Zigarette danach von sissyphos (Naruto & Sasuke/ Other Pairing) ================================================================================ Kapitel 1: Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen -------------------------------------------------- Ein knapper Blick auf die Uhr genügte, um eins zu wissen: Er hatte nicht mehr viel Zeit. Mit keuchendem Atem presste er sich durch die Menschenmengen hindurch und sah dabei starr geradeaus. Kein einziges Mal glitt sein Blick zur Seite. Immer nur stur geradeaus, vorwärts. In der Halle war es laut, stickig und vor allem überfüllt. Wenn er sich nicht beeilte, würde er seinen Flieger verpassen. Und zu spät zu kommen, etwas zu verpassen, etwas nicht zu erreichen, das war nichts, was Sasuke Uchiha akzeptieren konnte. An diesem letzten Tag in seinem Heimatland war viel schief gelaufen. Die Auseinandersetzung mit seinen Eltern, die seinen kurzfristigen Entschluss weder verstehen noch gutheißen konnten, das hastige Packen für einen Aufenthalt von einem Jahr, mit dem er seit mehreren Tagen beschäftigt war, und die Tatsache, dass sein Zug mit Verspätung eingetroffen war, hatten ihn eine Menge wertvolle Zeit gekostet. Zeit, die er nicht hatte. Gerade noch rechtzeitig erreichte er sein abflugbereites Flugzeug in die buchstäbliche Freiheit. In eine neue, hoffentlich aufregendere Zukunft. Schnaubend nahm er auf seinem reservierten Sitz Platz und schaute aus dem Fenster hinaus. Ein letzter Blick auf diesen Teil der Erde genügte. Es reichte. In gerade einmal einundzwanzig Stunden würde er einen anderen Kontinent betreten; ein gutes Gefühl. Tief atmete er ein und wieder aus. Erleichterung machte sich in seinem Körper breit. Gleichzeitig war nun allerdings auch der Zeitpunkt gekommen, wo ihn die Unsicherheit packte. Jetzt, wo er im Flieger saß, seine sieben Sachen gepackt hatte und alles geklärt war, was es zu klären gab, dachte er darüber nach, ob es die richtige Entscheidung war, für eine verdammt lange Zeit in ein fremdes Land zu reisen. Einfach alles, sein ganzes bisheriges Leben hinter sich zu lassen und noch einmal neu zu beginnen. Natürlich, er würde in seine Heimat zurückkehren, nur nicht als der Mensch, der er jetzt war. Jedenfalls war genau das Sasukes momentaner Plan und ein wichtiger Beweggrund für seinen Aufbruch. Dennoch – innerhalb einer Woche hatte er beschlossen, eine Distanz von 4000 km zwischen ihn und all die zu bringen, die er liebte. Erzählt, nahezu gebeichtet, hatte er es erst heute, am Tag seiner Abreise. Sasuke hatte in den vergangenen Tagen kein Bitten und Betteln gebrauchen können, das ihn dazu bringen sollte, nicht zu gehen. Auch wenn sein Entschluss fest stand, es wäre ihm schwer gefallen, seine Beweggründe zu erklären. Mit seinem Entschluss ließ er viel Gutes und viel Schlechtes hinter sich. Doch weder an die guten noch an die schlechten Erlebnisse wollte er auch nur noch einen Gedanken verschwenden. In diesem Land war er geboren worden, aufgewachsen, hatte seinen Abschluss gemacht, seine Ausbildung zum Industriekaufmann abgeschlossen und jetzt war die Zeit gekommen, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Er wollte weg. Weg aus seinem Leben, weg aus diesem Land. Ein Jahr ins Ausland, um sich sprachlich weiterzubilden; für seine Zukunft, für sein Studium. Das war seine Erklärung gewesen. Seine kurze, halbherzige Erklärung, die nur die halbe Wahrheit umfasste, aber das konnte niemand ahnen. Denn eine von Sasukes äußerst praktischen Begabungen war es, überzeugend zu schauspielern. Zumindest gerade so überzeugend, dass man ihm die Lüge nicht ansah, nicht einmal seine Eltern. Er selbst dachte besser nicht näher darüber nach, ob der Grund dafür wirklich seine ›überragende‹ Schauspielkunst sein konnte. Sasuke schloss die Augen, als sich das Flugzeug in Bewegung setzte und sein Rücken beim Start in die Lehne gepresst wurde. Sein Magen verkrampfte sich unter der gewaltigen Wucht und er hatte schon jetzt das Gefühl, als nähme der Druck auf seinen Ohren erheblich zu. Endlich ließ er alles hinter sich. Er reiste ab. Er floh. Etwas, das Sasuke Uchiha nicht einmal sich selbst eingestehen konnte, denn in der Regel floh ein Uchiha vor nichts und niemandem. Vor seinen Eltern, seinem Bruder, seinen anderen Verwandten, vor seinen Freunden und Kollegen führte der 22-jährige Mann ein nahezu perfektes, beneidenswertes Leben. Man bewunderte ihn regelrecht für seine schöne Maskerade, die er immer und überall aufrecht erhielt. Sasukes Augen öffneten sich einen Spalt weit und er dachte noch ein letztes Mal an sein bisheriges Leben zurück. Es war nie schlecht, aber auch niemals ansatzweise perfekt gewesen. In seinen Augen war es eher grausam gewöhnlich verlaufen. Gut, vielleicht nicht immer, aber meistens. Doch manchmal, ja in manchen Augenblicken war sein Leben dagegen alles andere als gewöhnlich gewesen und auf die Momente und Personen, die Sasukes Leben zeitweise ungewöhnlich gemacht hatten, hätte er im Nachhinein gut verzichten können. Er erinnerte sich an Situationen, die noch nicht allzu lange zurücklagen und schüttelte kaum merklich den Kopf. Nein, wenn er jetzt darüber nachdachte, konnte er weder immer noch überall seine kühle und desinteressierte Fassade zur Schau stellen. In manchen Momenten hatte er es nicht einmal gewollt. Er hatte Dinge von sich Preis gegeben, die er selbst nicht wissen wollte. Die lieber dort geblieben wären, wo sie herkamen. Tief in ihm vergraben, wo sie hingehörten. Er war auf die Schnauze gefallen, nicht nur einmal. Und er hatte Fehler gemacht. Viele Fehler. Dämliche Fehler, peinliche Fehler und verdammt schöne Fehler. Diese Fehler waren der einzig wahre Grund dafür, warum er jetzt in diesem Flieger saß und versuchte, ein neues besseres Ich zu gründen. Ein Ich, das schlau genug war, niemals wieder auf derart harte Weise auf die Schnauze zu fallen. Andernfalls könnte es das letzte Mal gewesen sein, dass er die Kraft fand, nahezu unversehrt wieder aufzustehen. Die Ankunft war holprig, regelrecht turbulent verlaufen und weckte den schlafenden Uchiha aus Träumen, die er sowieso nicht träumen wollte. Sofort stand er wieder unter Strom, folgte der Menschenmasse, die sich aus dem Flugzeug drängte und betrat zum ersten Mal mit seinen eigenen Füßen den neuen, fernen Kontinent. Optisch unterschied sich dieser Teil der Erde oder zumindest dieser Flughafen, nicht sonderlich von seinem Heimatland. Da war ganz gewöhnlicher, dunkler Asphalt, verschiedene Maschinen, ein Gebäude, das zum Großteil aus Glas erbaut war und ein wolkenloser Himmel. Die Sonne stand noch hoch oben am Himmelszelt und würde erst in einigen Stunden untergehen; für ihn der einzige Segen des Sommers. Sasuke krempelte sich die Ärmel hoch und blinzelte dem grellen Sonnenlicht entgegen. Ganz so schönes Wetter hatten sie bei ihm nun doch nicht gehabt. Er machte die ersten Schritte und beobachtete auf dem Weg zu seinem Gepäck, Paare und Grüppchen, die quatschend an ihm vorbei gingen. Viele verschiedene Sprachen schlugen hier auf ihn ein, nichts Ungewöhnliches für einen Flughafen. Dennoch war es etwas anderes, ob man in seinem eigenen oder einem fernen Land kein Wort verstand. Die Landessprache war Englisch. Kaum jemand, der Sasukes Weg kreuzte, sprach diese Sprache. Alles war fremd, verdammt ungewohnt. Das Schlimmste war, dass er nicht im Traum damit gerechnet hätte, dass er sich unwohl fühlen könnte. Denn diese Reise war genau das, was er wollte und trotzdem - trotzdem fühlte er sich einfach fehl am Platze. Tief atmete er durch und hoffte darauf, dass dieses Gefühl mit der Zeit vergehen würde. Er hoffte, dass er sich an das neue Umfeld genauso gewöhnen würde, wie man sich mit der Zeit an nahezu alles gewöhnte. Aus dem Alter für Heimweh war er schließlich längst raus; er war kein Kind mehr. Sasuke wartete eine gute halbe Stunde, bis er endlich seinen Koffer in Empfang nehmen konnte, dann zog er einen sorgfältig gefalteten Zettel aus der Hosentasche und öffnete ihn. Auf diesem Blatt Papier stand die Adresse der Familie geschrieben, bei der er die nächsten zwölf Monate verbringen würde. Noch einmal atmete er tief durch. Sie wohnten außerhalb der Stadt, das wusste er. Und es gefiel ihm, recht gut sogar. Er selbst hatte eine lange Zeit am Stadtrand gelebt und das bisschen Natur genossen, das ihm dort geblieben war. Dieses Land war allerdings von der Bevölkerungsdichte etwas anders gestrickt, als sein eigenes. Hier gab es Ballungsgebiete, ja, aber es gab auch sehr ländliche Gegenden. Sasuke hatte im Internet sogar gelesen, dass es Gegenden gab, die Stunden von der nächsten Stadt entfernt lagen und in denen fließend Wasser und Elektrizität als regelrechter Luxus galten. Natürlich war er vorhanden, aber alles über diesen eigentlichen Standard hinaus, war schwierig zu bekommen. Internet fiele schon einmal flach und damit auch Sasukes bester Kontakt zur Außenwelt. Um ehrlich zu sein, hatte er sich, nachdem er die Zusage für seinen Aufenthalt von der Familie erhalten hatte, nicht mehr getraut nachzusehen, in welche abgelegene Art von Gegend es ihn treiben würde. Alles konnte man irgendwie meistern und Sasuke war zu seinem Vorteil nicht besonders anspruchsvoll. Er konnte auch mit Wenigem auskommen; irgendwie würde er sich schon arrangieren, da war er recht zuversichtlich. In Gedanken versunken, rollte er seinen tonnenschweren Koffer raus aus dem Flughafen, direkt auf den Bürgersteig hinauf, wo verschiedene Verkehrsanbindungen auf ihn warteten. Ratlos stand er dort und blickte auf seinen Zettel. Irgendetwas musste ja unter der straffen Zeitplanung gelitten haben. Bei Sasuke hatte die Überlegung gelitten, wie er am besten sein Ziel erreichen konnte. Mit Bus, Bahn oder Zug – er hatte sich um nichts gekümmert. Grummelnd und verärgert über sich selbst, stand er dort und dachte nach. Der plötzlich ungewohnt starke, kühle Wind peitschte ihm dabei um die Ohren und färbte mit seinen unruhigen Bewegungen auf sein Gemüt ab. »Fuck«, zischte Sasuke genervt und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Wie bescheuert konnte man eigentlich sein? Er stand hier, in einem fernen Land, das tausende Kilometer von seinem eigentlichen Zuhause entfernt lag und er hatte weder eine Ahnung, wo seine neue Heimat genau lag noch wie er diese erreichen sollte. »Großartig«, lobte er sich selbst ironisch. Wie konnte man ernsthaft etwas so Essenzielles vergessen? Dafür musste man schon ganz schön durch den Wind sein. Wieder peitschte jener Wind in Sasukes Gesicht und trug ein paar Erinnerungen mit sich. Sasuke schüttelte sie ab. Dieses Mal müheloser als sonst. Na bitte, die Entfernung zur Quelle erfüllte ihren Zweck. Wie auch immer; er musste sich etwas einfallen lassen. Er brauchte eine Idee und diese Idee kam sogar schneller als gedacht. Etwas übereilt zog er sein Smartphone aus der Tasche und starrte zunächst auf das Display: Er hatte Empfang, Halleluja! Wenn auch beschissenen, aber das war momentan erst einmal völlig irrelevant. Nur kurz schweifte sein Blick über die Nachrichten- und Anrufliste. Die Außenwelt ließ ihn in Ruhe – zum Glück. Keine neue Nachricht und auch kein Anruf in Abwesenheit befand sich auf seinem Handy, um ihn von dem abzulenken, was jetzt wichtig war. Sasuke machte sich die Macht von Google Earth zunutze und suchte nach einer Kleinstadt, die seinem Zielort am nächsten und zusätzlich in den Routen der fahrenden Busse eingetragen war. Nach minutenlangem Stöbern, das Sasuke fast seinen letzten Nerv kostete, wurde er schließlich fündig. Aufatmend stieg er in den nächsten Bus ein, zahlte den Preis für das Ticket und nahm auf einem der freien Sitze Platz. Mit den Gedanken dabei, dass ihm eine zweistündige Fahrt bevorstand, lehnte er seinen Kopf erschöpft gegen das Fenster und blickte hinaus auf eine zunehmend schönere Landschaft, je weiter er sich von der Zivilisation entfernte. Die Vegetation war ihm fremd. Weit und breit nur Tundra, endlose Wälder und im Hintergrund die Berge. Sasuke blinzelte müde. An diesen Anblick könnte er sich glatt gewöhnen. Auf einmal tippte ihm eine zögerliche Hand gegen die entspannte, leicht gesenkte Schulter und jagte ihm die Spannung schlagartig zurück in den Körper. Allein davon genervt, sah Sasuke auf und blickte in das Gesicht eines älteren Mannes. »Entschuldigen Sie, haben Sie Feuer für mich?«, fragte er freundlich. Sasuke musterte ihn aufmerksam, kramte in seiner Hosentasche, ohne den Mann dabei auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen. Der Uchiha wusste genau, dass sich das geschickte Diebespack nur zu gern an den Geldbörsen von unschuldigen Touristen vergriff. Wenn dieser Mann vor ihm dazu gehörte, war er bei Sasuke definitiv an der falschen Adresse. Selbst im Schlaf war der Uchiha, nach eigener Ansicht, zu achtsam, um sich von jemandem ausrauben zu lassen. »Hier«, sagte Sasuke und hielt dem Mann das lodernde Feuerzeug entgegen. Dieser klemmte sich seine Zigarette zwischen die Lippen und entzündete sie nickend über der kleinen Flamme. Dabei machte er ein äußerst zufriedenes Gesicht. Bei seinem Anblick, wie er den Qualm genussvoll in seine Lungen zog, wurde Sasukes Blick leer. Mit Sicherheit hatte dieser Mann feste Zeiten, wann er sich eine Zigarette genehmigte, ob nun zum Abendessen, nach dem Sex oder beim bloßen Entspannen auf der Veranda – jeder Raucher hatte seine ganz eigenen Rituale, nicht wahr? Zumindest Sasuke hatte in der Beziehung so seine Gewohnheiten. »Vielen Dank«, sagte er zum Abschied und gesellte sich wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück. Sasuke beobachtete ihn noch ein paar Minuten, dann sank sein schwerer Kopf abermals gegen das Fenster. Kaum zu glauben, dass er immer noch so müde war, dabei hatte er mehrere Stunden im Flugzeug geschlafen. Tatsächlich verbrachte er die komplette Busfahrt in einem dösenden Halbschlaf und nahm die atemberaubenden Landschaftseindrücke nur noch unterbewusst wahr. In der Kleinstadt angekommen, hatte er das Busfahren endgültig satt und bestellte sich stattdessen für die restliche Strecke ein Taxi. Ein nicht ganz günstiges Unterfangen bei einer Distanz von gut fünfzig Kilometern, aber das war Sasuke sein Geld eindeutig wert. Zu seinem persönlichen Pech geriet er an einen der redefreudigen Taxifahrer. Bei vielen mochte diese Eigenschaft des Mannes positiv ankommen, aber Sasuke war nun mal nicht ›viele‹. Er hätte lieber eine ruhige Fahrt genossen, eventuell mit ein wenig Musik im Hintergrund. Obwohl, nachher – und er ging davon aus – entsprach die Musikrichtung nicht seinem Geschmack. Also nein, doch besser keine Musik. Einfach nur friedvolle Stille. »Sind Sie neu in der Gegend?«, begann der Taxifahrer das Gespräch und sah zu Sasuke hinüber. Dem Uchiha wäre wohler dabei gewesen, wenn der Mann seinen Blick auf die Straße gerichtet hätte. Vor allem bei dem Gedanken daran, dass sie durch bergiges Gebiet mit ungesicherten Straßen fuhren. Da waren keine Leitplanken an den Seiten. Nein, da war nur der hundert Meter tiefe Abhang. »Ja«, antwortete Sasuke, in der Hoffnung, dass der Mann wieder geradeaus sehen würde. »Merkt man. An Ihrem nicht vorhandenen Akzent und an der Tatsache, dass Sie einen riesigen Koffer mit sich herumschleppen. Kommt nicht oft vor, dass Einheimische mit so was durch die Gegend reisen. Außer, es soll eine extrem wilde Party werden«, sagte der Taxifahrer und wollte anscheinend einen Scherz machen. Hätte Sasuke kein gutes Benehmen Fremden gegenüber, hätte er an dieser Stelle die Augen verdreht. »Füße hoch, der kommt flach«, dachte er sich seinen Teil dazu und machte sich lieber wieder daran, Mutter Natur aus der Ferne zu beobachten, während der Taxifahrer ihm eine Frikadelle ans Ohr sabbelte. »Da wären wir«, sagte er irgendwann, neben all den Geschichten von unzähligen Traumberufen, unzähligen Traumfrauen und verpfuschten Chancen. Das Ganze natürlich in Kurzform verpackt. »Das macht dann Dreiundachtzig Dollar«, war sein nächster Satz. Sasuke sollte ihm die Hälfte abziehen, als Entschädigung für die versuchte Körperverletzung; seine Ohren schmerzten von der anstrengenden Stimme und dem viel zu lauten Motor. Um jedem weiteren Gespräch oder gar einer Diskussion aus dem Weg zu gehen, drückte er ihm sogar neunzig Dollar in die Hand, nahm seinen Koffer aus dem Kofferraum und begutachtete erstmals seine Umgebung mit prüfendem Blick. Hinter ihm heulte der Motor auf und das Auto raste mit quietschenden Reifen davon. Es war ein nostalgischer Moment, wie er diesem Taxi nachsah, das sich irgendwann im Nichts auflöste. Sasukes Blick fiel auf ein kleines Dorf, das hoch geschätzt aus dreißig oder fünfunddreißig Häusern bestand. Kleiner als alles, was er bisher kennengelernt hatte. Er stand noch eine ganze Weile da und ließ dieses Bild auf sich wirken. Die Straße im Dorf war nicht einmal asphaltiert. Die Häuser sahen aus, als seien sie allesamt vor rund hundert Jahren erbaut worden. Alte Fachwerkhäuser, top gepflegt und sicherlich gemütlich zu bewohnen, aber dennoch – alt. Rundherum nur Wiese und Wald, noch weiter hinten die Berge. Völlig abgelegen. Hier konnte man ungestört seine Leichen im Garten verscharren und niemand würde etwas bemerken; verschluckt von der Stille und Einsamkeit der Berge. Sasuke durchzuckte ein kalter Schauer. Seine Gedanken und Schlussfolgerungen waren noch immer von seiner wilden Zeit geprägt, in der er sich deutlich zu oft etliche CSI-Serien reingezogen hatte. In Kombination mit vielfältigen Horrorfilmen versteht sich. Hoffentlich war seine Familie im Besitz eines Autos. Nur für den Fall, dass Sasuke Heimweh nach den Abgasen und der Lautstärke der Stadt bekam oder für den undenkbaren Fall, dass er von hier flüchten musste. Zumindest ein Auto schien jeder Haushalt zu besitzen, wie Sasuke feststellte, als er an den einzelnen Häusern vorbeiging. Geräuschvoll folgte ihm sein rollender Koffer und die Anwohner, die gerade in ihren Gärten tätig waren, verfolgten ihn mit ihren Blicken; keine abweisenden, bösen Blicke, dennoch war Sasuke dieses Anstarren mehr als unangenehm. Jeder starrte ihn an. Wie einen Fremden, der er unweigerlich war. Schließlich stand er vor dem Haus, das fortan sein Zuhause sein sollte. Ebenfalls ein älteres Fachwerkhaus, groß, mit noch größerem Garten und einer Garage, in der mehrere Autos parkten. Das war das erste Mal seit seiner Ankunft, dass Sasuke erleichtert aufatmen konnte. Ermutigt drückte er auf die Klingel und wartete. Im Flur hörte er Schritte näherkommen. Schwungvoll wurde ihm geöffnet und er sah in das aufgeschlossene Gesicht einer Frau, die gerade die Fünfzig erreicht haben dürfte. »Sasuke Uchiha?«, fragte sie sofort, um sich zu vergewissern. Ihre Stimme klang warm und hell. Sie erinnerte ihn an die Stimme seiner Mutter. Noch ein gutes Gefühl. »Hallo Ms. Boyd«, antwortete Sasuke mit einem kurzen Nicken und durfte beobachten, wie sich die Lippen der Frau zu einem erfreuten Lächeln verzogen. »Schön, dass du da bist. Komm doch rein«, sagte sie und hielt ihm die Tür auf. Drinnen streifte er sich die Schuhe ab und ließ seinen schweren Koffer zunächst im Flur stehen. Er folgte der netten Dame in die Küche, in der ihr Mann am Küchentisch saß und gerade die Tageszeitung durchblätterte. »Das ist mein Mann, Will. Ich bin Alexis«, lächelte sie und war aufgeregter, als sie eigentlich sein musste. »Wie war dein Flug?«, fragte sie und blickte dann zwischen Sasuke und der Theke hin und her. »Oh, magst du Tee? Ich habe gerade eine Kanne Roibuschtee gekocht.« »Sehr gern«, antwortete Sasuke und ließ sich Will gegenüber auf den Stuhl sinken. »Na ja, zu lang würde ich sagen«, war seine Antwort auf ihre vorige Frage. »Wie lang warst du unterwegs?«, fragte Will und sah über seine Lesebrille hinweg zu Sasuke, der gerade seinen Tee in einer hübsch verzierten Teetasse serviert bekam. »Danke«, sagte er an Alexis gewandt und atmete den Duft von frisch aufgebrühtem Tee ein. »Der Flug hat knapp einen Tag gedauert und die Fahrt hierher nochmal an die drei Stunden«, meinte er mit einem Schulterzucken, das aussagte: Halb so wild. »Kann ich dir noch etwas zu Essen anbieten, Sasuke?«, fragte Alexis äußerst gastfreundlich weiter, doch Sasuke winkte nur dankend ab. »Im Moment nicht, vielen Dank.« »Lass den Jungen doch erst mal zur Ruhe kommen«, schnaubte Will und schüttelte über das Verhalten seiner Frau bloß den Kopf. Sasuke genehmigte sich in der Zeit einen Schluck von dem wohltuenden Tee. Er hatte seit Stunden nichts getrunken. »Sind eben nicht alle so ignorant wie du, Will. Bei dir würde er wohl verhungern«, giftete sie zurück, doch mit diesem bestimmten Unterton in ihrer Stimme, der bewies, dass es sich lediglich um liebe Streitereien handelte, wie sie zu jeder guten Ehe dazugehörten. »Du schläfst nachher übrigens oben«, richtete Alexis sich wieder an ihren Gast und Sasuke ließ seinen Blick kurz aus dem Fenster schweifen. Der Himmel hatte sich inzwischen rötlich gefärbt. Im Hintergrund hörte er auf einmal die Haustür, die geöffnet wurde und schwere Schritte, die näher kamen, dicht gefolgt von einem lauten Rumpeln. »F.U.C.K«, schrie jemand auf. Es knallte wieder. »Wer hat denn das Scheißding hierhin gestellt?«, tobte die Stimme, die eindeutig einem Mann zuzuordnen war. Will kommentierte das Geschehen mit einem weiteren, tiefen Schnauben. Er schien ähnliche Situationen bereits gewohnt zu sein. Die unbekannte Person, die offensichtlich Bekanntschaft mit Sasukes Koffer gemacht hatte, setzte sich wieder in Bewegung und Sasuke sah über die Schulter hinweg zur Küchentür. Er war gespannt auf den Vollidioten, der es fertig brachte, bei Tageslicht gegen seinen großen, kaum übersehbaren Koffer zu laufen. Mit einem Mal, obwohl er sich mit gewaltiger Lautstärke angekündigt hatte, stand er wie aus dem Nichts da. Dort im Türrahmen. Groß, blond und braungebrannt. Mit einer riesigen, schwarzen Tasche in der rechten Hand und einem Gesichtsausdruck, der Sasuke ein großes Donnerwetter prophezeite. Der Blick des blonden Mannes fiel sofort auf ihn. Blaue, vor Wut auflodernde Augen trafen auf schwarze, völlig unbeeindruckte. »Ist das dein Scheißding da im Flur?«, fauchte er ihm direkt ins Gesicht, verwies mit nacktem Finger auf den unbekannten Gast und anschließend in besagten Flur. »Das wird wohl meins sein«, erwiderte Sasuke mit monotoner Stimmlage. Die Entschuldigung oder Erklärung, die sein Gegenüber vermutlich erwartete, blieb aus. Stattdessen starrten sie einander bloß an. Die Temperatur schien unter ihren Blicken um mehrere Grad zu fallen und fror die Zeit regelrecht ein. Inmitten dieser Stille hätte man eine Nadel zu Boden fallen hören können. Keiner der beiden machte den Eindruck, als würde er dieses Duell der kalten Blicke in den nächsten Minuten oder Stunden aufgeben wollen. Sie kämpften einen Kampf, den Sasuke Uchiha in seinem Leben in dieser oder anderer Form schon oft genug bestritten hatte; immer mit demselben Ergebnis. Sekunden später ließ der Blonde seine Tasche, in der sich ein Kasten oder Ähnliches zu befinden schien, abrupt fallen, wandte den Blick jedoch nicht ab. Er blinzelte nicht einmal. Sollte Sasukes erster Tag gleich mit einer Schlägerei enden? Das wäre nicht der beste Start in der neuen Familie, aber es gab Dinge, denen ein ganzer Mann einfach nicht aus dem Weg gehen durfte und Schlägereien zählten sogar für Sasuke dazu. Die nun freie, rechte Hand, ballte sich jedoch nicht zu einer kampfbereiten Faust zusammen, sondern blieb weit geöffnet und diente dazu, um sich einmal lässig durch die kurzen, zerzausten Haare zu fahren. Obendrein verzog sich seine Mundpartie urplötzlich zu einem schiefen Grinsen, während er die Lider senkte und den Moment zu genießen schien, der in Sasukes Körper eine gewaltige Spannung auslöste. Er nahm seine Tasche wieder auf, ging mit großen Schritten auf Sasuke zu und klopfte ihm im Vorbeigehen mit der freien Hand auf die Schulter. »Scheinst in Ordnung zu sein, Kumpel.« Sasuke konnte ein verblüfftes Blinzeln nicht unterdrücken. Der blonde Mann verließ die Küche, ohne irgendeine Antwort abzuwarten. »Ich geh erst mal kacken«, waren seine letzten Worte. Fassungslos drehte sich der Uchihasprössling in die Richtung, in die der junge Mann verschwunden war und erhaschte gerade noch einen knappen Blick auf sein breites Kreuz, das in der nächsten Tür verschwand. »Das ist Naruto«, klärte Will das Ganze auf, nachdem ein wenig Ruhe eingekehrt war. »Unser Adoptivsohn.« »Er ist ein lieber Junge«, lächelte Alexis direkt. Sie schien selbst zu wissen oder zumindest zu erahnen, dass er mit seinem Auftritt einen ganz anderen Eindruck bei Sasuke hinterlassen haben musste. »Ihr werdet euch bestimmt verstehen. Immerhin müsstet ihr ungefähr das gleiche Alter haben. Naruto ist Einundzwanzig«, fügte sie hinzu. In Sasukes Augen hatte das Alter wenig damit zu tun, ob man sich verstand oder nicht. Sehr wenig sogar. Er selbst hatte sich bislang immer besser mit Älteren verstanden. Dieser Naruto war jünger als er und machte obendrein noch den Eindruck, einer von diesen typischen Footballspielern zu sein. Sasuke war, genauso wie der Großteil der Menschheit, nicht frei von Vorurteilen. Wie sollte er es auch sein, wenn sie sich in den meisten Fällen bewahrheiteten? »Bring doch schon mal deine Sachen nach oben. Naruto wird dir helfen, dich einzurichten«, lächelte sie und machte eine ermutigende, auffordernde Kopfbewegung in Richtung Tür. Sasuke, der nach diesem ungewöhnlichen Zusammentreffen nur noch wenig Interesse daran hatte, Naruto näher kennenzulernen, erhob sich widerwillig von seinem Stuhl, packte seinen Koffer und schleifte ihn die Treppe hinauf. An der Tür, an der ein Poster von einer halbnackten Frau haftete, hielt Sasuke inne. Das musste es wohl sein. Er drückte die Klinke herunter und trat in ein Zimmer, das entgegen seiner Erwartung recht kahl und gewöhnlich wirkte. Es standen zwei Betten, ein Schreibtisch mit Computer und – man glaubte es kaum – ein Bücherregal im Raum. Dann noch Kleinkram wie Lampen, ein paar pornografische Poster und ein Fußball, der in der Ecke lag. Das Ganze erstaunlich aufgeräumt und wirklich spartanisch eingerichtet, für das Zimmer eines Jungen von Narutos Kaliber. Hier fehlte das ›Wilde, Explosionsartige'. Sasuke stellte seinen Koffer ab und ging zu dem, was ihn wirklich interessierte: Das Bücherregal. Was las ein Kerl wie Naruto wohl in seiner Freizeit? Aufmerksam legte er seinen Kopf leicht schief, um die verschiedenen Buchrücken lesen zu können. Hauptsächlich standen hier Horror- und Fantasyromane, aber auch ein paar Exemplare der klassischen Literatur fanden ihren Platz. »Aus der Schule oder Geschenke. Nie gelesen. Und wenn, dann nur gezwungen und nicht verstanden«, dachte sich Sasuke mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. Grinsend wandte er sich ab und sein Blick fiel auf ein kleines Taschenbuch, das auf dem Schreibtisch lag. Daneben war ein Kugelschreiber zu sehen. Er nahm das abgegriffene Ding und blätterte es einmal durch. Das hier war handschriftlich verfasst. Eine krakelige Schrift, durchgestrichene Worte und leere Seiten waren zu sehen. Etwa ein Poesiealbum? Als Sasuke Schritte die Treppe hinaufsteigen hörte, legte er das Buch beiseite. Er glaubte, damit ein wenig zu sehr in Narutos Privatsphäre herumgeschnüffelt zu haben. Etwas, das er nicht oft tat. In diesem Fall hatte es lediglich dazu gedient, herauszufinden, ob Naruto wirklich der oberflächliche, ungebildete Kerl war, der er zu sein schien. Naruto betrat das Zimmer und stellte zunächst seine schwarze Tasche in die Ecke neben dem Fußball. Kurz verharrte der blonde Mann vor dem Fenster und begutachtete den Abendhimmel, ehe er sich zu Sasuke umdrehte. Mit einem Lächeln kam er auf ihn zu. »Hey, war gerade nicht der beste Start. Ich war etwas gestresst. Am besten, wir fangen nochmal von vorne an«, sagte er mit freundlichem Tonfall und stellte sich direkt vor den Uchiha. So dicht, dass man den Geruch von Schweiß und Natur, von Wald und Wiesen, von Gestrüpp und Unkraut, deutlich wahrnehmen konnte. Sasuke fiel besonders sein warmherziges Lächeln auf, das in der Lage zu sein schien, selbst das kälteste Herz auftauen zu lassen. »Ich bin Naruto«, stellte er sich vor und streckte Sasuke kameradschaftlich die Hand entgegen. Der sah allerdings nicht die freundliche Geste, sondern nur diese Hand, die nach Narutos Geschäft mit Sicherheit nicht gewaschen worden war. Ein Grund, weshalb er entsprechend angewidert guckte. Naruto entging Sasukes offenkundige Abneigung natürlich nicht und er zog seine Hand zurück. »Oh, entschuldige bitte«, sagte er und Sasuke war fast dazu bereit, etwas zu erwidern, da vernahm er plötzlich ein merkwürdiges Geräusch aus Narutos Nasengegend und sah ihm allen Ernstes dabei zu, wie er sich großzügig in die Hand spuckte. Er verteilte das Ergebnis in seinen Handflächen, als würde er sie gründlich einseifen. Zu guter Letzt wischte er beide Hände an seiner Jeans ab, dann hielt er seine Rechte wieder Sasuke entgegen. Sein Grinsen war dabei frech und selbstbewusst. Naruto wusste genau, dass er ihn mit seinem Verhalten schockte. »Ich bin Naruto«, wiederholte er. »Sasuke«, stellte der Uchiha sich kurz vor, selbstverständlich ohne den Handschlag einzugehen. Auch wenn sein Plan nicht ganz aufgegangen war, wandte sich Naruto zufrieden von ihm ab und stellte sich wieder vor das Fenster, das einen Blick in den eigenen Garten gewährte. »Wie alt bist du?«, fragte er mit dem Rücken zu Sasuke. »Zweiundzwanzig.« Naruto sagte dazu nichts, er fragte einfach weiter. »Woher kommst du?« Der Uchiha verengte die Augen zu Schlitzen. Woher das plötzliche Interesse? »Deutschland, geboren in Kyoto.« Es folgte eine kurze Pause. »Kannst du auch in vollständigen Sätzen antworten, Sasuke?«, fragte er und Sasuke konnte sich das schiefe, fiese Grinsen auf seinen Lippen dabei nur allzu gut vorstellen. Das musste der Kerl gerade sagen, dessen Literaturreihe hauptsächlich aus Werken von Stephen King bestand und der mit Sicherheit den Großteil seiner Freizeit nicht unbedingt mit lernen verbrachte. Bestimmt war er schon seit Jahren mit der Schule fertig. »Ich will dich ja nicht überlasten«, gab er einen bissigen Kommentar zurück und hörte nur Sekunden später ein tiefes, männliches Auflachen, das den Raum erfüllte. Naruto ging zum rechten Bett im Zimmer und ließ sich darauf nieder. »Das andere ist deins«, sagte er und wechselte geschickt das Thema. Mit einem Nicken bestätigte der Uchiha sein Einverständnis und ging über den Holzfußboden zu seinem Teil des Zimmers. Unter seinen Socken hatte er dieses beruhigende Gefühl von Beständigkeit, leicht knarrend und warm. Er setzte sich auf die Bettkante, schloss die Augen und versuchte sich selbst begreiflich zu machen, dass das hier sein neues Leben war. Dass es unwahrscheinlich war, dass er morgen Früh in seinem eigentlichen Bett in seiner eigentlichen Wohnung am Stadtrand aufwachen würde. Denkbar unwahrscheinlich. Für ein paar Minuten herrschte eine stille, völlig natürliche Atmosphäre zwischen den zwei Männern. Jeder hing seinen eigenen Gedankengängen nach, scherte sich nicht mehr um den anderen unbekannten Menschen, mit dem er das Zimmer fortan teilen musste und gerade dadurch gaben sie beide zu, dass sie mit der Situation im Grunde zufrieden waren. Natürlich hätten – würde man sie danach fragen - alle beide beteuert, dass sie lieber ihre Ruhe haben und alleine wohnen wollten, doch irgendwo tief in ihnen vergraben, schlummerte auch diese Neugierde nach dem Unbekannten. Die Neugierde, einen Menschen besser kennenzulernen, vielleicht sogar irgendwann zu verstehen, der eigentlich ganz anders, absolut grundverschieden war. Zumindest auf den ersten, mit Vorurteilen behafteten Blick. Sasuke öffnete seine Augen einen Spalt weit und sah zu Naruto hinüber, der mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf seinem Bett lag und die Decke anstarrte. Was war los? Hatte er eine interessante Spinne entdeckt, deren Bewegungen er verfolgen konnte? Mit der Zeit wurde Sasuke bewusst, dass Naruto keinen bestimmten Punkt anguckte. Er schien in Gedanken zu sein. »Wahrscheinlich denkt er darüber nach, was es morgen zu Mittag gibt«, dachte sich Sasuke, der Naruto keine tiefgründigeren Gedankengänge zutraute, und legte sich ebenfalls nieder. Er drehte sich auf die Seite, starrte Richtung Wand und winkelte einen Ellenbogen unter seinem Kopf an. »Was machst du eigentlich beruflich?«, wurde er weiter mit Fragen bombardiert und hörte das gestellte Desinteresse aus der Stimme des Fragenden heraus. Still für sich musste er grinsen. Ein kläglicher Versuch, ihren Kontakt zueinander nicht schon jetzt im Keim ersticken zu lassen. »Ich hab gerade meine Ausbildung zum Industriekaufmann abgeschlossen und nach diesem Auslandsjahr will ich mein Studium in internationaler Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Controlling beginnen«, erzählte Sasuke etwas ausführlicher von seinen großen Plänen im Leben. »Dann kann ich das Unternehmen meiner Eltern übernehmen.« Ihm selbst war gar nicht so stark bewusst, dass er Naruto mit seinen Worten und vor allem mit seinem Tonfall, nur noch mehr unter die Nase rieb, was er von ihm hielt. Sasuke demonstrierte seine Überlegenheit, seine Intelligenz, seine Ambition es im Leben zu etwas zu bringen. All das, wovon er schon nach seinem ersten Eindruck glaubte, dass Naruto es niemals besitzen würde. Nicht einmal, wenn er es noch so sehr wollte. »Und du?«, stellte Sasuke die Gegenfrage, da er ohnehin nicht davon ausging, dass der Blonde ihn für irgendetwas von dem Gesagten loben würde. Nein, damit war wirklich nicht zu rechnen, aber das störte Sasuke einen Scheiß, weil er wusste, dass er mit seinen Worten genau den Effekt erzielte, den er erzielen wollte. »Ich studiere«, erwiderte Naruto und Sasuke klappte beinahe die Kinnlade herunter. Zu seiner eigenen Überraschung, erholte er sich recht schnell von diesem Schock und konterte schlagfertig: »Was denn? Sportwissenschaften?« Das war so ziemlich das Einzige, was er dem Idioten zutraute. Wenn man einmal davon absah, dass er ihm nicht einmal einen guten Abschluss an der Highschool zugetraut hätte. Jedenfalls keinen so guten, dass es für den Besuch einer Universität oder eines Colleges ausreichen könnte. »Nein, Mathematik.« Für einen Moment ließ Sasuke diese Information auf sich wirken, stellte sich Naruto bei der Berechnung und Herleitung von komplexen Formeln vor, und musste prompt loslachen. Ein Anblick, von dessen Rarität Naruto in diesem Moment noch keinerlei Ahnung hatte. Auch wenn Sasuke mehr über ihn lachte, aber zumindest lachte er und das passierte in der Regel nicht sonderlich oft. »Was ist daran so witzig?«, grummelte der Ausgelachte zurück und seine Stimme klang dabei sogar ein kleines Stück weit gekränkt. »Sorry, die Vorstellung ist einfach zu...Ich weiß auch nicht. Abwegig?«, lachte Sasuke und drückte sich den Handballen gegen die Stirn, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Mit einer Drehung wandte er sich zu Naruto und sah direkt in die blauen Augen, die ihn vorwurfsvoll anstarrten. »Ist das denn wirklich so absurd?«, hinterfragte Naruto mit gedämpfter, ernüchterter Miene. »Irgendwie schon«, war Sasukes unüberlegte Antwort. Er konnte sich kaum vorstellen, dass er bei jemandem wie Naruto damit einen Nerv treffen konnte. »Du machst einfach nicht den Eindruck ein Akademiker zu sein«, sagte er schmunzelnd. Naruto wandte den Blick nicht von ihm ab, er stellte sich Sasukes Überheblichkeit. »Ach so? Welchen Eindruck mache ich denn auf dich?«, hinterfragte er mit Biss. Naruto fühlte sich beleidigt, das war nicht zu übersehen. Nur war das nicht Sasukes Problem, wenn er sich von den Worten eines Fremden derart auf die Palme bringen ließ. Dann musste an seinen Äußerungen ja etwas Wahres dran sein, ansonsten würde er sich wohl kaum so künstlich darüber aufregen. »Spielst du Football?«, stellte der Uchiha die Gegenfrage und erhielt als Antwort eine hochgezogene Augenbraue. »Früher einmal, warum?«, fragte Naruto, der sich keinen Reim darauf machen konnte, was das Eine nun mit dem Anderen zu tun haben sollte. »Genau den Eindruck hast du auf mich gemacht«, sagte Sasuke und fühlte sich in seiner Meinung wiedereinmal bestätigt, dass die meisten seiner Vorurteile eben doch zutrafen. Nicht nur in jedem Gerücht, sondern auch in jedem Vorurteil steckte einfach ein Quäntchen Wahrheit. »Was ist daran verkehrt?« Für jeden anderen wäre diese Frage vielleicht berechtigt gewesen, für Sasuke untermauerte sie nur weiter Narutos unbestreitbare Dummheit. »Nichts«, erwiderte er sarkastisch, nahezu hochnäsig und fügte hinzu: »Ein Mathematik studierender Footballspieler ist nur einfach nicht die Norm.« Naruto hustete. »Und deshalb natürlich komplett unmöglich.« Aufgrund von Narutos ausgeprägter Naivität, konnte Sasuke ihn nur mitleidig belächeln. »Unmöglich habe ich nie gesagt. Eine Statistik würde dir allerdings beweisen, dass diese Konstellation äußerst selten ist. Und deshalb war es naheliegend, dass du lügst. Weil, dass du Footballspieler bist, erschien aufgrund deines ganzen Auftretens einfach so viel wahrscheinlicher. Und wie man sieht: Ich wurde keines Besseren belehrt. Du hast gelogen.« Für Sasuke war dieses Gespräch ein richtiger Triumph. Er erkämpfte sich in seiner Welt damit gerade den Rang zum Alphatier. Nur war die Rangfolge in Narutos Welt allerdings nicht so einfach zu beschließen. Dazu gehörte schon mehr, als nur eine dämliche Diskussion für sich zu entscheiden und ein paar fiese Sprüche zu klopfen. »Was willst du hier überhaupt?«, stellte Naruto plötzlich eine Frage, mit der Sasuke in dieser Situation niemals gerechnet hätte. Sie kam unverhofft und traf ihn deshalb wie ein Schlag ins Gesicht. »Ich frage dich: Was hast du hier verloren?«, wiederholte der Blonde energisch. Ein Blick in seine Richtung bestätigte die Ahnung, dass er angespannt war. Sein ganzes Gesicht war angespannt, nicht nur das, seine komplette Körperhaltung glich einem einzigen Brett. »Ich will die Sprache lernen. Für mein Studium«, erwiderte der Uchiha nüchtern und wandte zeitgleich den Blick von dem anderen ab. Dieser Anblick machte ihn nervös. »Bullshit«, warf Naruto ein. Das Bett knartschte unter seiner Bewegung. »Dein Englisch ist fehlerfrei und fließend. Dir fehlt bloß der Akzent. Und dafür nimmt man keine Reise von tausenden von Kilometern in Kauf. Bullshit, Sasuke«, knirschte er hervor. Auf einmal fühlte sich Sasuke seltsam durchschaut und ertappt. Von einem Menschen, der eigentlich gar nicht in der Lage sein sollte, ihn irgendwie zu verstehen, seine Vorwände zu erkennen. Er drehte sich wieder auf die andere Seite, wandte Naruto abweisend den Rücken zu und gab seine Position als angehendes Alphamännchen somit wieder auf. »Mein Englisch ist nicht perfekt. Mir fehlt die Praxis«, sagte er und fügte nach kurzer Überlegung hinzu: »Außerdem gefällt mir die Landschaft richtig gut. Mir fehlt die Natur in der Stadt. Ich möchte etwas erleben.« Im Hintergrund hörte Sasuke ein betont lautes, sarkastisches Schnauben. »Der Herr ist also hier, um Urlaub zu machen? Prächtig. Kommt mir gelegen, ich wollte eh demnächst in die Berge. Weißt du was? Wenn du doch so scharf drauf bist, nehme ich dich gerne mit. Freeclimbing dürfte doch voll deinen Geschmack treffen.« »Ganz genau«, stimmte Sasuke ein wenig zu laut, zu aufgebracht und zu überlegt zu und hörte den Mann hinter sich ein paar unverständliche Worte grummeln. Der Typ würde eh nicht Ernst machen. Freeclimbing, das war Bullshit. »Ich sag dir mal was. So als dummes Landei, das ich in deinen Augen wohl bin«, brummelte Naruto hervor und traf mit seiner Selbstbeschreibung den Nagel annähernd auf den Kopf. Ein dummes Landei, das war er tatsächlich für Sasuke. »Du hältst es hier keine drei Monate aus. Ohne deinen ganzen Stadtschnickschnack. Hast doch sicher schon fast einen Infarkt bekommen, als du hier vor unserem kleinen Dorf, mitten in der Pampa ausgestiegen bist. Ich kenne einige von deiner Sorte, von diesen beschissenen Scheuklappendenkern, wie du einer bist. Immer schön alle über einen Kamm scheren, da ist kein Platz für Ausnahmen. Du kennst mich null und trotzdem stempelst du mich als etwas ab, was ich vielleicht gar nicht bin. Du kennst mich ja gar nicht«, brabbelte Naruto vor sich hin und sorgte mit seinen Worten dafür, dass Sasuke wütend die Augen zusammenkniff. »Du hast mich doch genauso abgestempelt, oder nicht?«, warf Sasuke in den Raum und erhob sich ruckartig von seiner Schlafgelegenheit. Hastig tastete er seine Hose nach den Kippen ab. Er musste jetzt dringend eine rauchen, sonst würde noch jemandem etwas passieren. »Verwöhntes Stadtkind, keine Ahnung vom richtigen Leben. Das denkst du über mich«, sagte er zum Abschluss und knallte die Tür hinter sich zu. Polternd eilte er die Treppe hinunter, mit Tempo an der Küche vorbei, in der inzwischen Licht brannte und raus in die kühle Abendluft. Der Wind umwehte seinen Körper, so wie vor einigen Stunden am Flughafen. Dieses Mal kamen ihm die turbulenten Bewegungen gerade recht, kühlten ihn ab, brachten seinen Puls zurück auf Normalzustand, auch wenn ihm das Anzünden seiner Zigarette durch den harten Gegenwind schwer fiel. Sasuke ging den gepflasterten Weg entlang. Die Sonne hatte inzwischen ihren tiefsten Punkt erreicht. Es war kurz nach Neun, Spätsommer. Tief zog er den Rauch in seine ausgehungerten Lungen, verzog sein Gesicht dabei zu einer gierigen Maske. Nein, eigentlich rutschte seine Maske in dem Moment ein kleines Stück zur Seite. Nur Sekunden nach dieser regelrechten Befriedigung, diesem Bekommen von etwas, was er brauchte, blies er den Rauch aus seinem Mund, als habe er ihn niemals gewollt, niemals gebraucht und rückte seine Maske wieder zurecht. Sasuke gestand sich seine Sucht, seine Abhängigkeit vor allem in Stresssituationen, nicht gerne ein. Natürlich nicht. Welcher Abhängige tat das schon? Er ging den Weg weiter entlang, genoss das Gefühl von warmen Steinen unter seinen Socken, dem kalten Wind in seinem Gesicht und vor allem das Gefühl von einer Zigarette, die zwischen seinen Fingern eingeklemmt war. Ja, er klammerte. Zog den nächsten Zug. Wiederholte dieses Spiel von Wollen und Abstoßen solange, bis er sie schließlich zu Boden warf und beinahe mit dem Fuß ausgetreten hätte, wie er es immer tat. Er betrachtete den qualmenden Stängel, der irgendwann vom Wind erstickt wurde. Sein Gefühlszustand besserte sich. Ganz lässig ging er seiner Gewohnheit nach und schob seine Daumen in die Hosentaschen hinein. Er ging die Straße noch ein Stück entlang und betrachtete die angrenzende, asphaltierte Hauptstraße, auf der er hergekommen war und die auch irgendwann seinen Heimweg einleiten würde. Aber noch nicht jetzt. Jetzt noch nicht. Irgendwann drehte er um, ging denselben Weg zum Haus zurück und klingelte an der Haustür, wo er von einer besorgten Alexis empfangen wurde. »Warum bist du weggelaufen?«, fragte sie mit hektischer Stimme. Sie sah aus, als wäre sie kurz davor gewesen, die Polizei zu alarmieren. »Ich war nur ein bisschen spazieren«, erklärte Sasuke und schob sich an ihr vorbei. Er hatte jetzt keine Lust auf eine ausschweifende Diskussion. »Sag uns das nächste Mal Bescheid, wenn du weggehst. Zumindest solange du die Gegend hier noch nicht kennst«, bat sie und schien wirklich erleichtert zu sein, dass ihm nichts passiert war. Wurden hier oft Menschen von Bären und Wölfen gefressen oder wovor hatte sie Angst? »In Ordnung«, sagte er und bewegte sich in Richtung Treppe. »Schlaf gut!«, rief sie ihm nach, als er die Stufen nach oben stieg. »Gute Nacht«, sagte er. Im Zimmer saß Naruto noch immer auf seinem Bett, jetzt aber in anderen Klamotten und mit tropfenden Haaren. Offensichtlich hatte er geduscht. »Na, wieder abgeregt?«, fragte er, ohne den Blick von seinem Buch zu heben. Sasuke antwortete auf diese Frage nicht, stellte aber bei genauerem Hinsehen fest, dass es sich bei dem Buch um jenes abgegriffene Taschenbuch handelte, das er zu Beginn auf dem Schreibtisch vorgefunden hatte. Und Naruto saß mit einem Kugelschreiber davor. Er schrieb doch wohl nicht etwa Tagebuch? Das war Weiberkram. »Was machst du da?«, wollte Sasuke wissen und deutete mit dem Kopf auf das Buch, als Naruto zu ihm schielte. »Schreiben, wonach sieht's denn aus?«, kam die biestige Antwort wie aus der Pistole geschossen und Sasukes schlechte Laune schlich sich langsam wieder in seinen Körper ein. »Ach was, du kannst schreiben? Ich sollte mein ›Scheuklappendenken‹ wohl doch nochmal überdenken«, war Sasukes grantiger Kommentar. Die beiden gaben sich mit ihren blöden Äußerungen wirklich nicht viel. Und Sasuke begab sich selbst auf ein Niveau herab, das er bei anderen nur belächelte. Dass er selbst so ›niveaulos‹ war, fiel ihm gar nicht auf. »Halt die Fresse, Stadtopfer«, brummelte der Blonde und zog es vor, Sasuke mit Ignoranz zu strafen. Ein Vorhaben, das ihm nicht gerade leicht fiel. Dafür ließ er sich viel zu leicht provozieren. »Stadtopfer«, wiederholte Sasuke die Beleidigung amüsiert, während er sich auf sein Bett setzte. Sein Blick schweifte auf die schwarze Sporttasche, mit der er Naruto das erste Mal gesehen hatte. »Und was ist in der Tasche da?«, fragte er, weil er wusste, dass Naruto seine Fragerei auf die Nerven ging. Der klackte mit dem Kugelschreiber und sagte nur: »Geht dich einen Scheiß an.« Die Gastfreundlichkeit hatte Naruto definitiv nicht von seinen Eltern mit auf den Weg bekommen. War aber eigentlich auch kein Wunder, schließlich waren Alexis und Will nicht seine leiblichen Eltern. Und eigentlich wusste Sasuke auch ziemlich genau, dass er selbst nicht ganz unschuldig an dieser festgefahrenen Situation war. Er hatte Naruto verhöhnt, als er sich von einer besseren Seite zeigen wollte und jetzt musste er wohl mit den Konsequenzen leben. Konsequenzen, die Sasuke nicht gerade störten. Er war sehr geübt im Ignorieren von Personen. Auch Naruto würde er irgendwann ausblenden können. Er hatte ein ganzes Jahr lang Zeit dafür. Über das wie und warum, dachte Sasuke noch nicht weiter nach. Momentan konnte er nur noch daran denken, dass er von den ganzen Anstrengungen des Tages verdammt ausgelaugt war und einfach nur noch ein warmes Bett brauchte. Kurzerhand zog er sich die Klamotten aus, beobachtete dabei Naruto, der ihn keines müden Blickes würdigte und stattdessen wie ein Irrer Worte in sein Tagebuch kritzelte. Vermutlich irgendwelche Hassgedichte, für Sasuke verfasst. Drauf geschissen. Sasuke wollte sich gerade hinlegen und sich die Decke über den Kopf ziehen, da erreichte ihn die tadelnde Stimme seines Zimmergenossen: »Wage es ja nicht, dich mit deinem dreckigen, verschwitzten Arsch in das frisch bezogene Bett zu legen. Nebenan ist das Bad.« Polternd und mit zusammengebissenen Zähnen, stand Sasuke wieder auf, ging im Schnellschritt über die Dielen hinweg und schloss seinen Koffer auf, um darin nach einem Handtuch und frischer Kleidung zu suchen. »Hygiene wird bei euch in Japan wohl nicht so groß geschrieben, was?«, schlussfolgerte Naruto mit einem gehässigen Grinsen auf den Lippen, der genau wusste, dass er Sasuke damit bei den Eiern hatte. Ihm war es schon fast peinlich, dass er sich ernsthaft ungewaschen in das Bett legen wollte. Das war normal nicht seine Art, aber hier und heute - er hatte einfach nur noch schlafen wollen. »Leck mich«, schnaubte er beim Rausgehen und Naruto lachte auf. »Dann wasch dich erst einmal gründlich, Wichser!«, rief der Blonde ihm grunzend hinterher und Sasuke stieg prompt die Schamröte ins Gesicht, als er das Zimmer verließ. Naruto hatte das natürlich nur so daher gesagt, allein aus dem Grund, um ihn aufzuziehen. Sasukes Vorlage war verlockend gewesen und er hatte es sich auch nicht nehmen lassen, ihm am Ende des Satzes noch eine Beleidigung um die Ohren zu knallen. Es gab also keinerlei Anlass, sich irgendwelche Gedanken über die gefallenen Worte zu machen. Trotzdem war Sasuke in diesem Moment äußerst froh über die Tatsache, dass sie sich völlig fremd waren und Naruto infolgedessen so einiges über ihn nicht wusste. Eigentlich wusste er gar nichts über ihn. Das konnte, je nach Situation, sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil sein. In dieser Situation war es ein deutlicher Vorteil, den er zu schätzen wusste. Sasuke verbrachte eine gute Stunde im Bad, um sich selbst auf andere Gedanken zu bringen und kehrte ins Zimmer zurück, als auch Naruto eingekuschelt unter seiner Bettdecke lag und zu schlafen schien. Sein Blick haftete noch kurz an seiner reglosen Gestalt, bis ihm selbst bewusst wurde, was er tat und zischend den Kopf abwandte. Das hier war die erste Nacht in seiner neuen Umgebung und Sasuke fand, obwohl er hundemüde war, nicht den Schlaf, den er gebraucht hätte. Ein Umstand, der nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen war, dass sein Zimmergenosse ein äußerst lautes Organ hatte, das im Schlaf noch unschönere Töne von sich gab, als im wachen Zustand. Sasuke versuchte, während er mit seinen schmerzenden, weit geöffneten Augen in dem nach Weichspüler riechenden Bett lag, Naruto zu hassen. Er gab sich sogar richtige Mühe dabei und die Tatsache, dass es ihm aus unerfindlichen Gründen schwer fiel, ihn zu hassen, machte die Gesamtsituation nicht erträglicher. Wenn es Sasuke Uchiha schwer fiel, einen Menschen zu hassen – noch dazu einen nervigen, aufdringlichen Menschen wie Naruto – dann war es an der Zeit, auf der Hut zu sein. Gleich morgen würde er damit beginnen, ihn noch mehr zu provozieren, noch mehr zu beleidigen, allgemein noch mehr dumm anzumachen, damit er ihn so richtig und aus tiefstem Herzen hassen konnte, so wie zehntausend andere Leute auch. Mit reinem Hass hatte Sasuke kein Problem. Es machte ihm nichts aus, zu hassen und folglich auch gehasst zu werden. Das Pendant machte ihm dagegen sehr wohl etwas aus. Zuneigung und Freundschaft; Verlangen und Begierde, das machte ihn ähnlich abhängig wie seine Zigaretten und er wusste nur zu gut, wie schwer er von seinen heißgeliebten Zigaretten loskam. Doch so weit würde er es ohnehin nicht kommen lassen; dieser Kerl würde kein Nikotin für ihn werden. In seinem ganzen, beschissenen Leben nicht. Nur, weil er ein Jahr das Zimmer mit einem rein äußerlich attraktiven Mann teilen sollte, hieß das noch lange nicht, dass er sich in irgendeiner Weise zu ihm hingezogen fühlen musste. Die Ansehnlichkeit seines durchtrainierten Körpers ließ sich zwar nicht von der Hand weisen, gleichzeitig war der Typ allerdings auch unverschämt platt in seiner gesamten Artikulation und allgemein einfach strohdoof, ein richtiges Bauerntrampel eben, also absolut unter Sasukes Niveau. Mit so einem verbrachte er nicht einmal eine einzige jämmerliche Nacht, auch wenn sie ein unermüdliches Pendel zwischen Abneigung und irritierender Lust, zwischen gewaltsamem Sex und leidenschaftlichen Küssen, zwischen dominierender Härte und elektrisierender Zärtlichkeit, beschreiben würde. Eben eine Mischung aus all dem, worauf er am meisten Wert legte. Sasuke rieb sich die schmerzende Stirn, musterte Naruto, der sich in seinem Bett von der einen auf die andere Seite wälzte. Warum dachte er überhaupt darüber nach? Ach, verdammte Scheiße; er sollte schlafen. Verdammte Scheiße, er sollte wirklich schlafen. Einen langen, tiefen und vergessenden Schlaf. Er war nicht für eine Affäre hergekommen. Schon gar nicht für eine Affäre mit einem minderbemittelten, egozentrischen Ex-Footballspieler. Scheiße nur, dass Sasuke einen Hang für Männer hatte, die überhaupt nicht zu ihm passten und so überhaupt nie das waren, was er wirklich wollte. Verdammte Scheiße aber auch. Kapitel 2: Auf Regen folgt Sonnenschein --------------------------------------- Hey liebe Leser! Es geht tatsächlich nochmal weiter...Tut mir echt leid, dass ihr so lange warten musstet, aber irgendwie haben mir meine Kreativität und alles andere, was ich noch zu tun hatte, in letzter Zeit einen fetten Strich durch die Rechnung gemacht. Nun denn...Genug der Ausreden, jetzt geht es erstmal weiter! (: Am nächsten Morgen wurde Sasuke von grausamen Klängen geweckt, die sich anhörten, als kämen sie geradewegs aus dem Maul eines tollwütigen Tiers. Tatsächlich handelte es sich bei diesen verstörenden Geräuschen bloß um seinen Zimmergenossen Naruto, der auf dem Boden lag und seine morgendliche Routine durchführte; und zwar mit ohrenbetäubendem Lärm. Seine Atmung und die Laute, die er von sich gab, sobald er ein Gewicht anhob, glichen in etwa der Lautstärke eines Elefanten, der durch ein Einkaufszentrum spaziert. Grummelnd drehte sich Sasuke zur Wand, fragte sich, wie man allen Ernstes einen solchen Radau durch bloßes Gewichte stemmen veranstalten konnte und am liebsten hätte er ihn in diesem Moment mit seinen eigenen Hanteln dafür erschlagen. Kurz fiel sein Blick auf die schicke Armbanduhr, die er vor ein paar Wochen geschenkt bekommen hatte: Es war halb sechs. Halb sechs Uhr morgens. »Eins...Zwei...Drei...«, knirschte Naruto im Hintergrund hervor, bis er bei zwanzig angekommen war. Das machte dieser Penner doch mit Absicht, aus reinem Sadismus. Er musste wissen, dass Sasuke von seinem langen Flug und der Fahrt absolut fertig war und ließ ihn trotzdem keine acht Stunden schlafen. »Aufstehen!«, schrie er ihm stattdessen mit militärischer Miene ins Ohr und kam ihm dabei genau so nahe, dass Narutos Schweiß fein säuberlich auf Sasukes Schläfe tropfen konnte. »Verpiss dich!«, brüllte der Uchiha zurück, wirbelte herum und stieß diesen Wahnsinnigen mit einem kräftigen Ruck von sich. Naruto taumelte ein paar Schritte zurück, konnte über Sasukes Reaktion aber nur lachen. »Komm, zieh dich an. Wir gehen jetzt eine Runde joggen.« Sein Grinsen wurde breiter, ihre Blicke trafen erneut wie Feuer und Eis aufeinander. Ihm schien es zu gefallen, mit Sasukes Feuer zu spielen und sich dabei auf verdammt dünnem Eis zu bewegen. »Einen Scheiß werde ich tun. Joggen gehen um die Uhrzeit – du tickst doch nicht ganz sauber«, schnaubte er und wischte sich nebenbei mit dem Ärmel Narutos Präsent aus dem Gesicht. »Sei mal nicht so zickig, Prinzessin, oder hast du etwa Schiss, dass du mit meinem Tempo nicht mithalten kannst?«, konterte der Blonde und stemmte provokant beide Hände in die Hüfte. Glaubte er ernsthaft, dass er ihn mit seinen Beleidigungen und Herausforderungen vom Gegenteil überzeugen konnte? Diese simple umgekehrte Psychologie fasste bei Sasuke seit seinem zehnten Lebensjahr keinen Fuß mehr. »Das wird’s wohl sein«, sagte er und kehrte Naruto erneut den Rücken zu. Der ließ sich so leicht allerdings nicht abwimmeln und startete stattdessen einen neuen Versuch, Sasuke aus den Federn zu kriegen, indem er ihm einfach kurzerhand die Bettdecke wegzog. Aus reiner Fassungslosigkeit verharrte Sasuke für ein paar Sekunden reglos an Ort und Stelle, dann sprang er tatsächlich auf. »Wie alt bist du eigentlich?«, brüllte er ihm entgegen und ging einige Schritte in seine Richtung. Narutos Grinsen machte ihn dabei nur noch wütender. »Gib mir meine beschissene Bettdecke, aber pronto!« Die beiden jungen Männer veranstalteten aus diesem kleinen Wettbewerb ein regelrechtes Tauziehen und Naruto lachte: »Genau genommen ist das ja meine Decke, Sasuke. Nicht deine.« Abrupt ließ er die Bettdecke los und verschränkte die Arme vor der Brust. »Fein, dann behalt sie und werd glücklich damit. Lass mich einfach nur in Ruhe«, zischte er und verließ das Schlafzimmer, um sich im Bad die Zähne zu putzen. Naruto war ihm dicht auf den Fersen, verharrte allerdings vor der Badezimmertür, die ihm direkt vor der Nase zugeknallt wurde. »Ey, Sasuke«, hämmerte der Blonde gegen die Holztür. Sein Tonfall machte dabei eine Gratwanderung von amüsiert und neckisch, zu ernst und genervt. »Du musst dich schon ein bisschen mehr an unser Leben anpassen. Mum will, dass ich dir die Gegend zeige, okay? Ist nicht mein persönliches Interesse, also sieh zu, dass du deinen Arsch bewegst, wenn du nicht willst, dass direkt nach deiner Ankunft der Haussegen schief hängt.« Der Angesprochene drehte den Wasserhahn voll auf und reagierte nicht weiter auf Narutos Palaver. Nach kurzer Zeit vernahm er Schritte, die sich entfernten, dann kehrte eine Stille von hinterhältiger Natur ein, die nur darauf wartete, erneut vom Sturm erfasst zu werden. »Idiot«, murmelte Sasuke mit der Zahnbürste im Mund und begutachtete die hübschen Ringe unter seinen Augen, die er seinem neuen besten Freund zu verdanken hatte. Aus dem Kopf ging ihm Narutos Mahnung dennoch nicht. Er hatte wenig Interesse daran, schon am zweiten Tag in der Familie für Stunk zu sorgen und es gab tatsächlich Leute, die Wert darauf legten, dass man sich in ihr Leben integrierte und folglich ihren Tagesablauf mitmachte; mochte jener noch so bescheuert wie überflüssig sein. In Sasukes Kopf formte sich ein Bild von einer enttäuschten Alexis, die es nicht tolerieren konnte, dass er ihrem Adoptivsohn nicht einmal eine winzig kleine Chance gab und alles, was Naruto – wenn auch aus offensichtlich wenig Eigeninteresse - mit ihm unternehmen wollte oder musste, von vornherein boykottierte. Er seufzte; wenn er weiteren Problemen aus dem Weg gehen wollte, musste er sich wohl oder übel einen Ruck geben. Mit lautlosen Schritten ging Sasuke zurück in ihr gemeinsames Zimmer und blieb noch im Türrahmen reglos stehen; weiter kam er nicht. Das Bild, das sich ihm bot, zog seine Aufmerksamkeit an wie die Motten das Licht. Ein paar Meter von ihm entfernt stand Naruto, nur mit dem Nötigsten bekleidet und war gerade dabei, sich eine lässige Jogginghose anzuziehen, mit ebenso lässigen wie stümperhaften Bewegungen. Sasukes Augen hefteten sich an seinen Hintern, der sich in dieser Bewegung äußerst verlockend in seine Richtung streckte. Die Fantasie ging mit ihm durch und sein Blick wanderte weiter, direkt auf das nackte, muskulöse Kreuz, ehe er einen entscheidenden, richtig dummen Fehler begehen konnte. Sasuke dachte an dieses Angebot, mit zum Freeclimbing zu gehen – mit Sicherheit hatte Naruto daher diesen Körper. Der Uchiha senkte die Lider, zog die Tür mit einem Ruck hinter sich zu; vorerst hatte er genug gesehen. Narutos Kopf fuhr zeitgleich herum, als der Knall ertönte und er kippte beinahe mit seinem gesamten Gewicht klotzartig wie ein Sack Reis zur Seite weg. »Na? Hast du's dir anders überlegt?«, grinste der blonde junge Mann und zog sich ein T-Shirt über den Kopf. »Bild dir mal besser nicht zu viel darauf ein«, wehrte Sasuke ab und durchsuchte seinen Koffer nach Sportkleidung. Himmel, er sollte dieses Ding wirklich bald ausräumen, ansonsten könnte er sich demnächst hinstellen, um seine knubbelige Wäsche wieder glattzubügeln und er wusste nur zu gut, wer seine helle Freude an diesem Anblick haben würde. »Wo kann ich eigentlich meine Klamotten lagern?«, fragte er nebenbei, als er sich die Schuhe zuband und noch einmal ordentlich mit dem linken Fuß auf den Boden trat, um richtig in den Turnschuh reinzurutschen. »Bei mir sind noch ein paar Regale frei«, sagte Naruto und der Uchiha sah noch im selben Moment auf. Er war verblüfft von der plötzlichen Ruhe, die in der Stimme dieses Dauerwahnsinnigen lag und fand mit nur einem einzigen kurzen Blick deren Quelle: Naruto saß im Schneidersitz auf seinem Bett, das Poesiealbum und üblicher Stift in der Hand – ein Anblick von nie enden wollender Kuriosität. Gott sei Dank, also war er nicht permanent so penetrant hyperaktiv wie ein Hund, der sabbernd dem unerreichbaren Knochen nachhechelt. Na komm, Naruto. Schnapp dir den Knochen auf dem vier Meter hohen dünnen Ast. Auf Sasukes Lippen bildete sich ein minimales, amüsiertes Grinsen. Zumindest seine eigenen Gedankengänge konnten ihn noch aufheitern und die sollte er sich auch tunlichst wahren, wenn er die Vorstellung, Naruto mit einer Machete zum Schweigen zu bringen, auch in Zukunft bei einem unbedeutenden Tagtraum belassen wollte. Wenn Sasuke bereits nach einem mickrigen Tag derartige Gedanken hegte, wie sollte es dann erst in zwei oder gar sechs Monaten aussehen? Nicht, dass die beiden noch irgendwann auf dem Titelblatt der Regionalzeitung landeten, mit der Schlagzeile: ›Zwei Männer schlagen sich auf offener Straße gegenseitig die Köpfe ein – Motiv bislang unklar.‹ Oder die Boulevardzeitungsversion: ›Die Jugend außer Rand und Band! Können wir bald nicht einmal mehr ohne Todesangst das Haus verlassen?‹ Unbewusst zog Sasuke die Augenbrauen nach oben. In seiner Heimat gab es tatsächlich eine Zeitung, die solch einen Müll zu Papier brachte. Er erinnerte sich an eine ganz besondere Schlagzeile vor ein paar Monaten, nachdem einige Naturkatastrophen die Welt heimgesucht hatten. ›Werden wir alle sterben?‹ Darunter das Bild der Erdkugel, zur Hälfte von einem überdimensionalen Tsunami verschlungen, während der Lavastrom eines Vulkans von der Größe New Yorks die Erde in der Mitte teilte. Sasuke schüttelte kaum merklich den Kopf, schmunzelte über diesen Schwachsinn, der einigen Menschen dennoch den Angstschweiß auf die Stirn trieb – das war gerade das Problem daran – und kehrte in die Realität zurück, in der Narutos Gesicht gerade einmal wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Vor Schreck machte er einen Satz zurück, musste sich mit den Händen auf dem Bett abstützen, um nicht nach hinten überzukippen und spürte sofort das angestrengte Pulsieren in seiner Brust. Dann kehrte urplötzlich wieder Ruhe ein, die Situation war makaber; Naruto blinzelte und Sasuke ebenso. Erst in dem Moment, als sich dieses meterbreite Grinsen auf die Lippen des Blonden legte, kehrten sie zum Normalzustand zurück. Der Uchiha kniff die Augen zusammen; irgendwie hasste er Überraschungen, vor allem dieser Art, und irgendwie kam er sich gerade von dem minderbemittelten Ex-Footballspieler ausgelacht vor. Dieser Idiot, warum musste er auch wie aus dem Nichts vor seinem Gesicht auftauchen? »Kennst du das bei Katzen, wenn die zum Pissen auf der Toilette sitzen und deren Blick plötzlich ganz leer wird und die dann aussehen, als seien sie für ein paar Sekunden in einer völlig anderen Welt?«, schmunzelte Naruto. Er wartete einen Moment, ob Sasuke von selbst darauf kam, doch der starrte ihn nur weiterhin wütend an, dachte über seinen eigenen Kram nach und schwieg sein bewehrtes Lieblingsschweigen. »Na ja, so hast du gerade geguckt«, zwinkerte der Blonde und äffte offensichtlich Sasukes vorigen Blick nach, indem er seinen mit einem Mal in die Leere gleiten ließ, auf einen unbestimmten Punkt. »Like that«, grinste er breit, suchte wieder Augenkontakt zu seinem Zimmergenossen. Sasuke wusste nicht, ob er in den darauffolgenden Sekunden vor Wut oder Scham rot anlief, aber er wusste, dass er diese Unterhaltung auf keinen Fall fortführen wollte. Die Assoziation seiner Person mit einer pinkelnden Katze – das war schon reichlich demütigend. »Beweg deinen Arsch, du wolltest doch joggen gehen«, grummelte der Uchihasprössling, erhob sich von der Bettkante und zog demonstrativ den Reißverschluss seiner Trainingsjacke nach oben. »Oho, warum auf einmal so euphorisch? Magst du das etwa, wenn man dich mit Tieren vergleicht?«, lachte Naruto und dieser ganz bestimmte spöttische Unterton lag dabei in seiner Stimme; eine Tatsache, die Sasuke überhaupt nicht gefiel. Es gab Menschen, die dazu neigten, andere zu verhöhnen – er selbst zählte sich durchaus dazu – aber er selbst war es auch, der es partout nicht leiden konnte, wenn er derjenige war, der verhöhnt wurde. Na ja, dieses Spiel der eindeutigen Zweideutigkeiten konnte man allerdings auch zu zweit spielen und obwohl man es Sasuke Uchiha vielleicht auf den ersten Blick nicht ansah, war er zumindest in puncto Verarschen ein geborenes Spielkind. »Ja, da steh ich total drauf«, konterte er mit ernster Miene, sogar wahrheitsgemäß und ein Grinsen mit einer Mischung aus Spott, Kälte und lang vermisster Wollust, lag dabei auf seinen Lippen, das in Kombination mit seinen Worten einen heftigen Knoten in Narutos Hals band. Damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Er versuchte, bei Sasuke ein Muster zu entdecken, damit er ihm so richtig auf den Sack gehen konnte, schien aber völlig zu vergessen, dass Sasuke auch noch ein Wörtchen mitzureden hatte, wenn es darum ging, was er von sich Preis gab und was nicht. »Verstehe«, murmelte Naruto bloß, ganz entgegen Sasukes Erwartung. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass der Blonde ihn mindestens eine volle Minute fassungslos anstarren und dann am besten gar nichts mehr sagen würde oder – und das war für einen wie Naruto viel typischer – er von nun an erst recht auf sinnlose Konfrontationen und noch sinnlosere Diskussionen aus wäre. Verstehe. Dieses eine Wort, es klang so seltsam aus Narutos Mund; irgendwie total ernüchtert, total unpassend für einen wie ihn. Fast so, als habe er Sasuke zuvor für einen Perversen gehalten, zwar das Gegenteil gehofft, doch seine Annahme habe sich nun mit eben jener Äußerung für ihn bestätigt. Für den Bruchteil einer Sekunde zog er es in Erwägung, sich zu erklären und ihm zu sagen, dass es nichts weiter als ein blöder Scherz gewesen war - was wiederum ironischerweise eine Lüge wäre - doch er verwarf diesen Gedanken, kaum war er ihm überhaupt in den Sinn gekommen. Naruto interessierte ihn nicht und genauso wenig interessierte es ihn, was dieser Mann von ihm hielt oder eben nicht hielt. »Denk an deine Vorsätze«, rief sich Sasuke wieder ins Gedächtnis, doch ihm verblieb gar nicht genügend Zeit, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, denn mit einem Mal packte ihn Naruto am Ärmel und zog ihn wie ein ungezogenes Kind hinter sich her, ohne ein einziges Wort, die Treppe hinunter, mit kurzem Gruß in die Küche, dann den Flur entlang und raus aus dem Haus, direkt in die frische Morgenluft, um den kalten Wind zu begrüßen. Naruto löste den Griff um sein Handgelenk, joggte in gemächlichem Tempo drauf los und Sasuke heftete sich an seine Fersen. Auf ihrem Weg beobachtete er den glasklaren Himmel, atmete die kühle Luft bei jedem seiner Schritte tief ein und war plötzlich nicht mehr geschockt, sondern vollkommen fasziniert von der Stille und Einsamkeit, die diesen verschlafenen Ort umgab. Plötzlich wusste Sasuke, warum Naruto es vorzog, um diese Uhrzeit laufen zu gehen, anstatt wie ein normaler Mensch im Bett liegen zu bleiben und er konnte es sogar nachvollziehen – weil es auf eine ganz simple Art und Weise einfach wunderschön war. »Zurück gönnen wir uns aber ein Taxi«, witzelte Naruto und streckte seine Beine von der kleinen Holzbank herab, die am Wegesrand stand und im Umkreis von fünf Kilometern das einzige von Menschen erbaute Werk zu sein schien. Der Rest der Welt wurde von den hohen Bäumen und dem bergigen Gebiet versteckt gehalten und nur ein konzentrierter Beobachter konnte in weiter Ferne die Umrisse des Dorfes erkennen, von wo aus sie vor über einer Stunde losgelaufen waren. Sasuke empfand so etwas Ähnliches wie Bewunderung für Narutos eiserne Ausdauer, denn er selbst war durch das häufige Hoch und Tief an seine Grenzen gestoßen. Zuhause lief er dieselbe Kilometeranzahl immer nur stur geradeaus, vielleicht mit ein paar Hügelchen zwischendurch, die im Gegensatz zu dem, was hier von ihm gefordert wurde, der reinste Witz waren. Zugegeben, in diesem Moment hätte er gegen ein Taxi tatsächlich nichts einzuwenden gehabt. »Hier«, sagte Naruto und reichte ihm die halb geleerte Wasserflasche. Mit einem Nicken nahm Sasuke sie entgegen und trank den Rest in nur einem Zug leer. Trotz des kühlen Windes war sein Gesicht glühend heiß. Obendrein saßen seine Klamotten wie eine zweite Haut und der allmählich erkaltende Schweiß bereitete ihm eine unangenehme Gänsehaut. »Ehrlich gesagt, ich hätte nicht gedacht, dass du durchhältst«, sagte Naruto und Sasuke machte dabei ein leichtes, amüsiertes Schmunzeln auf seinen Lippen aus. Der Uchiha musterte ihn bei seinen Worten genauer. Vielleicht war er trainierter in diesem Gebiet, doch sein Körper reagierte genauso wie seiner: Mit viel Schweiß und festpappender Kleidung. »Aber hältst du's auch ein ganzes Jahr ohne deine Freunde aus? Ich meine, hier wirst du sicherlich nicht viele dazugewinnen«, sagte er ernst, fast schon eine Spur besorgt und Sasuke zog überrascht die Augenbrauen hoch. Er schüttelte grinsend den Kopf. »Das stört mich nicht im Geringsten.« Jetzt war es an Naruto, verblüfft die Augenbrauen zu heben. Man sah ihm deutlich an, dass er den Ernst in Sasukes Stimme wahrgenommen hatte und ihn einfach nicht verstand. »Warum nicht?«, hinterfragte er und zog die Beine in den Schneidersitz. Naruto machte auf Sasuke einen ehrlich interessierten Eindruck, weshalb er antwortete: »Weil Freundschaften für mich nebensächlich sind.« In den nächsten zehn oder zwanzig Sekunden herrschte betroffene Stille und Naruto schien diese Worte erst einmal verdauen zu müssen. Anscheinend hatten Freundschaften für ihn einen deutlich höheren Stellenwert als für Sasuke. »Das heißt, du hast niemanden, den du vermissen wirst? Nicht mal in ein paar Monaten?«, fragte er weiter. »Neugieriges Kleinkind«, schimpfte Sasuke in Gedanken, mit einem mokanten, für Naruto jedoch nicht sichtbaren, Grinsen im Gesicht. »Genau das heißt es«, bestätigte Sasuke und lehnte seinen Körper an der Bank zurück. Er betrachtete den klaren Himmel und die hoch oben stehende Sonne und senkte automatisch die Lider. In solchen Momenten, wenn er der Natur eine Chance gab zu ihm durchzudringen, erschien plötzlich alles so simpel; sein Leben, sein Denken und seine Wünsche – plötzlich nicht mehr als eine Phase. Freunde kommen und gehen, genauso wie Liebschaften und alles andere. In den letzten Jahren hatte Sasuke viel dazugelernt und auf diesem Wissen baute er heute sein gesamtes Handeln auf. »Findest du das denn nicht traurig?«, fragte Naruto und starrte mit einem leeren Blick in die Ferne, der auf seine eigenen, rein persönlichen Gedanken hindeutete. Sasuke beobachtete noch einen Moment sein starres, von Trübsal zerfressenes Gesicht, das aussah, als sei dieses Thema allein auf ihn zugeschnitten und vollendete einen letzten Gedanken, bevor er endgültig und mit einem leisen »Tse« den Blick von ihm abwandte: »Jetzt bist du die pissende Katze.« »Wenn ich es traurig fände, hätte ich längst etwas daran geändert«, sagte er und stand auf. Allmählich sickerte die Erkenntnis durch seine Gedanken, wie lächerlich die jetzige Situation eigentlich war. Sinnierten sie etwa gerade entfernt über den Sinn des Lebens? Das war absurd, doch entweder nicht absurd genug oder gerade zu absurd als dass Sasuke irgendein biestiger Spruch dazu eingefallen wäre. Er zog es vor zu schweigen, darin war er ohnehin geübt. Sie gingen den gesamten Weg im Schnellschritt nebeneinander zurück, doch weder Sasuke noch Naruto ergriff noch einmal das Wort. Es herrschte wirklich eine betroffene Stille zwischen den Fronten, die sie auch in den nächsten Tagen pausenlos begleitete. In den darauffolgenden Tagen und Nächten verbrachte er fast ununterbrochen seine Zeit mit Naruto, stritt mit ihm, beleidigte ihn, konnte das ein oder andere Mal allerdings auch mit oder über ihn lachen. Sein Zimmergenosse zeigte ihm mehr von der Gegend, aber auch gleichzeitig mehr von sich selbst. So konnte Sasuke gewisse Muster erkennen, die sich wirklich tagtäglich wiederholten und beileibe – er hätte niemals geglaubt, dass Naruto einen derart geordneten Tagesablauf haben könnte. Früh morgens stand er auf, um seine tägliche Routine durchzuziehen, während andere Kerle noch dabei waren, ihre Morgenlatte aufzubauen, danach ging er zuerst duschen, dann frühstücken und bis zum Mittag überbrückte er meist die Zeit damit, in sein Buch zu kritzeln, in das Sasuke auch nach zweiwöchigem Aufenthalt noch keinen Einblick erhielt. Nachmittags fuhr Naruto in die Stadt, um seinem Job nachzugehen, zu dem es zwar keine genauen Äußerungen gab, allerdings stank er jedes Mal verdächtig nach Frittierfett, wenn er nach Hause zurückkehrte, sodass die Schlussfolgerung simpel war. Kein toller Job und auch kein Studium, mit Ausnahme er hatte gerade Semesterferien und jobbte nebenbei, aber selbst das würde Sasuke noch früh genug ausschließen können. Abends kehrte Naruto kurz nach Sechs zurück, aß einen Happen und verschwand schließlich mit dem schwarzen Koffer aus dem Haus. Auch hier durfte ihn Sasuke nicht begleiten. Gut, der Uchiha hatte niemals danach gefragt, aber es war ihm auch genauso wenig angeboten worden – dabei ließ ihn Naruto ansonsten ungefragt an allem teilhaben, was er tat. Warum gerade daran nicht? Selbst seine Eltern wussten nicht, was er seit Jahren um die Uhrzeit draußen trieb und das war in Sasukes Augen tatsächlich ein Grund zur Beunruhigung. Zunehmend keimte in ihm der Gedanke auf, dass an der Sache irgendetwas faul sein musste. Warum verschwand ein junger Mann jeden Abend mit einem riesigen Koffer aus dem Haus, von dem niemand wusste, was darin war oder wohin er damit ging? Es war seltsam. Viel zu seltsam. Fast so seltsam wie die ganzen Serien über Serienkiller und Triebtäter, die sich Sasuke vor nicht allzu langer Zeit gerne reingezogen hatte. Ja, das Ganze startete wirklich wie einer von seinen Krimis. Ein einsames Dorf irgendwo in den Bergen und ein Mann, der bei Sonnenuntergang irgendwelchen skurrilen Aktivitäten nachging, das war filmreif. Genauso filmreif war Sasukes Entschluss, der Sache auf den Grund zu gehen. Lange hatte er mit sich selbst gerungen, doch die Neugierde hatte gegenüber seiner Vernunft allmählich die Oberhand gewonnen. Er wollte wissen, was Naruto dort draußen trieb, koste es, was es wolle. An diesem Abend ging er deshalb nicht wie sonst in ihr Zimmer zurück, nachdem Naruto sich verabschiedet und aus dem Haus gestohlen hatte. Stattdessen folgte er ihm; stets darauf bedacht, einen guten Sicherheitsabstand einzuhalten, um im Ernstfall hinter irgendeinem Baum Zuflucht zu finden. Naruto gab sich sicher; kein einziges Mal drehte er sich um, kein einziges Mal sah er zur Seite, immer nur stur geradeaus. Sasuke schluckte; er kannte dieses Phänomen. Nebenbei fühlte er das Taschenmesser, das er sich als reine Vorsichtsmaßnahme in die Jacke gesteckt hatte. Im Notfall könnte er sich damit verteidigen. Die Schritte des Blonden entfernten sich immer weiter vom Dorf, hinein in ein angrenzendes Waldstück und Sasuke zögerte für einen kurzen Moment. Was, wenn er ihn bemerkt hatte? Der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich. Nein, das war Unsinn. Narutos Körperhaltung war völlig entspannt, seine Schritte zügig, aber nicht hektisch und die Hände waren locker in die Jackentaschen geschoben. Der Blick des Uchihas heftete sich an die schwarze Tasche, die Naruto auf dem Rücken trug. Bei jedem seiner Schritte wippte sie leicht hin und her, fast wie ein Spielzeug, das von Sasukes Neugier köstlich unterhalten wurde. Der junge Mann merkte gar nicht, dass er dem Blonden ungewollt weiter folgte, immer tiefer in den Wald lief, bis Naruto mit einem Mal urplötzlich stehen blieb. Sasuke fuhr in sich zusammen, regte sich keinen Zentimeter mehr und beobachtete den anderen dabei, wie er sich lässig gegen einen Baumstamm sinken ließ und die schwere Tasche beiseite legte. In diesem Moment war Sasuke das krasse Gegenteil von Naruto. Er war nervös, sein Puls kletterte mehrere Meter nach oben, ihm wurde heiß und kalt zugleich und seine rechte Hand griff selbstständig fester nach dem Messer. Er sah ihm fieberhaft dabei zu, wie er in seinen Jackentaschen herumkramte und schließlich ein kleines Päckchen herauszog. Sasuke hörte ein altbekanntes Geräusch, sah das winzige Feuer und nur Sekunden darauf den Rauch, der seine Lunge verließ. Automatisch weiteten sich seine Augen und er registrierte noch gerade den Moment, in dem er zur Seite treten musste, um nicht in Narutos Blickfeld zu geraten. Er lehnte seinen Rücken gegen den breiten Baumstamm, war geschützt von einer ganzen Reihe von Bäumen und spürte, wie sein Puls stetig langsamer wurde. War das der Grund, warum er jeden Abend das Haus verließ? Um in Ruhe eine zu rauchen? Was für ein Unsinn. Er hätte es wissen müssen, dass Naruto nicht zu mehr in der Lage war. Dann war das hier also sein Ritual. Richtig, sein Ritual beim Rauchen. Abgesehen davon, dass er diesen Sportwahnsinnigen niemals für jemanden gehalten hätte, der seine Lunge mit Nikotin vergiftet, fragte er sich ernsthaft, warum er jeden Abend gerade zu diesem Ort kam. Vielleicht war es allein die Atmosphäre, aber vielleicht war auch eine Erinnerung mit diesem Wald, vielleicht sogar mit dieser ganz besonderen Stelle verbunden. Möglicherweise saß er jeden Abend genau an diesem Baum. Eventuell war es aber auch bloß reiner Zufall. Sicher war nur, dass Sasukes Gedanken reine Spekulationen waren. Der Uchiha vernahm das Geräusch eines Reißverschlusses, gefolgt von einem lauten Knacken. Das musste das Öffnen der Tasche gewesen sein. Mit einem Mal nahm sein Herzschlag wieder an Geschwindigkeit zu. Ihm gefiel es ganz und gar nicht, dass er nicht sehen konnte, was passierte; dass er nicht sehen konnte, was Naruto gerade hervorgeholt hatte. Es gab unendlich viele Möglichkeiten, was womöglich in dieser Tasche war, aber auf jeden Fall wertvoll und privat genug, dass es niemand sonst mit eigenen Augen sehen durfte. Sasuke machte hiermit einen entscheidenden Schritt in Narutos Privatsphäre, er überschritt sogar eine Grenze, die er sich bis heute selbst gesetzt hatte, doch jetzt, hinter diesem Baum und kurz davor die Wahrheit zu erfahren, waren seine Gewissensbisse nicht mehr als eine Belanglosigkeit. Sasuke rechnete mit vielem, aber nicht mit dem, was wirklich geschah. Sasuke rechnete damit, in den nächsten Sekunden Schüsse zu hören, die entweder auf ihn oder Wild abgefeuert wurden. Er rechnete damit, kreidebleich zu werden und in letzter Sekunde die Flucht zu ergreifen, doch stattdessen verharrte er nur weiterhin reglos an Ort und Stelle als ganz leise, sanfte Töne sein Ohr erreichten. Zweifellos, das war ein Instrument. Mit Sicherheit eine Gitarre. Sasuke stockte. Die Erkenntnis, dass Naruto das Haus nicht verließ, um zu rauchen, sondern um in Ruhe musizieren zu können, wollte einfach nicht in seinen Schädel rein. Die Vorstellung war einfach zu absurd. Es musste noch mehr dahinter stecken. Alles andere als absurd war das musikalische Spiel; ruhig, fast eine Spur melancholisch und somit das genaue Gegenteil von Sasukes Vorstellung wie Naruto zu sein hatte. Vor allem war der Klang der Gitarre angenehm, gekonnt gespielt, um nicht zu sagen – schön. Schön waren ebenfalls die darauffolgenden Klänge, die das Gitarrenspiel zur bloßen Begleitung degradierten. Sasuke lauschte seiner Stimme und ließ die Gesamtheit auf sich wirken. Die Musik, der Gesang und die unbeschreibliche Umgebung, in der er sich gerade befand, harmonierten perfekt miteinander, bis ins kleinste Detail. Auf einmal hatte Sasuke eine Ahnung, was Naruto tatsächlich in sein abgewetztes Buch schrieb. Er achtete auf den Text, der nicht im Ansatz so plump war wie er es nach Sasukes Erwartung hätte sein müssen. Seine Gedanken drifteten ab, malten ein Bild des jungen Mannes, wie er gegen den Baum gelehnt seine Gitarre spielte und dabei mit den Lippen Worte formte, die etwas in Sasuke bewegten. Er begann schon jetzt, zumindest sein singendes Organ zu verehren. Mit diesem Mann hier vor Ort, mit diesem Naruto, wäre er immer so gewesen wie er jetzt war – Sasuke hätte sich alles Erdenkliche mit ihm vorstellen können, selbst einen Kuss. Einen richtigen, echten Kuss. Doch der Zauber verflog in dem Moment als Naruto sein Spiel unterbrach. Er hörte einfach auf, von jetzt auf gleich, ohne runden Abschluss. Schockiert spähte Sasuke hinter dem Baum hervor, um zu sehen, was geschehen war. Naruto saß noch immer dort, ungerührt, die Gitarre wie ein Heiligtum ordentlich in den Koffer zurückgelegt, während ihr Besitzer wie ein Irrer in sein kleines Mitbringsel schrieb und damit den letzten Beweis lieferte. Der Uchiha hatte einen hochkonzentrierten Mann vor Augen, der für seine Leidenschaft alles um sich herum vergaß. Naruto lebte für die zwei oder drei Stunden, die er täglich nur mit sich selbst und seiner Musik verbrachte, in seiner eigenen Welt, in der kein Platz für irgendetwas anderes war, nicht einmal für einen hartnäckigen Beobachter wie Sasuke Uchiha, der ihn auf Schritt und Tritt hierher verfolgt hatte. Wieder vereinten sich die Klänge von Instrument und Gesang zu einem beeindruckenden Kunstwerk. Sasuke spitzte die Ohren und achtete genauer auf Gitarrenspiel und Stimme. Genau genommen war weder das Eine noch das Andere besonders herausragend, einzeln betrachtet jedenfalls nicht. Im Duett und vor allem in Kombination mit dem, was er sang, war es auch objektiv betrachtet ein ansehnliches Werk, das er ablieferte. Mit den Augen überflog Sasuke das Gesicht des anderen. Naruto hatte die Augen geschlossen, nur selten – bei ganz bestimmten Passagen – öffnete er sie einen Spalt weit, als müsse er sein applaudierendes Publikum in Augenschein nehmen. Möglicherweise übte er hier im Stillen für einen bevorstehenden Auftritt. Die Frage war nur, ob das Ganze bloß ein Hobby oder doch viel mehr war als das. Es war nicht auszuschließen, dass Naruto eine Karriere in der Musikerbranche anstrebte, denn Talent hatte er auf alle Fälle. Wenn ja, hätte er Sasukes Respekt verdient. Er liebte Musik abgöttisch. Musik vereinte für ihn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Leben und Sterben und war in der Lage, jedes Gefühl greifbar zu machen. Wer der Musik mächtig war, der besaß auch zweifellos Macht. Denn Musik war nicht nur in der Lage ein Gefühl wiederzugeben, sondern auch hervorzurufen. In ihm löste Musik jedes Mal unweigerlich Gefühle aus, nicht selten auch welche, die er in dem Moment und in der jeweiligen Situation einfach nicht verstand. Es war nicht immer leicht, die eigenen Wünsche zu erkennen und manchmal nur umso schwieriger sie sich selbst einzugestehen und sie zu akzeptieren. Sasuke spürte den kalten Wind in seinem Nacken, der ihn eigentlich dem Gesang und seinem Sänger entgegen drücken sollte, doch er sträubte sich, auch nur noch einen Fuß in seine Richtung zu setzen. Stattdessen machte er auf der Stelle kehrt und ging im Schnellschritt davon, ohne auf die Lautstärke seiner Schritte zu achten. Plötzlich war es ihm egal, ob Naruto ihn bemerkte oder nicht. Es machte sowieso keinen Unterschied mehr. Auf seinem Weg durch Gestrüpp und Geäst glaubte er, im Hintergrund den Klang der Gitarre verebben zu hören. Vermutlich nur das Phänomen der zunehmenden Entfernung, er war sich nicht sicher. Den gesamten Heimweg über zwang er sich, nicht weiter über die kürzliche Situation nachzudenken. Er wollte sie lieber als etwas betrachten, das niemals stattgefunden hatte. Wie ein Traum, den man zwar als wahnsinnig real empfand, aber doch immer nur Traum blieb. Sasuke hatte auf diese Weise schon oft genug unangenehme Tatsachen einfach aus seinem Gedächtnis ausradiert, nur selten kam es dabei zu einem Rückkopplungseffekt. Daheim angekommen klingelte er an der Haustür, einen eigenen hatte er bis dato nicht ausgehändigt bekommen und er rechnete auch nicht mehr damit, dass sich daran etwas ändern würde. Alexis öffnete ihm wie immer mit einem liebevollen Lächeln. »Da bist du ja wieder«, strahlte sie ihm entgegen, als habe sie seit er weg war nichts anderes getan als auf seine Rückkehr zu warten. Irgendwie war diese Familie insgesamt unheimlich, nicht bloß Naruto. Vielleicht war auch das, dass man auf die Außenwelt irgendwie verrückt wirkte, eine Konsequenz aus der Einsamkeit der Berge. »Zieh die Jacke aus und komm in die Küche. Wir essen gleich«, sagte sie und ging voraus. Wie die gute alte Vorstellung einer Hausfrau es vorgab, wischte sie sich dabei die Hände an ihrer langen Schürze ab. Sasuke zog die Augenbrauen nach oben. »Warten wir denn nicht auf Naruto?«, fragte er. Keine zwei Sekunden später, als Alexis' überraschter Blick längst an ihm klebte, biss er sich bereits auf die Lippe. In den vergangenen zwei Wochen hatte er kein einziges Mal danach gefragt, warum und wieso ohne Naruto zu Abend gegessen wurde und Alexis entging natürlich nicht die Ungewöhnlichkeit seines neuerlichen Interesses. »Wir essen seit Jahren nicht mehr gemeinsam zu Abend. Anfangs haben wir noch gewartet, aber na ja...« Sie zuckte mit den Schultern. »Er kommt nie zur selben Zeit nach Hause. Manchmal ist er zwei Stunden weg, manchmal aber auch vier oder fünf. Wir haben's einfach aufgegeben.« Sasuke nahm in der Küche auf einem freien Stuhl Platz und nickte Will einmal kurz zu. »Warum vereinbart ihr keine feste Zeit miteinander?«, fragte er weiter. »Das hatten wir mal vor. Allerdings ist Naruto immer so gut gelaunt, wenn er zurückkommt. Ich wette, es hat seinen Grund, warum er mal länger, mal kürzer unterwegs ist.« Stimmt, er war jeden Tag richtig ausgelastet gewesen. Zumindest dann, wenn er nicht gerade gegen einen abgestellten Koffer lief, so wie bei ihrer ersten Begegnung. Aber auch da – er war nur kurz genervt und danach wieder völlig entspannt und freundlich gewesen. Jedenfalls solange, bis Sasuke es mit seinen Bemerkungen zu weit getrieben hatte. »Verstehe«, sagte er abschließend, als er einen Teller Eintopf vor die Nase gestellt bekam. Verstehe. »Tse«, machte er, schnappte sich den Löffel und aß. Es dauerte weitere achtundfünfzig Minuten und zweiunddreißig Minuten, ehe Sasuke das bekannte Geräusch eines Schlüssels vernahm, der im Schlüsselloch herumgedreht wurde. Inzwischen saß er mit Alexis und Will gemütlich in der Stube, wo sie sich um den flackernden Kamin versammelt hatten. Es war eine Art Brauch, dass jeden Abend das Feuer entzündet wurde. Sasuke hatte nichts dagegen, einfach stillschweigend vor den Flammen zu sitzen, so konnte er zumindest für eine kurze Zeit ungestört seinen eigenen Gedanken nachhängen. Das trampelnde Geräusch der wenig beherrschten Schritte kam näher. Sasuke zog die Augenbrauen zusammen. Naruto nervte ihn jetzt schon. »Bin wieder da«, grinste Besagter ins Wohnzimmer hinein, dann ging er einfach weiter, die Treppe hinauf und die Tür seines Zimmers fiel ins Schloss. Sasuke stand auf und folgte ihm, ohne ein einziges Wort. Oben wechselte Naruto seine wetterfeste Kleidung bereits in ein lockeres T-Shirt, das er sich zusätzlich zu seinen Boxershorts anzog. Die Anwesenheit des Uchihas schien ihm dabei gar nicht bewusst zu sein, er bemerkte ihn überhaupt nicht. »Tch«, machte Sasuke wütend und ließ sich lautstark auf sein Bett fallen. Narutos Kopf fuhr herum. Er hielt in seiner Bewegung inne und blinzelte verblüfft. »Alles okay?«, fragte er und Sasuke hörte die Gleichgültigkeit dieser Höflichkeitsfloskel aus seiner Stimme heraus. »Sicher«, antwortete er und damit war das Thema abgehakt. Naruto hatte keinen Grund, der Sache weiter nachzugehen. Wenn es darum ging die Dinge totzuschweigen, standen sie auf Augenhöhe. »Freeclimbing«, warf Naruto zusammenhanglos nach einer gefühlten Ewigkeit in den Raum hinein. In der Zwischenzeit hatte es sich Sasuke auf dem Bett bequem gemacht und strafte die Zimmerdecke mit seinen bösen Blicken. »Was ist damit?«, knurrte er. Nur Sekunden später bebte das Bett, als Naruto mit einem Satz heraufgesprungen war und sich nun grinsend über Sasuke beugte. Der Uchiha war schockiert und regte sich keinen Millimeter, weil er befürchtete, dass diese Situation durch eine einzige unbedachte Bewegung seinerseits von jetzt auf gleich aus dem Ruder laufen würde. »Nächstes Wochenende geht’s los«, schmunzelte er und Sasuke realisierte erst jetzt Narutos genaue Position – die Innenseite seiner Schenkel drückte sich gegen sein Becken, während er ihn an den Schultern ins Bett drückte. Sasukes Puls kletterte in Sekundenbruchteilen auf gefühlte Fünfhundertachtzig. Er war auch nur ein Kerl und er wusste, was er wollte. Himmel, hier saß ein verdammt attraktiver Mann breitbeinig auf ihm und er war zur Tatenlosigkeit verdammt, wenn er nicht mit dem Kopf voraus aus dem Fenster fliegen wollte. Das Schlimmste war noch, dass er das unterdrücken musste, was er selbst kaum kontrollierte – er spürte die Hitze in seiner Lendengegend aufkochen. Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, musste sich dieser Idiot auch noch zu ihm herunter beugen – weiterhin mit diesem penetranten Grinsen in der Fresse -, um ihm folgende Worte ins Ohr zu flüstern, nahezu zu stöhnen: »Nervös? Du schwitzt ja.« Sasuke stieß ihn noch im selben Augenblick von sich herunter, ehe die Wirkung seiner Worte richtig einschlagen konnte und Naruto ging krachend zu Boden. Verdammte Scheiße – that was a close one. Narutos schmerzerfüllte Laute gingen in Sasukes Ohren unter seinem durchdrehenden Herzschlag förmlich unter. »Sag mal, bist du bescheuert?«, war das Erste, was er wieder bewusst wahrnahm. Kein Wunder, Naruto schrie ihm diese Worte auch geradewegs ins Gesicht. Seins war dabei von Wut zerfressen. Bei diesem Anblick fand Sasuke seine Stimme wieder. »Selbst schuld«, sagte er und drehte ihm den Rücken zu. »Selbst...was?«, brüllte der Blonde zurück und zog Sasuke an der Schulter wieder zu sich herum. »Du bist ja ein totaler Psychopath!« »Wer von uns beiden ist hier der Psychopath?«, brüllte der Uchiha zurück und spürte selbst, dass sein Gesicht knallrot sein musste. Naruto haderte noch kurz mit sich selbst, wandte sich aber mit einer abweisenden Geste von ihm ab. »Weißt du was? Leck mich, Arschloch!« Seine Schritte entfernten sich mit doppelter Lautstärke, die Tür knallte zitternd ins Schloss und Sasuke schrie noch hinterher: »Dann wasch dich erstmal, Wichser!« Vor Wut schien Sasukes Gesicht nahezu zu zittern, er verlor komplett die Beherrschung über sich selbst und daran war allein dieser Naruto schuld. »Bei euch alles okay, Jungs?«, rief zu allem Überdruss nun auch noch Alexis' besorgtes Organ die Treppe hoch. »Alles okay!«, brüllten sie zeitgleich zurück, beide völlig außer sich. In diesem Haus hatte sich seit seiner Ankunft offensichtlich einiges verändert. Es stand wirklich in den Sternen, ob er das komplette Jahr hierbleiben dürfte. Wer wollte schon jeden Tag diesen Stress zuhause ertragen? Dann musste er wieder nach Hause. Sasuke schlug die Hände über dem Kopf zusammen, fuhr sich mit den Handflächen übers Gesicht und versuchte, sich einen klaren Kopf zu verschaffen. Nach Hause? - Niemals. Da stand er lieber nicht nur im übertragenen Sinne – wie es bislang der Fall war -, sondern auch in Wirklichkeit mit Naruto vor einem hundert Meter tiefen Abgrund. Fuck. Kapitel 3: Nachts sind alle Katzen grau --------------------------------------- »Hast du alles?«, fragte Naruto in voller Hektik. Der Uchiha besah noch einmal seinen bepackten Rucksack und zuckte mit den Schultern. »Denk schon«, sagte er mit leicht mürrischem Unterton. Die Gewissheit, die heutige Nacht bei Kälte in der Wildnis zu verbringen, versetzte ihn nicht unbedingt in Euphorie. Schon gar nicht, wenn er daran dachte, wer in diesen Stunden seine einzige Gesellschaft sein würde. Sasuke warf einen letzten Blick auf das Display seines Handys, das die heutige Nacht am Ladekabel verbringen würde. Eine neue SMS lag vor. ›Zur Erinnerung: Sie haben noch fünf neue Nachrichten in Ihrer Mobilbox. Zur Abfrage wählen Sie...‹ »Na dann los, es ist schon spät. Wir müssen oben sein, bevor es dunkel wird«, drängte der Blondschopf und schnallte das Riesending von Rucksack auf seinem Rücken fest. Sasuke zuckte einmal mit den Schultern. Die Außenwelt konnte ihn für die nächsten vierundzwanzig Stunden mal derbe an seinem ästhetischen Hinterteil lecken. »Wir sind dann weg, Mum«, rief er noch einmal im Vorbeigehen in die Küche und Alexis, die ähnliche Schauspiele längst gewohnt war, hob nur einmal sehnsüchtig die Hand. »Seid vorsichtig, ihr zwei.« Da klang sie wieder durch, die typische mütterliche Sorge, die auch Sasuke nicht unbekannt war. Aus reiner Gewohnheit verdrehte er einmal die Augen und folgte Naruto aus der Haustür hinaus. Es war später Nachmittag, die Sonne stand noch hoch oben am Himmelszelt und Sasuke konnte sich kaum vorstellen, dass sie bis zum Sonnenuntergang benötigen würden, um den Berg – viel mehr den Hügel – zu erklimmen, den Naruto ihm vor ein paar Tagen gezeigt hatte. Also warum die Eile? »Und du hast so was echt noch nie gemacht?«, fragte er mit einer Mischung aus purer Verwunderung – gerade so, als sei Freeclimbing so etwas Selbstverständliches wie Schnürsenkel zubinden – und ein wenig Sorge. Letzteres traf etwas verspätet ein, Naruto musste Sasuke inzwischen gut genug kennen, um zu wissen, dass er mit Sicherheit keinen Rückzieher mehr machen würde. Schließlich wollte er nicht als feiges Weichei dastehen. »Nein«, erwiderte der Uchiha knapp und heftete seinen Blick an Narutos Rücken, der komplett von seinem Gepäck verdeckt wurde. »Wenn wir da sind, erklär ich dir alles nochmal in Ruhe«, sagte er und irgendwie schmeckte Sasuke die Richtung, in die sich das Gespräch entwickelte, schon jetzt nicht. Er kam sich bevormundet vor – von Stephen King-Junkie Naruto. »Brauchst du nicht«, sagte Sasuke, der allein damit beschäftigt war, seinen Stolz zu wahren. Sein Plan war es, einfach Naruto zu beobachten und seine Bewegungen entsprechend nachzuahmen. Ein grandioser Gedanke, schließlich hatte Naruto hinten keine Augen. Ihm würde es also nicht auffallen, wenn Sasuke ihn ununterbrochen anstarrte, um perfektionierten Mimikry zu betreiben. Sasuke machte ein ganz leichtes Zögern in Narutos Bewegung aus. Er blieb beinahe stehen, fand aber recht schnell sein bisheriges, strammes Schritttempo wieder. »Auch gut«, sagte Naruto und beendete damit auf simpelste Weise ihre Konversation. Er wusste, dass Sasuke einen Teufel tun würde, ohne entsprechenden Grund weiter mit ihm zu plaudern. Naruto stellte weder eine Frage noch machte er eine provozierende Aussage – Sasuke sah deshalb keinen Anlass, das Gespräch weiter aufrecht zu erhalten; so handhabte er es immer. Nach einigen schweigsamen Minuten fanden sie sich beide vor ihrem felsigen Ziel wieder. Sasuke riskierte einen Blick in die Höhe, blinzelte der Sonne entgegen. Scheiße, aus direkter Nähe sah das Ding wirklich dreimal so hoch aus wie aus sicherer Entfernung. Er besah die Wand aus Felsvorsprüngen, wie dafür gemacht, um von irgendwelchen Wahnsinnigen erklommen zu werden. Sasuke schenkte sich selbst ein wenig Mitleid, bei dem Gedanken daran, dass er – wenn auch unfreiwillig – in wenigen Augenblicken selbst zu diesen Wahnsinnigen gehören sollte. »Eins muss ich trotzdem noch klarstellen, damit wir uns nicht falsch verstehen«, sagte Naruto, während er seinen Rucksack vor der Felswand noch einmal richtete und wie ein Korsett um seine Taille schnürte. »Ich betreibe eine sehr spezielle Form des Freeclimbings«, sagte er und Sasuke hoffte im Stillen, dass sich diese spezielle Form nicht als irgendeine perverse Variante wie FKK-Climbing entpuppte. »Nennt sich ›Free Solo‹«, meinte Naruto und er entnahm Sasukes Stillschweigen die Gewissheit, dass er den Unterschied nicht verstand. »Der Unterschied ist, dass beim normalen Freeclimbing sehr wohl mit Seil und Haken gesichert wird, beim Free Solo eben nicht. Das bedeutet Adrenalin pur«, erklärte Naruto und man konnte allein seiner Stimme entnehmen, dass er ein größenwahnsinniger Fan von Extremen war. Sasuke kam sich vor wie in einem Film. Ihm stand eine Aufgabe bevor, die seine Fähigkeiten weit überstieg. Er sollte einen Felsen ohne jegliche Hilfsmittel besteigen, obwohl er bis dato noch nicht einmal eine beschissene Kunstwand erklommen hatte. Ohne sich auch nur einen Millimeter bewegt zu haben, schüttete Sasukes Körper in Sekundenschnelle durchaus genug Adrenalin für eine ganze Fußballmannschaft aus. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Naruto seinen Tod allen Ernstes leichtfertig in Kauf nehmen würde, nur um ihm zu beweisen, dass er es voll drauf hatte. »Da ich die Sauerei später allerdings nicht aufwischen möchte, kannst du mit Seil und Haken arbeiten. Jeder fängt damit an«, sagte Naruto und meinte es offensichtlich nur gut, doch er bedachte Sasukes überdimensionalen Stolz nicht ausreichend. Sasuke wollte gerade den Mund öffnen, um zu entgegnen, dass solche Vorsichtsmaßnahmen nicht nötig seien und er, wenn er schon einmal dazu kam, auch den richtigen Kick erleben wollte, da hielt er mitten im Atemzug inne. War er denn von allen guten Geistern verlassen? Er war nicht so ein Idiot wie Naruto, der gegen jegliche Vernunft seine Männlichkeit und Furchtlosigkeit zur Schau stellen musste. Gelegentlich mochte man es nicht glauben, aber Sasuke Uchiha hing durchaus an seinem Leben. Sehr sogar. Das würde er mit Sicherheit nicht leichtfertig für ein ›Free Solo‹ aufs Spiel setzen. »In Ordnung«, presste er hervor. Trotz der Gewissheit, dass seine Entscheidung die richtige war, konnte er einen scharfen, beleidigten Unterton nicht unterdrücken. Die Wut platzte mal wieder unkontrolliert aus ihm heraus, weil er genau wusste, dass sich Naruto still und heimlich darüber freute, dass er klein beigeben musste. Selbst bei drohender Gefahr war es nicht Sasukes Art, einfach die Flinte ins Korn zu werfen. Das ließ sein Stolz nicht zu. Vor allem in Situationen, die mit dieser annähernd vergleichbar sind. Hier war es regelrecht seine Pflicht, sein Anliegen sich zu beweisen, aber er durfte es schlicht und ergreifend nicht. Denn hier war nicht die Rede von irgendeiner potenziellen, humanen Gefahr wie einem verstauchten Unterarm, sondern direkt von akuter Lebensgefahr. Seine Überlebenschance lag optimistisch vielleicht bei fünfzig Prozent, realistisch betrachtet eher so bei zehn bis zwanzig Prozent und Sasuke setzte nicht gerne auf Spekulationen und Glück, schon gar nicht, wenn sein Einsatz nichts geringeres als sein Leben war. Der blonde Mann riss Sasuke mit dem Rascheln und Klappern seines Rucksacks aus jeglichen Gedankengängen. Er schnürte ihn wieder los, zog ihn nach vorne und entnahm dem riesigen Gepäckträger Seil und Haken. Die Haken betrachtete er kurz mit skeptischen Blick, verstaute sie aber wieder in dem riesigen Ding von Rucksack. Offensichtlich hatte er doch nicht damit gerechnet, dass sich Sasuke seinen Rat zu Herzen nehmen würde. »Nimm bitte kurz deinen Rucksack ab«, murmelte Naruto, während er weiter in seinem Gepäck herumkramte. Sasuke zog eine Augenbraue hoch. »Er hat ›bitte‹ gesagt«, stellte er mit Verwunderung fest. Noch bis vor wenigen Sekunden hätte er sich geweigert auch nur daran zu glauben, dass derartige Begriffe überhaupt in Narutos Wortschatz existierten – zumindest in einer Konversation mit Sasuke. Kommentarlos tat er wie ihm geheißen und seine Begleitung stand nur Sekunden später direkt vor ihm, musterte ihn wie einen rohen Stein, der zu einer wunderschönen Statue gemeißelt werden sollte. Naruto schien zu überlegen, wo er zuerst Hand anlegen sollte. Der Blick des Uchihas fiel dabei auf das Geschirr, das er in den Händen hielt. Aus einer hochgezogenen Augenbraue, wurde prompt eine zweite. »Kombination aus Hüft- und Brustgurt. Sichert dich ab«, erklärte er, während er Sasuke das Ding um den Körper schnallte. Für den Uchiha hatte das Teil mehr etwas von einem krassen Sexspielzeug als einem Sicherheitsgurt. Ihm gefiel es überhaupt nicht, dass Naruto nahezu jeden Zentimeter seines Körpers betatschte, um die Schlaufen an den entsprechenden Stellen festzuziehen. Es gefiel ihm deshalb nicht, weil es seinem Körper zu sehr gefiel. Naruto pfriemelte an seiner Hüfte herum, fixierte die Schlaufen zu guter Letzt an seinen Oberschenkeln und Sasuke sah dabei einfach nur starr geradeaus, auf die gegenüberliegende Felswand. Aus dem Augenwinkel erkannte er Narutos blonde Haarspitzen, in einer verdächtig perfekten Höhe. Sasukes Schlucken war lautlos. »Das hätten wir«, verkündete Naruto mit stolzer Miene und richtete sich wieder auf. Die Fäuste stemmte er dabei in die Hüfte und begutachtete mit einem zufriedenen Lächeln sein vollbrachtes Werk. »Du ziehst gleich das Seil durch die Schlaufe, dann sicherst du beim Klettern nach und nach das Seil an den Haken in der Felswand und...« Naruto hielt einen regelrechten Vortrag über all das, was Sasuke auf ihrem Weg zu beachten hatte. Jetzt ergab es eindeutig einen Sinn, warum er schon so früh aufbrechen wollte. Anscheinend war es nie seine Absicht gewesen, ihn völlig ohne Hilfestellung den Berg hochklettern zu lassen. Überraschungen fanden ihren Weg zu Sasuke wirklich immer genau dann, wenn er am wenigsten damit rechnete. Unglaublich, dass tatsächlich, wenn auch nur ein winziger Funken, Vernunft in diesem egozentrischen Vollidioten schlummern sollte. »Alles verstanden?«, fragte Naruto auf einmal. Sasuke nickte, auch wenn er ihm schon nach dem ersten Satz nicht mehr zugehört hatte. Er war allgemein kein schlechter Zuhörer, das nicht, aber nun ja, in den vergangenen Minuten waren seine Gedanken nebenbei lieber weiter um die vorherige Situation gekreist und hatten ein paar Szenen dazu gedichtet, die in dieser Konstellation niemals stattgefunden hatten. Wer behauptete, Sasuke sei fantasielos, der hatte einfach noch nie einen ungetrübten Einblick in seine Gedankenwelt bekommen. »Na dann los«, sagte Naruto und wandte sich von ihm ab. Sasuke war ab diesem Moment klar, dass er bis zum Ende ihrer Klettertour nicht mehr als Luft für Naruto sein würde. Vermutlich würde er nicht einmal den dumpfen Klang bemerken, wenn sein Körper ungebremst auf dem Boden aufschlug. Natürlich, er könnte schreien, um auf sich aufmerksam zu machen, aber er würde es nicht tun. Dank seiner Sicherung würde er in eine derartige Bredouille allerdings auch nicht geraten, was für ein Glück. Sasuke sah Naruto dabei zu, wie er weiter und weiter nach oben kletterte, ohne auch nur einmal anzuhalten oder über die Schulter zu schauen, um zu sehen, wo seine Begleitung blieb. »Du bist ein hoffnungsloser Idiot«, murmelte der Uchiha und der Wind trug seine Worte mit sich. Hoffentlich direkt in Narutos taube Ohren. Tief durchatmend zog er seinen Rucksack ein letztes Mal stramm, begutachtete die wenigen Werkzeuge, die er hatte und stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass Naruto jegliche Sicherungsvorkehrungen unbemerkt während seines Vortrags vorgenommen hatte. »Na dann los«, wiederholte er leise die vorigen Worte, mit einem gewissen sarkastischen Unterton und machte sich sozusagen ›an die Arbeit‹. Schon nach wenigen Zügen machte sich Sasukes hoch angespannte Muskulatur bemerkbar. Er war froh, in den letzten Jahren regelmäßig das Fitnessstudio besucht und dabei seine Rücken-, Arm- und Schultermuskulatur auf Hochtouren gebracht zu haben. Trotzdem war das hier irgendwie etwas ganz anderes als sein monotones Training. Seine Muskeln wurden völlig anders beansprucht und er hatte das Gefühl, als würden Muskeln strapaziert, von denen er zuvor nicht einmal gewusst hatte, dass sie überhaupt existierten. Erschwerend kam der Nervenkitzel hinzu, dass er sich bereits um die zehn Meter über festem Boden befand. Sasuke war schwindelfrei, glaubte er zumindest. Bis heute war er allerdings noch nicht in einer vergleichbaren Situation gewesen. Gut, als Kind war er gelegentlich auf Bäume geklettert, aber das war mit dem, was er jetzt tat, kaum zu vergleichen. Für einen Moment hielt Sasuke inne, legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Einige Körperlängen von ihm entfernt war Naruto zu erkennen, der mit unglaublichem Tempo vorankletterte und immer wieder unbeabsichtigt kleine Steinchen herunterschleuderte, die sich von der Felswand lösten und Sasukes makellosem Gesicht nach dem Leben trachteten. Er kletterte weiter und je weiter er kletterte, desto mehr Spaß machte es ihm. Durch die kalte, frische Luft, die ihn unermüdlich umwirbelte, wurde sein Kopf frei von allen Gedanken, die er seit Wochen, wenn nicht sogar Monaten nicht mehr haben wollte. Manche davon hatten ihm sogar seit ihrer Existenz nichts als Probleme bereitet, auch wenn er sich das selbst nicht gerne eingestand. Der Ausblick von hier oben musste gigantisch sein. Am liebsten würde er einen Blick über die Schulter riskieren, jetzt, da er eine Höhe erreicht hatte, mit der er über die meisten Bäume hinwegsehen konnte, aber – nun ja, um ehrlich zu sein, musste er sich auf das konzentrieren, was er gerade tat; da war absolut kein Platz für Ablenkungen. Deshalb freute er sich umso mehr auf das Ziel ihrer Klettertour, von dem aus er hoffentlich kilometerweit blicken konnte. Die freie Natur beobachten, während einem der Wind um die Ohren tobt und die Sonne im Westen untergeht – das Gefühl von grenzenloser Freiheit. Das Gefühl, als liege einem die ganze Welt zu Füßen und sei es auch nur für einen winzig kleinen Augenblick. Dieses Gefühl stellte sich Sasuke berauschend vor; ja, sogar lebenswert. Während er sich Zug um Zug vorarbeitete, dachte er an eine Episode aus seiner Kindheit. Er erinnerte sich an einen besonders heißen Sommertag, kurz nach seinem zehnten Geburtstag, als Itachi mit ihm einen See besucht hatte, von dessen Existenz Sasuke zuvor nur durch seine Berichte wusste. Damals saßen sie abends oft gemeinsam am Tisch und Itachi erzählte dann von genau diesem See, den er mit seinen Freunden unsicher gemacht, wo er große Feten erlebt und seinen ersten Kuss bekommen hatte. Sasuke hatte ihm lange in den Ohren gelegen, dass er ihn einmal mit dorthin nehmen sollte, doch Itachi lehnte stets ab. Bis zu jenem Tag. An diesem Samstagabend, der seit mehr als zehn Jahren der Vergangenheit – einer wirklich schönen Vergangenheit – angehörte, war Itachi nicht mit seinen Leuten losgezogen, sondern hatte sich um seinen kleinen Bruder gekümmert und ihm einen lang gehegten Wunsch erfüllt: Er setzte ihn auf den Gepäckträger seines Fahrrads und fuhr mit ihm durch die Stadt, hinaus in die Wildnis. Für Sasuke war dieser Tag ein einschneidendes Erlebnis in seiner Jugend gewesen. Fast wie sein erster Kinobesuch oder später sein erster richtiger Alkoholabsturz mit darauffolgendem Blackout. Sein Bruder und er verstanden sich gut, so war es immer gewesen und so würde es vermutlich immer sein – Sasuke war oft eines Besseren belehrt worden -, aber dennoch hatte ihm Itachi damals seine Freunde vorgezogen, wenn es drauf ankam. Wenn es darum ging zu entscheiden, ob er mit seinen Leuten auf die Piste oder mit seinem kleinen Bruder abends ein paar Brettspiele oder Kinderfilme schauen sollte, entschied er sich nahezu jedes Mal für seine Kumpels. Gerade aus diesem Grund hatte Sasuke diese Ausnahme damals so gefreut und vermutlich erinnerte er sich auch gerade deshalb so bildlich an diesen Tag, als sei es gestern gewesen. Er dachte an den Geruch von den frisch gemachten Hotdogs, die an einem kleinen portablen Stand am Rand verkauft wurden, an die vielen kreischenden Mädchen und sogar an das kleine Kind, das wie am Spieß schrie, weil die riesige leckere Eistüte auf dem Boden klebte und gerade von einem gierigen Hund aufgeleckt wurde. Sasuke erinnerte sich an nahezu jede Einzelheit dieses wunderbaren Tages. Vor allem aber an das gemeinsame Schwimmen und auf Bäume klettern, dem sie stundenlang nachgegangen waren, bis Itachi von ihrer Mutter auf dem Handy angerufen wurde, weil das Abendessen längst kalt war. Sie waren nicht nach Hause gefahren, sondern hatten die halbe Nacht unter dem klaren Sternenhimmel verbracht und Sasuke war sich für ein paar Stunden wie ein Held aus einem seiner Kinderbücher vorgekommen. Das hier, was er gerade tat, war wirklich alles andere als eine Szene aus einem Kinderbuch. Außer wenn man bedachte, wie unglaublich unrealistisch es in Bezug auf seine Person war, dass er sich tatsächlich dazu nötigen ließ, etwas vollkommen Waghalsiges zu tun. Es war riskant, mehr als gefährlich und er tat es trotzdem. Der Wind wurde immer stärker und er hatte Naruto längst aus seinem Blickfeld verloren. War er bereits oben? Oder doch hinter einem Felsvorsprung verschwunden, um auf ihn zu warten und dann zu Tode zu erschrecken? Er sollte sein Glück bloß nicht herausfordern. Sasuke war nicht derjenige, der völlig ohne Sicherung diesen Berg erklomm und er gehörte auch nicht unbedingt zu der Sorte Mensch, die Gewissensbisse kriegten, nur weil sie einen – aus reiner Notwehr vollzogenen – Stoß als Unfall abtaten. Sasuke verlor beinahe den Halt, als sich mit einem Mal etwas Fleischiges vor seinem Gesicht auftat. Nach einem kurzen Schockmoment entpuppte sich dieser verstörende Anblick als Narutos ausgestreckte Hand. Der junge Mann blinzelte, legte den Kopf abermals in den Nacken und sah in das grinsende Gesicht des Blonden. Dieses Grinsen hatte nichts Verspottendes an sich, es war viel mehr anerkennend und freundlich und sprach gleichzeitig Bände über seine momentane körperliche Verfassung: Naruto hatte seinen Körper voll ausgepowert und fühlte sich sichtlich wohl in seiner Haut. Mit einem tiefen Atemzug erwiderte Sasuke sein Lächeln und griff nach seiner Hand, ließ sich mit Schwung auf das Plateau ziehen. Erst als er vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf festen Boden setzte, bemerkte er, wie sehr sein Körper vor Anstrengung zitterte. Er versuchte es zu unterdrücken, zu kontrollieren, aber es war unmöglich. Tröstlich war Narutos Anblick, der sich von seinem nicht sonderlich unterschied. Er schwitzte am ganzen Körper, sein Pulli schien an seiner Brust festzukleben und eine leichte Erschütterung fuhr kontinuierlich an seinen Oberarmen auf und ab. »Wahnsinn, Sasuke!«, rief er mit der Art von Lächeln, das jeden, auf den es trifft, irgendwie mit seiner Helligkeit blendet. Sasuke konnte nicht anders als aufzuatmen; diese Leichtigkeit zog ihn einfach magisch an. Naruto breitete die Arme aus, richtete seinen Körper dem Wind entgegen und hatte für einen Moment etwas von einem Kind, das sich wünscht ein Vogel zu sein und in die Lüfte aufzusteigen. Bei diesem Anblick wurde Sasukes Lächeln ehrlicher, ungezwungener und war fast schon die Wahrheit. Es dauerte wirklich nur einen Moment, bis sich Naruto zu ihm drehte und sagte: »Komm, lass uns das Zelt aufschlagen«, aber es war ein wirklich schöner Moment, bis zum letzten Augenblick. Fast schon wie damals. »Ganz im Ernst: Ich habe dich total unterschätzt! Hätte nie geglaubt, dass du das wirklich durchziehst«, grinste Naruto, nachdem sie das Zelt aufgebaut und sich allgemein ein wenig entspannt hatten. Jetzt saßen sie einander gegenüber und genossen die frische Luft, während die Sonne allmählich ihren tiefsten Punkt erreichte. Sasuke zuckte nur mit den Schultern, als sei es gar nichts Besonderes gewesen. Gerade so, als würde er ständig Extremsport betreiben und immer wieder etwas Neues ausprobieren, damit ja keine Langeweile aufkam. Dem war aber nicht so. Es war Narutos ungebremste Anerkennung, die ihm so sehr schmeichelte, dass er sie einfach herunterspielen musste. »Wir sind über dreißig Meter geklettert«, sagte Naruto und wies plötzlich mit dem Finger hinter Sasuke, wo sich das Plateau neigte. »Dort gibt es einen Weg, der ebenfalls hierauf führt. Den Rückweg können wir also ein bisschen wandern gehen, wenn du magst«, schlug er vor. »Warum nicht«, antwortete der Uchiha mit einem weiteren Achselzucken. Es war krass, nahezu unfassbar, wie schnell er sich bei Naruto bewiesen hatte. Nur durch eine so simple – wenn auch lebensgefährliche – Aktion, hatte sich sein Bild von Sasuke komplett verändert. Eine 180-Grad-Wende sozusagen. Sasuke kam darauf überhaupt nicht klar. Es erschien ihm plötzlich so surreal; das ganze Zusammensein mit diesem Mann war plötzlich wie ein einziger Traum. »Katze«, flüsterte ihm Naruto ins Ohr und Sasuke schreckte noch im selben Moment zurück. »Hör auf mit dem Scheiß«, grummelte er und schob das grinsende Gesicht beiseite. Naruto lachte. »Lachst du eigentlich über jeden Scheiß?«, fragte Sasuke, mehr aus Trotz als aus Interesse und war nicht imstande, diesen fiesen, sarkastischen Unterton aus seiner Stimme zu verbannen. Plötzlich verschwand das Lächeln auf Narutos Lippen, das Lachen blieb ihm im Hals stecken. Seine Reaktion war mehr die, wie man sie auf eine fiese Beleidigung oder Unterstellung erwartete, die mitten ins Schwarze traf. Hatte Sasuke also mitten ins Schwarze oder doch nur einen Nerv getroffen? »Nein, ich lache nicht über jeden Scheiß«, sagte der Blonde schließlich mit einem Lächeln. Dafür, dass ihm vor ein paar Sekunden so krass die Gesichtszüge entgleist waren, hatte er sich verdammt schnell wieder gefangen und die ursprüngliche lockere, fröhliche Art zurückerlangt. Wie auf Knopfdruck. Noch einen Augenblick betrachtete er ihn, wie er so falsch lächelnd da saß, grübelte kurz, ob er ihm seine Lügerei übel nehmen sollte, wandte aber entschieden den Blick ab. Kurz setzte zwischen ihnen eine befangene Stille ein, die Naruto keine Sekunde länger ertragen konnte. »Warst du schon einmal nachts allein im Schwimmbad?«, fragte er und Sasuke sah mit einem überraschten Blinzeln auf. »Nein, wieso?« Narutos Augen leuchteten. »Weißt du, ich arbeite nebenbei gelegentlich im Schwimmbad und hab dafür auch einen Schlüssel«, sagte er. Offensichtlich gefiel ihm seine Idee selbst besonders gut. »Aha«, sagte Sasuke und wandte den Blick direkt wieder ab. »Wenn du magst, können wir nachts mal zusammen dahin gehen. War schon mit einigen Leuten da. Das macht echt Laune«, schmunzelte er und Sasukes Blutdruck stieg prompt an. »Auf einmal?«, zischte er. Er kam sich von Naruto verarscht vor und zwar auf ganzer Linie. Woher der plötzliche Sinneswandel? Er behandelte ihn plötzlich wie seinen besten Freund, den er ewig nicht gesehen hatte und mit dem er verdammt viel nachholen musste. Aber das war nicht die Realität. Sie waren keine Freunde, keine Bekannte, sie verstanden sich nicht einmal sonderlich gut. Bis heute jedenfalls. Sasuke dachte erneut an das andere Ereignis, das ihn auf seiner Klettertour begleitet hatte. Es war eine schöne, eine gute Vergangenheit, die ihm erneut wie ein Blitz durch seinen Kopf schoss. Naruto wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da hob Sasuke die Hand. »Okay«, sagte er. Der blonde junge Mann blinzelte verwundert. »Okay?«, hinterfragte er ungläubig. »Okay«, wiederholte der Uchiha mit zusammengekniffenen Augenbrauen. »Cool«, lächelte Naruto. »Gleich morgen?«, fragte er keine zehn Sekunden später. Jetzt war es wieder an Sasuke, verwundert zu blinzeln. Es war wirklich ein ständiger Stellungswechsel zwischen den beiden und Naruto war ein Mann, der Nägel mit Köpfen machte. Er ließ nichts anbrennen und das gefiel Sasuke. Er übernahm selten selbst die Initiative. Egal, ob bei Freund- oder Liebschaft. Sasuke zuckte nur ratlos mit den Schultern. Ihm fielen keine Worte ein, die er darauf hätte erwidern können, deshalb zog er es vor, zu schweigen. »Stark«, erwiderte Naruto. »Das wird der Hammer. Wir decken uns mit Alkohol ein und dann schmeißen wir eine richtig dicke Party. Schonmal zu zweit gefeiert? Macht richtig Laune«, sagte er und starrte dann Löcher in die Luft. Offensichtlich malte er sich bereits eine mega affengeile Party in entspannter Zweisamkeit aus. Hatte er vergessen, mit wem er feiern wollte? Sie unterhielten sich noch eine halbe Ewigkeit über ihre unterschiedlichen Leben und Sasuke gab in dieser Zeit bereitwillig Informationen über sich preis. Immer nur gerade so viel, dass Naruto ihm aus dem Gesagten später keinen Strick drehen konnte, aber doch genug, um sich ein vages Bild über ihn als Mensch machen zu können. Es war eine wolkenlose Nacht, jeder einzelne Stern zeigte sich in vollkommener Pracht, nur die Temperatur, die wie eine Lawine fiel, nahm dieser Übernachtung in der freien Wildnis für Sasuke ihre Perfektion. Er fror in dem dünnen Schlafsack und neben ihm schnarchte Naruto selig vor sich hin, wälzte sich alle fünf Minuten von der einen auf die andere Seite. Der Blonde schien wirklich mit nichts etwas am Hut zu haben. Nein, diese Nacht war nicht perfekt, aber gerade diese Unvollkommenheit war es, die Sasuke letzten Endes genoss. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah in den klaren Sternenhimmel hinauf. Ein Anblick wie er ihn zuvor noch nie erlebt hatte. Sasuke Uchiha war einfach kein Pfadfinder. Zwar mochte er die Natur, aber er betrachtete sie lieber aus den Fenstern seiner gemütlichen Wohnung, als aus direkter Nähe. Das hatte er all die Jahre getan und es hatte ihm stets gefallen. Jetzt beschlich ihn das unangenehme Gefühl, etwas verpasst zu haben. Dabei hatte er den Ausflug mit Itachi damals doch als unbeschreiblich schön empfunden. Warum hatte er dann nie etwas Vergleichbares wiederholt? Ja, warum eigentlich nicht? Kapitel 4: Stille Wasser sind tief ---------------------------------- »Das nennt man Einbruch«, kommentierte Sasuke den Anblick seines Freundes, der in der Dunkelheit das Schlüsselloch zu finden versuchte. »Quatsch, sieh her«, sagte Naruto und hielt das funkelnde Metallstück direkt vor Sasukes Augen. »Solange man einen Schlüssel hat, ist das alles völlig legal. Entspann dich mal.« Sasuke verdrehte unerkannt in Narutos Schatten die Augen und schwieg ein Schweigen, das Naruto nicht schmeckte. »Mensch, jetzt sei kein Langweiler! Wird schon schief gehen«, motzte der blonde junge Mann und machte sich wieder an die Arbeit, das winzig kleine Schlüsselloch des Seiteneingangs für Mitarbeiter zu treffen. Ein Unterfangen, das sich als schwieriger erwies als die berühmt berüchtigte Nadel im Heuhaufen zu finden. »Gibt es eigentlich keine Alarmanlage in dem Laden?« Die Frage wurde von dem Rascheln und Klirren des Schlüsselbunds, das immer wieder klopfend auf die Holztür traf, einfach verschlungen. Allmählich drängte sich für Sasuke die Frage auf, ob Naruto überhaupt den richtigen Schlüssel probierte oder im Dunkeln die falsche Wahl getroffen hatte. Diesem Mann traute er einige Dummheiten zu und die Tatsache, dass sie seit knapp zehn Minuten hier draußen in der Kälte standen, bestärkte ihn weiter in seiner Meinung. »Hah! Ich hab's!«, rief Naruto just in diesem Moment. Er öffnete die Tür und drehte sich triumphierend zu Sasuke; mit leuchtenden Augen und aufblitzenden strahlend weißen Zähnen – schön und gefährlich, stellvertretend für diese gesamte Aktion. Im Flur holte Naruto ein kleines Plättchen aus der Hosentasche und zog es vor einem silbernen Metallkasten entlang. Ein leises Piepen ertönte. »Welcher Alarm?«, schmunzelte Naruto. Sasuke war allmählich genervt von seinem gespielt heroischen Verhalten. »Überprüfen die das nicht, wann wer den Alarm deaktiviert hat?« Naruto schaltete das Licht mit einem theatralischen Stöhnen an, gefolgt von einem ebenso theatralischen Kopfschütteln. »Du gehst mir echt auf den Sack.« Der Uchiha griff die Träger seines Rucksacks fester und dachte sich seinen Teil zu Narutos Kommentar. »Tse«, machte er nur leise für sich und stieß ihn mit der Schulter zur Seite; ging im Schnellschritt vorbei. »H-hey!«, rief Naruto nach ein paar Sekunden und polterte lautstark hinterher. »Mach das Licht wieder aus, du Idiot«, kommandierte der Uchiha, als sie den Flur verließen. »Ich dachte, du hättest so was schon öfters gemacht?«, grinste er höhnisch über die Schulter hinweg. »Du bist nichts weiter als ein Märchenerzähler. Ein schlechter noch dazu.« Naruto brummte etwas Unverständliches, kam der Aufforderung jedoch widerspruchslos nach. Sein Gesicht schien in der Dunkelheit zu glühen. Der Geruch von Chlor machte sich nun ganz deutlich in Sasukes Sinnen breit. Die zusätzliche Stille, das kurze Gefühl vollkommen allein zu sein und der plötzliche Anblick von spiegelndem, glasklarem Wasser, raubten ihm den Atem. Unvermittelt blieb er stehen und Naruto lief ihm mit einem erneuten Grummeln ungebremst in den Rücken hinein. »Pass doch auf!«, zischten sie gleichzeitig und verstummten im selben Moment. Sasuke glaubte, ein vages Schmunzeln auf Narutos Lippen zu erkennen und erwiderte es prompt, ehe der gewohnte Ernst wieder die Gewalt über sein Gesicht gewann. »Schön, nicht?«, flüsterte Naruto und einen Moment standen sie einfach nur reglos da. Betrachteten gemeinsam, wie das spärliche Licht der Straßenbeleuchtung durch die riesigen Fenster drang und vom Wasser reflektiert wurde. Ein Schwimmbad bei Nacht – etwas, das man in der Regel nicht hautnah zu Gesicht bekam. Es war nicht wirklich etwas Besonderes, nur etwas Ungewöhnliches, nichts Alltägliches und das genügte, um Sasuke ein klein wenig glücklicher zu machen. Er war guter Laune. Seit langem einmal wieder richtig guter Laune. »Darauf trinken wir«, sagte der Blonde und fummelte an dem Reißverschluss von Sasukes Rucksack herum. Klirrend nahm er ein paar Flaschen und Plastikbecher heraus, schenkte beiden ein und reichte dem Uchiha sein Getränk. Sasuke betrachtete die braune Flüssigkeit, roch einmal daran und erkannte direkt den wohlbekannten Geruch von Whisky. Das hier war kein guter, nicht das, was er gewohnt war, aber es war auch nicht der schlechteste. Der junge Mann rang mit sich selbst. Alkohol tat ihm nicht sonderlich gut; wenn er einmal zur Flasche griff, verlief es ähnlich wie bei anderen, die eine Tüte Chips aufreißen. »Prost!«, lachte Naruto und stieß mit Sasuke an. Die Flüssigkeit schwabbte über Sasukes Handgelenk. Er sah zu seinem kriminellen Kumpanen, der im Schneidersitz auf dem Boden hockte, dabei aus dem Fenster in die Natur starrte und nahm mit gewissem Unbehagen den ersten Schluck. »Und dann hat sie...Dann hat sie mir voll eine geballert! Ist das zu fassen?«, schäkerte Naruto vor sich hin und Sasuke lachte ungehalten über die Geschichten aus seinem alltäglichen Leben. »Ich hab noch nie so schöne Sterne gesehen«, sagte er. Automatisch sah Sasuke in den wolkenverhangenen Himmel und bemerkte just in diesem Moment, dass Naruto lediglich von einer schlechten Metapher Gebrauch machte. Fasziniert beobachtete er das Schauspiel, wie sein blonder Freund zuerst einen Schmollmund zog, die Arme hinter dem Kopf verschränkte und sich schließlich langsam auf den Boden sinken ließ. »Jetzt mal ganz im Ernst«, grinste der Uchiha höhnisch und lehnte sich über Narutos Kopf, »du bist doch noch Jungfrau!« Die Lider des Blonden schnellten wie auf Knopfdruck nach oben und seine Mine glitt über verwundert bis hin zu aggressiv. »Das merkt man richtig!«, lachte Sasuke. »Halt die Schnauze.« »An den Geschichten, die du erzählst«, grinste er und stützte sich mit der flachen Hand auf Narutos Brust ab. »Und das mit Zweiundzwanzig.« »Was ist an meinen Geschichten verkehrt? Erzähl du doch mal eine!«, brummte er. Draußen peitschte der Wind ungehalten gegen die Fensterscheiben und entfachte ein wildes Spiel mit den Wipfeln der Bäume, als wolle er dem Gespräch der beiden Streithähne Beifall klatschen. »Es gibt keine Geschichten über mein Liebesleben zu erzählen. Jedenfalls keine, die für deine Ohren bestimmt wären.« Dem jungen Mann war die Wut und Enttäuschung förmlich anzusehen. Sein Körper verhärtete sich, dann stand er auf. »Du kannst mich mal«, sagte er und zog sich dabei den Pullover über den Kopf. Merkwürdig war im Darauffolgenden das Lächeln, das seine Lippen umspielte. Der Uchiha blinzelte. Diese verrückten Stimmungsschwankungen machten ihn wahnsinnig. Naruto war schlimmer, als jede schwangere Frau es jemals sein konnte. Da hatte man zumindest einen Grund für das Verhalten, hier hatte man nichts. Sasuke war ratlos, er kam mit solchen Menschen auf Dauer einfach nicht gut klar - zu intransparent. Eine Hülle nach der anderen segelte stumm zu Boden, bis nur noch eine dunkle Boxershorts auf seinem Körper verblieb. Sasukes Blick heftete sich an ihn. Er konnte nicht mehr wegsehen. Heute nicht mehr; es war schier unmöglich die Augen von einem solchen Körper abzuwenden. Es wäre eine Beleidigung. Ja, eine richtig freche Beleidigung. Dann nahm er plötzlich die Position eines Läufers ein, der in den Startlöchern steht. Naruto preschte drauf los und sprang mit einem Satz ins kalte Nass. Sasuke spritzte das Wasser ins Gesicht und erneut blinzelte er, als könne er das Geschehen damit wegwischen. Er beobachtete den trainierten Bergsteiger – Free Solo Idioten – beim Schwimmen; kraftvolle Züge, keuchender Atem und schimmernde Haut, alles zusammen - unbeschreiblich. Er verstand es nicht. Verstand nicht, warum ihn dieser Anblick so magisch anlockte wie ein altbackener Schrei einer Sirene; warum seine Kleidung plötzlich genauso stumm zu Boden glitt wie Narutos vor wenigen Minuten. Hatte er so lange nicht mehr gevögelt? Genau genommen war es tatsächlich Ewigkeiten her, seit er das letzte Mal jemanden gepackt und hemmungslos gefickt hatte. Hier schien diese Möglichkeit, in den blonden Haaren Halt zu finden, plötzlich zum Greifen nahe. Er sprang in die Stille und mit einem Mal gab es nur noch ihn, den blonden Mann und das Wasser, das ihre Körper wie ein leichter Schleier umgab. Kalt, aber wohltuend. Naruto sagte keinen Ton, beobachtete ihn nur mit seinen unergründlichen blauen Augen und einem vagen Lächeln, das seinem Gesicht diese ganz bestimmte Schönheit verlieh. Eine Schönheit von jener Natur, die nicht jeden erreicht, aber bei ihm wie ein Pfeilhagel bis in seinen Kopf vordrang – absoluter Headshot. Naruto lehnte am Beckenrand und empfing Sasuke mit einem ausgeprägten Grinsen, das wie eine weitere Narbe quer durch sein Gesicht verlief. Wenn es drauf ankam, wenn ihm diese Erkenntnis mit der Stärke eines Windstoßes ins Gesicht gepeitscht wurde, dann wusste Sasuke genau, was er wollte. Genau jetzt, jetzt in diesem Moment wollte - brauchte er dieses seltsam schöne und gleichzeitig abstoßende Gesicht, dieses Grinsen, das ihn sowohl positiv als auch negativ wahnsinnig machte, diesen Körper, der mit Sicherheit in jedem einsamen Bett erwünscht gewesen wäre und vor allem wollte er das, was Naruto hinter einem Stück Stoff zu verbergen versuchte. Ihre Körper trafen aufeinander, Brust an Brust und Sasuke hielt sich mit aller Gewalt am Beckenrand fest. Seine Hände lagen dicht an Naruto, berührten ihn fast. Lichter tanzten über seine Gestalt und es war kaum zu ertragen so dicht am Ziel zu sein und von diesem letzten Funken Hemmung daran gehindert zu werden, die Grenze endgültig zu überschreiten. Die Grenze zwischen Bekannt- und Freundschaft und Sex und Liebe. Sasuke trennte. Er trennte immer, für ihn gab es nur ein entweder oder, keine Kombinationen zwischen diesen beiden Fronten. Das war ausnahmslos unmöglich. »Lust auf ein Spiel?«, grinste der junge Mann mit unverschämtem Charisma und Sasukes Herz machte prompt einen ungesunden Satz, als er die Taschenlampen im Hintergrund erkannte. »Fuck«, stöhnte er fast lautlos und regte sich keinen Millimeter. Naruto reagierte schneller als erwartet; er packte Sasukes Schultern und drückte ihn hinab, tauchte gemeinsam mit ihm unter. Zusammen schwammen sie langsam und vorsichtig zum anderen Ende, sammelten ihre Klamotten ein und hielten stocksteif inne, als sie das Klacken des Türschlosses vernahmen. »In die Umkleide«, flüsterte Naruto und schlich voraus. Der Uchiha folgte ihm und sie versteckten sich in einer der Einzelkabinen, kletterten auf die Bänke und warteten ab. Sasuke fühlte sich für einen Wimpernschlag wie ein aufmüpfiger Schuljunge, der sich vor seinem Lehrer versteckte, um keinen Ärger für seinen veranstalteten Blödsinn zu bekommen. Nur blöd, dass das hier Blödsinn war, der vor Gericht enden konnte. »Sieht man, dass die Alarmanlage deaktiviert ist?«, zischte Sasuke und seine Begleitung brauchte einen Moment, um zu verstehen, worauf er hinaus wollte. Er zuckte nur hilflos mit den Schultern. »Klasse«, sagte Sasuke und lehnte seinen Hinterkopf gegen die Wand. Ein paar Mal atmete er tief durch und hielt erst dann die Luft an, als er Schritte und Stimmen näher kommen hörte. »Brad, wir haben echt den beschissensten Job von allen erwischt«, klagte eine etwas hellere, männliche Stimme. »Frag mich mal, Doug. Ich hatte gerade schon meinen Feierabend mit meiner Frau geplant und dann rufen diese beknackten Idioten an und melden, dass sie Stimmen im Schwimmbad gehört haben.« Doug seufzte. »Rentner, die haben sonst nichts zu tun, wenn sie abends mit dem Hund rausgehen. Wie viele haben schon bei uns angerufen und falschen Alarm geschlagen, nur um in der Nachbarschaft mal wieder was erzählen zu können?« Mit hochgezogenen Augenbrauen lauschte Sasuke dem Gespräch der beiden Polizisten und musterte Naruto, um sein Spiegelbild zu betrachten. »Hier ist nichts.« »Und hier auch nicht«, riefen sie sich gegenseitig zu. Die Schritte waren jetzt ganz nah. Gefahr lag in der Luft und brachte Sasukes Mund zum Austrocknen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf eine gleichmäßige, ruhige Atmung. Diese zwei Polizisten fanden offensichtlich keinerlei Gefallen an ihrem Beruf – trotzdem, wenn sie sie schnappten war das längst keine Garantie dafür, dass Naruto und er nicht trotzdem mit aufs Revier müssten. Gefolgt von einer dicken fetten Anzeige. »Ist dir eigentlich auch aufgefallen, dass die Alarmanlage deaktiviert ist?«, fragte Doug mit leicht skeptischem Unterton. Sasukes Herz setzte einen Schlag aus. Jetzt saßen sie in der Scheiße. Metertief in der stinkigsten Scheiße im Umkreis von zehn Kilometern. Ohne Ausweg, eingesperrt wie wertloses Vieh auf dem Weg zum Schlachter. Du übertreibst ein wenig, Sasuke. Scheiß dich nicht ein. Brad schnaubte. »Klar. Ich sag dir auch, woher das kommt, Doug. Diese Idioten von Angestellten haben vergessen, die Anlage wieder scharf zu schalten. Ganz einfach. Fall gelöst, lass uns endlich Feierabend machen.« Doug lachte und Sasuke hätte schwören können, dass dieser Mann in jenem Moment ein verdammt dämliches Gesicht machte. »Hast auch wieder recht«, sagte Doug. »Wer würde schon in ein beschissenes Schwimmbad einbrechen? Hier gibt es doch absolut nichts zu holen.« »Eben«, stimmte Brad zu. »Was würde ich alles dafür geben wieder beim Drogendezernat zu arbeiten«, schmollte Doug. »Erstmal werden wir...«, war das Letzte, was Sasuke hörte, ehe die Tür ins Schloss knallte. Buchstäblich fiel dem Uchiha in jenem Moment ein Stein vom Herzen. Man hatte sie nicht erwischt, Wahnsinn. Naruto und Sasuke sahen einander an, beide mit weit aufgerissenen Augen, als hätten sie gerade einen Geist gesehen. Offensichtlich kamen sie beide kein Stück auf der Situation klar. Naruto, der wie ein Flüchtling seine Habseligkeiten an die Brust drückte, war derjenige, der zuerst lachte. Erst etwas verhalten, eher kichernd, dann lauter und ungehaltener, bis Sasuke einfach einstimmen musste. »Scheiße, was war das denn?«, gluckste Naruto und ließ sich auf die Bank herabsinken. Er lachte Tränen. »Ich kann nicht mehr«, quietschte er. »Idioten«, beteiligte sich Sasuke an der Hetze und setzte sich neben Naruto, der seine Hand für ein High-Five hob. Einen kurzen, irrelevanten Moment zögerte der junge Uchiha, dann schlug er grinsend ein. »Komm, wir machen uns vom Acker, bevor noch die richtigen Polizisten auftauchen«, grinste Naruto und kleidete sich nebenbei wieder an. Schritt um Schritt zog er einen Ärmel über den Arm, ein Hosenbein erst über das rechte, dann über das linke Bein. Er war schnell in dem, was er tat. Bevor sie das Schwimmbad verließen, schaltete er die Alarmanlage wieder scharf. Noch ehe Sasuke etwas Kritisches erwidern konnte, hielt er sich schmunzelnd den Finger vor die Lippen. »Falls Brad und Doug noch einen Kollegen von mir vorbei schicken, wird derjenige denken, dass sie sich einfach versehen haben. Die zwei machen nicht gerade einen kompetenten Eindruck, oder?« Naruto zwinkerte und Sasuke grinste, schüttelte aber leicht den Kopf. Wie bei einem Kind, das eine Dummheit begangen hat, die aber einfach zu herzallerliebst ist, als dass man ernsthaft böse sein könnte. Draußen war es frisch. Der Wind blies stark und trieb die Kälte durch Sasukes nasse Haare. Mit Leichtigkeit konnte er dieses Empfinden ausblenden und wenn er sich auf das Klirren in seinem Rucksack konzentrierte, wusste er auch genau, warum. »Und jetzt?«, fragte Naruto mit einem Blick auf die Uhr. »Es ist noch viel zu früh, um ernsthaft nach Hause zu gehen.« Auf einer kleinen Parkbank, die sich auf mittlerer Strecke zwischen dem Schwimmbad und ihrem Zuhause befand, hielten sie an. Rund herum wucherte nur Grünzeug, doch wenn Sasuke an die stetig fallenden Temperaturen dachte, war er sich sicher, dass in kürzester Zeit nur noch eine kleine Bank inmitten einer kahlen Landschaft stehen würde. Umgeben von ein paar blattlosen Bäumen und wenigen Sträuchern, die selbst die härteste Witterung überdauerten. Doch vorher würde diese heute grüne Welt in ein buntes Meer aus Farben getaucht werden. Rot, braun und gelb – so wie er es auf seiner Hinreise beobachtet hatte. So, wie Teile dieses Landes das ganze Jahr über aussahen und er liebte dieses Land dafür. Ein paar Meter von der Parkbank entfernt regte sich etwas. Sasukes Augen huschten sofort in die Richtung, aus der die Bewegung stammte. Den Umrissen nach zu urteilen, handelte es sich bei diesem Geschöpf um einen kleinen Vogel, vermutlich auf der Suche nach Futter. Ganz schön spät unterwegs, der kleine Kerl. Das Gefieder schien zum größten Teil weiß, aber dunkel gefleckt an manchen Stellen. Der Schnabel und die Flügel verliefen seltsam spitz. Naruto zog die Luft scharf in seine Lungen und der Vogel hob prompt wachsam den Kopf. Überrascht blinzelte Sasuke in seine Richtung. »Das ist ein Marmelalk«, flüsterte er, um das Tier nicht zu verschrecken. Sasukes Blick wanderte wieder auf das ungewöhnliche Geschöpf, das den Namen Marmelalk trug. »Die sind super selten. Hat sich wohl hierher verirrt«, sagte Naruto und der Uchiha zuckte beiläufig mit den Schultern. »Aha«, gab er zum Besten. Er mochte Tiere, aber er beschäftigte sich nicht ausgiebig mit ihnen. Naruto schien dagegen völlig fasziniert zu sein, dass er diesen Vogel zu Gesicht bekam. Mit prüfendem Blick beobachtete er Naruto dabei wie dieser unermüdlich den Vogel beobachtete. Es gefiel ihm nicht, dass er derart in Vergessenheit geriet. »Wie wäre es, wenn du deine Gitarre holst und wir ein Lagerfeuer machen?«, fragte Sasuke komplett aus dem Zusammenhang gerissen und sein Plan ging auf: Narutos Aufmerksamkeit hatte er augenblicklich zurück. Zusammen mit einem leicht offen stehendem Mund und einem verwirrten Blick. »Das wundert mich«, sagte Naruto. »Was wundert dich?« »Dass du so einfach zugibst, dass du mich beobachtet hast«, lachte er und in Sasukes Gesicht glühte schlagartig die Schamröte auf. »Ich wollte nur sichergehen, dass du keine Dummheiten anstellst«, rechtfertigte er sich und wandte den Kopf ab. Ein paar Meter entfernt hörte er ein Flügelschlagen. Zumindest war dieser blöde Vogel endlich weg. »Du sorgst dich also um mich?«, hinterfragte Naruto amüsiert und fügte hinzu: »Das ist wirklich s...« »Ich dachte, du würdest abends Menschen umbringen!«, schrie Sasuke zornig zurück, um ihm endlich den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit nun schreckgeweiteten Augen saß Naruto vor ihm. »Oh, das ist in der Tat...«, stammelte er, unfähig das darauffolgende Lachen zu unterdrücken. Es sprudelte an die Oberfläche wie ein Rettungsreifen im Meer – unmöglich aufgehalten zu werden. »Echt ganz schön dämlich«, lachte er und Sasuke funkelte ihn aus der Dunkelheit mit seinen zu Schlitzen verengten Augen an. »Du folgst jemandem ganz allein in den Wald, obwohl du denjenigen für einen Killer hältst? Klingt etwas suizidgefährdet«, gluckste Naruto weiter. Der Uchiha hob beide Augenbrauen. In der Tat – seine Aktion war nicht besonders schlau gewesen, aber das hatte er auch schon vorher gewusst. »Oder hattest du eine Schrotflinte in der Jackentasche?«, grinste er und Sasuke erwiderte es. »Als ob ich eine Schrotflinte bräuchte, um dir den Gar auszumachen.« »Stimmt. Dafür bräuchtest du schon etwas mehr, als nur das.« Sie lachten beide laut auf. Einmal schlug Naruto freundschaftlich gegen Sasukes Schulter, bis sie allmählich wieder zur Besinnung kamen. »Durch den ganzen Stress eben bin ich fast wieder nüchtern«, schmollte Naruto und wies seinen Freund mit einer Handbewegung dazu an, sich umzudrehen, damit er an den Rucksack mit Getränken kam. Doch stattdessen drückte ihm Sasuke das schwere Ding einfach in seine ausgestreckten Arme. »Den Rest des Wegs trägst du das Teil. Ich bin doch nicht dein Packesel.« Bereits mit zwei gefüllten Plastikbechern bewaffnet, erwiderte Naruto: »Fein, dann müssen wir nur dafür sorgen, dass er auf dem Rückweg nicht mehr so viel wiegt.« Sasuke lachte. »Keine Sorge. Du wirst nur das Leergut schleppen müssen.« Bis weit nach Mitternacht saßen sie gemeinsam auf dieser einsamen Parkbank, schäkerten herum und tranken all das bis auf den letzten Tropfen aus, was sie mitgebracht hatten. Die fallenden Temperaturen bemerkten sie nicht mehr. Es war nichts weiter, als eine angenehme Spätsommernacht, wenige Tage vor Herbstbeginn. Kurz bevor sie aufbrechen wollten, hielt Naruto seinen Freund noch einmal an der Schulter fest. »Findest du, dass ich gut bin?«, fragte er und suchte Sasukes Blick. Der grinste bloß weiter wie er es seit Minuten ununterbrochen tat. »Ich finde zumindest nicht, dass du schlecht bist. Du tötest keine Menschen, also kannst du kein allzu großes Arschloch sein.« Wieder verpasste ihm Naruto einen erheiterten Hieb gegen die Schulter. Dieses Mal zog er sie jedoch nicht wieder zurück, sondern ließ sie weiter wandern, legte einen Arm um Sasuke und versuchte, besseren Halt zu finden. »Das meinte ich gar nicht! Ich meine, ob du findest, dass ich gut Gitarre spiele?« »Du singst und spielst hervorragend«, sagte Sasuke zu seiner Zufriedenheit. Naruto tätschelte seine Schulter und betrachtete den schwärzlichen Nachthimmel. Von Zeit zu Zeit gab eine vorbeiziehende Wolke den Blick auf die Sterne frei. »Obwohl ich finde, dass dir ein Blasinstrument viel besser stehen würde«, gluckste der Uchiha und hielt sich nun ebenfalls an seiner Begleitung fest. Seine Finger vergruben sich tief in der Jacke des anderen. »Warum ein Blasinstrument?«, fragte Naruto verwundert. »Keine Ahnung«, zuckte der Uchiha nur mit den Schultern. »Ich denke einfach, dass du der geborene Bläser wärst«, sagte er und konnte ein Prusten nicht unterdrücken. »Du verarschst mich doch«, lachte Naruto. »Außerdem kann man beim Blasen nicht singen.« Sasuke brach in schallendes Gelächter aus. Beinahe rutschte er im Sitzen von der Bank herunter. Mit der linken, freien Hand fuhr er sich über die Stirn, massierte leicht sein angespanntes Gesicht. Sein Kumpel saß daneben und wusste erst nicht so recht, was er von dem Ganzen halten sollte. »Was du wieder denkst, Sasuke. Also hast du mich doch verarscht!«, lachte er jetzt ebenfalls. Unschuldig schüttelte Sasuke den Kopf. »Nein, nein«, prustete er und rang nach Luft. »Nein, nein«, wiederholte Naruto grinsend. »Komm jetzt«, drängte er und zog den herzlich lachenden Uchiha mit nach oben. Naruto wurde warm ums Herz, wenn er Sasuke lachen hörte. Vor allem, weil er ein ehrliches Lachen von einem falschen unterscheiden konnte und das hier war eins, das obendrein von Herzen kam. Von weit unten aus der Tiefe. Auch, wenn es mehr oder weniger auf seine Kosten ging. »Moment«, räusperte sich Sasuke ernst. »Du sagtest vorhin doch etwas von einem Spiel. Du hast gefragt, ob ich Lust auf ein Spiel hätte.« Einen Moment ließ er diese Worte bei Naruto sacken, beobachtete die Überraschung, die sich auf seinem Gesicht mit der Geschwindigkeit ausbreitete mit der Löwenzahn auf einer Wiese wächst. »Ich habe große Lust«, raunte Sasuke leise und ließ seinen warmen Atem für ein paar Sekunden verführerisch über Narutos Wange streichen, »auf ein Spiel mit dir.« Naruto bewegte sich nur wenige Zentimeter und der Boden unter seinen Füßen knackte mit einer bitteren Drohung, als sei er drauf und dran in tausend Teile zu zerspringen und den endlosen Abgrund freizulegen. »So?«, schmunzelte er. »An welche Art von Spiel hast du denn gedacht?« Seine Stimme war neugierig und interessiert, doch barg sie auch einen gewissen Argwohn in sich. »Ein Spiel, bei dem wir beide auf unsere Kosten kommen«, erwiderte Sasuke und drückte sich näher an seine Begleitung heran. Er war ihm so nah wie zuvor im Schwimmbad. Ihre Körper trafen aufeinander, er spürte das Heben und Senken von Narutos Brust und die Wärme, die von ihr ausging. Die Kälte kam erst mit Narutos Blick. »Okay, das kommt jetzt echt ein bisschen schwul«, grinste er und drückte Sasuke wieder auf einen ausreichenden Sicherheitsabstand. Der blinzelte nur verwundert mit den Augenlidern. Okay, das kommt jetzt echt ein bisschen schwul. Ein ›bisschen‹ schwul? Gemeinsam wanderten sie den Weg in Richtung Heimat weiter und Sasuke war so baff von Narutos beknackter Aussage, dass er kein Wort mehr von sich gab. Er hatte ihn offenkundig – selbst für jeden Vollidioten offensichtlich – hier und heute direkt angegraben und hatte eine Abfuhr erhalten wie er sie sich niemals auch nur erträumt hätte. Der kalte Wind schlängelte sich durch Sasukes Kleidung und er hatte das Gefühl, dass Narutos Griff um ihn mit jedem Schritt fester und inniger wurde. Eben nicht mehr als ein Gefühl. Gefühle – zum Kotzen. Gefühle sind verräterisch, Gefühle können trügen und Gefühle können vernichtend sein. Egal wie schön sie einmal waren, es kommt immer der Moment, in dem das ganze Kartenhaus in sich zusammenklappt und puff, ist der Traum ausgeträumt. Der Moment, wenn man sich plötzlich nur noch gegenseitig auf den Sack geht und man anfängt sich zu fragen, was einmal so besonders an der anderen Person war. Wenn rückblickend die negativen Momente über die positiven überwiegen und man feststellt, dass die ganze Beziehung objektiv betrachtet die reinste Scheiße war. Nicht mehr als bloße Zeitverschwendung. Sasuke hatte genug davon, seine Zeit mit Scheiße zu verschwenden. Er hatte es lange genug getan. Gründe, weshalb er es vorzog zu leben, anstatt zu träumen. Naruto war jetzt ein Teil von Sasukes speziellen Vorstellungen vom Leben. Eine Abfuhr zu akzeptieren gehörte allgemein nicht dazu. Er bekam immer das, was er wollte und meistens auch, wann er es wollte. Alles eine Frage der Taktik. Kapitel 5: Das Ende der Vernunft -------------------------------- Da war sie endlich wieder, die meist gehasste Zeit des Jahres: Die Weihnachtszeit. Die Menschen gerieten in den Kaufhäusern und auch Zuhause außer Rand und Band. Selbst in diesem kleinen Haushalt, in dem Sasuke sich momentan befand, brach der Ausnahmezustand aus. Hauptsächlich war es Alexis, die einzige Frau im Haus, die alle mit ihrem Wahn, dass die Bude astrein auf Weihnachten vorbereitet sein musste, bekloppt machte. In den letzten Tagen vor Heilig Abend brachten Naruto und Sasuke gefühlte hundert Lichterketten rund herum ums ganze Haus verteilt und an jedem noch so kleinen Büschlein an und hingen dreimal die Kugeln am Weihnachtsbaum um. Jeden Abend ging Sasuke mit äußerst mieser Laune zu Bett und wenn er - kurz bevor er endlich zur Ruhe kam - von unten die Weihnachtsmusik dudeln hörte, kochte er fast über. Das Schlimmste war dieser Zwang, der automatisch mit Weihnachten einher ging, für jeden Menschen, der einem irgendwie nahe stand, irgendetwas kaufen zu müssen. Irgendetwas, das man gebrauchen kann und demjenigen gefällt, der es geschenkt bekommt. Dieses Jahr musste er zwar seine eigene Familie nicht beschenken, dafür jedoch eine andere. Lediglich eine hübsche Postkarte mit ein paar netten, oberflächlichen Zeilen darüber wie toll der Aufenthalt sei, schickte er in seine Heimat. Wäre seine Mutter nicht gewesen, hätte er vermutlich überhaupt kein Lebenszeichen von sich gegeben. Einige Tage und Nächte hatte er über die Wahl der Geschenke gegrübelt. Letzten Endes entschied er sich für ein Ebook für Will, der sowieso den lieben langen Tag mit nichts anderem als Lesen beschäftigt war sobald er nach Hause kam, dazu alle Staffeln von Grace Anatomy für Alexis, die nahezu bei jedem Essen von dieser Serie schwärmte und ein Diktiergerät für Naruto, damit er endlich mal im 21. Jahrhundert ankam, in dem man in der Regel nicht mehr mit Block und Bleistift wichtige, schnell verflogene Gedanken notierte. Alles lag hübsch eingepackt unter dem Weihnachtsbaum. Die Verkäuferin hatte sich wirklich Mühe gegeben. Vielleicht war es Sasukes kokettes Lächeln gewesen - mit dem er sie beobachtet hatte - das ungeahnte Talente in ihr weckte. Sein Blick glitt aus dem Fenster heraus. Das Wetter machte die Weihnachtszeit auch nicht erträglicher. Es verbreitete viel mehr eine erdrückende Stimmung. Eine graue, kalte und matschige Welt so weit das Auge reicht. Von schimmerndem weißen Schnee fehlte jede Spur. Dabei ist er das Einzige, was diese Zeit zumindest einigermaßen erträglich gestaltet. Sasuke bewunderte die melancholische Schönheit des Schnees. Vor allem, wenn Schneeflocken, schimmernd wie einzelne Kristalle, mit der Leichtigkeit von Federn zu Boden tänzeln. »Katze«, raunte ihm Naruto von der Seite ins Ohr. Sasukes Kopf schnellte herum und ihre Stirnen krachten aufeinander. Ein Geräusch, als träfe massive Eiche auf noch massivere Eiche, erklang. Gleichzeitig schrien sie unter Schmerzen auf und rieben sich mit der Hand über die betroffene Stelle. Der Uchiha verzog das Gesicht. »Hör doch endlich mal auf mit dem Scheiß, dann passiert so was auch nicht, du selten dämlicher Idiot.« »Hör du lieber auf, in der Gegend rumzuträumen, wenn du mit anderen Leuten zusammensitzt«, sagte Naruto und wandte dabei den Kopf von ihm ab, »selber Idiot.« Der Kamin flackerte gemütlich in der Mitte des Raums und spendete die Wärme, die allein durch einen einzigen Blick nach draußen verloren zu gehen schien. Es war eine schweigsame Atmosphäre, in der sie saßen. Ruhig und melancholisch und seltsam schön. Ihre Bäuche waren gefüllt von dem Festmahl, das Alexis zubereitet hatte. Eine gefüllte Weihnachtsgans mit allerlei Köstlichkeiten, eine gelungene Champagnercreme zum Nachtisch und einen exzellenten Rotwein, der das Ganze wunderbar abrundete, hatten ihre von kleinen Brandnarben überzogenen Hände gezaubert. So gut hatte er lange nicht mehr gegessen. Nur war sein Bauch so überfüllt, dass er das Gefühl hatte, das Essen stünde ihm noch immer in der Speiseröhre und fände einfach nicht den Weg in seinen Magen. »Was haltet ihr davon, wenn wir nun zum Höhepunkt des Tages kommen, Jungs? Die Bescherung wartet«, sagte Will mit einem warmen Lächeln auf den Lippen und niemand im Raum konnte sich seiner Magie entziehen. Alle nickten und Will erhob sich. Es begann eine Familientradition, bei der der Raum nur noch mit Kerzen und dem Feuer des Kamins erhellt wurde. Aus allen Ecken ertönte ein weihnachtlicher Chor und Will verteilte die Geschenke, die beschriftet unter dem Baum lagen. An jedem Päckchen hing ein kleiner Zettel, auf dem der Name in fein säuberlichen Buchstaben geschrieben stand, für den es bestimmt war. Naruto erhielt zwei der Geschenke, Sasuke eins und Alexis und Will jeweils drei. »Welches ist von dir?«, flüsterte Naruto und Sasuke sah ihn mit hochgehobenen Augenbrauen an. »Siehst du schon, wenn du es öffnest«, entgegnete er, doch Naruto grinste nur breit. »Ich will es aber noch nicht öffnen. Nun sag schon.« Seufzend verwies der Uchiha auf das kleinere Päckchen, das hübsch in grünes Weihnachtspapier eingehüllt, nur Sekunden später in Narutos Händen ruhte. Er legte es beiseite. »Meins kriegst du auch später«, zwinkerte er und die Hitze des Kamins schoss durch Sasukes gesamten Körper. Durch seine Arme und Beine, durch seinen Kopf und seinen Hals und alle trafen sie sich in der Mitte, bündelten sich und ihm wäre um ein Haar schlecht geworden. Als die Musik verklang, nickte Will in Sasukes Richtung. Er nahm es als Zeichen, als Aufforderung, dass nun der richtige Moment gekommen war. Behutsam löste er die Bänder, die den großen Karton umgaben und auch das Tesafilm. Neben ihm rutschte Naruto unruhig von der einen auf die andere Seite. »Ein Pullover«, stellte er fest und hielt ihn prüfend nach oben. Er bestand aus einem weichen Stoff in winterlichem Weiß und auf Brusthöhe war mit braunem Faden dieses typische weihnachtliche Muster eingestrickt. Vor ein oder zwei Jahren hatte er lange nach einem Exemplar wie diesem gesucht. Irgendwann hatte er es gefrustet aufgegeben. In den zahlreichen Läden hatte er einfach nur die reinste Scheiße gefunden. Entweder qualitativ minderwertig oder die Farbgebung gefiel ihm nicht. Der hier war annähernd perfekt. »Gefällt er dir?«, fragte Alexis, die ihn gespannt beobachtete. »Sehr«, entgegnete Sasuke mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie erwiderte es und in diesem Moment, so glaubte er, kamen sie sich um einiges näher. »Vielen Dank«, sagte er und sah zu den beiden, die ihm dieses Geschenk gemacht hatten. »Den hat meine Frau mit viel Mühe selbst gestrickt. Ich musste dutzende Flüche ertragen, als sie bei dem Muster angekommen war«, lächelte Will und Sasuke lachte kurz auf. Alexis verzog derart das Gesicht, als durchlebe sie diese nervenaufreibenden Stunden ein weiteres Mal. »Jetzt ich, jetzt ich!«, rief Naruto und riss bereits unruhig an dem Geschenkpapier. Rote Papierfetzen segelten zu Boden und im Hintergrund ertönte neben dem feierlichen Summen der Flammen auch Wills genervtes Organ. »Dieser Junge«, knurrte er, aber seine Lippen formten ein herzliches Lächeln und seine Augen waren derart gütig und so voller Wärme, als betrachte er seinen leiblichen Sohn. Sasukes Muskeln verspannten sich für einen Moment; ihn durchzuckte ein Gefühl der Einsamkeit und Eifersucht. »Partnerlook!«, quietschte Naruto und hielt einen weiteren Pullover direkt neben Sasukes. »Nur die Farben sind umgedreht! Cool, danke, Mum... Und Dad, fürs Flüche ertragen«, grinste er meterbreit und drückte beiden einen Kuss auf die Wange. Er war absolut euphorisch, total hibbelig aufgrund des Geschenks. Schön, aber anstrengend. Während sich Naruto den Pullover über den Kopf zog und Sasuke anhielt, es ihm nachzumachen, wurde dem jungen Uchiha eines bewusst: Seit er hier war, war das hier einer der schönsten Momente für die Familie. Er hatte sich selten so fehl am Platz gefühlt wie jetzt. »Wir wollen gleich noch unseren Spaziergang machen. Kommt ihr mit?«, fragte Alexis und griff nach ihrer Teetasse, die neben ein wenig Gebäck, ein paar Gläsern und den Resten von Narutos Attentat auf das Geschenkpapier, auf dem kleinen Couchtisch stand. Es duftete nach Vanille und Roibusch, Lebkuchen und Spekulatius. »Es ist so schön draußen«, fügte sie mit einem sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster hinaus, hinzu. »Auch wenn der Schnee nicht ganz das ist, was ich mir dieses Jahr erhofft habe«, lächelte sie verlegen, als habe sie das Abendessen versalzen. »Nee, ich hab mein Geschenk für Sasuke noch oben, Mum.« Die Teetasse klirrte, als sie wieder auf ihre Untertasse zurückgestellt wurde. Dampf zwirbelte sich wie eine milchige Flamme in die Höhe. »Dann hol es doch runter, mein Schatz.« Sasuke grinste bei seinem Gedankenspiel. »Das macht er schon oft genug, keine Sorge. Er macht sich gern selbst Geschenke zum Runterholen.« Narutos Gesicht verzog sich zu einer nachdenklichen Grimasse. Mit einem Mal entgleisten ihm fast die Gesichtszüge. »Besser nicht«, schmunzelte er und in Sasuke wuchs ein ungutes Gefühl heran. Er wunderte sich über dieses merkwürdige Verhalten. Alexis beließ es dabei, entgegen Sasukes stiller Hoffnung, sie würde der Sache auf den Grund gehen, und wandte sich wieder den verschlossenen Geschenken zu. »Ich bin schon ganz gespannt, was meine Männer dieses Mal für mich ausgesucht haben«, sagte sie mit leichtem Sarkasmus in der Stimme. »Hoffentlich noch mehr Kochbücher«, schmunzelte sie und Sasuke hob prompt die Augenbrauen an. Sie hatten ihr allen Ernstes zu Weihnachten Kochbücher geschenkt? Kaum merkbar schüttelte er den Kopf und räusperte sich. »Du erzählst doch immer wie gerne du kochst«, murmelte Naruto kleinlaut und mit geröteten Wangen, um seine Fehlentscheidung wenigstens irgendwie zu rechtfertigen. »Ich hab mich ja auch gefreut, mein Schatz«, lächelte sie und legte ihrem Adoptivsohn eine Hand auf die Schulter, als wolle sie sagen: Komm schon, ich will dich doch nur ein wenig aufziehen. Ihr Ziel hatte sie problemlos erreicht. Naruto schämte sich im Nachhinein regelrecht für sein Standardgeschenk. Kochbücher – das war fast so unkreativ wie Parfum oder Haushaltsgeräte als Präsent für eine Frau. Sasuke schenkte so etwas immer nur dann, wenn es ausdrücklich gewünscht wurde. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr versuchte er irgendwie außergewöhnliche, individuelle und praktische Geschenke aufzutreiben. Es war wahnsinnig anstrengend und ein Aufwand, der nur selten ausreichend gewürdigt wurde. Damals hatte ihn Itachi immer als unkreativen Pragmatiker bezeichnet, wenn er mit ganz gewöhnlichen Geschenken zu Weihnachten oder zum Geburtstag ankam. Nach wenigen unerträglichen Jahren hatte Sasuke von den Sticheleien seines Bruders entschieden die Schnauze voll gehabt. Seitdem gab er sich eben mehr Mühe, als der komplette Rest, den er kannte und hörte zu, wenn seine Mitmenschen – die er später beschenken würden müsste – darüber sprachen, was sie gerne mochten und was nicht. Will legte Holz nach, während Alexis begann, das Papier mit ihren filigranen Fingern von der kleinen Schachtel zu lösen, die sie in den Händen hielt. Ihr Adoptivsohn wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger. »Hoffentlich hast du etwas Gescheites gekauft, Naruto«, dachte Sasuke und sah Alexis dabei zu, wie sie eine feine, silberne Kette hervorzog. An ihr baumelte ein Anhänger in der Form einer Blume, die Sasuke nicht kannte. Alexis wiegte diesen Anhänger mit solcher Vorsicht in ihren Händen, dass der Uchiha sich sicher war, dass er eine weitaus tiefere Bedeutung haben musste, als bloße Ästhetik. Sie sah mit glänzenden Augen auf und lächelte so voller Wärme und Liebe für diesen jungen Mann, der neben Sasuke auf der Couch saß, dass Sasuke seine eigene Anwesenheit allmählich kaum mehr ertrug. Sein Blick sank auf den Tisch, wieder musterte er das Gedeck und atmete den herrlichen Duft ganz bewusst ein. Er versuchte, sich auf die banale Schönheit dieses Anblicks zu konzentrieren, alles andere auszublenden, doch es war schlichtweg unmöglich. »Danke, mein Liebling«, hörte er sie sagen und sah aus dem Augenwinkel, dass sie ihn auf die Stirn küsste. Alle Anspannung war plötzlich aus Narutos Körper gewichen. Er saß ganz ruhig da, mit hängenden Schultern und in einer vollkommen lässigen Pose. Mit einem letzten, ja nahezu sehnsüchtigen Blick, legte sie die Kette zurück in die Schachtel, wie einen Schatz, den sie ewig verloren glaubte. Sie wirkte selig und diese Stimmung schien sich auf den Rest zu übertragen, nur auf Sasuke nicht. Er saß mit einem mulmigen Gefühl im Bauch dort, das von Minute zu Minute schlimmer zu werden schien; wie ein mit Lichtgeschwindigkeit anschwellendes Geschwür. Sie freute sich auch über die folgenden beiden Geschenke; über den wunderschönen, roséfarbenen Pullover, den sie von Will bekam und über Sasukes DVD-Sammlung. Doch nichts konnte sie mehr begeistern, als die Kette von Naruto, auf die sie stets ein Auge warf. Sie wirkte wie jemand, der sein Handgepäck bewacht, damit es nicht geklaut werden kann. Will war im Gegensatz zu Alexis kein Mann der großen Worte. Er freute sich mehr im Stillen und für sich selbst über das, was er zu Weihnachten bekam. Sein plötzliches, andauerndes Lächeln war für jeden im Raum Danksagung genug. »Du hättest nicht so teure Geschenke kaufen sollen«, tadelte Alexis den jungen Uchiha, nachdem jeder noch einmal genügend Zeit hatte, seine Errungenschaften genauer zu beäugen und einen Schluck Tee zu trinken oder ein paar Kekse zu essen. »Ich fühle mich ganz schlecht«, sagte sie und betrachtete ihren gestrickten Pullover, der Sasukes Oberkörper schmückte. »Ich bin leider handwerklich nicht so begabt und ich wollte mir sicher sein, dass ihr euch über die Geschenke freut. Ich für meinen Teil könnte mir kein schöneres wünschen«, lächelte er und sein Herz machte einen Satz, als er in ihre vor Freude und Überraschung strahlenden Augen sah. Weit aufgerissen, wie die eines Kindes, während Naruto bloß die Augen verdrehte. Manchmal, genau für solche Augenblicke, lohnte sich der ganze vorige Stress. Manchmal war es Geschenk genug, einfach nur jemand anderen glücklich zu sehen und zu wissen, dass man selbst nicht ganz unschuldig daran ist. Das ist der Zauber von Weihnachten. Ein Zauber, der Sasuke zwar nur selten erreichte, aber wenn er ihn doch einmal fand, dann wusste selbst der junge Uchiha, der wirklich nicht viel von diesem Fest hielt, wie wichtig und schön es war, anderen Menschen eine kleine Freude zu bereiten. Alexis klatschte vor Freude sogar in die Hände. »Wunderbar«, sagte sie und stand auf. »Wir werden uns jetzt auf den Weg machen. Seid ihr sicher, dass ihr nicht mit wollt?«, fragte sie noch einmal an ihre beiden Jungs gerichtet. »Nein, danke«, grinste Naruto und sie erwiderte es, machte aber einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite war sie offenkundig enttäuscht, dass sie alleine mit ihrem Mann gehen musste, andererseits – so ließen es zumindest ihre Blicke erahnen, die sie Will ständig zuwarf – schien sie gerade über diesen Umstand auch irgendwie froh zu sein. Ein bisschen Zweisamkeit in dem weißen Wunderland, in das sich ihre Heimat zu Heilig Abend doch noch größtenteils verwandelt hatte, etwas Romantischeres konnte man sich kaum vorstellen. Zum Abschied gab sie beiden einen leichten Kuss auf die Wange. Eine simple Geste mit großer Wirkung: Sie steigerte Sasukes fast verloren geglaubtes Zugehörigkeitsgefühl in dieser Familie und gab ihm den nötigen Schwung, den er brauchte, um für das Bevorstehende gewappnet zu sein. Sie verfolgten mit gleichem Interesse das Spektakel, das sich ihnen bot. Alexis war wie so oft in absoluter Hektik, Weihnachten hin oder her. Es dauerte keine drei Minuten und die Tür fiel mit einem letzten Murren, das eindeutig aus Wills Kehle stammte, ins Schloss. Naruto und Sasuke warfen sich ein Grinsen zu. Es vergingen nur Sekunden, in denen sie alleine nebeneinander saßen – in letzter Zeit waren sie so oft nur zu zweit gewesen – und die Luft um sie herum wurde dicker. Sie schwoll an und nahm ihnen ihre Leichtigkeit, mit der sie miteinander umgehen konnten. Es war die Atmosphäre. Die Kerzen und der Kamin, der Nelkengeruch und die bereitgestellten Kekse, die weiße kalte Pracht, die draußen die Welt bedeckte und vor allem die Zweisamkeit, die alle Eindrücke um ein Vielfaches verstärkte. Ihr Resultat war die unbestreitbare, nicht mit aller Gewalt von der Hand zu weisende Romantik. »Bereit?«, fragte Naruto mit seinem typischen, breiten Grinsen, das Sasuke aufatmen ließ. Es vermittelte ihm ein gewisses Maß an Sicherheit; Gewohnheit – etwas, an dem er sich auch später noch festhalten konnte. Er nickte knapp und sie gingen zusammen hinauf in ihr gemeinsames Zimmer, das im Gegensatz zur Stube nicht halb so viel Wärme barg. Die Temperatur war zu niedrig, das Zimmerlicht zu grell und der Geruch eine Mischung aus Aftershave, Deo und Weichspüler. Eine gewisse, beißende Note von verschwitzten Sportklamotten schwang zusätzlich mit; eindeutig aus Narutos Ecke. Unter dem Bett zog der Blonde zwei Päckchen und einen Umschlag hervor. Beides platzierte er vor sich auf dem knarrenden Holzfußboden. Naruto kreiste mit den Zehen und seine Augen leuchteten erneut auf, während er gebannt im Schneidersitz auf seinen Freund wartete. Noch einmal holte er tief Luft, dann legte auch Sasuke sein Geschenk auf dem Boden ab und setzte sich ihm gegenüber. Für ein paar Sekunden betrachteten sie einander, stillschweigend und forschend; nachdenklich, wie man einen Fremden betrachtet, den man eigentlich zu kennen glaubt. »Fang du an«, sagte Sasuke, der Narutos hibbeliges Verhalten langsam nicht mehr ertragen konnte. Kaum hatten seine Lippen diese Worte geformt, schoss eine flinke Hand hervor, die direkt nach dem Geschenk griff, als trachte sie ihm nach dem ohnehin schon kurzen Leben. Krampfhaft bemühte sich Naruto, das Geschenkpapier nicht einfach in Fetzen zu reißen, sondern es fein säuberlich von dem Karton zu lösen, dessen Aufschrift seine Augen in die eines Goldfischs verwandelte. Sasuke beobachtete die Szenerie nur mit einem innerlichen Grinsen, äußerlich blieb er komplett unberührt. »Ein Diktiergerät!«, rief Naruto feierlich und sein ganzes Gesicht erstrahlte in so hellem Glanz, dass es jedes Xenonlicht in den Schatten gestellt hätte. »Wahnsinn, danke«, grinste er und noch ehe Sasuke auch nur die Gelegenheit fand, zu reagieren, hatte sich Naruto auch schon herübergelehnt, um ihn einmal fest und herzlich zu drücken. »Gern«, presste der Uchiha nur atemlos hervor und richtete den Blick wieder auf die ungeöffneten Geschenke – seine Geschenke. »Na los«, hielt ihn Naruto an, »mach schon auf.« Einen Moment nahm sich Sasuke noch Zeit, um sich innerlich zu sammeln, dann griff er zunächst nach dem Briefumschlag. Es verwunderte ihn, dass Naruto ihm eine Karte schrieb. Er selbst hatte nur auf ein kleines Kärtchen »Frohe Weihnachten!« draufgeschrieben – und zwar bei jedem. In diesem Sinne nichts Besonderes, aber zweckmäßig. Kurz wiegte er den weißen Umschlag in den Händen, auf dem sein Name in großen Buchstaben geschrieben stand. Er musterte ihn wie etwas, mit dem man nicht wirklich etwas anzufangen weiß; wo man sich nicht sicher ist wie man am besten damit umgehen soll. »Drauf geschissen.« In einer einzigen fließenden Bewegung hatte er den zugeklebten Umschlag geöffnet und zog – tatsächlich – eine waschechte Weihnachtskarte hervor und keinen Scherzartikel mit eingebauter Lachsackfunktion. Lieber Sasuke, ich wünsche dir Frohe Weihnachten und hoffe, dass das Weihnachtsfest bei uns für dich annähernd so schön ist wie bei euch zuhause! Jetzt geht es ans Eingemachte, mein Freund. Öffne zuerst das grüne Päckchen und tu einfach, was du tun musst! Greif tief hinein! Ich meine es ernst! GREIF TIEF HINEIN! ;-) Du findest dort ein blaues, ein rotes und ein grünes Zettelchen. Öffne zuerst das grüne, dann das rote und zuletzt das blaue Zettelchen! Dein Naruto PS: Nicht schummeln! Halte dich an die Reihenfolge! Sasuke las diese Botschaft zweimal sorgfältig durch und schüttelte kaum merklich den Kopf. Er hatte zwar niemals eine Schnitzeljagd mitgemacht, aber das hier erinnerte ihn irgendwie daran. Eine Art Spiel also, falls auf den Zettelchen irgendwelche Rätsel drauf standen, die es zu lösen galt. Spiele konnten witzig sein. Spiele konnten langweilig sein und Spiele konnten den Uchiha im schlimmsten Fall richtig auf die Palme bringen, wenn sie sich als absolute Zeitverschwendung entpuppten. Spiele mit Sasuke waren ergo immer ein Risiko; reine Spekulation, schlimmer als im Aktiengeschäft. Mit skeptischem Blick sah Sasuke zu Naruto auf und konnte nicht anders, als ihm zumindest eine ernsthafte Chance zu geben. Dafür freute er sich selbst schon viel zu sehr über seine eigene Idee. Mühe hatte er sich allemal gegeben und einem Menschen, der sich Mühe gab, um für einen anderen ein Geschenk vorzubereiten, dem durfte man diesen Augenblick des Stolzes einfach nicht zerstören. Deshalb spielte Sasuke das Spiel vorerst mit, je nachdem wie und in welche Richtung es sich letztendlich entwickelte. Seine Augen wanderten nun forschender auf die verpackten Geschenke – ein grünes und ein rotes. Zuerst das Grüne. Es war zwar kleiner, aber auch höher als das rote Päckchen. Das rote hatte irgendwie die Form eines Buchs, aber auch nicht direkt, dafür war es wiederum zu groß. Er schob die Gedanken vorerst beiseite, damit die Überraschung später auch von Herzen kam; ob nun positiv oder negativ. Behutsam löste Sasuke das Geschenkpapier, bis er einen kleinen braunen Karton in den Händen hielt. Etwas, das den Karton fast vollständig ausfüllte, befand sich darin. Allmählich kochte die Neugierde nun doch in ihm hoch, trotzdem – oder gerade deshalb – hielt er sich dazu an, ruhig zu bleiben. Er arbeitete so langsam, dass Naruto vom ständigen hin- und herwippen allmählich umzukippen drohte. Schlussendlich hielt er eine weitere Verpackung in der Hand: Eine längliche schwarze Dose mit einem Schraubverschluss. Sasuke sah kurz auf und versuchte aus Narutos Gesichtszügen zu erkennen, ob es sich hierbei um diesen blöden ›ich lasse dich zehntausend Verpackungen auspacken, bis du ein Sandkorn in den Händen hältst‹-Witz handeln sollte. Aus Naruto konnte er in diesem Moment allerdings nicht schlau werden. Er spiegelte eine Mischung aus purer Anspannung und Amüsement wider. Mit einem lauten Seufzen widmete sich Sasuke wieder seinem Geschenk und wagte den nächsten Schritt: Er drehte den Verschluss auf. Was dort auf ihn wartete, ließ seine Gesichtszüge Achterbahn fahren. Ein paar Sekunden sah er einfach nur hinein, ohne den genauen Inhalt bewusst wahrzunehmen, dann weiteten sich seine Augen auf eine Größe, dass er das Gefühl hatte, sie würden jeden Moment hinausfallen. Er wollte wegsehen; konnte aber nicht – das Ganze war wie ein Unfall. Er versuchte es immer wieder, bis er an einem Punkt ankam, wo er es einfach nur noch anstarrte – sein Geschenk. Sasuke war mit dieser Art von Scherz einfach nicht leicht zu ködern. Erst als ihn sein regelrecht apathischer Zustand wieder verließ, bemerkte er Narutos Lachen. »Eine Überraschung, die mir gelungen ist, Sasuke!«, feierte er sich selbst und schüttelte aufgeregt mit beiden Händen an seinen Schultern. »Der Hammer! Dein Gesicht! Das hätte ich filmen müssen, ich Idiot!« Naruto lachte ungehalten; Sasuke war wie vom Blitz getroffen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit, ließ er wieder von ihm ab und lehnte sich zurück. »Du erinnerst dich an das, was in der Karte steht? Greif hinein!« Das Grinsen des Blonden wurde breiter, als es sein Gesicht eigentlich zulassen sollte. »Na los, jetzt greif schon rein!«, drängte er und prompt fand Sasuke seine Stimme wieder. »Sag mal, hast du sie noch alle?«, tobte er los. »Was soll der Scheiß hier denn?«, schrie er und deutete mit dem Finger auf den Inhalt der Dose. »Das ist widerlich! So etwas ernsthaft als Weihnachtsgeschenk verkaufen zu wollen!« Naruto zog einen Schmollmund. Mit einer derartigen Ablehnung schien er nicht gerechnet zu haben. Auch nicht damit, dass sich Sasuke dergestalt in Rage schreien würde. Allmählich nahm sein Gesicht vor Wut und mangelnder Sauerstoffzufuhr die Farbe einer reifen Tomate an. »Schnauze!«, brüllte Naruto dazwischen, zeigte mit nacktem Finger auf den angezogenen Sasuke. Baff hielt der Uchiha für einen Moment die Luft an. »Du bist ein Mann, du musst solche Geschenke mögen! Und jetzt greif endlich rein!« Sasukes Augen funkelten lichterloh. »Ich werde da bestimmt nicht reingreifen!« »Greif rein!« »Nein!« Ihre Gesichter kamen sich wutentbrannt und zerknirscht immer näher. Sie starrten sich an und Naruto sammelte sich einen Moment. Er bemerkte selbst, dass er hier nicht weiterkam. Trotzdem fiel ihm keine andere Lösung ein, als es noch einmal zu versuchen; dieses Mal etwas ruhiger. »Würdest du bitte in die gottverdammte Muschi greifen und aufhören, dich wie ein kleines Kind aufzuspielen?« Naruto beobachtete weiter Sasukes angespannte Visage und fügte schnell hinzu: »Äh, bitte...? Du willst doch sicher den Rest deiner Geschenke sehen, oder nicht? Der Rest ist auch nicht... so was.« Einen Augenblick senkte Sasuke die Lider und atmete tief durch. »Gut, schön. Ich greife rein, du Vollidiot.« Er streckte seine Finger und führte sie durch die Öffnung. »Also gefühlsecht ist das aber nicht«, sagte er mit einem mikroskopisch kleinen Schmunzeln auf den Lippen und fühlte bereits das Papier in seinen Fingern. Tatsächlich zog er ein grünes, ein rotes und ein blaues Zettelchen hervor. Alle hatten sie dieselbe Größe und Sasuke erinnerte sich an die Reihenfolge: Zuerst das grüne. Trotz der bereits unschönen Überraschung – mehr oder weniger – gefiel ihm dieses Spiel bis dato recht gut. Zumindest war es nicht langweilig, sondern recht unterhaltsam. Zeitweise mochte und begehrte er das Ungewisse. Für einsame und kalte Nächte ;-) Ich wette, du wirst dafür Verwendung finden! Sasuke grinste; er konnte gar nicht anders und Naruto, der sich direkt bestätigt fühlte, doch keinen Griff ins Klo gelandet zu haben, erwiderte es mit Hingabe. »Zu blöd, dass du nachts immer im Zimmer bist«, grinste er, stieß bei Narutos Gesichtsausdruck jedoch nur auf ein großes, imaginäres Fragezeichen. »Dann bin ich nicht allein, also wird es nie zum Einsatz kommen können, wenn ich mich auf deinen Zettel beziehe«, erklärte er genervt und musste zu seinem Bedauern wieder das Klischee des minderbemittelten Ex-Fottballspielers spüren. »Verwendung finde ich trotzdem – schließlich hat mich Itachi gebeten, ihm ein Souvenir mitzubringen«, grinste er böswillig und malte sich bereits das dumme Gesicht seines Bruders aus, der niemals damit rechnen würde, dass ihm Sasuke tatsächlich ein solches Geschenk überreichen könnte. »Passt super in seine Sammlung«, strahlte er. »Itachi?«, hinterfragte Naruto mit hochgezogenen Augenbrauen. Sasuke sah verblüfft auf. Hatte er ihn noch nie erwähnt oder hatte es Naruto doch nur wieder verplant? »Mein älterer Bruder.« »Ach so«, sagte Naruto und wandte betreten den Blick zur Seite ab. Offensichtlich hatte er es doch noch nie erwähnt. Wie dem auch sei – das nächste Zettelchen wartete darauf, gelesen zu werden. Er öffnete es mit der gleichen Sorgfalt wie beim letzten. Jetzt darfst du das rote Päckchen öffnen. Damit du meine Familie und mich später nicht so einfach vergessen kannst! :D Als ob das ohne ein Geschenk geschehen wäre. Wieder sah Sasuke auf. Er fragte sich zum ersten Mal ernsthaft, was Naruto wohl von ihm hielt. Vermutlich nicht das Beste, selbst wenn er ihm diese Geschenke machte. Mit Sicherheit hielt er ihn noch immer für einen Idioten, der für dieses Leben hier nicht gemacht war. Sasuke sah sein Diktiergerät neben Naruto auf dem Boden liegen. Im Vergleich zu dem, was Naruto sich für einen Aufwand gemacht hatte, war es nichts. Irgendwie der reinste, unpersönliche Schrott. Fuck. Mit monotonen Bewegungen löste er das Papier und packte ein schlichtes, großes Album aus. Er klappte es auf und betrachtete nacheinander die Einträge und Fotos. Auf der ersten Seite stand in Narutos Handschrift ganz simpel eine Widmung geschrieben: Für Sasuke von Naruto Auf einmal saß Naruto hinter ihm und deutete mit dem Finger auf verschiedene Aufnahmen, die er gemacht und mit ein bis zwei kurzen Zeilen zum jeweiligen Erlebnis versehen hatte. »Da waren wir in diesem komischen Restaurant. Hab mal eiskalt die Karte mitgehen lassen«, lachte er und tippte auf die Speisekarte, die er hineingeklebt hatte. Mit jeder Seite nahm Sasukes Herzschlag an Geschwindigkeit zu. Was war das nun? War es kitschig? War es schön? Oder beides zugleich? War es überhaupt angemessen, dass er ein so... aufwändiges Geschenk von seinem neugewonnenen Freund erhielt? So viel Mühe steckte hier drin. Wann er wohl beschlossen hatte, ihm dieses Geschenk zu machen? Vermutlich schon relativ früh, denn der Besuch im Restaurant war kurz nach dem ersten Monat seines Aufenthalts gewesen. Hör bloß auf, dir so viele lächerliche Gedanken zu machen. Weiter hinten standen ein paar Texte geschrieben, von denen er ein oder zwei wiedererkannte. Das waren Liedtexte von Naruto. »Time moves slowly while you're gone I haven't heard your voice in quite some time But I still see your face I cannot erase the things you've done And all the ways you kept me hangin' on Now your gone« »Die sind mir eingefallen, als wir so viel Stress immer hatten. Das war zwar echt nervig, aber irgendwie auch inspirierend«, lachte er leicht verlegen und blätterte weiter. »Hier, das einzige Bild, wo wir beide zusammen drauf sind. Du siehst wie immer nicht gerade begeistert aus«, schmunzelte Naruto und Sasuke betrachtete das Bild, auf dem der Blonde breit lächelte, während Sasuke verhalten an seinem Getränk nippte und angesäuert zu ihm herüber schielte. Stimmt, das war ihr erster Discobesuch gewesen. Feiern war wirklich überall gleich. Die gleichen Besoffenen, die gleiche Musik, das gleiche Ambiente und der gleiche beschissene Kater am nächsten Tag. Still blätterten sie weiter und betrachteten gemeinsam die gesammelten Erinnerungen, die hier auf Papier festgehalten wurden. Die Eindrücke, die auf Sasuke wirkten, wurden zunehmend schlimmer. Die Kälte draußen, die Wärme hier drinnen, die verdammte Weihnachtszeit, der leichte Keksgeruch, den Narutos Körper wie naturgegeben verströmte und dieses gottverdammte, wunderschöne Album, das er in den Händen hielt – das alles war eindeutig zu viel. Sasuke hielt inne und klappte das Buch zu. »Danke«, sagte er. »Bitte, bitte«, schmunzelte Naruto hinter ihm. »Los, jetzt den nächsten Zettel!«, drängte er und drückte Sasuke eigenhändig das blaue Papier in die Hand. »Keine Sorge, ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht. Ich weiß ja, wie du bist.« »Ich weiß ja, wie du bist.« Der Uchiha atmete noch einmal tief durch. Hier lag kein nächstes Päckchen, das er öffnen konnte, aber Narutos Anspielung war nicht von der Hand zu weisen. Unwahrscheinlich, dass auf dem letzten Zettelchen bloß ein Weihnachtsgruß geschrieben stand. Er entfaltete ihn. Heute ist Weihnachten. Du hast einen Wunsch frei! Egal, was du dir wünschst, solange ich es erfüllen kann, ohne dabei meine Gesundheit oder meine finanzielle Zukunft arg zu gefährden, werde ich ihn dir erfüllen! Sein Herzschlag stieg ihm bis in den Kopf. Er las die paar Zeilen ein zweites Mal. Dann nochmal, während Naruto freudig vor sich hin plapperte. »Also ich werde von keiner Brücke springen und ich werde auch keinen Kredit über Riesensummen aufnehmen, um dir irgendwelche Wünsche zu erfüllen«, lachte er und kratzte sich leicht am Hinterkopf. Der Wind peitschte von draußen mit unbändiger Härte gegen das Fenster und zog Sasukes Aufmerksamkeit für einen Moment auf sich. Es stürmte und schneite. »Ich mache das jedes Jahr für genau eine Person. Ist so meine Tradition... Dieses Jahr bist du dran, auch wenn mir klar ist, dass du dir irgendetwas wünschen wirst, womit ich mich richtig blamiere«, erzählte er weiter, während Sasuke den Schnee bei seinem wilden Tanz beobachtete. Auf einmal wurde ihm heiß und kalt zugleich, als er Narutos Stimme lauschte. Er kannte diese Reaktion seines Körpers nur zu gut. »Die letzten Nächte hatte ich sogar ein paar Alpträume deshalb und...« »Schlaf mit mir«, unterbrach ihn Sasuke leise, aber bestimmend, ohne den Blick von dem weißen Traum abzuwenden. Er sagte diesen Satz einfach frei heraus, ohne einen einzigen Gedanken an seine Wirkung zu verschwenden. Er sagte einfach das, was ihm in diesem Moment richtig erschien. Das, was er wollte; und wurde sich auch in den darauffolgenden Sekunden seiner Wortgewalt nicht richtig bewusst. Hinter ihm wurde es zunächst ganz still, bis Naruto plötzlich seine Stimme wiederfand: »Hah, nicht witzig. Ich...« Naruto brach ab, als sich Sasuke mit einem Mal über die Schulter hinweg zu ihm drehte. In seinem Gesicht war nichts als Ernst zu erkennen und seine Augen leuchteten in einem seltsamen Glanz. Zweifellos, dieser Wunsch war kein Scherz. Er drehte sich ganz herum, um Naruto in die Augen zu sehen. Der Blonde wusste mit dieser ungewohnten, völlig fremden Situation nicht umzugehen und wandte geniert den Blick ab. Für Sasuke war das alles nichts neues und nichts altes. Er blieb entspannt. »Wirst du mir meinen Wunsch erfüllen?«, fragte er mit vor Lust bebender Stimme. Er liebte dieses Spiel, wenn er die Fäden in der Hand hielt. Immer noch verunsichert sah Naruto auf und erwiderte Sasukes Blick. Dieses fast schon devote Verhalten schmeckte dem Uchiha dagegen überhaupt nicht. Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. War Naruto etwa eine Lusche im Bett? »Sasuke... Äh, ich...«, stammelte er drauf los und kratzte sich wieder am Hinterkopf. Der Uchiha beobachtete das peinliche Schauspiel und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was ist? Bist du ein Versager im Bett?« Naruto schreckte wie aus einem Alptraum hoch. Sein Gesicht färbte sich tiefrot. »D-das ist mit Sicherheit nicht das Problem!« Sasuke zuckte mit den Achseln. »Dann gibt es in meinen Augen auch kein Problem mit uns beiden.« Mit leicht offen stehendem Mund saß ihm Naruto gegenüber. Er konnte es nicht fassen, in welche Richtung sich ihr Beisammensein plötzlich entwickelte. »W-warum sollte ich mit dir schlafen? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn! Wir sind Kumpels! Wir haben noch nie etwas in der Richtung gemacht. Wir haben uns ja noch nicht einmal geküsst oder so«, gestikulierte Naruto wild mit den Händen und schnappte immer wieder röchelnd nach Luft. Mit einem Ruck packte ihn Sasuke an seinem neuen Pullover, zog ihn zu sich, drückte ihm hart seine Lippen auf den Mund und schob dem paralysierten Naruto für einen Moment die Zunge in den Hals. »Problem behoben«, grinste Sasuke keck und wischte sich mit dem Handrücken den Speichel von den Lippen. »Beweis es«, forderte Sasuke und ignorierte Narutos abweisendes Verhalten damit ganz einfach. Er griff in das blonde Haar, fuhr mit den Fingern an seiner Kopfhaut entlang und raunte mit dunklem Verlangen: »Beweis mir, dass du kein Versager bist.« Ein hartes Schlucken war das Resultat. Naruto wusste gar nicht wie ihm geschah, doch dieses Mal erwiderte er die grobe Zärtlichkeit, als Sasuke wieder von ihm Besitz ergriff. Der Uchiha grinste breit, drückte Naruto mit dem leidenschaftlichen Zungenspiel immer tiefer nach unten, bis er schließlich ganz und gar auf ihm lag. Mit einem knappen Blick rief sich Sasuke in Erinnerung, dass sich in diesem Zimmer eigentlich zwei Betten befanden, zu denen sie wechseln konnten. Doch das Gefühl von Holz unter seinen Fingerkuppen war einfach zu verlockend. Hart und unnachgiebig – rau. Früher oder später würde dieses Spiel sowieso die entscheidende Wende einschlagen. Überraschend schnell vergaß Naruto seine anfängliche Unsicherheit; jedoch nicht seinen Zweifel – seine Berührungen wurden zwar inniger, trotzdem war sich Sasuke sicher, dass er nicht ganz bei der Sache war. Ermüdend sanft wanderte Narutos Hand seinen Rücken stetig auf und ab; immer wieder nur auf und ab. Ansonsten tat sie nichts. Die andere, freie Hand, ruhte ruhig in seinem Nacken; bewegte sich von dort nicht weiter als bis zu seiner Wange. Insgesamt agierte Naruto nicht; er reagierte bloß. Die Minuten verstrichen und Sasukes Ungeduld wuchs mit kontinuierlich sinkender Erregung. Das, was Naruto ablieferte, war nicht im Geringsten erotisch. Das, was Naruto ablieferte, konnte beim besten Willen nicht sein Ernst sein. Minderbemittelte Ex-Footballspieler hatten zumindest das Klischee des grandiosen Liebhabers zu erfüllen. Dumm wie Kieselstein, dafür aber Muskeln aus Stahl und von verboten energischer Erotik im Bett. Sasuke wog seine Möglichkeiten ab. Er könnte dieses selten peinliche Vorspiel hier und jetzt beenden, in die nächste Kneipe fahren und dort mit jeder beliebigen Flachzange vermutlich besseren Sex haben, als mit diesem Trottel. Die zweite Möglichkeit war, Naruto zu dirigieren. Ihm jede Berührung, jeden Punkt, den er streifen sollte, vorgekaut in den Mund zu legen: Fass mich dort an, jetzt dort, da nicht. Leider wäre das keine wirkliche Steigerung zum momentanen Dilemma. Die letzte Alternative, die sie beide beinhaltete, wäre... ihn ein wenig zu triezen und in die gewünschte Richtung zu lenken. Böswillig grinsend leckte er mit der Zunge über Narutos Hals, spürte ihn dergestalt erschaudern, als verteilte er eiskalten Schnee auf seiner nackten Haut. »Was ist los mit dir?«, flüsterte er ihm ins Ohr, biss alles andere als vorsichtig hinein; zog daran. »Etwa noch Jungfrau?«, stichelte er mit leicht belustigter Stimmlage. Die gewünschte und erwartete Reaktion folgte unmittelbar: Naruto drückte ihn mit einer verblüffend starken Hand von sich weg; hielt ihn auf Abstand. Die schönen blauen Augen funkelten ihm vorwurfsvoll und angriffslustig entgegen. Oh, hatte er etwa einen Nerv getroffen? »Ich bin mit Sicherheit keine Jungfrau mehr, Sasuke«, brummte er; seine ohnehin markante Stimme wurde noch tiefer; fast bärig. »Und ich bin mir ziemlich sicher, dass zumindest deine ansehnlichere Seite noch ziemlich jungfräulich ist«, entgegnete er mit nüchternem Blick. »Vielleicht sollte ich dem kleinen, verklemmten Mädchen mal den Rock anheben und den Stock aus ihrem Arsch ziehen?« Ihre Augen rangen um die Oberhand. Sie trafen aufeinander wie kalte und warme Luft. Wenn man mit etwas Fantasie hinsah, konnte man sogar kleine Funken sprühen sehen. »Wie war das?«, knirschte der Blonde hervor und seine Finger verkrampften sich dabei in dem faserigen Stoff von Sasukes Pullover. Ein warmer, liebevoller Blick hätte Narutos aufgebrachtes Gemüt eventuell noch beschwichtigen können, doch Sasuke dachte nicht im Entferntesten daran. Viel mehr fing der Spaß für ihn gerade erst an. »Du bist eben mehr das jungfräuliche Mädchen als der erfahrene Mann«, Sasuke zuckte mit den Schultern, »und wenn du mich so sehr darum bittest, dich im Arm zu halten und dir dabei liebevoll meinen Schwanz in den Arsch zu schieben... Wie könnte ich da schon nein sagen?« Von der einen auf die andere Sekunde kochte Naruto förmlich über. »Bastard!«, schrie er und ergriff plötzlich die Initiative; erlangte die Oberhand, als er ihre Positionen tauschte – an den Schultern drückte er Sasukes Körper mit eisernem Griff in den unnachgiebigen Holzfußboden, schob sich mehr unbewusst zwischen seine Beine; drückte sie mit antörnender Dominanz auseinander. In diesem Moment stieg die Erregung des Überwältigten um ein beachtliches Maß. Endlich hatte er ihn genau da, wo er ihn haben wollte. »Bei der miserablen Bettleistung würde dir keine Frau der Welt auf Dauer treu sein, Naruto«, kicherte Sasuke. Scheiße, es machte ihm ein bisschen zu viel Spaß, den armen Naruto zur Weißglut zu treiben. Beim Anblick seines schockierten Gesichtsausdrucks, musste der Uchiha einmal unweigerlich laut auflachen. Es war witzig – er hatte lange nicht mit dieser Art von Mann geschlafen. »Halt endlich die Schnauze!«, schrie Naruto mit der Gewalt eines Vulkanausbruchs. Die wenigen Worte erstickten Sasukes bösartiges Lachen wie mangelnder Sauerstoff eine Flamme erstickt. Im Zimmer war es plötzlich ganz still; nur der draußen peitschende Wind sandte ein Lebenszeichen der fröstelnden Kälte, genauso wie Narutos unregelmäßiger Atem und sein wild pulsierender Herzschlag ein Zeichen des wutentbrannten Feuers waren. Das hier war der Punkt an dem sich alles weitere entscheiden sollte. Sasuke setzte alles auf eine Karte. »Du hast überhaupt keine...« Verdattert brach der Blonde ab, als ihm die warme, leicht zähflüssige Substanz von der Wange lief. Mit großen Augen starrte er in Sasukes Gesicht, brauchte einen Augenblick um sich zu sammeln und zu realisieren, dass Sasuke ihm allen Ernstes ins Gesicht gespuckt hatte. Einfach so. Vor blanker Wut verkrampfte sich seine Kiefermuskulatur und für einen Moment verlor er all seine ohnehin seidenfädrige Selbstbeherrschung. Mit der Faust holte er aus, ließ sie schnurstracks auf Sasukes ungerührtes Gesicht zurasen. Im letzten Augenblick entschied er sich anders, änderte den Kurs und schlug die geballte Faust mit voller Wucht in den Boden, direkt neben Sasukes Kopf. Es krachte und schepperte. Die Zeit blieb für einen signifikanten Augenblick stehen; Sasuke blieb die Ruhe selbst; Naruto starrte ihn nur entgeistert an. Nicht fassungslos über seine eigene Reaktion, sondern über Sasukes. Der Uchiha hatte den Kopf nicht reflexartig und schützend zur Seite abgewandt. Verflucht, er hatte nicht einmal geblinzelt! »Warum hast du nicht endlich mal deine Männlichkeit bewiesen?«, fragte Sasuke und riss Naruto damit aus seiner teilnahmslosen Fassungslosigkeit. »Das war deine Chance.« Mit großen Augen und schwerem Atem starrte er auf den wenig begeisterten, fast schon mitleidig drein blickenden Sasuke herab. Dieses ganze Wirrwarr wollte nicht in Narutos Schädel passen. Er verstand dieses Konstrukt aus Aktion und Reaktion nicht. Vor allem Sasukes Reaktionen waren für ihn wie ein Buch mit sieben Siegeln. Entgeistert wischte sich der Blonde mit dem Handrücken das von Herzen kommende Geschenk wieder ab. »Ich versteh dich nicht«, sagte Naruto leise und mit trockener Kehle. Ein hohles Lachen erfüllte plötzlich den Raum. »Du verstehst mich nicht? Frag mich mal!« Auf einmal wurde Sasukes Stimme energischer, lauter. Der sarkastische Unterton war endlich verflogen. »Du verhältst dich nicht annähernd so wie sich ein Mann verhalten sollte.« Auf Narutos sichtliche Ratlosigkeit reagierte Sasuke mit einem bösen Blick. »Ich erzähle dir jetzt mal was über Männerliebe. Nachdem du ja offensichtlich überhaupt keine Ahnung davon zu haben scheinst.« Der Blonde wollte sich aufrichten, doch Sasuke griff augenblicklich in den weichen Stoff seines neuen Pullovers und zog ihn wieder zu sich herunter. »Wenn zwei Männer miteinander schlafen, bleibt die Gefühlsduselei gefälligst zuhause, kapiert? Die kannst du dir für deine sommersprossigen jungfräulichen Mädchen aufheben«, zischte Sasuke und fixierte Naruto mit seinem Blick. »Es geht darum Tabus auszuleben. Nicht darum, den anderen in den Schlaf zu langweilen.« Narutos Miene verhärtete sich. Am liebsten hätte er ihm genauso reizend ins Gesicht gespuckt. »Tabus? Du meinst, dem anderen solange auf den Sack zu gehen, bis ein Faustwechsel entsteht?«, entgegnete er bissig. Der Uchiha zuckte mit den Schultern. »Wo bleibt der Spaß, wenn der eine sich dem anderen nicht unterwerfen muss? Ein bisschen Schmerz fördert die Lust.« Für einen Sekundenbruchteil entgleisten Naruto die Gesichtszüge. Er fragte sich, ob Sasuke das wirklich ernst meinte. Verdammte Scheiße, meinte er das wirklich so wie er es sagte? »Hätte meine Faust dein Gesicht getroffen, wäre das mehr als nur ein bisschen Schmerz geworden«, sagte er. Abgesehen davon, dass ihm die Lust auf Sex schon zu Beginn von Sasukes Beleidigungen vergangen war. »Mag sein«, grinste der Uchiha und strich mit dem Daumen über Narutos Unterlippe. »Aber bei mir dient der Schmerz sozusagen als Katalysator für die Lust, die ich beim Sex empfinden kann. Je größer der Schmerz, desto größer die Lust.« Narutos Welt überschlug sich einige Male, als Sasuke ihn daraufhin erneut in ein Feuerwerk des Zungenspiels verwickelte. Er atmete schwer, versuchte die Worte seines Freundes irgendwie zu verarbeiten; scheiterte jedoch kläglich daran. Das Einzige, was er ganz bewusst wahrnahm, waren Sasukes Beine, die sich kräftig und begierig um seine Hüfte legten; ihn näher zu sich heranzogen. So weit, dass Naruto Sasukes deutliche Erregung gegen seine Hose drücken spürte. »Du kannst einen Mann nur mit Gewalt gefügig machen«, sagte Sasuke nüchtern und strich seinem Partner ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Das liegt in der Natur der Dinge«, fügte er hinzu. »Und du wirst merken, dass du selbst viel lockerer wirst, wenn du deinen Aggressionen einmal Platz machst. Du wirst es mögen, alleiniger Herr der Lage zu sein, glaub mir. Alle Männer mögen das.« Sasukes Hand fuhr mehr beiläufig zwischen ihre eng aneinander gepressten Körper; ertastete mit den Fingern den Schrittbereich seines Partners und malte die Ränder der Erhebung mit kreisenden Bewegungen nach. »Ich kann all das sein, was du dir in deinen perversesten Träumen wünschst«, raunte er ihm ins Ohr. Narutos Herz schlug ihm bei Sasukes Worten und seinem dazugehörigen sanften Lächeln bis in den Kopf hinein. Er sprach in einem Atemzug von Lust, Erregung, Schmerz und Erniedrigung und wirkte dabei so ungeheuer... befriedigt. Allein die Vorstellung schien bei ihm ein Feuer zu entfachen. Dabei war diese Kombination seltsam unheimlich; sie grenzte fast an Wahnsinn. Mit den Fingerkuppen fuhr er die feinen Züge nach, die Sasukes fahles Gesicht unbeschreiblich schön machten. Er stellte es sich vor; stellte sich vor wie er ihm erbarmungslose Schläge verpasste, während er ihn fickte; während sie miteinander intim waren. Er drang dabei nicht nur in den Körper ein, sondern auch in etwas viel privateres... in die Gefühlswelt einer Person. Hier war nicht die Rede von ein paar leichten Klapsen auf den Allerwertesten, sondern von hart dominierender Gewalt des einen und stillschweigender Erduldung des anderen. Von Prellungen, von Blut, untermalt von zugleich schmerz- und lusterfüllten Schreien, die je nachdem auch von bitteren Tränen begleitet werden konnten. Könnte er dabei Lust empfinden? Die Antwort lag für Naruto auf der Hand. Dafür war er einfach nicht der Typ. Jemandem, mit dem er Intimitäten teilte, konnte er keine ernsthaften Verletzungen zufügen; selbst wenn ihn sein Partner darum bat. Er befreite sich aus Sasukes Griff, erhob sich vom Boden, griff nach seinem neuen Diktiergerät und ging auf wackligen Knien zur Tür, die ihn aus der seltsamen Atmosphäre führen sollte, die sich in ihrem Zimmer gebildet hatte. »Tut mir leid, Sasuke, aber...«, Naruto stockte und rang nach den richtigen Worten, »das ist...« , er schluckte noch einmal, »echt krank.« Darauffolgend schlug er die Tür nicht wutentbrannt zu; er ging nicht mit einem Knall; er ging ganz leise, die Treppe hinab, direkt zur Garderobe und nahm geistesabwesend Mantel, Schal und Mütze vom Haken. Wie in Trance wappnete er sich gegen die winterlichen Temperaturen, stopfte das Diktiergerät in die Innentasche seiner Jacke und verließ mit dick gefütterten Stiefeln das warme Haus. Ein eisiger Wind zog ihm just durch Mark und Bein, als er die ersten Schritte durch den weißen Matsch setzte. Die meisten Häuser waren komplett eingeschneit, nur wenige hatten sich noch die Mühe gemacht, überhaupt Schnee zu schieben. Seit Tagen schneite es unaufhörlich – alles, was beseitigt wurde, kehrte in Minutenschnelle wieder an Ort und Stelle zurück, als sei es niemals fort gewesen. Naruto zog seinen Schal höher, kurz bis unter die Augenpartie. Es fröstelte ihn, aber die Kälte bescherte ihm auch einen klaren, kühlen Kopf. Hier konnte er besser nachdenken, als in den erdrückend warmen vier Wänden, in denen auch die Ursache für sein Kopfzerbrechen wartete. Er versenkte die Hände in seinen Jackentaschen und setzte sich ruhig in Bewegung. Kein Ziel vor Augen; nicht einmal ein genauer Weg, den er beschreiten wollte, war in seinem Kopf verankert. Da war nur der Wunsch immer weiter zu gehen und den Rest hinter sich zu lassen. Alles zu vergessen, was in der Realität an unschönen Erinnerungen und Tatsachen hinter jeder Ecke lauerte. Die Dunkelheit zwang ihn, den Weg an den Straßen entlang zu nehmen. Die wenigen Straßenlaternen, die nur gute zwei Kilometer aus dem Dorf herausführten, spendeten ein angenehmes Licht. Sie standen im Abstand von rund fünfzig Metern zueinander. Es wurde mal heller, mal dunkler. Gut, um nicht die Müdigkeit die Oberhand gewinnen zu lassen. Irgendwann blieb er an einer der vielen Straßenlaternen einfach stehen, verschnaufte für einen Moment und lehnte sich träge gegen den kalten Eisenpfahl. Naruto legte den Kopf in den Nacken und beobachtete das schöne Bild, das sich ihm bot. Dort oben zeigte sich ein sternklarer Abendhimmel in vollster Pracht. Seine Augen widmeten jedem der kleinen leuchtenden Punkte einen Teil seiner Aufmerksamkeit, ehe er sie müde schloss und tief durchatmete. Was war eben bloß geschehen? Kürzlich in die Ecke gedrängte Erinnerungen quollen wieder hervor. Sasuke hatte ernsthaft mit ihm schlafen wollen und es wäre auch kein Problem gewesen, wäre da nur nicht... Naruto ließ den Kopf hängen. Klar, er hatte vorher noch nie mit einem Mann geschlafen, aber auch nur deshalb nicht, weil sich nie die Gelegenheit mit dem passenden Partner ergeben hatte. Genau genommen war er seit längerer Zeit neugierig gewesen wie es sein mochte, wenn zwei Männer es einander besorgten. Nur war Naruto nicht auf einen Hardcore-BDSM-Fetisch eingestellt gewesen. Die lasche Version, mit ein paar Fesseln und ein paar Klapsen hier und da – vielleicht hätte er es mitgemacht. Aber seinen Partner ernsthaft verletzen? Unsicher öffnete Naruto seine Augen einen Spalt breit, starrte auf seine immer noch wackligen Knie; unschlüssig, ob es inzwischen die Schuld der beißenden Kälte war. Machte ihn dieses Verhalten nun wirklich zur Lusche? Naruto selbst glaubte eigentlich nicht daran. Er war sich sicher, dass nicht sein Verhalten das falsche war, sondern Sasukes. Was war er denn für ein Mensch, dass es ihn erregte von seinem Sexualpartner untergebuttert und misshandelt zu werden? »Du hast gewaltig 'ne Schraube locker, Sasuke«, grummelte Naruto vor sich hin und drehte mit dem rechten Schuh nachdenklich ein paar Kreise im matschigen Schnee. Zum Vorschein kam ganz allmählich die asphaltierte Straße. »Alle Männer mögen das.« Naruto trat wütend in den kleinen Haufen Schnee, der sich neben seinem Schuh aufgetürmt hatte. Es ärgerte ihn, dass Sasuke ihn mit allen anderen Menschen gleichsetzte. Meine Fresse, wer hatte ihm bloß solche Flausen in den Kopf gesetzt? Es gab genau zwei Möglichkeiten: Entweder, Sasuke war wirklich so eine perverse Dreckssau, der jegliche andere und weniger brutale Form von Sex zuwider war oder aber – und darauf hoffte Naruto insgeheim – er hatte noch nie etwas anderes probiert. Was zugegeben merkwürdig wäre, aber auch nicht merkwürdiger als sein jetziger Fetisch. Nun, Sasukes Wunsch war es gewesen, dass Naruto mit ihm schlief. Diesen Wunsch hatte er bislang nicht erfüllt, dabei hielt er sich stets an die Versprechen, die er gab. Allerdings war in dem Satz ›Schlaf mit mir‹ auch keine Rede davon wie der Akt letztendlich auszusehen hatte. Narutos Mundpartie wurde von einem siegessicheren Lächeln umrandet. »Vielleicht kommen wir irgendwann doch noch auf einen gemeinsamen Nenner, Sasuke.« Deutlich entspannter beobachtete Naruto noch ein paar Minuten seine Umgebung; die Umrisse von hohen Bäumen; das Rieseln des Schnees und das Huschen von ein paar kleineren Tieren, die zwischen Baum und Gebüsch umherliefen, ehe er sich mit dem bewusst schwereren Gefühl an seiner Herzseite auf den Heimweg machte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)