Gut ist nur ein Wort von Die_Katzenhai (wenn Welten sich kreuzen) ================================================================================ Kapitel 3: Weißes Kleid und schwarze Haut ----------------------------------------- Der Himmel war grau. Und ihr Kleid weiß. Und die Zeit eine seltsame Sache. Liebte man sein Leben, schien es wie im Flug zu vergehen. Man lachte und lebte, bis man plötzlich alt war und sich glücklich verabschieden konnte. Doch war man einsam, schien jede Minute Stunden zu dauern. Man saß da und wartete auf das Ende. Sein Ende. Es war unausweichlich, dass es kam. Nur der Zeitpunkt war verschieden. Ihrer war gekommen. Schon längst war er überflüssig. Sie war nicht traurig, im Gegenteil. Sie war froh. Sobald sie sprang, auf den Asphalt aufschlug, war sie glücklich. Nie mehr alleine. Dann wäre sie bei ihm. Bei Gott. Ein Lächeln umspielte die Lippen Ruri Haginos, als sie näher an dem Rand des Daches trat. Der Wind spielte mit Ruris dunklen Haaren und dem Kleid. Das weiße Kleid. Das Kleid, in dem sie sterben würde. Die Farbe des Todes und der Trauer*. Und die Farbe der Unschuld. Rein und unbefleckt. Vielleicht wie ein Engel. Sie würde wirklich fliege. Für kurze Zeit, in den Tod hinein. Es zog ein Gewitter auf. Sie hasste Gewitter, hatte Angst vor ihnen. Immer wenn sie aufkamen, dachte sie, die Welt würde zerreißen. Es war, als würde sie bestraft werden. Oder jemand leiden. Es war furchtbar. Sie hasste sie. Sie hasste Gewitter. Aber nicht heute. Jetzt konnte sie nicht mehr bestraft werden. Sie würde ihre Schuld begleichen. Ihr Herz zurück geben. Ihr gesamtes Leben. Und nie mehr alleine sein. Nie mehr einsam sein. Nie mehr. Es tat ihr Leid um ihren Vater und dessen Frau. Sie mochte sie beide. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihre Zeit abgelaufen war. Sie würden auch sicher ohne sie glücklich sein können. Sie hatten sie. Die Zeit, die schnell verging. Irgendwann würden sie realisieren, dass Ruri schon lange tot war und sie lachen konnten. Sie würden in Frieden leben können und sie vielleicht sogar vergessen. Das wäre in Ordnung. Nicht schlimm, Ruri war es gewohnt. Ihr Tod war einen kleinen Schritt entfernt. Sie fasste sich an ihr Herz, spürte es durch den dünnen Stoff schlagen. Zum letzten Mal. Kraftvoll, vorfreudig, aber auch ein wenig ängstlich. Sie wusste nicht, was auf sie zu kam. Sie konnte im Nichts enden. Einfach aufhören zu existieren. Eine grausame Vorstellung. Doch ein Zurück gab es nicht. Die Selbstmörderin trat ins Leere. Und fiel. Wild flatterte ihr Kleid um ihren Körper. Ein Blitz zuckte über den Himmel. Der Donner übertönte die Schreie der Passanten. Ruri hörte den Gesang von Vögeln. Wurde von Sonnenstrahlen gewärmt. Fühlte sich wohl. War das der Tod? Das Ende? Sie öffnete vorsichtig ihre Augen. Das erste, was sie sah, waren Bäume, groß und stark. Die Sonne schien durch das Blätterdach und ließ die Wassertropfen auf dem Gras funkeln. Kam das nach dem Tod? Unsicher stand sie auf und blickte sich um. Niemand war zu sehen. Sie war alleine. Das konnte nicht sein. Durfte nicht sein. Sie zwang sich ruhig zu bleiben. Dafür gab es sicher eine logische Erklärung. Vielleicht war sie nicht gestorben. Sie könnte in einem Krankenhaus liegen. Im Koma. Das könnte es sein. Oder der Sprung war ein Traum. Aber wie kam sie hier her? Und was war dieses Hier überhaupt? Ruri erinnerte sich nicht daran, jemals ein solch einen Ort gewesen zu sein. Gut, sie kannte Wälder, aber dieser schien unberührt von jedem menschlichen Wesen zu sein. Es herrschte vollkommene Harmonie. Es war wunderschön. Aber einsam. Furchtbar einsam. Wütend schüttelte sie ihren Kopf. Nur weil hier kein Mensch war, hieß das noch lange nicht, dass niemand hier war. Gott war überall. Es könnte gut sein, dass das eine Prüfung war. Eine Herausforderung. Und überhaupt, sie brauchte keine anderen Menschen. Und sie brauchten sie auch nicht. Also musste sie nicht in Panik verfallen, dazu gab es keinen Grund. Sie stand auf und registrierte, dass ihr Kleid vom Blut verfärbt war, natürlich, und eigentlich dürfte von ihrem Körper kaum etwas übrig geblieben sein. Ruri lief los. Irgendeine Antwort würde sie schon finden, wenn sie nur suchte. Es war schwer, im Wald die Orientierung nicht zu verlieren, aber wenigstens war sie sicher, dass sie nicht im Kreis lief. Die Bäume wurden größer und standen dichter beieinander. Sie näherte sich also dem Zentrum des Waldes. Als sie einige Zeit lang, wie lange konnte sie beim besten Willen nicht sagen, gelaufen war, hörte sie das Plätschern eines Baches. Leise, aber deutlich. Sie beschloss, zu ihm zu gehen. Sie hatte Durst und Wasser war nie verkehrt. Der Bach war näher, als sie dachte, dafür kleiner. Aber es reichte, um aus ihm zu trinken. Das Wasser schmeckte köstlich. Gerade als sie sich aufrichten wollte um weiter zu gehen, sah Ruri jemanden. Er hatte dunkle Haut, die Ruri an schwarzen Kaffee erinnerte und lange, noch dunklere Rastazöpfe. Er schien zu schlafen. Jedenfalls bewegte er sich nicht. Dieser jemand war Kamil Ghana. Und noch vor wenigen Minuten war er an einem sehr viel weniger friedlichen Ort. Kenias Slums waren gefährlich. Das war keine Frage. Und Auseinandersetzungen wie diese standen an der Tagesordnung. Und dennoch konnte Kamil nicht verleugnen, dass er jedes Mal nervös war. Es war keine Angst, erst recht keine Panik, die hatte er schon vor langer Zeit abgeworfen, und vielleicht war nervös das falsche Wort. Er war nur nicht komplett ruhig. Er glaubte, dass dies möglich war, wenn Menschenleben gefährdet waren. Das waren sie jedes Mal. Manchmal war die Bedrohung deutlicher zu spüren und zu sehen. Und nicht nur, wenn Waffen im Spiel waren. Dann verriet die Spannung in der Luft, dass es gleich gefährlich wurde. Vielleicht auch, dass jemand sterben würde. Solch ein Moment war gekommen. Eigentlich ging es um nichts Großes. Eine Kleinigkeit sogar. Ein schlichter Streit um bereits vor Jahren geklärte Grenzen der Territorien. Es hätte innerhalb weniger Minuten geklärt werden können. Ihre Gang war der anderen deutlich überlegen. Sie waren erfahrener, größer, stärker. Aber die anderen waren aggressiver und nicht bereit, sich eine Niederlage einzugestehen. Kamils Augen suchten den Platz nach seinen Freunden ab, während er gleichzeitig versuchte, seinen Gegner ruhig zu stellen. Die wüsten Beschimpfungen, die ihm an den Kopf geworfen wurden, waren ihm egal. Eine körperliche Auseinandersetzung jedoch wollte er vermeiden. Es führte zu nichts. Er wusste, dass seine Gang Überhand hatte. Es musste nicht in einen sinnlosen Kampf enden. Doch schien es, dass er der Einzige war, der soweit dachte. Aus einer anderen Ecke hörte er Schreie, die über das Geschehen hallten. Nun war es also soweit. Die Spannung explodierte. Ein Messer wurde gezückt. Schreie. Und sie stürmten aufeinander los. Kamil fluchte, wehrte den Angriff seines Gegenübers ab und versuchte einen Überblick über die Situation zu erlangen. Mit einem Schlag ließ er den Anderen zurück taumeln, ein weiterer Stoß und er lag auf dem Boden und Kamil konnte sich abwenden. Dort, wo der Kampf seinen Anfang hatte, war Dajan. Sein bester Freund. Und das hieß, dass er in Mitten des Geschehens war. Mit erstaunlich schnellen Schritten wandte er sich durch die prügelnde Menge. Seine Rastazöpfe schlugen gegen seinen Körper. Er wich Fäusten und Tritten aus, während er versuchte, ihn zu finden. Es dauerte vielleicht eine Minute, da sah er das grellgrüne T-Shirt Dajans zwischen den Kämpfenden hindurch blitzen. Er hasste dieses grässliche Ding, aber heute war er dankbar, dass Dajan es trug. Erleichtert wandte er sich dem restlichen Kampfgeschehen zu. Dajan war weder dumm noch schwach, er kam alleine klar. In seiner Nähe bleiben wollte er. Nur für den Fall. Aber er kam nicht mehr dazu zu kämpfen. Aus dem Augenwinkel sah Kamil, wie jemand in Dajans Richtung schlich, immer schneller wurde. Er brauchte nicht lange, um zu realisieren, was passierte. „Dajan!“, schrie er und rannte los. Noch wenige Meter bis zu ihm. Er spürte einen pochenden Schmerz an seiner Schläfe, stolperte zur Seite und fiel in Dunkelheit. Und öffnete seine Augen. Über ihn beugte sich eine hübsche junge Frau, vielleicht neunzehn, oder Anfang zwanzig, also in seinem Alter, mit braunen Haaren, heller Haut und mandelförmigen Augen. Er blinzelte. Einmal. Zweimal. Sie war immer noch da. Wo auch immer da war. Nach dem Slum hörte es sich hier nicht an und das, was er von der Umgebung sah, ebenso wenig. Viel zu grün. „Wo bin ich?“ Das war die erste Frage, die er stellte. Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ „Aha.“ Ganz toll. Vorsichtig richtete er sich auf. Er erwartete Schmerzen, doch blieben sie aus. Warum fragte er lieber gar nicht. Wenn sie nicht wusste, wo sie waren, würde er das erst recht nicht wissen. Jetzt konnte er auch die Umgebung genauer ins Auge fassen. Sein Slum war es garantiert nicht. Es hätte ihn sogar gewundert, wenn er noch in Kenia war. Er sah zu der Frau. Ihr Kleid, ursprünglich war es wohl weiß gewesen, durchtränkt von Blut. „Das muss ein Traum sein“, murmelte er verwirrt. „Nein, das glaube ich nicht. Träume sind anders.“ „Und was soll es dann sein?“ „Keine Ahnung.“ „Aha.“ Schon wieder. Kamil seufzte, fuhr sich mit den Händen durch seine Zöpfe. Keine Schmerzen. Er ertastete seine Schläfe. Keine Veränderung. Aber er fühlte. Sie hatte also wirklich recht. Das war kein Traum. „Wie heißt du eigentlich?“, fragte er sie. Wenn er schon ein einem seltsamen Ort war, wollte er wenigstens den Namen der einzigen Person, die auch dort war, wissen. „Ruri Hagino. Du?“ „Kamil Ghana.“ Er machte eine Pause. „Ich nehme an, du kommst nicht aus Kenia, oder?“ Ruri sah ihn irritiert an. „Nein. Ich war noch nicht einmal dort. Ich komme aus Japan.“ „Und wie unterhalten wir uns dann? Ich spreche nicht japanisch.“ Jetzt war sie verwirrter und er wieder davon überzeugt, doch zu träumen. Fühlen hin oder her. Das konnte auch ein komischer Traum sein. Das war logischer, als irgendeine Realität, die ihm in den Sinn kam. „Keine Ahnung. Aber ich gehe davon aus, dass wir japanisch reden.“ „Blödsinn.“ Er sprach Swahili, Englisch, wenn auch nicht perfekt, und Sheng**, soweit man dies überhaupt als eigenständige Sprache ansehen konnte. „Nein. Ich weiß ganz genau, wie sich meine Sprache anhört.“ „Und ich wie mei- ... Moment mal.“ Es stimmte. Irgendetwas war anders. „Kann sein, dass du doch recht hast.“ Ganz sicher. Das war ein Traum. Das musste einfach einer sein. Ruri sagte nichts, sondern sah ihn einfach nur an, mit einem kleinen Funken Triumph in den braunen Mandelaugen. „Angenommen das hier ist wirklich kein Traum“, fing Kamil an, „wo sind wir und was ist passiert?“ Ruri seufzte. „Ich weiß es nicht. Erst dachte, ich wäre tot, aber das glaube ich nicht. Der Tod kann nicht so sein.“ „Wieso hast du das geglaubt?“ Ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Brust breit. „Eigentlich hätte ich tot sein müssen. Ich – mir ist etwas passiert.“ Sie log nicht, aber sie verschwieg etwas. Kamil kannte sich mit Menschen aus und wusste ziemlich gut, wann jemand die Wahrheit sagte oder nicht. Aber das war es nicht, was ihn aufhorchen ließ. Das konnte nicht sein. Nur, weil sie tot sein musste, hieß das noch lange nicht, dass sie tot war. Oder gar er. Egal was er an den Kopf bekommen hatte, selbst wenn es ein riesiger Stein war, davon starb man schon nicht so schnell. Doch bei der Blutmenge, die an Ruri klebte, war es unwahrscheinlich, dass sie noch leben konnte, es sei denn, es stammte nicht von ihr. Und für ihn konnten auch andere Regeln gelten, als für die Frau. Hoffte er zumindest. Er durfte nicht tot sein. Er musste noch etwas gut machen. Ruri beobachtete Kamil aufmerksam. Irgendetwas schien ihn nachdenklich gestimmt zu haben. Aber was es war, konnte sie nicht sagen. Und wenn sie ehrlich war, und das war sie immer, war es ihr auch egal. Sie hatte selbst genügend Probleme, über die sie nachdenken musste. Sie war also hier aufgewacht, inmitten eines Waldes, war aber nicht alleine. Ein junger Mann aus Kenia war ebenfalls hier. Was mit ihm passiert war, wusste sie nicht. Aber er schien genauso verwirrt, wie sie es war. Und genau dieser sprach Japanisch, obwohl er es nicht konnte. Es war sicher kein Traum. Nicht nur, dass man in Träumen nichts spürte, wäre es wirklich einer, wäre sie schon längst aufgewacht. Sie war schon über einer halben Stunde hier, wenn nicht sogar noch länger. Solange träumte man nicht. Tot war sie auch nicht. Der Tod war anders. Garantiert. Ihr Blick schweifte über die Bäume. Vielleicht waren hier auch noch andere Personen. Es war zumindest nicht unwahrscheinlich. Und, wie sich noch heraus stellen sollte, behielt Ruri damit recht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)