Oneiroid Psychosis von Salamitaktik ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Setsuna träumt. Er träumt, dass Schatten über ihm sind - Aliens, sie fassen ihn an, sein Gesicht, seinen Bauch, seine Genitalien, seine Knie. Dann drehen sie ihn um, betasten seinen Hinterkopf, seinen Rücken, seinen Hintern und seine Fersen. Dann verspürt er einen heftigen, aber punktierten Schmerz im Nacken und ehe alles gänzlich dunkel wird, hört er Saras Stimme, die wimmert: „Etwas stimmt mit dem Baby nicht, Setsuna - Setsuna!“ Erwachen. Eine irritierende Angelegenheit. Setsuna ist . . . hier. Das Bett ist weich, aber es ist nicht das seine. Es riecht auch fremdartig. Also ist er nicht Daheim . . .- Ach ja. Man hat ihn schließlich weggebracht. Er blinzelt gegen das hereinfallende Sonnenlicht (gibt es keine Jalousien? . . . doch, da!, eine Schnur, über die in gewissen Abständen kleine Kügelchen gefädelt sind, fällt zur Seite des großen Fensters herunter und verschwindet oben in einem Loch), die Wände sind in einem warmen Orange gestrichen, die eher spärliche Einrichtung (Schrank, Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen und ein Regal) besteht aus hellem Holz, das Zimmer ist geräumig genug, dass er in jede Richtung etwa drei Schritte gehen kann, ohne an ein Möbelstück oder an die Wand zu stoßen, das Mobiliar hat im übrigen keine scharfen Ecken, sondern sie sind abgeschliffen. Noch etwas wackelig auf den Beinen und einer noch nicht überwundenen Verwirrung, steht er auf. Vage kann Setsuna sich erinnern, gestern, spät abends, von einer nett dreinblickenden Schwester einen Pyjama bekommen zu haben - trotz der Tatsache, dass er ihn die ganze Nacht getragen haben muss, riecht er noch immer unvertraut und nach handelsüblichem Waschmittel; es verwundert ihn, dass die Ärmel und Beine noch ziemlich steif sind. Mit einer gewissen, freudigen Überraschung stellt er indes fest, als er seine Beine aus dem Bett schwingt, dass er statt des, für eine medizinische Einrichtung üblichen, Linoleum Parkettboden unter den Füßen spürt. Eigentlich ist es ganz hübsch hier. Der Junge tritt ans Fenster, legt die Hand auf den Griff und, obgleich er weiß, dass abgeschlossen ist, drückt er ihn nach unten. Selbstveständlich geht das Fenster nicht auf. Nichtsdestotrotz hat er einen guten Blick auf die weitläufige Gartenanlage. Und so sehr er sich auch anstrengt, kann er weit und breit kein Haus sehen. Setsuna spürt ein unangenehmes Jucken im Nacken und kratzt sich an der Stelle. Seine Zimmertür ist ebenso verschlossen wie das Fenster, und Setsuna kann nicht leugnen, dass er nun ein wenig ärgerlich wird. Was ist, wenn er auf Toilette . . . - oh, dafür ist gesorgt, denn er entdeckt eine weitere Türe, die sich diesmal öffnen lässt: dahinter findet sich also ein Bad - Klo, Dusche und ein Waschbecken, ein einzelnes, weißes Handtuch liegt gefaltet auf dem Toilettendeckel. Setsuna versteht nicht so recht, warum er nicht wütender wird, immerhin ist er eingesperrt - ohne weitere Erklärungen, als sei er ein dummes Tier, als sei er so stumpfsinnig, dass er alles mit sich machen lässt, als . . . doch es bringt nichts, entgegen aufwallendem Zorn verspürt er nur Müdigkeit und so schleicht er zu seinem Bett zurück, wobei er beinahe über seinen Koffer gestolpert wäre, und legt sich wieder hin. Er denkt, dass sie ihm wohl irgendetwas gegeben haben müssen. Und ehe er sich versieht, ist er schon, am hellichten Tage, eingeschlummert . . . Als er zum zweiten Mal an diesem Tage erwacht - es muss einige Zeit vergangen sein, denn das Sonnenlicht ist nicht mehr so grell - ist Setsuna nicht mehr allein. Auf einem Stuhl, der vor sein Bett geschoben ist, sitzt eine hochgewachsene, bebrillte Gestalt, deren schwarzes Haar zu einem Zopf gebunden ist. Setsuna muss blinzeln, ehe ihm gewahr wird, dass es sich um einen Mann handelt. Dann fällt ihm auf, dass die Person zwar das Gesicht ihm zugewandt, aber die Augen geschlossen hat. „Sie sind wach, Mudo-san“, die Stimme ist sonor, sanft und gibt ihm ein Gefühl von Geborgenheit, das er schon lange nicht mehr empfunden hat. Setsuna nickt. „Ich werde während Ihres Aufenthalts hier Ihr seelischer Beistand sein. Ich bin Zaphikel.“ Der Junge ist nur zu einem unsicheren Geräusch fähig, das sich aber als Okay dechiffrieren lässt. „Sie sind mein Therapeut“, sagt Setsuna kraftlos, denn ein erschreckendes Gefühl von Realität wallt in seiner Brust auf. „Wenn Sie das so sehen, Mudo-san“, Zaphikel hat nicht einmal die Augen geöffnet, „Aber mir ist 'seelischer Beistand' lieber. Als Arzt sehe ich mich nur, wenn ich eine Krankheit kuriere, eine Störung oder Verstörung - und wovon wollen Sie kuriert werden? Sind Sie krank?“ Setsuna blinzelt verwirrt und rutscht unruhig auf seinem Bett hin und her, „Ich . . . ich - Sie haben meine Akte gelesen, Zaphikel-san, Sie wissen über mich Bescheid.“ Zaphikel lächelt warmherzig: „Man hat mich über Sie unterrichtet, Mudo-san, das ist wahr - aber Worte können manchmal irreführend sein.“ „Ich bin hier, weil man mich für verrückt erklärt hat und meine Eltern verdammt reich sind - Sie sind der Doc, Sie entscheiden über alles.“ Zaphikels beharrliches Lächeln, das Setsuna mittlerweile auf die Nerven geht, zuckt ein wenig, scheint zu flimmern, doch es bleibt auf seinen Lippen haften wie aufgemalt: „Ihnen geht es schlecht - Sie müssen Dinge überleben, die sich andere nicht einmal erträumen können. Mudo-san, ich will Ihnen eine Hilfe sein - aber wenn Sie sich nicht gleich öffnen, ist das in Ordnung. Aber tun Sie es irgendwann - es geht um Sie und wie viel Sie sich wert sind; da kann ich Ihnen nicht hineinreden.“ Der Junge senkt seinen Blick, sieht den weißen Verband, erinnert sich an das scharfe Teppichmesser - an die Angst und diese unendlich tiefe Trauer, er spürt seine Fehlbarkeit und Saras klammernde Hand, ihr Weinen und das Blut, das aus ihrem Körper gesickert ist. Um ein trockenes Schluchzen zu unterdrücken, schlägt sich Setsuna fest die Hand auf den Mund. Es fühlt sich an wie Sterben. „Ich . . . ich“, würgt er zitternd hervor, „Bin müde. Lassen Sie mich schlafen.“ „Natürlich, Mudo-san, Sie hatten eine lange Reise.“ Zaphikels ewiges Grienen verliert sich immer mehr in Wehleidigkeit, doch er öffnet nicht die Augen, um Setsuna anzusehen. Er sieht ein wenig aus wie ein abgemagerter Buddha. Sein . . . seelischer Beistand wendet sich zur Tür hin und möchte sie schon öffnen und ihn verlassen, als Setsuna noch fragt: „Bin ich noch lange eingesperrt?“ „Wir werden sehen“, sagt Zaphikel und geht nun endgültig. Vor sich hin dämmernd hört er, dass mit einem Klicken das Schloss einrastet. Bei seinem dritten Erwachen bricht bereits die Nach herein. Und . . . hereinbrechen, das trifft es wörtlich, denn die plötzliche Dunkelheit ist wie ein Schlag in die Fresse - ist sein Traum doch voll von Neonlicht und Lachen gewesen, von Saras weichem Haar und ihren blauen Augen, die ihr das runde Mädchengesicht stehlen. Er fühlt ihren Körper an seinem und weiß gar nicht mehr, dass es so einfach ist, zu lieben. So . . . leicht, zu lieben und zurückgeliebt zu werden. Alles, was man braucht, ist ein weiches Lippenpaar und ein bisschen Hoffnung. Hoffnung ist immer die einzige Konstante in seinem Leben gewesen - er ist mit einer verschrobenen Art von Hoffnung am Morgen aufgewacht und mit ihrer verwundeten Schwester abends zu Bett gegangen. Setsuna hat gehofft, als man ihm die Scheiße aus dem Leibe prügelte und er seinerseits zurückgeschlagen hat. Gehofft hat er, als er mit seinem vierzehnten Lebensjahr die Jungfräulichkeit verloren und zu Gott gebetet hat, endlich diese verstörenden, ja, entsetzlich bittersüßen Gefühle zu seiner kleinen Schwester zu vergessen. Mit ihm ist die Hoffnung gewesen, als Sara ihn geküsst hat, als sich ihre Körper in einem orgiastischen Fest der Fleischeslust miteinander verbunden haben und auch, als sie ihn, wahnsinnig vor Angst und Scham, gebeten, ihr dieses . . . Kind aus dem Bauch zu entfernen, während er sich weinend und schluchzend an ihren Busen gedrückt, und sie ihm daraufhin in einem eintönigen Singsang zugeflüstert hat, es werde alles gut. Hoffnung hat er sogar gehabt, als er sich mit einem Teppichmesser die Arme aufschnitt und sein Leben in einem lächerlich trostlosen Film an ihm vorbeigezogen, wobei das allerletzte Bild, in einem Moment von einer Sekunde an ihm vorbeigeflimmert, Saras verzerrtes, totenfahles Gesicht gewesen ist. Und Setsuna denkt, dass er ganz schön verzweifelt sein muss, wenn er sich selbst jetzt noch an einen leeren, überholten Begriff wie Hoffnung klammert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)