einsamer. Das wievielte Mal ist das jetzt schon? Nach dem zwanzigsten Anruf habe ich aufgehört zu zählen. Versteht er denn nicht, dass ich nicht mit ihm reden möchte? Und sehen möchte ich ihn auch nicht. Vor allem das möchte ich nicht. Ich schließe die Augen und warte, bis das penetrante Klingeln aufhört. Als ich das tue, ertönt das Klingeln nur noch lauter in meinen Ohren, aber das ist in Ordnung. Es ist besser, als diese Nummer zu sehen. Amerikas Nummer. Ich weiß, warum er anruft. Und ich weiß, dass mich dieser Grund noch trübseliger stimmt. Heute wäre ein Treffen der G8 und ich bin nicht anwesend. Ich bin bewusst nicht anwesend. Es liegt nicht daran, dass ich nicht mein Haus verlassen möchte und es liegt auch nicht daran, dass ich diesen Idiot namens Frankreich treffen müsste. Auch nicht daran, dass Italien mich mit seinen Nudeln nerven würde, Deutschland die Initiative ergreifen würde, Russland eine unheimliche Atmosphäre verbreitet, Kanada von allen ignoriert wird und Japan nur allen zustimmt, um niemanden zu verletzen. Es liegt an dir, Amerika. Ich ertrage dich einfach nicht mehr. Oder sagen wir, ich ertrage den Umstand nicht mehr, dass du mich nicht mehr brauchst. Das Telefon verstummt und ich wage es wieder, die Augen zu öffnen. Die Anzeige zeigt an, dass ich einen Anruf verpasst habe und ich drücke auf den Knopf, um diese Erinnerung zu löschen. Wenn ich doch nur alles so einfach auslöschen könnte. Am liebsten wäre es mir, wenn ich meine Existenz auslöschen könnte. Damit würde ich aber zu vielen einen Gefallen tun, Frankreich würde mich wohl sofort an sich reißen. Das kann ich nicht zu lassen. Ich will niemandem mehr einen Gefallen tun. Ich nehme einen erneuten Schluck und leere somit die Tasse. Ich stehe auf und erhitze das Wasser im Kessel erneut, warte bis es kocht und gieße mir neuen Tee auf. Dann setze ich mich wieder. Aufgrund dessen, dass ich keine Schuhe oder Socken trage, sind meine Füße kalt geworden. Ich ziehe sie auf den Stuhl und winkle sie an, decke mich wieder zu und nehme die heiße Tasse in meine Hände. Ich beobachte, wie die Milch, die ich hinzu gegossen habe ihre Muster im schwarzen Tee zieht. Ich verliere mich in dem kleinen Muster und erschrecke um so mehr, als das Telefon schon wieder klingelt. Er verliert also die Geduld. Und das, obwohl er mir immer vorwirft so ungeduldig zu sein. Ich schüttle den Kopf darüber. Ich spiele mit dem Gedanken, den Hörer abzunehmen und ihn sofort wieder aufzulegen. Damit würde ich ihm aber meine Aufmerksamkeit schenken und das möchte ich nicht mehr tun. Ich könnte auch einfach den Hörer abnehmen und ihn neben das Telefon legen, sodass niemand mehr anrufen kann. Seltsamerweise möchte ich das nicht tun. Amerika, deine Nummer zu sehen macht mich wahnsinnig. An dich zu denken macht mich wahnsinnig. Du bist der Grund dafür, dass ich schneller den Tränen nahe bin, als ich es früher war. Wegen dir bin ich zynisch geworden. Wegen dir bin ich bitter geworden. Du bist der Grund dafür, dass ich einsam geworden bin. Du bist derjenige, der mich alleine gelassen hat, obwohl ich so viel für dich getan habe. Und das kann ich dir nicht verzeihen. Ich habe dich aufgenommen, als du noch ganz klein warst. Ich habe dich aus deiner Einsamkeit geholt, während ich dadurch für mich dasselbe tat. Du gabst mir eine Aufgabe, denn ich konnte mich um dich kümmern und du brauchtest jemanden, der sich um dich kümmert. Also habe ich uns beiden einen Gefallen getan. Ich habe dir alles beigebracht, was du heute weißt. Ich habe dich gelehrt zu sprechen. Habe dir beigebracht, wie man Kontakte knüpft, was gut und was schlecht für dich ist. Habe dir Geschichten erzählt und dir einen Teil meiner Kultur zukommen lassen. Ich habe doch gut für dich gesorgt, oder? Wieso also...wieso? Wieso hast du mich alleine gelassen? Ich fahre in mich zusammen, als ein gewaltiger Schlag gegen die Haustüre trifft. Wachsam geworden, wende ich meinen Kopf zu der Haustür. Ein erneuter Schlag. „Mach auf, England!“ Ich reiße die Augen auf. „Ich weiß, dass du da bist, also mach die Türe auf, bevor ich sie eintrete!“ Der Griff um meine Tasse festigt sich, ich drehe den Stuhl leicht zur Seite, sodass ich aufstehen könnte, wenn ich es wollte. Aber ich möchte nicht. Gebannt starre ich auf die Tür, ein erneuter Schlag. „Oder liegst du ohnmächtig auf dem Boden? Muss der große Held dich retten?“ Vermutlich bilde ich es mir ein, aber du klingst verzweifelt. Es muss eine Einbildung sein, denn du sorgst dich schließlich nie um etwas anderes, außer um dich. Du tust nur etwas, wenn es dich als Held darstellen lässt. Ich ziehe nachdenklich die Augenbrauen zusammen und nippe an meinem abgekühlten Tee. Wieso habe ich nicht damit gerechnet, dass du vorbeikommst? Wieso? Dabei sollte ich dich so gut kennen. Du bist hartnäckig, so hartnäckig, dass es beinahe lästig ist. Gleichzeitig frage ich mich, ob ich es nicht genau darauf abgezielt hatte. Denn tief in meinem inneren wusste ich, dass du kommen würdest, würde ich dich nur lange genug ignorieren. Wieso tue ich mir das noch an? Ich sollte lernen, dich loszulassen. Aber was bedeutet loslassen letztendlich? Bedeutet es, dass ich dich gehen lasse? Oder bedeutet es, zuzulassen und zu akzeptieren, dass man zurückgelassen wird? Was bedeutet es, loszulas- Du schlägst die Tür ein. Es überrascht mich nicht einmal das du das tust, ich sehe dich nur an. Du bist durchnässt vom Regen, bis auf die Haut. Deine Brille ist mit Tropfen benetzt, weswegen du sie achtlos nach oben in dein nasses Haar schiebst um ein klareres Blickfeld zu haben. Hektisch, wie du immer bist, siehst du dich um, bis du mich letztendlich doch entdeckst. Als du mich ansiehst, wende ich meinen Blick ab, schließe die Augen und nippe an meinem Tee, ziehe die Decke enger um mich, weil ich den kalten Wind auf meiner Haut spüre der nun durch die offene Tür herein weht. Ich höre wie du schnell auf mich zu kommst, wie deine Schritte auf dem Holzboden hallen. Du packst mich an der Schulter und drehst mich leicht zu dir, zwingst mich dich anzusehen. „Was soll das, England?! Ich versuche schon den ganzen Tag dich zu erreichen.“ Ich sehe dich kalt an, reagiere nicht auf deine Aussage und wende meinen Blick so weit es mir möglich ist ab. „Bist du wieder in deine Fantasiewelt abgetaucht, oder warum antwortest du mir nicht?“ Ich spüre deine Wut und ich glaube, dass deine Gefühle ausnahmsweise gerechtfertigt sind. Aber ich sehe dich nicht an und tue so, als würde ich dich nicht hören. Ich will dich nicht mehr hören können. Ehe ich mich versehe, hast du zu einem Schlag ausgeholt und mir eine Ohrfeige verpasst. Durch die Kraft, die du in diesen Schlag gesetzt hast, wird mein Kopf zur Seite geworfen, meine Tasse fällt zu Boden und zerschellt dort in viele kleine Stücke. Der Tee, der sich noch darin befunden hatte, fließt den Boden entlang. Langsam lege ich eine Hand an meine Wange, sehe zu Boden und beiße mir auf die Lippe. Du beugst dich vor, stützt dich mit beiden Händen an den Stuhllehnen ab und versuchst meinen Blick einzufangen. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Heute war ein wichtiges Treffen und du warst nicht da!“ Ich verstehe das alles nicht. Wieso regst du dich so sehr auf? Wieso verlierst du deine Fassung? Wieso schlägst du mich? Eigentlich wäre es dir egal, dass ich das Meeting verpasst habe. Eigentlich solltest du Witze darüber reißen. Frankreich hätte mit Freuden mitgemacht. Meine Augen verengen sich. Dieser Gedanke macht mich wieder wütend und ich fasse den Mut dich anzusehen, obwohl ich deinen Anblick kaum ertragen kann. Ich registriere, wie du kurz kaum merklich zurückweichst. Die Kälte, die ich aufbringen konnte, scheint dir einen Stich zu versetzen. „Wieso glaubst du das Recht zu haben, meine Tür einzutreten?“, zische ich. Es ist nicht das, was ich sagen wollte, aber was bringt es das zu sagen, das ich sagen möchte? Du ziehst deine Augenbrauen zusammen. Die wenigen Zentimeter Abstand die du zuvor eingenommen hast, überwindest du, kommst mir mit deinem Gesicht näher als zuvor, wodurch ich in deine Augen sehen kann, die von Wut zeugen. Augen, die mir etwas zeigen, das ich nicht deuten kann. Tiefblaue Augen. Ich zucke zusammen, als etwas Kaltes meine Haut berührt. Ich wende meinen Blick von deinen Augen ab und stelle fest, dass dein nasses Haar einige Tropfen auf meiner Haut hinterlassen haben. Meine kleinen Retter, die verhinderten, dass ich mich in diesen faszinierenden Augen verliere. „Ich bin Amerika, ich nehme mir das Recht dazu.“ Ich sehe wieder auf und sehe in ein lächelndes Gesicht. Nicht in das lächelnde Gesicht, das ich früher wertgeschätzt habe, welches Wärme und Herzlichkeit geschenkt hat, sondern in eines, das ich bisher noch nicht an dir gesehen habe. Süffisant und beinahe kalt. Diese Züge erschrecken mich, ohne es zu wollen und zugleich wird deine Miene etwas weicher. Vielleicht, weil du mich nicht erschrecken wolltest. Ein flüchtiger Gedanke, welchen ich sofort bereue. Hoffnung ist das letzte, das ich nun aufbringen sollte. „Ich warte auf eine Erklärung, England.“ Ich versuche Abstand zu nehmen, indem ich meinen Rücken so eng wie möglich an den Stuhl lehne. Kein erfolgreiches Unterfangen, doch allein der Versuch verleiht mir einen Teil meiner Sicherheit zurück. „Ihr braucht mich doch ohnehin nicht.“ Ich beiße mir auf die Lippe. Das ist etwas, das ich zwar sagen wollte, aber dennoch nicht preisgeben wollte. Eine Tatsache, die man nicht zugeben möchte, eine Tatsache, die zu schmerzhaft ist, um sie auszusprechen. Es wäre ein leichtes gewesen, eine Lüge zu erzählen, aber die Wahrheit war schneller und hatte meinen Mund verlassen, ehe es mir möglich war, sie zurückzuhalten. Diese wahren Worte scheinen nicht nur mich selbst, sondern auch dich zu überraschen. Ich wollte es ignorieren. Ich wollte dich verbannen, ohne dir eine Erklärung zu geben. Ich wollte Lügen aufbringen, ein Netz daraus spinnen, aus dem ich nicht mehr entkomme und durch das niemand hindurchsieht. Ein dichtes Netz aus Lügen. Die Wahrheit in mir scheint aber etwas anderes vorgehabt zu haben. Denn obwohl ich bemerke, dass ich gerade zu viel von meinen Gedanken preis gegeben habe, und ich sehr wohl weiß, dass du weißt, dass ich nicht scherze, kann ich nicht aufhören. Wenn ich schon einmal begonnen habe, dir die Wahrheit zu sagen, wieso dann nicht ganz? Nun macht es keinen Unterschied mehr. Du machst deinen Mund auf, um etwas zu sagen, doch ich lasse das nicht zu. Nicht jetzt, wo ich mich dazu entschlossen habe, die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit, damit du mich in Ruhe lässt. Damit ich mich selbst schützen kann, vor dir und dem Rest der Welt. Ich will und kann nicht mehr verletzt werden. Ich kann das nicht mehr ertragen. „Ihr braucht mich doch ohnehin nicht“, wiederhole ich. „Ich bin euch zu mürrisch, zu pessimistisch, zu realistisch und gleichzeitig zu fantasievoll.“ Du machst den Mund auf, willst mich unterbrechen, aber ich lege dir die Hand vor den Mund. „Nein, jetzt bin ich dran.“ Ich zittere. Mein Körper, meine Stimme, sie zittern. „Wozu braucht ihr mich, wenn ihr euch nur über mich lustig macht? Ich bin doch ohnehin das 'schwarze Schaf von Europa', mit dem keiner zusammenarbeiten will. Mit mir habt ihr doch nur Probleme, es gibt nur Auseinandersetzungen und Diskriminierungen aufgrund von nicht vorhandenen Talenten. Wieso muss ich mich zu diesen Treffen quälen, wenn ich dort immer wieder dir begegne? Wieso muss ich mich jedes einzige Mal mit dir streiten? Wieso musst du immer Salz in meine Wunden streuen? Wieso muss ich mich jedes Mal zwingen dich anzusehen, obwohl es mir solche Schmerzen bereitet?“ Ich nehme meine zitternde Hand von deinem Mund. Du siehst mich entsetzt an, siehst mich nur an, weswegen ich nicht befürchten muss von dir unterbrochen zu werden. „Wieso muss ich mich immer weiter quälen und quälen, bis ich daran zerbreche? Ich, will...ich...“ Tränen rinnen über mein Gesicht und ich wende meinen Blick ab, beiße auf meine Lippe und vergrabe meine Hände in meinen Haaren. Meine Augen huschen unruhig hin und her, versuchen deinen Blick zu meiden, suchen einen Punkt, auf den ich mich fixieren kann, bis mein Blick auf den Scherben der zerbrochenen Teetasse ruhen bleibt. Ich muss wohl ein paar Sekunden zu lange auf die Scherben gesehen haben, denn sogar dieser Idiot schien zu verstehen, was ich gedacht hatte: Ich will nicht auch so enden. Ich will nicht auch zerbrechen, nicht in kleine Stücke zerfallen und letztendlich weggeworfen werden. Plötzlich spüre ich einen leichten Druck auf meiner Schulter, weswegen ich wieder aufsehe. Du hast den Kopf gesenkt und sagst nichts. Vermutlich weil er weiß, dass ich Recht habe. Du schüttelst den Kopf und erneut tropfen deine nassen Haare auf meine Haut. „Ich würde dich gerade am liebsten nochmal schlagen.“ Deine Stimme ist leise und ungewohnt. Aber ich kenne diese Stimme. Ich kenne diesen Klang, diesen Unterton. So klangst du zuletzt, als du dich von mir abgewendet hast. Ich muss leise lachen, unterbrochen von einem kurzen Schluchzen. Habe ich das erreicht, was ich erreichen wollte? Dass du dich von mir abwendest? Erneut? Wenn ja, warum tut es dann so weh obwohl ich darauf vorbereitet war? Obwohl es meine Absicht war? Du siehst auf, die Augenbrauen zusammengezogen. „Wendest du dich wieder von mir ab?“, frage ich und lache dabei. „Tust du das? So wie du es damals gemacht hast? Trittst du meine Liebe zu dir ein letztes mal mit Füßen? Lässt du mich endlich gehen? Kann ich dich endlich gehen lassen? Kann ich-?“ Warme Hände auf meinen Wangen. Warme Lippen auf den meinen. Kalte Wassertropfen auf meiner Haut. Sanfter Druck auf meinen Händen. Geschlossene Augen, angespannte Gesichtszüge. Ich spüre deine Wärme, deine Sanftheit und Unsicherheit. All das vereint sich und trifft auf meine Lippen. Und ich, ich spüre die Überraschung in jedem Zentimeter meines Körpers. Ich kann dich nur ansehen, kann dein Gesicht aus der Nähe betrachten, kann deine nassen Haarsträhnen spüren. Es grenzt an einer Reizüberflutung. Wärme, Kälte, Geborgenheit, Verwirrung, Sicherheit, Überraschung. Gefühlschaos. Du löst dich langsam und dein warmer Atem streift ein letztes mal meine Lippen. Du lässt den Kopf hängen und ich kann dich nur anstarren. „Seit wann bist du so verblendet?“, fragst du leise und ich bekomme eine Gänsehaut. „Sonst weißt du doch auch alles besser.“ Du siehst auf und deine Augen verraten mir, dass ich dich mit meinen Worten verletzt habe. Das verwirrt mich noch mehr. Es macht mich konfus. „Ich bin hier, weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe!“ Ich reiße meine Augen auf. „Du brauchst mich gar nicht so ansehen! Und nicht nur ich habe mich gesorgt, sondern auch die anderen, ob du es mir nun glaubst oder nicht! Ich habe versucht dich zu erreichen, du gehst nicht an dein verdammtes Telefon, egal wie oft ich dich anrufe! Ich habe schon gedacht du bist ernsthaft krank! Oder dir sei irgendetwas auf dem Weg passiert!“ Ich kann dich nur weiterhin anstarren, während ich endlich realisiere, was ich zuvor immer wieder in deiner Stimme gehört habe. Es war tatsächlich Wut. Tatsächlich Verzweiflung. Und das, was ich nicht zu deuten fähig war, war Sorge. Sorge. Um mich. Er sieht meinen Unglauben und seufzt genervt. „Wirklich, England. Frankreich hat mich sogar mehrmals gefragt, ob ich dich endlich erreichen konnte. Italien hat uns alle verrückt gemacht, indem er sich die wildesten Horrorszenarien ausgedacht hat. Nicht einmal Deutschland konnte ihn beruhigen. Russland hat deine magische Aura vermisst. Japan mag dich wirklich, er wollte sogar mit mir mit kommen.“ Meine Hand hat wieder begonnen zu zittern. Ich halte sie mir vor den Mund und starre ihn nur an. Ich kann nicht anders. Ich kann nicht anders handeln. Ich kann es ihm kaum glauben. Ich will es ihm nicht glauben. Und andererseits wäre das etwas, das mich überglücklich machen würde. Aber vor allem würde es mich glücklich machen zu wissen, wieso er hier ist. Und gleichzeitig mit diesem Gedanken trübt sich mein Gemüt wieder, ich sehe ihn wieder verletzt an. Versuche meine Kühle von zuvor zurückzuerlangen, doch so ganz möchte mir das nicht gelingen. Zudem kommt, dass mich dieser Kuss von eben noch mehr aufwühlt. Wieso hat er das getan? Wieso ausgerechnet jetzt? Wieso? Ich beiße mir wieder auf die Lippe, versuche somit weitere Tränen zu unterdrücken. „Und du bist also nur hier um die Sorge der anderen zu mildern?“ Stille. Ich höre nichts. Und als ich aufsehe, erkenne ich nur eines: Fassungslosigkeit. Tiefe Fassungslosigkeit. Dein Mund ist sogar geöffnet. Ich glaube, so habe ich dich noch nie gesehen. Um Fassung ringend. Nie hätte ich geglaubt, dass ich dich jemals aus der Fassung bringen könnte. Du schließt die Augen und atmest tief durch, siehst mich dann an, so durchdringend wie mich noch nie jemand in meinem Leben angesehen hat. Ich spüre, wie sich meine Nackenhaare aufstellen, wie mir ein Schauer über den Rücken fährt, wie ich meine Aufmerksamkeit auf deine Augen richte, welche vor Entschlossenheit zu leuchten scheinen. Fesselnd. „England. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich dir das nach dem was ich gerade getan habe noch erklären muss, aber wie es scheint, scheinst du mich wirklich nicht verstehen zu wollen. Also werde ich es dir wohl erklären müssen.“ Du richtest dich zu deiner vollen Größe auf und ziehst mich aus meinem Stuhl, sodass ich dir gegenüber stehe. Du siehst zu mir herunter, hast deine Augenbrauen zusammengezogen. Ich komme nicht umhin, deine Größe zu bewundern. Ja, ich bewundere sie und bedauere sie nicht. Du bist mir über den Kopf gewachsen. Bist so viel größer und stärker geworden als ich. Es ist bewundernswert. „Ich habe mir unglaubliche Sorgen gemacht. Als du nach fünf Minuten nach Beginn des Treffens immer noch nicht da warst, wäre ich am liebsten sofort aus dem Zimmer gestürmt um nach dir zu suchen. Auf dich zu warten hat mich beinahe wahnsinnig gemacht. Ich war so unruhig, dass ich damit sogar Japan gereizt habe. Dich anzurufen ohne dich zu erreichen hat mir Angst gemacht. Ich hatte solche Angst, dass dir etwas passiert sein könnte, dass ich einfach herkommen musste.“ Du legst eine Hand auf meine Wange, auf die Stelle, an der du mich zuvor getroffen hast, kühlst die warme und pochende Stelle, welche ich zuvor kaum war genommen habe. Ich kann nicht von dir wegsehen. Bin fasziniert von deinen Worten, von deiner Mimik, deinem Verhalten, von dir. Deine Worte rühren mich tief in meinem Inneren und ich merke, wie ich weich werde. Aber ich will nicht weich werden. Ist das nicht letztendlich nur wieder ein Weg um mich zu verletzen? Wirst du mich nicht gleich wieder sofort zurücklassen, sobald du neue Hoffnung in mir entfacht hast? Oder muss ich letztendlich wirklich einsehen, dass ich dich gehen lassen muss? Dass ich zulassen muss, dass du mich zurücklässt? Als ich deinem Blick ausweichen will, schüttelst du den Kopf, bittest mich damit stumm dich weiter anzusehen. Ich sehe dir in die Augen, in diese blauen Augen, die ich schon liebte als du noch klein warst und mich gebraucht hast. „Willst du wissen, warum ich die Unabhängigkeit wollte?“ Ich schnappe kurz nach Luft. Nie haben wir darüber geredet. Nie konnte ich verstehen, warum du nicht mehr bei mir sein wolltest. Warum du nicht mehr ein Teil von mir sein wolltest. Warum du mich alleine gelassen hast. Aber ich kann nicht weiter reagieren. Dennoch ziert nun ein Lächeln dein Gesicht, das Lächeln, das ich noch immer liebe, obwohl mir die Erinnerung an die Wärme, die darin steckte immer Schmerzen zugefügt hat. „Ich wollte von dir unabhängig werden, weil ich dich liebte, England. Weil ich dich noch immer liebe, so wie ich es immer getan habe.“ Nun bin ich es, der fassungslos ist. Der noch immer nicht versteht. Der vor allem nun nicht mehr versteht. „Aber wa-?“ „Warum ich mich dann von dir abgewendet habe, obwohl ich dich liebe?“ Es erstaunt mich um so mehr, dass du meine Frage zu Ende führst. So sehr, dass es mir die Sprache verschlägt. So sehr, dass ich nicht einmal mehr in der Lage bin in meine Gedanken abzuschweifen. „Weil ich dich nicht liebe, wie ich einen Bruder liebe, England. Ich wollte immer so viel mehr, habe dich so sehr geliebt, dass ich den Gedanken nicht ertragen konnte in deinen Augen immer nur dein kleiner Bruder zu sein. Ich wollte ein neues Ich werden, ein eigenständiges und starkes Ich, das du lieben und wertschätzen kannst. Nicht als deinen Bruder, sondern als jemanden, der unabhängig von anderen Leben kann. Und der auch dich auffangen kann, wenn du nicht mehr dazu in der Lage bist alleine zu stehen.“ Ich senke den Kopf und lege meine Hand auf meinen Mund. Unterdrücke so meine wimmernden Geräusche, mein Schluchzen, mein Jammern, mein Klagen. Ich kann nicht anders als ihm zu glauben. Wieso? Wieso habe ich ihn nie danach gefragt? Wieso habe ich ihm nie gesagt, dass es mir egal ist, ob er von mir unabhängig ist oder nicht, solange er mich nicht alleine lässt, solange er bei mir bleibt? „Ich war so ein Dummkopf“, schluchze ich und wage es nicht, dich anzusehen. Du lachst leise, legst deine Hand unter mein Kinn und zwingst mich sanft den Kopf zu heben und dich anzusehen. „Du warst kein Dummkopf, du bist noch immer ein Dummkopf. Ich kenne niemandem, dem man erklären muss, was ein Kuss bedeutet.“ Ich muss kurz auflachen. „Nenne mich nicht Dummkopf.“ Du beginnst zu grinsen und zuckst mit den Schultern. „Aber du bist einer. Und nun, England...hast du mir nicht auch etwas zu sagen?“ Ich verstumme und sehe ihn aus tränenverhangenen Augen an. Ob ich ihm etwas zu sagen habe? Ich habe ihm viel zu viel zu sagen. Daher lächle ich einfach nur. „Du hast meine Türe zerstört.“ Wieder lachst du. Dieser Klang ist wie Balsam für meine Seele. Verrückt. „Und sonst nichts?“ Ich muss lächeln. Ehrlich lächeln. „Ich liebe dich auch. Schon seit du klein warst. Noch immer. Noch viel stärker.“ Dein Gesicht rötet sich vor Freude, du grinst, strahlst wie die Sonne, die an einem regnerischen Tag durch die Wolken bricht. Hell, klar, schön. Und wieder küsst du mich. Mit noch mehr Wärme als zuvor, mit Zärtlichkeit, mit Ehrlichkeit, mit Liebe. Und ich? Ich schließe die Augen und lasse es geschehen, genieße es, lasse die Sonne zurück in mein Herz. Du drückst mich an dich, nimmst mich in den Arm. Stehst mit mir zusammen, lässt mich nicht mehr los. „England?“ „Hm?“ „Ich bin klitschnass.“ Ich entferne mich minimal, sehe erst ihn an, dann an mir herab. „Inzwischen nicht nur du.“ Du grinst nur selbstzufrieden und setzt dir die inzwischen getrocknete Brille wieder richtig auf die Nase, fährst dir durch das feuchte Haar. „Ich brauche neue Kleidung. Und am besten gehe ich heute gar nicht mehr raus.“ Ich schüttle den Kopf, ehe ich lächle. „Ich schätze, da kann man wohl nichts machen“, sage ich, ehe ich seine Hand nehme und ihn die Treppen hinaufziehe. Ich weiß nicht genau, wieso all das passiert ist. Wieso es ausgerechnet so passiert ist. Wieso du ausgerechnet mich verletzt hast, um letztendlich bei mir zu sein. Wieso du mich nicht losgelassen hast und warum ich dich nicht loslassen konnte. Wieso du mir hinterhergejagt bist. Aber eines kann ich mit Sicherheit sagen. Du hast mich endlich gekriegt. Ende. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)