Boreas von Arcturus (Adventskalendertürchen Nr. 8) ================================================================================ Kapitel 1: Nordwind ------------------- Auspeitschungen waren eine vergleichsweise seltene Angelegenheit in Distrikt 1. Dennoch schaffte ich es, mir Hiebe einzuhandeln. Dreißig Schläge auf den nackten Rücken. Zehn, weil ich den Distrikt ohne Erlaubnis verlassen hatte. Zwanzig weitere, weil ich mich dabei hatte erwischen lassen. Natürlich – aufschlüsseln tat mir das so keiner. Nicht die Friedenswächter, die mich zur Akademie zurückschliffen, nicht Gloss, der mich in Empfang nahm, und auch nicht die anderen Schüler, die sie auf dem Hof zusammengetrommelt hatten, um ein Exempel an mir zu statuieren. Zugegeben, man musste mir die Sache auch nicht aufschlüsseln. Die Rechnung beherrschte ich selbst. Die meisten Schüler überquerten den Zaun, der unseren Distrikt umfasste, mindestens einmal während ihrer Zeit an der Akademie. Viele taten es mehr als nur einmal. Für manche war es eine Art verqueres Hobby. Letztendlich war das auch gar nicht der Punkt. Fakt war, diverse Gesetze des Kapitols wurden in Distrikt 1 nur halbherzig beachtet und niemanden kümmerte es so richtig. Es war ein wenig so wie mit dem Verbot, Kinder auf eine Teilnahme an den Spielen vorzubereiten: Eigentlich keine große Sache, solang man sich an eine einzige, ungeschriebene Regel hielt. Tu, was du willst, solang dich niemand dabei sieht. Überflüssig zu erwähnen, dass ich diese Regel gebrochen und die Konsequenzen dafür zu tragen hatte. Dreißig Peitschenhiebe. Auf den nackten Rücken. Als Gloss mich an den Pfeiler band, fragte ich mich noch, warum der nackte Rücken zu wichtig war. Und das Festbinden. Dachte er, ich würde davonlaufen? Wie schlimm konnte es werden? Nach dem ersten Hieb fragte ich mich nicht mehr. Als ich jünger war, hatte mich einmal einer der älteren Schüler der Akademie verprügelt. Ein paar Wochen später meldete er sich für die Hungerspiele. Die beiden Tribute aus Distrikt 4 zerlegten ihn in seine Einzelteile, man hätte Fische mit ihm füttern können. Seine Abreibung war die schlimmste Tracht Prügel, die man mir je verabreicht hatte. Das hier war tausend Mal schlimmer. Als mich der erste Hieb traf, keuchte ich überrascht. Irgendwann nach dem Zehnten hörte ich mich schreien. Nach dem Zwanzigsten hing ich nur noch in meinen Fesseln und betete, dass Gloss sich nicht verzählte, weil ich nicht mehr zählen konnte. Schlimmer als der Schmerz war die Demütigung. Die neugierigen Blicke, die man mir zuwarf, als die Friedenswächter mich auf den Hof zerrten. Das Lachen der Schüler, als ich das erste Mal schrie. Die Enttäuschung in Gloss‘ Stimme, während er die Schläge zählte. Ich mochte einer seiner Favoriten für die nächsten oder übernächsten Spiele gewesen sein – vielleicht schlug er mich deswegen jetzt nur umso härter. Als Gloss mich von dem Pfeiler schnitt, spürte ich nichts mehr. Nicht den Schmerz, nicht den kalten Wind, nicht, ob ich blutete. Während ich über den Hof torkelte, wusste ich nicht einmal, ob ich ging oder schwebte oder ob das alles ein furchtbarer Traum war. Ich wusste nur eines: Binnen dreißig Peitschenhieben hatte die Zukunft, für die ich seit Jahren trainierte, aufgehört zu existieren. Niemanden würde es interessieren, dass ich einer der Favoriten für das Jubeljubiläum war. Niemanden würden meine Trainingsergebnisse interessieren, oder meine Fähigkeiten mit dem Speer oder meine Fallen. Meine Karriere war vorbei. Ich würde Fallensteller werden wie mein Vater oder in der Pelzmanufaktur arbeiten wie meine Mutter. Sollte ich das Pech haben geerntet zu werden, würde ich die Arena vielleicht offiziell als Karriero betreten. Inoffiziell würde mir aber nur noch eine Rolle zukommen. Ich war nicht mehr Marvel. Ich war nicht mehr 19/75. Ich war Mittagessen. * * * Drei Wochen später war ich wieder jenseits des Zaunes unterwegs. Nennt es ruhig Idiotie, aber wie gesagt – beinahe jeder Schüler überwand den Zaun mindestens einmal während seiner Schulzeit. Die Meisten von ihnen mehr als einmal. Und für manche war es eine Art verqueres Hobby. Eigentlich hätte ich natürlich in der Akademie sein sollen. Auf Drängen meines Vaters war ich nach der Züchtigung für fast zwei Wochen zu Hause geblieben. Tagelang hatte ich auf dem Bauch gelegen und mich selbst bemitleidet – zumindest war das die Formulierung meiner Mutter. Fakt war: Keiner konnte so richtig sagen, wie ich es überhaupt von der Akademie zurück geschafft hatte. Vielleicht wollte es mir auch nur niemand erzählen. Selbst, als ich wieder zu mir kam, unterschätzte ich die Folgen von dreißig Peitschenhieben. Mein Rücken war Hackfleisch. Ich schaffte es aus dem Bett zu robben und mich vor Anstrengung zu übergeben, aber zu mehr war ich tagelang nicht zu gebrauchen. Mittlerweile ging es wieder. Der Schorf brach nicht bei jeder Bewegung auf und meine Mutter war der Meinung, ich sei bereit für leichtes Training. Also schickte sie mich seit ein paar Tagen wieder zur Akademie, bevor sie selbst zur Arbeit in die Pelzmanufaktur verschwand. Vermutlich hätte sie mich persönlich dort abliefern sollen, denn wie gesagt: heute war ich überall, nur nicht dort. Und das aus gutem Grund: Die Akademie war die Hölle. Alle hatten mich in der Gnade der Trainer fallen sehen und für die Meisten war das wie ein Freifahrtschein. Vermutlich würden mich selbst die Jüngeren drangsalieren, hätte ich nicht den Ersten, der es versuchte, krankenzimmerreif geschlagen. War ich noch vor ein paar Wochen Marvel oder zumindest Nummer 19/75 für sie gewesen, war ich jetzt nur noch Lunch, der gefallene Möchtegerntribut. Es war kein großes Wunder, dass ich heute, am Freitag, nicht in der Akademie ankam, wirklich. Es gab einfach keinen Grund, weiterhin jeden Tag dorthin zurückzukehren. Meine Kameraden schnitten mich, meine Mentoren mieden mich und ein bestimmter Dreizehnjähriger würde die nächsten Wochen nicht durch die Nase atmen. Blieb das Training, aber ernsthaft: Nachdem, was geschehen war, würden man mir niemals erlauben mich freiwillig zu melden und selbst wenn ich mich dem widersetzte, würden andere mich überstimmen. Meine Uhr – ein Geschenk von Gloss, aus der Zeit, in der ich noch einer seiner Favoriten gewesen war – piepte leise und verkündete mir, dass es in der Akademie jetzt Mittagessen geben würde. Für einen Moment hielt ich inne und lauschte. Die Kiefern um mich herum rauschten und in der Ferne heulte ein Wolf. Irgendwo über meinem Kopf plätscherte mein Etappenziel in Form eines kleinen Baches. Ich nahm einen tiefen Atemzug, dann löste ich die Finger meiner linken Hand vorsichtig vom Gestein und streckte sie über meinen Kopf. An einem kleinen Vorsprung fand ich neuen Halt. Ich versicherte mich meines Tritts in den kleinen Spalten des Felsens, dann zog ich mich höher. Ein paar Minuten später lag ich, alle Viere von mir gestreckt, auf dem steinigen Waldboden über dem Abhang und hatte alle Mühe, nicht vor Anstrengung zu keuchen. Über meine Haut zog sich ein dünner Schweißfilm. Dort, wo er nicht ungehindert in den Stoff trat, war er unangenehm kühl, und mein Rücken brannte. Vermutlich war eine kleine Wanderung doch etwas mehr als nur leichtes Training. Noch vor ein paar Wochen wäre mir der Aufstieg leichter gefallen. Kaum zu glauben, was dreißig Peitschenhiebe mit einem anstellten. Ich war vollkommen außer Form. Mühsam stemmte ich mich wieder hoch. Ich sollte trinken und das bald, aber nicht hier, wo mich ein geübtes Auge sehen konnte – von geübten Augen hatte ich genug. Einige Meter weiter umfingen mich bereits die Kiefern, die verbreitetsten Bäume in dieser Höhe. In meiner braunen Wanderkleidung wurde ich zu nichts als einem weiteren Stamm, der sich vielleicht ein wenig bewegte. Die Steigung hier war relativ flach und fiel bald wieder in eine kleine Senke voller alter Kiefernnadeln und flachwachsender Gräser ab. Ich fand den kleinen Bach, wo ich ihn erwartete. Gut, eigentlich verdiente der Bach die Bezeichnung ‚Bach‘ nur bedingt. Er war kaum mehr als ein Rinnsal, das weiter oben zwischen den Steinen hervortrat und in seinem eigenen, kleinen Bett den Berg hinab floss. Auf die Größe kam es in diesem Fall nicht an. Das Wasser hier war sauberer als die meisten anderen Quellen der Gegend, auch wenn ich auch hier lieber auf Nummer sicher ging. Erschöpft ließ ich meinen Rucksack ins Gras fallen und mich daneben. Die Luft hier oben war dünn, doch die eigentlichen Probleme bereitete mir mein Rücken. Ihn noch für einen Moment ignorierend, fischte ich meine Wasserflasche aus ihrer Halterung und trank sie in langsamen Zügen leer. Träge füllte ich sie wieder auf, gab meinen Wasserreiniger dazu und ließ mich ganz zwischen die mittlerweile braunen Halme sinken. Für einen langen Augenblick lag ich einfach nur im Gras. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt blinzelte ich in den stahlblauen Himmel. Mein Rücken brannte noch immer, aber jetzt, wo ich ruhig lag, entspannte ich mich langsam. Mittlerweile war ich gut siebentausendfünfhundert Fuß über dem Meeresspiegel, und damit einige hundert Fuß niedriger, als ich es eigentlich hatte sein wollen, doch in diesem Moment kümmerte es mich nicht. Ich war froh, wieder hier draußen zu sein. Nur die Kiefern, der Bach und ich. Würde ich mir die Mühe machen aufzustehen und danach dem Bach den Berg hinunter folgen, so würde er mich zu einem kleinen Wasserfall führen. Dort unten gab es eine Lücke zwischen den Kiefern, durch die man den halben Distrikt sehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Die Aussicht war zu jeder Jahreszeit atemberaubend. Da war die Stadt mit ihren Wohnhäusern, ihren Manufakturen und ihrem zentralen Platz, auf dem Jahr für Jahr die Ernte stattfand. Außerhalb der Stadt konnte man bei guter Sicht die Eingänge zu den Minen und die Weinfelder an den sonnigen Südhängen sehen. Alles wurde eingerahmt von den immergrünen Wäldern, in denen Pelzjäger wie mein Vater ihre Fallen aufstellten. Die Luft hier oben war schon jetzt nicht nur dünn, sondern auch kalt. Mit dem nächsten Nordwind, das wusste ich, würde hier oben Schnee fallen und ein paar Wochen später würde vielleicht der ganze Distrikt unter einer weißen Schneedecke liegen. Auch wenn ich mir nicht die Mühe machte, aufzustehen und zu meinem kleinen Aussichtspunkt zu gehen, hatte ich das Bild vor meinem inneren Auge. Für den Moment war ich damit zufrieden genug. * * * Knack. Ich musste weggedämmert sein, doch das Geräusch weckte mich sofort. Noch im selben Moment saß ich aufrecht. Ohne hinzusehen, fingerte ich meinen kurzen Speer aus seiner Halterung an meinem Rucksack und lauschte. Knack. Ich konnte niemanden sehen, doch das irritierte mich nicht. Hier oben hörte man Dinge, lange bevor man sie sah. Was auch immer ich hörte, es musste sich zwischen den Kiefern befinden, eintausend Fuß von mir entfernt, vielleicht auch etwas weiter. Ich wusste, dass ich vorsichtig sein musste. Unten im Distrikt gab es Wälder und Tiere, aber ihre Bestände wurde streng kontrolliert. Dort lebte nur, was dort auch leben durfte. Das einzige, was die Tiere auf meiner Seite des Zaunes kontrollierte, war das Gesetz des Stärkeren. Wölfe, Bären und verlorene Mutationen des Kapitols trieb sich hier herum und vermutlich hatten viele davon nichts gegen ein Mittagessen einzuwenden. Knack. Knack. Ratsch. Ich hörte auf zu zählen und erlaubte es mir, meine Haltung ein wenig zu entspannen. So gefährlich die Tiere hier oben auch waren, so waren sie doch berechenbar. Sie verursachten nur selten Lärm, außer sie wollten Aufmerksamkeit erregen und selbst dann taten sie es eher durch Heulen, Bellen und Brüllen. Nein. Was auch immer sich durch den Wald bewegte, es veranstaltete so viel Lärm wie eine Axt. Es war definitiv kein Tier. Eigentlich war das kein Grund zur Erleichterung. Nicht nach meiner Showeinlage auf dem Hof der Akademie. Dennoch machten mir Menschen hier oben keine Angst. Es gab nur wenige Leute, die sich in diese Gegend trauten und Friedenswächter gehörten nicht dazu. Sie kamen einfach nicht hier hoch und wenn sie es taten, dann via Hovercraft. Außerdem kamen sie nie allein. Nein, was sich hier herumtrieb, ließ sich auf drei Typen herunterbrechen: Jäger, Leute, die gerne jagten und arme Seelen, die sich eher zufällig aber dafür heillos hierher verirrten. Man konnte es natürlich auch anders formulieren. Wilderer, Schüler der Akademie und Flüchtlinge traf es genauso gut, wenn nicht besser. Ich fürchtete keinen davon, schon gar nicht, wenn sie allein waren. Nicht mit meinem Speer in der Hand und mit dem – zugegebenermaßen angeknacksten – Selbstvertrauen eines Akademieschülers in meinem Hinterkopf. Lautlos stemmte ich mich in die Hocke und ließ mich auf die Knie zurück ins Gras fallen. Hier beim Wasser waren die Halme etwas höher, hoch genug, um mich zu verbergen, solang niemand zu genau hinschaute. Dann sah ich sie. Eine Gestalt erschien zwischen den Kiefern. Ihr langes blondes Haar glänzte im Sonnenlicht, genauso wie das Emblem der Akademie auf ihrer Brust. Für das Kapitol mochte es lediglich das Wappen einer Schule sein, aber in Distrikt 1 war es ein Zeichen der zukünftigen Karrieros – ein Zeichen von Macht. Wir trugen es auch außerhalb der Akademie mit Stolz und dem Gewissen, uns damit Gefallen erkaufen zu können. Es außerhalb des Distrikts zu zeigen, erschien allerdings selbst mir ein wenig arrogant. Zielstrebig trat meine Mitschülerin auf die Lichtung und schritt zum Wasser, vielleicht hundert Fuß bachabwärts von mir. Sie bemerkte mich nicht einmal, aber ich erkannte sie problemlos. Ihre Freunde – zu denen ich nicht gehörte – riefen sie Glimmer, ich blieb bei ihrer Trainingsnummer. 04/75. Ihre Eltern arbeiteten beide in einer der Schmuckmanufakturen und verdienten nicht so gut wie andere. Nicht unbedingt der Standardhintergrund für eine Schülerin der Akademie, aber in den reicheren Jahren bedeutete das nicht viel. Sie war in meiner Parallelklasse und keine Jägerin. Unsere Klassen trainierten regelmäßig miteinander, aber ihre Leistungen erschienen mir nicht herausragend. Mit dem Bogen war sie nur durchschnittlich, mit Messern nur mäßig. Ich hatte sie einmal beim Speerwerfen gesehen und danach glücklicherweise nie wieder. Was sie hatte, waren ein flinkes Schwert und Ausstrahlung. Sie wahr eine Johanna Mason im Karrieropelz. Hier oben half ihr das nicht. Hier war sie nicht mehr als ein weiterer überheblicher Akademieschüler mit zu viel Freilauf und zu wenig Erfahrung. Sie sah sich um, aber nicht sonderlich gründlich, dann kniete sie sich über das fließende Wasser. Kurz konnte ich den Griff ihres Schwertes sehen, das in einer Halterung an ihrem Gürtel steckte. Auf eine Entfernung von hundert Fuß war sie damit absolut ungefährlich. Mit ihrem Bogen war sie das auch, denn der klemmte nicht griffbereit an ihrem Rucksack. Beinahe schon über ihre Fahrlässigkeit amüsiert schüttelte ich den Kopf. Kurzentschlossen stemmte ich mich in den Stand. „Bist du sicher, dass du das trinken willst?“, rief ich ihr zu. „Du weißt nie, was stromaufwärts reingepinkelt hat.“ Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf, noch im selben Augenblick das Schwert in der Hand. Das Metall schnitt nur durch Luft. Hätte ich nur einen Fuß entfernt von ihr gestanden und nicht einhundert, sie hätte mich vielleicht zu Gulasch verarbeitet. Aber so? Fahrlässig. Mich bemerkte sie erst, als ich zu lachen begann. Aus Panik wurde Überraschung, dann Frustration und Wut. Für einen Moment sah sie ganz und gar nicht hübsch aus – was mich nur noch lauter lachen ließ. „Lunch“, grollte sie finster. „Solltest du nicht in der Akademie sein? Ich wette, Gloss wartet schon mit der Peitsche auf dich.“ Schlagartig verstummte ich. In ihren Worten schwang die Drohung mit, mich zu verraten, doch ich wusste, dass sie das nicht tun würde. Sie würde sich nur ins eigene Fleisch schneiden. So, wie sich die Fesseln in meine Handgelenke schnitten. Hinter mir knallte die Peitsche – Nein. Ich riss die Augen wieder auf, von denen ich nicht wusste, wann ich sie geschlossen hatte. Ruhe bewahren, Marvel. Das wird nicht passieren. Tief durchatmen. So ist es gut. Und jetzt würg ihr verbal eine rein. Ich holte Luft und zwang mich zu einem Grinsen. „Dasselbe könnte ich dich fragen, Äxtchen“, flötete ich mit so viel gespielter Heiterkeit, wie ich zustande brachte. „Denkst du, ein paar Narben auf deinem Rücken machen dich sexy? Ich dachte, das funktioniert nur bei Männern.“ „Wie dir?“, fragte sie und lachte. „Wohl kaum. Aber keine Sorge, Lunch, niemand wird mich züchtigen. Gloss hat mich auf die Jagd geschickt.“ Gloss hatte sie auf Jagd geschickt? Nun, das erklärte einiges. Vornehmlich die aktuelle Größe ihres Egos. „Du jagst? Und ich dachte schon, du wärst hier um Bäume zu fällen.“ Sie brauchte einen Augenblick, um meine Anspielung zu verstehen. Der Blick, den sie mir dann zuwarf, war allerdings recht eindeutig und die Übersetzung nicht jugendfrei. Sie wirbelte auf dem Absatz herum, das Schwert immer noch in der Hand. Kurz überlegte ich, ob ich sie wirklich gehen lassen sollte. So, wie sie durch den Wald marschierte, vertrieb sie ihre Beute vermutlich lange, bevor sie sie sah, während sie gleichzeitig sämtliche Jäger der näheren Umgebung auf sich aufmerksam machte. Wenn ich sie jetzt gehen ließ, würden sich sämtliche 04/75-Probleme, die ich je gehabt hatte und noch haben würde, vielleicht binnen weniger Stunden in Wohlgefallen auflösen. Zugegeben, der Gedanke gefiel mir. Dann allerdings überwog doch die Neugier. Wenn Gloss sie auf Jagd geschickt hatte, war sie eine heiße Kandidatin für die nächsten Hungerspiele. Entweder das, oder Mittagessen – nicht für irgendwelche Tribute, sondern für ihre Beute. Es galt nur herauszufinden, was davon zutraf. Ich setzte mein bestes Grinsen auf. „Hab ich dir den Durst vergrault?“, fragte ich trocken. „Ich hab‘ne volle Flasche hier. Die und Fleisch. Du?“ Sie hielt inne. Ich konnte förmlich sehen, wie ihr Magen knurrte. Normalerweise wurden wir in Distrikt 1 satt. Wir bekamen genügend Getreide und Gemüse und Tesserae nahmen die meisten nur, um ihre Chancen bei der Ernte zu erhöhen. Aber Fleisch war auch hier keine alltägliche Sache. In den reichen Familien gab es in der Woche täglich Fleischmahlzeiten, aber die wenigsten Leute hier waren reich. Nur, weil wir Reichtum produzierten, hieß das nicht, dass wir ihn auch behielten. Leute wie Glimmer sahen Fleisch vermutlich nur in der Akademie und das Fleisch, was es dort gab, kam vom Sojahasen. Nur während eines Siegjahres – das wir gerade nicht hatten – war das anders. Und für mich natürlich. Meine Vater war Fallensteller, meine Mutter arbeitete in einer Pelzmanufaktur. Eigentlich ging es dem Kapitol nur um die Felle, was es nicht davon abhielt, seinen Bewohnern zu verbieten, das Fleisch zu behalten. Im Gegensatz zu mir hielten meine Eltern die ungeschriebene Regel ein. 04/75s Eltern hingegen kamen nicht einmal in die Versuchung. „Ich habe selbst genug Vleisch, Lunch“, erwiderte sie brüsk, doch ihre Haltung verriet sie. Ich konnte es natürlich nicht sehen, aber mir war klar, dass ihr das Wasser im Munde zusammen lief. Vleisch – das Zeug, das wir in der Akademie auf die Teller bekamen – war eine Sache. Fleisch spielte in einer ganz anderen Liga. Ich fand mein Grinsen wieder. „Nicht Vleisch, 04“, antwortete ich süffisant. „Kaninchen.“ Das war – natürlich – eine Lüge, aber nur eine kleine. Vermutlich wollte 04/75 ohnehin nicht wissen, dass ihr Biber auftischen würde. Sie zögerte, dann gewann der Appetit. „Einen Laib Käse“, antwortete sie. „Und Brot.“ „Aus deinen Tesserae?“ „Von der Akademie.“ Ich grinste noch ein wenig breiter, während ich die Arme wie zu einem herzlichen Willkommen ausstreckte. „Sei mein Gast.“ * * * Wir aßen schweigend. Nur, weil ich meinen Biber mit ihr teilte, wie mit einem Freund – oder, um es anders zu formulieren: Nur weil ich sie erfolgreich bestochen hatte – machte uns das noch längst nicht zu Freunden. Wir waren immer noch nur Mitschüler der Akademie. Sie 04/75, die Favoritin für die nächsten Spiele, ich Lunch, ihr Mittagessen. Irgendwie eine abartige Metapher, wenn man bedachte, wer den Biber zuschoss. Aber immerhin: Zumindest brachte sie in dieses Mittagessen mehr mit ein, als ein Messer und wenn es nur ein Stück Käse und ein paar Scheiben Brot waren. Schließlich, zwischen zwei Bissen Biber, stellte ich die Frage, von der sie wusste, dass sie kommen musste. „Also?“ Ja, natürlich, ich hätte ausführlicher sein können und höflicher und … was auch immer. Aber sie verstand auch so, worauf ich hinaus wollte und glücklicherweise ersparte sie uns beiden die Ich-bin-eine-dumme-Blondine-Nummer und spuckte die Information aus, die ich für meinen Biber wollte. „Bär.“ Augenblicklich verschluckte ich mich an meiner Biberkeule. Hustend und würgend sah ich zu ihr auf. „Aber mich nennst du Lunch, huh?“ Beleidigt verzog sie das Gesicht, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte. Natürlich, sie versuchte, mich mit einem brüsken „Gloss hat vollstes Vertrauen in mich.“ abzuwimmeln, aber ehrlich – so blöd war nicht mal ich und ich war der Idiot, den man bei einer illegalen Zaunüberquerung erwischt hatte. Wirklich sehr von ihr überzeugt schnaubte ich. „Ja, natürlich ist er das. Vor allem darin, dass du nicht wieder kommst.“ Ja, der Kommentar war nicht nett, zugegeben. Genauso wenig nett war allerdings die Idee, mich mit ihrem Schwert zu kitzeln, mit der 04/75 für einen Moment lang zu spielen schien. Und ehrlich: Nur, weil er nicht nett war, machte ihn das nicht weniger war. Niemand mit einer gesunden Portion Verstand ging allein auf Bärenjagd. Niemand mit einer gesunden Portion Verstand ging überhaupt auf Bärenjagd. „Warum sitze ich hier, nochmal?“, fauchte sie. Gute Frage, dachte ich. Und dann: Ah, ich weiß. Ich habe dich bestochen. Aussprechen tat ich nichts davon. Stattdessen überlegte ich kurzfristig, ob 04/75 von der Kitzel-Idee Abstand genommen hatte. Ja, ja, hatte sie vermutlich. Sie klammerte sich eindeutig zu sehr an ihren Biber, um die Idee wirklich in die Tat umzusetzen. „Ich bin der Junge mit dem Fleisch?“ Mein Grinsen war vielleicht ein wenig zu dick aufgetragen. „Das ist kein Kaninchen, oder?“ „Tu so, als wäre es Kaninchen“, empfahl ich trocken und immer noch grinsend, nur um gleich darauf das Thema zu wechseln. „Also Bären? Wie gut stehen die Chancen, dass du ihm statt Bären Beeren bringen kannst?“ Ja, vermutlich standen sie ziemlich scheiße, aber das hielt mich noch längst nicht davon ab, den Vorschlag zu bringen und mir den Kanten meines Brotes in den Mund zu schieben. Ihr Blick glitt indes zu ihrem Schwert, aber ihre Finger blieben beim Biber. „Lunch, ich warne dich …“ „Keine gute Idee?“ 04/75 warf mir einen sehr eindeutigen Blick zu – Marke Warum-rede-ich-überhaupt-mit-dir im übrigen – und stand auf. „Ich soll mich beweisen, nicht mich lächerlich machen, du Idiot!“ Mit wütenden Bewegungen begann sie, ihr Zeug einzusammeln. Ihren Rucksack, ihre Jacke, ihr Brot und ihren Käse. Dass sie die letzten beiden Sachen mit mir aufgeteilt hatte, schien sie vergessen zu haben, aber meinen Biber gab sie mir trotzdem nicht zurück. Ich seufzte theatralisch und verbannte meinen eigenen Teil vom Fleisch wieder in seine wasserdichte Verpackung in meinem Rucksack. „Nein, du sollst dich in deine Einzelteile zerlegen lassen“, antwortete ich, während ich ihre Wasserflasche im Bach auffüllte. „Um ehrlich zu sein, würde ich es an deiner Stelle vorziehen, mich lächerlich zu machen.“ „Damit ich ende wie du?“ Ich musste nicht fragen, was 04/75 damit meinte. Für einen Moment durchdachte ich ihre Anspielung. Würde sie enden wie ich? Früher – vor meiner Eskapade auf dem Schulhof – hätte ich das konsequent ausgeschlossen, nicht zuletzt, weil sie eine Favoritin für die nächsten Spiele war. Diese Naivität hatte Gloss mir vor drei Wochen ausgeprügelt. Vermutlich lautete die Antwort in der Tat ja. Möglicherweise blieben ihr tatsächlich nur die Bären. „Argument“, antwortete ich widerwillig. Im Hinterkopf überschlug ich derweil meine eigenen Optionen. Ich könnte natürlich einfach im Gras sitzen bleiben und die Spätherbstsonne genießen, während ich sie in ihren Untergang laufen ließ. Leider war ich eine herzensgute Person. … Okay, war ich nicht. Mich trieb nicht einmal der Akademiedrill, meine potentiellen Mittribute unterstützen zu müssen, nein. Der Gedanke, eine Favoritin für die nächsten Spiele zu haben, die bei einem in der Kreide stand und die Aussicht auf einen guten Lacher waren viel verlockender. Das Ergebnis war dasselbe. Entschlossen warf ich ihr ihre Flasche zu. 04/75 fing sie mit den Reflexen einer Akademieschülerin, nur um mich dann irritiert anzustarren. Ja, Äxtchen, das Mittagessen hatte eigene Ideen, dachte ich grimmig, während ich meine eigene Flasche auffüllte. Das lernst du als Jäger früh genug. Ups. Du bist ja keiner. Natürlich hörte sie meine Gedanken nicht, musterte mich stattdessen nur argwöhnisch. Ich ignorierte ihren Blick und verstaute meine Flasche. Gelassen überprüfte ich die Schnürung meiner Wanderschuhe und die Halterung meines kurzen Speers. Vermutlich hätte ich doch mehr als den einen Mitnehmen sollen, aber woher sollte ich auch wissen, dass ich auf Bärenjagd gehen würde? Eben. Den Rucksack auf meine Schultern zu wuchten war keine angenehme Aufgabe, aber ich tat es trotzdem. Spätestens jetzt musste es ihr dämmern und tatsächlich. Kaum sah ich sie an, erhob sie wie auf Kommando die Stimme. „Was tust du da?“, fragte sie, obwohl sie vermutlich lieber ‚Bleib sitzen, wo ich dich sehen kann und rühre dich nicht, bis ich auf der anderen Seite des Berges bin‘ gesagt hätte. „Wonach sieht es aus?“, erwiderte ich, „Ich begleite dich.“ „Das wirst du nicht tun.“ Die Worte, die 04/75 eigentlich sagen wollte, lagen ihr immer noch auf der Zunge, ich sah es ihr an. Um ihren Worten – die gesagten und die gedachten – Nachdruck zu verleihen, drehte sie sich auf dem Absatz um und trampelte davon. Dummerweise war ich selbst ebenfalls marschbereit. Ohne viel Mühe setzte ich ihr nach. Zugegeben, meine langen Beine halfen dabei. „Warum sollte ich es nicht tun?“, fragte ich unschuldig – oder so unschuldig, wie ich eben konnte. Sie warf mir nicht einmal einen Blick zu, während sie mir antwortete: „Das ist meine Aufgabe. Ich darf keine Hilfe anderer Akademieschüler annehmen.“ „Ach, plötzlich bin ich in deinen Augen wieder ein Akademieschüler? Ich dachte, ich sei für dich Mittagessen.“ „Du bist für mich Mittagessen.“ „Aber wenn ich für dich Mittagessen bin, dann bin ich nicht mehr als Dreck unter deinen Schuhen und damit kein ordentlicher Akademieschüler. Ich bin nur noch an der Akademie, weil man mich noch nicht rausgeworfen hat. Seit wann definierst du das als Akademieschüler?“ Diese Worte auszusprechen tat weh, vermutlich hörte sie das in meiner Stimme, aber leider waren sie wahr. Gut möglich, dass man mich demnächst vor die Tür setzen würde. Ich würde ohnehin nicht an den Spielen teilnehmen und das machte mich zu einem überflüssigen Esser. Das einzige, was sie davon abhielt, war vermutlich die Hoffnung, dass ich freiwillig ging. Das war billiger. 04/75 seufzte. „Na schön. Aber warum solltest du mich begleiten?“ „Man hat mich darauf gedrillt, in der Arena für meine Distriktpartnerin zu sorgen?“ Zumindest bis zum notwendigen Auseinanderbrechen der Allianz. „Das hier ist nicht die Arena, Lunch.“ „Also theoretisch … Denk mal darüber nach. Wir sind hier mitten in der Wildnis. Ein unter Strom stehender Zaun soll dafür sorgen, dass wir auf dieser Seite bleiben. Es gibt hier wilde Tiere und Mutationen. Wenn wir auf andere Menschen oder auf Spielzeuge des Kapitols stoßen, sind wir geliefert. Ich finde, das qualifiziert.“ Ich setzte mein gewinnendes Lächeln auf. „Also? Haben wir ein bäriges Date?“ * * * Bereits nach wenigen Minuten des gemeinsamen Wanderns war mir eines klar geworden: 04/75 würde diesen Bären niemals alleine finden, sollte sich der Bär nicht dazu entscheiden, sie zu finden. Sie machte so viel Lärm wie eine Planierraupe, nur nicht so viel Dreck. Immer, wenn ich sie darauf hinwies, wurde sie wütend und was folgte, war laut genug, um kilometerweit gehört zu werden. Irgendwann gab ich es auf und lauschte ihr dabei, wie sie jeden Stein auf dem Weg traf und jeden Zweig zerbrach. Die Kiefernnadeln dämpften ihre übrigen Schritte zumindest ein wenig. Ansonsten war der Trip recht erholsam. Meine Begleiterin verbrachte viel Energie damit nach Bären zu lauschen und weniger damit sich fortzubewegen. Auf meiner Tour den Berg hinauf hätte ich auf ein höheres, fordernderes Tempo gesetzt, auch um die Nacht nicht in unwegsamen Gelände verbringen zu müssen, aber bei ihrer Geschwindigkeit konnte ich problemlos mithalten. Vielleicht hatte meine egoistische Entscheidung also doch mehr Vorteile, als ich zunächst erwartet hätte. Selbst mit meinem schmerzenden Rücken konnte ich mich nicht überanstrengen. Ich schwitzte nicht und mein von meiner Klettertour klamme Unterwäsche hatte Gelegenheit, durch meine Körperwärme zu trocknen. Trotz des Lärms meiner Begleitung entspannte ich mich langsam. 04/75s Getrampel konsequent ausblendend horchte stattdessen in den Wald hinein. Das war schwierig, nicht nur weil sie mich dauerhaft ablenkte, sondern auch, weil die meisten Tiere auf Abstand gingen, sobald sie uns hörten. Das, was blieb, waren die letzten Insekten des Herbstes, ein schwaches Summen zwischen dem Rauschen der Nadeln. Manchmal gesellte sich das Plätschern eines Baches hinzu. Zwischen all dem sangen die Vögel, die nicht in den Süden gezogen waren, darunter auch Mockingjays, die ihre Lieder spielerisch über weite Distanzen hinweg austauschten. Früher hatte ich ich oft versucht, zu den Vögeln zu singen, doch keiner hatte meiner Melodien erwidert. Heute genügte es mir vollkommen, ihnen zuzuhören und den Geruch von Kiefernnadeln einzuatmen. Vermutlich war das alles zu viel Ruhe und Entspannung auf einmal. Es kam, was kommen musste. 04/75 schrie. Ich sah sie fallen, einen Moment nur, rückwärts. Dann krachte sie mit ihrem Gewicht in meine offenen Arme. Ihr Rucksack presste mir die Luft aus den Lungen. Ich weigerte mich zu fallen, hielt aber nur mit Mühe mein Gleichgewicht, dann hatte ich sie. Für einen Moment verharrten wir so, atmeten tief durch und warteten auf die Reaktion des jeweils anderen. 04/75 war die erste, die sich rührte. Wie von einer Tarantel gestochen sprang sie aus meiner Umarmung. Und ja, sie sah angeekelt aus. Miststück. „Ein Danke hätte es auch getan, weißt du?“, flötete ich spöttisch. Das brachte sie in Rekordzeit auf hundertachtzig. „Du hättest mich ja nicht fangen brauchen“, fauchte sie zurück, doch wirklich – das konnte ich nicht ernstnehmen. Nicht, nachdem ich sie hatte mit den Armen rudern sehen. „Und mir dein Gejammer über deine ruinierte Frisur anhören? Du solltest echt aufpassen, wo du hintrittst. Mittlerweile solltest du wissen, dass hier überall Wurzeln und Ranken sind.“ „Das war keine Wurzel!“, erwiderte sie giftig. „Das war – Oh, igitt!“ Sie blickte zurück auf das, worüber sie gefallen war – nur um noch einen weiteren Satz nach hinten zu machen. Ich folgte ihrem Blick mit dem mein. Okay, das erklärte, warum sie plötzlich so aussah, als wolle sie kotzen. Das, was dort auf dem Boden lag, war tatsächlich keine Ranke und ja, für Mädchen wie 04/75 legitimierte es auch Übelkeit, vermutlich nicht nur für Mädchen wie sie. Es war ein Vogel. Ein ziemlich toter, noch dazu. Er lag dort vermutlich schon eine Weile und 04/75s Stiefel hatte seinen Anblick nicht verbessert. „Das ist – war – ein Mockingjay“, erklärte ich, nur um im selben Moment festzustellen, dass die Mockingjays ihren Gesang eingestellt hatten. Vielleicht hatte 04/75 sie verschreckt, vielleicht hatten wir sie auch einfach nur hinter uns gelassen. Was blieb, war das entfernte Summen von Insekten und das Rauschen von Kiefern und Wasser. „Mir egal, was es war – das ist abartig.“ Ich kam nicht umhin zu grinsen. „In der Arena würdest du das essen.“ Sie zog die Brauen zusammen. Ein Sturm braute sich in ihren grünen Augen zusammen. „Nein, würde ich nicht.“ „Wenn du am Verhungern bist schon.“ „Ich werde aber nicht am Verhungern sein“, fauchte sie zurück und offenbarte damit beste Karriero-Logik. „Ah, richtig, darum nennen es die Hungerspiele.“ „Was nichts daran ändert, dass die Karrieros das Füllhorn haben.“ Oh. Ja, richtig. Ich erinnerte mich. Die Karrieros hatten das Füllhorn. Das war eine goldene Regel bei den Spielen – die Karriero-Allianz sicherte sich das Füllhorn, die anderen bekamen die Reste. Ausnahmen ausgeschlossen. Schließlich gab es keine Reptilien-Mutationen oder Flutwellen. Nein, wirklich. Sehr von ihrer Argumentation überzeugt verdrehte ich die Augen. „Stimmt, du hast recht“, verkündete ich, nur um dann im besten Kapitol-Singsang hinzufügen: „Fröhliche Futterspiele und möge das Kaninchen stets mit euch sein!“ Sie starrte mich für einen Moment finster an. Ich konnte förmlich sehen, wie sie sich fragte, was das vorhin für ein Kaninchen gewesen war. Nun, ein Biber-Kaninchen. Nicht, dass sie das wirklich wissen wollte. Ich jedenfalls würde es an ihrer Stelle nicht wissen wollen. Zu dem Schluss kam sie wohl auch. Wütend wandte sie mir den Rücken zu und stapfte weiter, doch das ließ mich nur noch lauter lachen, während ich ihr durchs Unterholz folgte. Knack. Das Geräusch hallte durch den Wald, vielleicht tausende Fuß weit. Dieses Mal war es nicht 04/75. Augenblicklich verstummte ich, konzentriert lauschend. Knack. Da. Wieder. Dieses Mal zwischen zwei von 04/75s Schritten – definitiv nicht ihr Verdienst. Kurz darauf wurden die einzelnen Geräusche zu einem Intervall, mit 04/75s Getrampel zu einer Kakophonie. Irgendwas näherte sich. Größer und schwerer als ein Mensch. Und schneller. Meinen Blick zwischen die Kiefernstämme gerichtet, tastete ich nach meinem Speer und löste ihn aus seiner Halterung. Ich hörte, wie 04/75 stoppte. Die Kiefernnadeln unter ihren Füßen raschelten, als sie sich umdrehte, aber sie konnten die anderen Geräusche nicht mehr übertönen. „Lunch, hast du es dir – Hey! Was wird das jetzt?“ Sie klang alarmiert. Vielleicht glaubte sie, ich würde jetzt endgültig in den Arena-Modus schalten. Vielleicht tat ich das auch, keine Ahnung. Ich ließ meinen Rucksack zu Boden gleiten und schenkte ihr keine Beachtung. In meinem Augenwinkel sah ich, wie sie nach ihrem Schwert griff, die Augen immer noch auf mich gerichtet. Sie war wirklich keine Jägerin. Missbilligend schnalzte ich mit der Zunge und rollte mit den Augen, einfach um sehr, sehr deutlich zu sein. 04/75-deutlich, sozusagen. Das reichte trotzdem nicht. „Mach deinen Bogen fertig“, wies ich sie an. „Wir kriegen Gesellschaft.“ Nun, immerhin eindeutige, verbale Befehle schien sie zu verstehen. Wenigstens etwas. „Menschen?“, fragte sie, ohne sich zu rühren. Immerhin klang sie jetzt alarmiert und das nicht wegen dem spitzen Ende meines Speeres. „Unwahrscheinlich“, gab ich zurück, den Wald mit den Augen absuchend. „Aber vielleicht findet uns dein Bär.“ Und das tat er. Der Schatten brach durch das Holz, kaum dass 04/75 ihren Bogen spannte. Eine Sekunde lang hoffte ich mit all meinem Karma auf einen Schwarzbären. Kein Glück. Statt einem kleinen, handlichen Schwarzbären sah ich den größten Grizzly, den ich je in meinem Leben hatte sehen wollen. Eigentlich hatte ich ihn nicht einmal sehen wollen. Er stoppte keine hundert Fuß von uns entfernt. Groß, dunkelbraun und … irgendwas war komisch, auch wenn ich unsicher darüber war, was. Dann, plötzlich, realisierte ich es. Der Bär beäugte uns nicht, als seien wir sein langersehntes Mittagessen. Eher, als sei er unser langersehntes Mittagessen. Nein – eher als hätte er nicht mit uns gerechnet, als sähe er uns zum ersten Mal. Das wiederum bedeutete – er jagte nicht. Er wurde gejagt. Shit. Vorsichtig machte ich einen Schritt zurück, ein halbes Auge nicht auf den Bären sondern den Wald dahinter gerichtet. Ich öffnete meinen Mund, um meine Begleiterin zu warnen, da realisierte ich zwei weitere Dinge. Erstens: Die einzigen Lärmquellen in diesem Teil der Rockys waren 04/75, der Bär, der Wald und ich. Und zweitens: Der Bär schwankte. Es war kein besonders auffälliges Schwanken, nur eine schwache, unkoordinierte Bewegung, als er den Kopf drehte, um mich anzusehen. Fast, als könne er mich nicht richtig fokussieren. Beides waren Dinge, die ich früher hätte bemerken müssen, doch jetzt, wo ich es tat, gingen in meinem Hinterkopf gleich eine ganze Reihe von Alarmglocken los, ohne dass ich hätte identifizieren können, wovor genau sie mich warnten. Es war auch egal – Ich wusste, das ich verschwinden sollte und zwar schnell. Ein Surren drang an mein Ohr. Ich schreckte auf – dann sah ich den Pfeil einschlagen. Leider war 04/75 immer noch keine Jägerin. Sie traf den Bären – zwischen Haut und Fett. Das tat weh, keine Frage, aber so ein Bär hatte kurz vor dem Winterschlaf ziemlich viel Haut und noch mehr Fett. Statt ihn tot umkippen zu lassen, hatte sie etwas ganz anderes erreicht: Der Bär fokussierte seinen Blick. Auf uns. Und er sah nicht so aus, als wollte er sie zum Kaffeekränzchen einladen. Aber vielleicht zum Mittagessen. Automatisch machte ich einen Schritt zurück und hob ich den Speer. „Dieser Bär gehört mir!“ Ah, richtig. 04/75 und ihr Ego. Himmel, sie war wirklich keine Jägerin. Immerhin war sie schnell darin, ihren Bogen zu spannen. Der Bär spannte auch etwas – seine Muskeln. Binnen Sekundenbruchteilen war er bereit zum Angriff. Jetzt war der Zeitpunkt, auf den nächsten Baum zu klettern und zwar hoch. Stattdessen versicherte ich mich meines Schrittes, ohne den Speer zu senken. „Pass bloß auf, dass du nicht dem Bären gehörst.“ Ich hörte sie schnauben. Vielleicht war unser Wortwechsel der letzte Tropfen im Weinfass. Der Bär griff an. In meinem Augenwinkel zuckte 04/75 zusammen. Vielleicht hatte sie verstanden, dass ihre Bitte eine verdammt dumme Idee gewesen war. Vielleicht hatte sie auch nur realisiert, dass so ein Grizzly beinahe eine halbe Tonne wog. Ich wartete nicht ab, ob sie sich für schießen oder Bogen wegwerfen und auf den nächsten Baum klettern entschied. Ich warf. Der Bär war nicht so schnell, wie ich erwartet hatte, mein Speer verfehlte seinen Kopf um wenige Zoll. Grunzend kam das Tier zu einem schlitternden Stopp. Scheinbar flogen ihm nicht täglich Waffen um die Nase. Bevor ich nach dem Messer in meinem Stiefel greifen konnte, traf der Pfeil. Tief und nicht nur Fett, vielleicht dieses Mal etwas lebenswichtiges. Skeptisch beäugte ich 04/75 aus dem Augenwinkel. Scheinbar hatte sie sich gegen das Klettern entschieden. Vielleicht hatte sie sich auch nur nicht für einen Baum entscheiden können. Angestrengt atmend blickte sie an ihrem Bogen entlang. Für einen Augenblick starrten der Bär und sie sich an. Er schwankte, stärker, dann verlor er Blickkontakt und fiel. Einfach so. Fast wie in Zeitlupe. 04/75 fiel nicht, dafür zitterte sie wie Espenlaub. „Ist … Ist er tot?“ Eine der Pranken des Tieres bewegte sich, unkoordiniert, wie zur Antwort. Ein gequälter Laut entwich seiner Kehle. Es war kein Geräusch, dass ein Tier ausstoßen sollte, aber er tat es erneut. Seine Beine begannen zu zucken, ohne dass es ihm gelang, sich aufzurichten. Das Schreien des Bären hallte durch den Wald. Laut, kläglich, unwirklich. Meine Nackenhaare stellten sich auf und ein bitterer Geschmack stieg in meiner Kehle auf. Ich hatte schon genügend Tiere sterben sehen, genügend selbst getötet – aber das hier war falsch. Und zwar auf einer ganz neuen Skala falsch. „Bring es zu Ende“, sagte ich tonlos. Vielleicht war es eine Bitte, vielleicht ein Befehl. Ich konnte nicht sagen, ob ich überhaupt einen Ton über die Lippen bekam. Das Leiden des Bären übertönte alles, erstickte jeden anderen Ton in meinen Ohren. „Ich- ich-“ Ihr stottern klang weit entfernt. „Es ist dein Bär! Töte ihn!“ Sie tat es. Es dauerte qualvoll lange, aber sie senkte den Bogen und zog stattdessen ihr Schwert. Es waren ein kurzer Weg und ein schneller Stich, aber er fühlte sich an wie Stunden. Noch länger starrte ich einfach ins Leere, der Todeskampf hallte noch immer in meinen Ohren. Schließlich zwang ich mich dazu, zu sehen. Nicht zu dem Bären, nicht jetzt, aber ich musste zu mir kommen, bevor 04/75 merkte, dass ich neben der Spur war. Also hob ich den Blick und blinzelte. Einmal … zweimal … Kiefern kamen in meinen Fokus und der Himmel dahinter. Ich blinzelte ein drittes und ein viertes Mal, bevor ich realisierte, dass der Himmel nicht mehr blau war, sondern grau. Wann waren die Wolken aufgezogen? Das ging in den Bergen schnell, aber eigentlich bemerkte ich Wetterumschwünge, bevor sie mich kalt erwischten. Und noch etwas alarmierte mich: Die Luft erschien mir kühler. War das Nordwind? Shit. Verdammter Bär. Verdammte 04/75. Verdammte Akademie. Wenn hier oben etwas gefährlicher war, als verdammte Grizzlys, dann waren es Wetterumschwünge. Wir mussten hier weg, bevor wir herausfanden, was da aufzog. Ich senkte den Blick wieder, nur um zu sehen, das 04/75 noch immer auf den Bären einschlug – mit dem Schwertgriff. Irritiert beobachtete ich sie für einen Augenblick, dann schulterte ich meinen Rucksack und trat näher. „Was machst du da?“, fragte ich. „Das siehst du doch wohl, oder?“, fauchte sie zurück, ohne mit dem aufzuhören, was sie tat. Und ja, das wurde mir plötzlich klar, ich sah es. Die Trophäe. Sie brauchte ein Mitbringsel für Gloss. Einen Beweis, dass sie den Bären erlegt hatte. Und sie wollte einen Zahn. Andere Leute hätten sich etwas ausgesucht, dass sie abschneiden konnten oder abhacken. Ein Ohr, Fell, eine Klaue. Nicht 04/75 beinahe hätte ich gelacht, aber der Erinnerung an den Himmel blieb mir das Lachen im Halse stecken. „Beeil dich, das Wetter schlägt um.“ „Ja, ja. Wenn du mich weniger ablenkst, bin ich schneller fertig.“ Ich tat, was sie wollte. Für einen Moment stand ich stumm neben ihr. Der Kiefer des Kadavers knirschte bei jedem Hieb, aber die Zähne saßen fest. Ich ertappte mich dabei, wie ich an 04/75 und dem Bären vorbei ins Leere starrte. Die Schläge und das Summen der Insekten wurde zu einem Rhythmus, der sich in meiner Phantasie steigerte. Lauter, schneller … Halt. Das Summen wurde lauter. Adrenalin schoss in meine Adern, noch bevor ich realisierte, was das bedeutete. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Das Schweigen der Vögel. Der tote Mockingjay. Die Panik des Bären und sein Schwanken. Das Summen. Das Summen. Das verdammte Summen. Das waren keine Insekten, nicht mehr, nicht die üblichen Insekten. Ich Idiot. Ich riss die Augen auf und sah mich um. Unter mir ertönte ein Knacken, als einer der Reißzähne brach, dann Jubel. Ich hatte keine Aufmerksamkeit dafür über. „Ich hab‘s! Okay, wir können gehen.“ Dort. Halb im Fell des Kadavers sah ich, was ich suchte. Es war ein kleiner Körper. Etwas schweres schien ihn zerquetscht und zerrissen zu haben. Lange, glänzende Flügel ragten aus dem Fell hervor und dazwischen die Reste eines goldenen Chitinpanzers. „Lunch? Hörst du mir zu? Ich dachte, du hättest es eilig?“ Summen füllte meine Ohren, blendete alle anderen Geräusche aus. Die Flügel waren zu groß für eine normale Wespe. Viel zu groß. Und der Chitinpanzer war definitiv golden … „Ähm, Lunch? Das ist nicht –“ „Glimmer.“ Es war keine Frage. Ich bemerkte nicht einmal, dass ich ihren Vornamen verwendete. Ich hörte nur den Alarm in meiner Stimme. „Lauf. Dreh dich nicht um und bleib nicht stehen. Lauf. So schnell du kannst.“ „Was –“ „LAUF!“ Ich wartete nicht darauf, dass sie verstand. Ich wirbelte herum, griff ihren Arm und rannte. Automatisch wählte ich die Richtung, in die auch der Bär gerannt war, hangabwärts. „Was soll das? Lunch!“ Ich zerrte sie weiter. „Hör auf, du Idiot!“ Sie riss an meiner Hand. Einen Augenblick stolperte sie, doch ich ließ nicht zu, dass sie fiel. Ich würde sie nicht loslassen. „Meine Pfeile – und ich wollte –“ „Keine Zeit!“ „Was ist los?“ „Halt‘s Maul und Lauf!“ „Wa – AU! Was war das?“ „LAUF!“ Ich spürte, wie Panik sie ergriff. Dann – endlich – rannte sie. * * * In der Akademie ließen sie uns zum Frühstück eine Meile rennen und jeden Freitag Crosslauf durch wechselndes Terrain. Das hier war anders. Vermutlich brach ich all meine Rekorde. Ich verlor meine Orientierung. Meine Lungen und mein Rücken brannten und Blut rauschte in meinen Ohren. Die Stiche, die mich erwischten, loderten in meinem Nacken und an meinen Händen wie ein Waldbrand. Mehr als einmal wäre ich beinahe gefallen. Pure Willenskraft und drohendes Summen hinter mir hielten mich aufrecht. Durch Zufall fanden wir den Bach, den ich vorhin gehört hatte. Den oder einen anderen, scheißegal. Wir mussten uns nicht absprechen. Wir folgten seinem Bett stromabwärts. Unsere durchweichten Schuhe waren egal. Unsere durchweichten Hosen waren egal. Wir rannten. Nur weiter, weiter und immer weiter. Der Bach erreichte eine Senke entgegen seiner Fließrichtung, in der sich sein Wasser in einem Weiher sammelte. Ich ignorierte jede Regel bezüglich unbekannter Gewässer, die ich je in meinem Leben gelernt hatte, und ließ mich fallen. Gefühlte Stunden später spürte ich, wie ein zweiter Körper neben mir einschlug. Glimmer. In diesem Moment hätte ich ertrinken können. Es war mir egal. Dann erinnerten sich meine Lungen an die Luft, die sie nicht hatten. Panisch strampelte ich mich zurück an die Wasseroberfläche. Ich schnappte nach Luft, dann begann das Husten. Vielleicht verlor ich kurz mein Bewusstsein, keine Ahnung. Das nächste, woran ich mich erinnere, war mein Mageninhalt zwischen den Grashalmen. Entgeistert starrte ich das Gemisch aus halb verdautem Biber und Käse an und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass es zurückstarrte. Vielleicht begannen die Halluzinationen. Vielleicht war es auch einfach nur eklig genug. Angewidert ließ ich mich zur Seite ins Gras fallen. Ich spürte, wie Wasser gegen meine Beine schwappte, doch ich hatte keine Energie mehr, um mich komplett an Land zu ziehen. Für einen langen Moment konnte ich nicht mehr tun, als in den grauen Himmel über mir zu schauen und mich zu fragen, warum mir kalt wurde. In den Weiher zu springen, war definitiv eine meiner dümmeren Ideen gewesen. Jede Jägerwespe, die uns verfolgt hätte, hätte einfach gewartet, bis wir wieder – Halt. Uns. Uns, uns, uns. „Glimmer!“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen, doch plötzlich fand ich genug Energie, um mich aufzusetzen. Panisch sah ich mich um, konnte sie aber nicht entdecken. Verdammt. Sie war doch direkt hinter mir – „Hier.“ Ich zuckte zusammen, dann endlich sah ich sie, keine zehn Fuß entfernt, halb verborgen im Schilf. Unwillkürlich atmete ich auf, entspannte mich. Nein. Ich hatte keine Zeit, mich zu entspannen. Ich gab mir selbst eine Ohrfeige, versuchte, meine Konzentration zu fokussieren. Ich bin Marvel. Nummer 19/75. Lunch. Ich bin ein Schüler der Akademie. Ich befinde mich außerhalb meines Distrikts und außerhalb jeder Möglichkeit, Hilfe zu bekommen. Glimmer, Nummer 04/75, ist bei mir. Das Wetter ändert sich, hoffentlich Regen, vermutlich Schnee, beides scheiße. Wir wurden von Jägerwespen gestochen. Die Halluzinationen werden bald einsetzen. Wir schaffen es … Wir schaffen es nicht in den Distrikt. Irgendwie fing ich wieder an zu funktionieren. Stöhnend löste ich meinen Rucksack von meinen Schultern und rollte mich in eine kniende Position. „Du musst aus dem Wasser raus.“ „Was?“ „Raus aus dem Wasser. Jetzt.“ Mühsam zog ich mich selbst an Land und stand auf. Jetzt, wo ich nicht mehr lief, fiel mir jede Bewegung unglaublich schwer. Dennoch schleppte ich mich zu ihr und griff nach ihrem Arm. Ohne auf Protest zu achten, zog ich. Sie kroch halb, stolperte halb hinterher, beinahe wären wir wieder gefallen, dann standen wir beide, unschlüssig, ob wir umfallen würden, wenn wir einander losließen. Es war Glimmer, die als erstes wieder zu denken begann. Frische Panik erschien in ihrem Blick. „Oh mein Gott, dein Arm! Was ist passiert?“ Träge folgte ich ihrem Blick zu meiner linken Hand. Mein Handgelenk war beinahe auf die doppelte Größe angeschwollen. Das war mindestens ein Stich. Und hatte es mich nicht auch im Nacken erwischt? Jetzt erreichte die Panik mich, mobilisierte vielleicht die letzten Energiereserven, die ich hatte. „Das ist ein Stich. Ich werd‘ es überleben. Wo haben sie dich erwischt?“ „Ein Stich? Was für ein Stich? 19, was hat uns verfolgt?“ Kurz suchte ich ihren Blick, überlegte, ob ich es ihr wirklich sagen sollte. Vermutlich ahnte sie es ohnehin. „Jägerwespen.“ Jegliche Reste von Farbe, die sie noch hatte, wichen aus ihrem Gesicht. „Ich hatte befürchtet, dass du das sagst“, erwiderte sie und klang hysterisch. „Was sollen wir tun? Wir müssen zurück in den Distrikt –“ „Wir schaffen es nicht in den Distrikt. Bleib ruhig.“ Gut, die Nachricht war kein Grund, um ruhig zu bleiben. Vermutlich wusste sie das auch. Zu meiner Überraschung tat sie es trotzdem. „Was soll ich tun?“ Ich atmete tief durch. Wie viel Zeit blieb uns? Fünf Minuten? Zehn? Fünfzehn? Mir war schwummrig, vermutlich würde es noch schlimmer werden. Und dann würden die Halluzinationen beginnen. Eher fünf Minuten statt fünfzehn. Verdammt. „Wir brauchen einen Unterschlupf. Eine Felsspalte, einen umgestürzten –“ „Dort drüben!“ Ich folgte ihrem Fingerzeig mit dem Blick. Was ich sah, war ein umgestürzter Nadelbaum. Keine Ahnung, wie lang er dort schon lag. Er hatte genug Äste, um sich darunter zu verstecken, zumindest sah er danach aus. Das war schnell. „– Baum“, beendete ich meinen Satz, bevor ich mich stoppen konnte. „Gut. Nehmen wir den. Hast du deinen Rucksack noch?“ „Ja. Du?“ „Ja.“ Beinahe zeitgleich bückten wir uns nach unserem Gepäck. Ich hörte sie wühlen, während ich das Gleiche tat. Mein Schlafsack lag obenauf. Unter seiner Schutzhülle war er immer noch trocken. Ich war noch nie so froh, über den Packdrill in der Akademie. Vor meinen Augen wechselte die Hülle ihre Farbe. Von braun zu blau, grün … Ich blinzelte. Die Hülle wurde wieder braun. Verdammt. Ich hatte definitiv keine fünfzehn Minuten. Ich verwarf die Idee, nach meiner Zeltplane zu suchen, Stattdessen rappelte ich mich erneut auf und schliff meinen Rucksack die paar dutzend Fuß zu der umgestürzten Kiefer. Oder war es eine Tanne? Egal. Ich musterte den Boden unter den Ästen. Tatsächlich fand ich eine Kuhle, die groß genug war. Mit fahrigen Bewegungen befreite ich den Schlafsack aus seiner Hülle, und warf ihn in die Kuhle und meinen Rucksack hinterher. Das Geräusch von Schritten informierte mich darüber, dass Glimmer zu mir kam. „Mein Schlafsack ist nass.“ Ich warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie schwankte und mit ihr bewegte sich ihr Akademieabzeichen, nur in die andere Richtung. Die Buchstaben waren plötzlich kleine, goldene Schlangen – Nein. Ich blinzelte. Sie schwankte noch immer, aber das Abzeichen war wieder nur ein Abzeichen. „Wir nehmen meinen.“ „Okay. Mir ist kalt.“ Das erste Wort allein hätte mich schon in Panik versetzen müssen, stattdessen erinnerte ich mich nur daran, dass mir auch kalt war. Sie hatte auch keine fünfzehn Minuten. Verdammt. Egal. Was jetzt? Ihr war kalt. Der Wetterumschwung. Wir mussten uns warmhalten. „Zieh dich aus.“ „WAS?“ Okay, sie war noch nicht so weggetreten, wie ich dachte. Für einen Moment starrten wir uns beide ungläubig an. Ich begann damit, am Reißverschluss meiner Jacke zu ziehen. „Du bist klatschnass. Wir können – Wir können kein Feuer machen. Wenn du nicht erfrieren willst … zieh dich aus, bitte.“ Ich sah nicht noch einmal zu ihr, um festzustellen, ob sie es tat. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass sich ihr Abzeichen wieder bewegen würde und das wollte ich nicht sehen. Außerdem begannen die Nadeln unter meinen Füßen Funken zu sprühen … Endlich gab der Reißverschluss nach. Meine zwei Pullover über den Kopf zu ziehen, war einfacher. Sie in die Äste über dem Schlafsack zu befördern, nicht. Sie blieben dennoch hängen. Kurz hielt ich meinen Gürtel in der Hand, doch als der sich zu bewegen begann, warf ich ihn fort.. Als letztes entledigte ich mich meiner Hose, dann folgte ich meinem Schlafsack in die Kuhle und kletterte hinein. Der bewegte sich auch, aber ich riss mich zusammen. Er mochte aussehen wie ein Sack, doch noch wusste ich, dass es nur eine Halluzination war und das musste ich nutzen. Dennoch musste ich mich dazu zwingen, den Verschluss zur Hälfte zu schließen. Schrilles Rutschen ertönte, dann war jemand neben mir – Glimmer. Glimmer mit nackter, grüner Haut und einem Alligator unter ihrem Arm. Ich kniff die Augen zusammen. Das ist Glimmer. Mit nackter, normaler Haut und einem Schlafsack unter dem Arm. Nichts, wovor du dich fürchten musst, Marvel. Das Schwert hat sie oben gelassen. „Du willst echt, dass ich zu dir da reinkrieche?“ Ich kniff die Augen zusammen, damit ich es mir nicht doch noch anders überlegte, und nickte. Sie tat es, aber an diesem Punkt war ich bereits zu weit in den Halluzinationen, um mich zu wundern. Mein Schlafsack war groß, eigentlich zu groß für mich, aber für zwei Menschen war er definitiv zu eng. Schmerz schoss durch meine Wange, als sie mich streifte. Dann bohrte sich etwas Spitzes in meine Rippen und meinen Bauch. Ich wusste, ich hätte Glimmer helfen sollen, doch ich konnte nicht mehr tun, als möglichst still zu liegen, um es nicht noch schwieriger für sie zu machen, während ich viel zu viel von ihr spürte. Knie, Ellenbögen, Arme, Beine, irgendetwas weiches, ihren Körper, der sich gegen meinen presste. Irgendwas legte sich über mein Gesicht. Ein Ratschen erklang, vielleicht der Reißverschluss. Hoffentlich der Reißverschluss. Ich spürte wie sich etwas um mich schlang – ihr Arm? Ich versuchte, die Bewegung zu imitieren, hatte etwas unter meinen Fingern, das Haut sein mochte, öffnete doch wieder die Augen, um einen letzten Blick auf sie zu erhaschen, irgendwas, sah aber nichts mehr. Das war noch schlimmer, als die funkensprühenden Nadeln. Als ich die Augen schloss, war ich zurück auf dem Hof der Akademie. Ein grobes Seil schnitt sich in meine Handgelenke und fesselte mich an den Pfeiler. Kalter Nordwind strich über meine Schultern, kühl, streichelnd, beruhigend. Ich entspannte mich unwillkürlich. Dann explodierte die Welt um mich herum. * * * Ich erwachte etliche Male, ohne wirklich zu mir zu kommen. Jedes Mal war es, als erwachte ich aus einem Traum – nur um festzustellen, dass ich immer noch träumte. Und es waren Albträume. Die unrealistisch reale Sorte. Ich starb hunderte Male in hundert verschiedenen Weisen. In den Spielen. In den Wäldern jenseits meines Distrikts. In der Akademie. Schwerter zerrissen meine Eingeweide. Speere bohrten sich in meine Brust. Ich erstickte an Schlamm, Gift, meinem eigenen Blut. Es gab Dinge, die waren schlimmer als das. Feuerbomben über Distrikt 1 und die Schreie der brennenden Bewohner. Meine Eltern, meine Nachbarn, Gloss, Cashmere, Glimmer, brennend, schreiend, sterbend … Manchmal wusste ich, dass ich halluzinierte, beinahe wie in diesen seltenen Träumen, die man selbst gestalten konnte – nur, dass sich meine Halluzinationen nicht gestalten ließen. Jedes Mal, wenn ich es versuchte, wurde es nur noch schlimmer. Jedes Mal, wenn ich glaubte, dass es endlich vorbei war, war ich wieder auf dem Akademiehof und die Peitsche schnitt in meine Fleisch, riss Haut und Muskeln fort und brach meinen Rücken. Wenn Gloss mich losschnitt, taumelte ich von dannen, nur um mich im nächsten Horrorszenario wiederzufinden. Einmal rannte ich zu früh von meiner Plattform und spürte noch, wie die Explosion mich auseinander riss, bevor ich schreien konnte. Ein anderes Mal erwachte ich in der Gesellschaft zweier monströser Biber. Was in einem normalen Traum lustig hätte sein können, wurde zur Tortur. Ich sah sie kommen, große, struppige Schatten, so laut wie Bulldozer im Wald, und zögerte nicht, rannte, rannte um mein Leben. Schmerz explodierte in meiner Schulter. Ein Pfeil, dachte ich, doch er tötete mich nicht. Ich konnte mich nicht rühren, plötzlich gefangen in ihren riesigen Pfoten. Panik flutete durch mich, ich zappelte, kämpfte, schlug um mich, doch ohne Erfolg; der Griff war zu fest, der Schmerz in meiner Schulter zu stark. Ohne meine Gegenwehr überhaupt zu beachten, rissen der eine an meiner Hose, bis der Stoff nachgab. Mein Pullover folgte. Für einen Moment hatte ich Zeit, mich zu fragen, was sie vorhatten. Dann spürte ich den Schnitt und das Ziehen. Schlagartig verstand ich. Ich konnte nichts tun. Sie würden mich töten. Ich begann zu schreien, dann zu röcheln. Ich wartete auf meinen Tod, aber er kam nicht. Was kam, war Schmerz, schlimmer als Stichverletzungen oder Brandwunden, schlimmer als alles, all die anderen Tode, die ich durchlebt hatte. Irgendwann konnte ich nur noch wimmern. Ich hörte mich um meinen Tod betteln, aber meine Stimme erklang nur noch in meinem Kopf. Als sie mich in das siedende Fett warfen, war es eine Erlösung. Dann schnitt das Seil in meine Handgelenke und hielt mich aufrecht. Desorientiert sah ich an dem Pfeiler vorbei, im Kopf immer noch in der Pfanne. Ein harter Schlag traf meinen nackten Rücken und ich wusste, dass ich blutete. Ich war zurück auf dem Hof der Akademie. Ich hörte Gloss‘ Stimme zählen. Jeden Hieb. Ich schwor mir, nicht zu schreien und es war einfach, so einfach. Es war nicht so, dass ich den Schmerz nicht spürte. Ich spürte ihn. Jeden, verdammten Schlag. Aber scheinbar hatte ich einen Punkt überschritten. Vielleicht konnte man nur eine bestimmte Kapazität an Schmerz fühlen und mein Ration war übergelaufen. Keine Ahnung. Das, was ich fühlte, war einfach nichts im Vergleich. Die Schüler klangen unzufrieden, als Gloss‘ mich schließlich losschnitt. Ich warf ihm keinen Blick zu, sondern drehte nur um und taumelte vom Hof. Ich wusste was kommen würde. Erst die Finsternis der Ohnmacht, dann die nächste Halluzination. Vielleicht würden es wieder Jägerwespen sein, die mich jagten, vielleicht meine verbündeten Tribute. Es war mir egal. Als die Dunkelheit von meinem Blickfeld Besitz, ließ ich mich ergeben in die nächste Wahnvorstellung fallen. Und sie kam. Dieses Mal fand ich mich in beklemmender Finsternis wieder. Ich versuchte, mich zu bewegen, doch ich konnte es nicht. Irgendwas hielt mich fest, umschloss mich, spannte sich um mich und drückte auf meinen wunden Körper. Ich wollte nicht wissen, was es war. Es roch nach Wasser und Schweiß. Vielleicht wieder ertrinken. Viellicht hätte ich zappeln sollen, mich wehren – aber was würde das bringen? Nichts. Dadurch würde es nur schlimmer. Nein. Ich schloss die Augen und wartete darauf, dass geschah, was auch immer geschehen sollte. Unendlich lange lag ich einfach nur da und atmete die stickige, brackige Luft ein und wieder aus. Irgendwann reichte das nicht mehr. Vielleicht war das das Ziel der Halluzination. Mich ungeduldig machen, mich provozieren, mich in meine eigene Dummheit treiben … Wenn es das war, was sie wollte, hatte sie Erfolg. Gegen meinen Willen begann ich, mich wahrzunehmen. Das erste, was ich fühlte, war der Schmerz. Es war kein betäubender Schmerz, er brannte nicht mal. Er lauerte nur dumpf pochend im Hintergrund, vielleicht darauf wartend, dass ich mich bewegte. Dafür war er überall. In meinem Rücken, in meinen Armen und Beinen, in meinem Kopf. Mein Rachen war trocken und rau, meine Haut feucht und kalt. Dennoch war mir heiß. Vielleicht war ertrinken nicht das schlechteste, was mir passieren konnte. Oder würde es ersticken werden? Etwas lag auf meiner Brust. Es schien nicht zu drücken, noch nicht, aber es erschwerte mir das Atmen. Aber was war das? Ich streckte meinen Arm aus, um danach zu tasten, nur, um festzustellen, dass mein Arm es längst berührt, umschloss, an mich drückte. Dann spürte ich Haut. Zuerst unter meinen Fingerkuppen, dann meinen Arm hinauf und meine Brust hinunter. Sie war klamm. Ich konnte feine Härchen unter meinen Fingern spüren und noch etwas. Eine rhythmische Bewegung. Atem. Die Erkenntnis traf mich. Hart. Glimmer. Das hier ist keine Halluzination. Ich bin wach. Augenblicklich beschleunigte mein Puls. Ich riss die Augen auf, aus Angst, sonst wieder in eine Halluzination abzugleiten. Zuerst starrte ich blind in die Dunkelheit, doch dann begann ich, Konturen zu erkennen. Da war Stoff über meinem Gesicht, vielleicht ein Schlafsack? Nicht meiner. Glimmers. Ein paar Zoll von meinem Gesicht ließ er einen kleinen Spalt frei, durch den kühle Luft und Dämmerlicht hineinströmten. Wie spät mochte es wohl sein? Aus dem Unterricht wusste ich, dass die Halluzinationen, die das Gift einer Jägerwespe auslöste, Stunden andauern konnten. Tage, wenn man Pech hatte. Hatten meine Halluzinationen Tage gedauert? Möglich. Verdammt, ich brauchte Wasser. Aber ich konnte mich nicht rühren – es passten immer noch keine zwei Menschen in meinen Schlafsack. Nicht ohne, dass es unerträglich eng wurde. Vermutlich musste ich warten, bis sie – Brennender Schmerz. Schlagartig. Scharf. Als bohre sich etwas in meinen Rücken. Ich schrie heiser auf. Reflexartig kniff ich die Augen zusammen und krümmte mich vor. Kein einfaches Unterfangen, denn Glimmers Körper verschwand nicht. Doch eine Halluzination, verdammt. Aber was? Wenn es nicht so verdammt weh tun würde – Bevor ich es herausfinden konnte, ließ der Schmerz genauso unvermittelt nach, wie er begonnen hatte. Neben meinem Ohr hörte ich ein leises Wimmern. Der Körper unter meinen Fingern bebte. Glimmer. Plötzlich war ich mir wieder ihres Körpers bewusst. Ihrer klammen Haut. Ihrer feinen Härchen unter meinen Fingerspitzen. Ihres Arms um meinen Körper. Verdammt. Ihre Fingernägel. Sie musste noch immer halluzinieren. Ich musste sie wecken. Wenn ich konnte. „Glimmer?“, fragte ich. Meine Stimme klang wie ein Reibeisen. Verdammt, ich brauchte Wasser. „Hey, Glimmer. Wach auf. Das ist nicht echt und das weißt du. Du musst nur aufwachen, hörst du? Das ist nur eine Halluzination.“ Stille. Ihr Atem beruhigte sich langsam, aber ihre Finger drückten immer noch auf meinen Rücken. „Das ist keine Halluzination“, drang ihre Stimme plötzlich an mein Ohr. Irritiert starrte ich ins Dämmerlicht. „Nicht?“ Gut, dass war nicht die intelligenteste Antwort, die ich ihr möglicherweise von mir geben konnte. „Albtraum“, antwortete sie. Irgendwie klang sie genauso fertig, wie ich mich fühlte. „Glaub ich. Du warst vorhin nicht wachzukriegen.“ „Ich –“ Oh. Ich atmete einmal tief durch, dann ließ ich meinen Kopf zurück auf den Boden sinken. Kurz begnügte ich mich damit, den Schlafsack über mir anzustarren. Letztendlich war das jetzt auch egal – und vor allem ohnehin nicht mehr zu ändern. Wir waren beide wach und das war, was zählte. „Weißt du, wie lange –“ „Keine Ahnung.“ „Wir sollten aufstehen.“ „Hm“, murmelte sie. „Gleich.“ „Gleich?“ „Gleich wie ‚Halt die Klappe, Lunch, und lass mich machen‘.“ Mir war nicht danach, ihrem Befehl zu folgen, aber ich tat es trotzdem. Selbst Reden strengte mich an. Es erinnerte mich auf unangenehme Weise an die Bettruhe nach meiner Showeinlage. Als ich nur noch hatte kriechen und kotzen können. Ich schloss die Augen. Um die Erinnerung zu verdrängen, konzentrierte ich mich auf das Hier und Jetzt. Meinen Puls. Den muffigen Geruch nach Weiher und kaltem Schweiß. Die feinen Härchen unter meinen Fingerkuppen. Glimmers Herzschlag gegen meine Brust. Glimmers lange, blonde Haare, die mein Kinn kitzelten. Glimmers kalte Füße, die meine berührten. Glimmers Körper auf meinem. Glimmers Brüste, die sich gegen meinen Oberkörper drückten. Glimmers – Scheiße. Das Schweigen wurde unangenehm. Plötzlich wurde ich mir bewusst, dass diese Situation, wäre sie nicht so ernst, wäre sie nicht mit … mit 04/75 … romantisch hätte sein können. Das und vielleicht mehr. Vermutlich mehr. So fühlte ich mich nur dämlich. Fehl am Platz. Unbehaglich. Und das Schlimmste war: Sie bemerkte es. Ich spürte es, in der Art, wie sie mit ihrer Hand – der, die nicht unter mir lag und die ich erst jetzt überhaupt bemerkte – über meinen Oberarm strich. Fast so, als sei es zufällig. Aber ich wusste es besser. Unwillkürlich zuckte ich unter der Bewegung. Das ließ sie gegen meinen Oberkörper grinsen – was ich ebenfalls spürte. „Was?“, raunte sie, der spöttische Tonfall wieder da, wo er hingehörte. „Es war deine Idee, gemeinsam in diesen Schlafsack zu kriechen.“ „Ich –“ Ich räusperte mich. „Als ich den Vorschlag gemacht habe, hab ich halluziniert.“ „Dafür hast du eine gute Entscheidung getroffen, Lunch. Ohne sie wäre – wäre einer von uns vielleicht erfroren. Vermutlich ich.“ Ja, vermutlich. Mein Mund wurde trocken – trockener, als ohnehin schon. Ich schwieg. „Jedenfalls – Danke.“ „Dank mir, wenn wir sicher unten im Distrikt sind.“ Sie lachte nur leise. Ich wurde das dumme Gefühl nicht los, dass sie mir dabei zusah, wie ich rot wurde. Wenn sie es sehen konnte. Dennoch hielt ich meine Augen geschlossen – das musste ich mir nicht geben. Irgendwann schien sie davon genug zu haben. Ich spürte, wie ihre Hand von meinem Arm glitt, dann hörte ich den Reißverschluss. Mit nur einer Hand und bei der Enge erschien mit das nicht nur wie ein ziemlicher Kampf, es klang auch wie eine. Dort, wo sich der Schlafsack öffnete, strömte sofort kühle Luft hinein und ließ mich frösteln. Aber immerhin – die Enge ließ endlich nach. 04/75 zog ihren Arm unter meinem Körper hervor und richtete sich auf. Ich öffnete die Augen und versuchte dasselbe zu tun, doch ich kam nicht weiter, als einen Zoll. Ich spürte ihre Hand mehr auf meiner Brust, als dass ich sie sah. Mit mehr Bestimmtheit, als sie nach den Halluzination haben sollte, drückte sie mich wieder zu Boden. „Bleib liegen.“ Ich war zu irritiert, um zu protestieren. Nachwirkungen vom Gift, vermutlich. Vorsichtig schob sie den Schlafsack, den sie über uns geworfen hatte, zurück. Es wurde noch kälter. Und heller, aber nicht viel. Skeptisch blickte ich an ihr vorbei. Dämmerte es? Nein. Nein, das war keine Dämmerung. Irgendwas bedeckte die Äste unseres Baumes und es war nicht meine Kleidung. Ich stöhnte. „Schnee.“ In meinem Augenwinkel blickte auch sie auf. Ich sah sie nicken. „Ja. Ich nehme an, es hätte uns schlimmer treffen können.“ „Vermutlich hast du recht.“ Gut – sie hatte nicht nur vermutlich recht. Regen hätte uns vermutlich durchgeweicht. Aber Schnee? Anscheinend war gerade genug gefallen, um uns in einer Höhle einzuschließen. Gerade genug, um eine Isolierung zu bilden, aber zu wenig, um keine Luft mehr hinein zu lassen. Mehr hätte uns möglicherweise unter sich begraben und erstickt. Allein beim Gedanken schüttelte es mich. Über mir strich 04/75 sich die Haare aus dem Gesicht. Einer ihrer Zöpfe strich über meine Brust, vermutlich mit Absicht. Irritiert blickte ich auf, nur um festzustellen, dass ihr Gesicht plötzlich einen deutlich zu entschlossenen Ausdruck angenommen hatte. Augenbrauen konzentriert gesenkt, die Lippen aufeinander gepresst, eine Hand noch immer im Haar. Unsere Blicke trafen sich, während ich nach der anderen Hand suchte. Ich sollte sie nicht mehr sehen, nur noch spüren. Kurz strich etwas über mein Ohr, dann stachen Tannennadeln in mein Gesicht, als sie meinen Kopf zur Seite drückte. „Halt still.“ Natürlich tat ich das nicht. Ich drückte meinen Kopf gegen ihre Hand, versuchte meine Hände zu heben, mich aufzusetzen, nur um festzustellen, dass sie immer noch auf mir lag und meine Bewegungsfreiheit blockierte. Ich spürte, wie Panik in mir aufstieg. Sie war stärker und jetzt senkte sie auch ihre zweite Hand. Nicht schon wieder – „Halt still, du Idiot!“ „Lass mich los!“ „Das ist keine Halluzination! Halt einfach nur still –“ „Dann lass mich –“ „Ich will dir nur die Stacheln ziehen, du Idiot!“ Die – Oh. Ich erlahmte. Skeptisch warf ich ihr einen Blick zu, doch sie ließ mir keine Zeit, mir eine Meinung zu bilden. Sie drückte mein Gesicht erneut zur Seite, ich spürte die Berührung ihrer Finger – dann explodierte Schmerz unter meiner Haut, blendete mich wie eine Welle roter Lava und schickte rauschendes Blut in meine Ohren, das ihre Stimme, alle Geräusche, übertönte. Heiße Übelkeit stieg in mir auf. Es war zu viel, um mich noch zu rühren. Als ich glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, ließ der Schmerz langsam nach. Ich wagte dennoch nicht, meine Augen zu öffnen, aus Angst vor dem, was ich vielleicht sehen würde, nicht sehen würde, spüren würde … Ich rechnete mit allem. Mit zu vielem. Erinnerungen tauchten vor meinem inneren Auge auf. Schwerter, Speere, mein Blut, Biber … die Biber. Ich schluckte. „Geht‘s wieder?“ Was? Warum sollten die Biber das – Glimmer. Es war … Es war 04/75. Nicht die Biber. Oh bitte, nicht die Biber … „Er ist draußen. Die an deinem Nacken auch. Hier.“ Die Stacheln. Richtig, Marvel, die Stacheln. Es waren nur die Stacheln. Kein Grund, den Kopf zu verlieren. „Soll ich mit deiner Hand –“ „Nein!“ Keine Ahnung, ob sie tatsächlich stockte oder ob mir meine Wahrnehmung weitere Scherze spielte, doch für einen Moment hörte ich sie Schweigen. „Nein – bitte – ich halluziniere immer noch.“ „Du halluzinierst nicht mehr.“ Sie seufzte schwer. War das der Tonfall, den sie sonst nur für ihre kleinen Geschwister benutzte? Hatte 04/75 überhaupt kleine Geschwister? Ihre Finger streiften meinen Arm. Augenblicklich zuckte ich zusammen, doch anscheinend ließ sie sie auf meinem Oberarm ruhen, statt nach meinem Handgelenk zu greifen. „Ich rede mit dir, oder?“, fragte sie, ihre Finger eine kühle Berührung auf meiner brennenden Haut. „Würdest du halluzinieren, würde ich nicht mit dir reden.“ Ich wusste, dass sie recht hatte, doch vor meinem Inneren Auge sah ich struppige Schatten. Ich wollte nicht betteln und doch hörte ich, wie die Wörter ohne mein Zutun über meine Lippen kamen. „Doch – ich … ich … bitte, nicht. Nicht.“ Für einen Augenblick gab es nur die Biber in meinen Augenwinkeln und ihre Finger auf meinem Arm. Kurz wurde der Druck ihrer Hand auf meiner Haut stärker, dann verschwand er und mit ihm das Gewicht ihres Körpers. „Okay. Fangen wir anders an. Schritt eins: Öffne die Augen.“ * * * Schritt eins: Öffne deine Augen. Schritt zwei: Setz dich auf. Schritt drei: Lass dich von 04/75 anziehen, wie ein Kleinkind. Schritt vier: Sieh 04/75 dabei zu, wie sie sich ihre Stacheln selbst entfernt und wie sie sich anschließend anzieht. Schritt fünf: Lass dich aus dem Unterschlupf gängeln. Schritt sechs: Setz dich an das Feuer und iss, was dir 04/75 in die Hand drückt. Schritt sieben: Schäm dich über dich selbst in Grund und Boden. So ungefähr ließen sich die nächsten Minuten beschreiben, die ich mit 04/75 verbrachte. Es waren die peinlichsten Minuten meines Lebens. Noch peinlicher als die, die ich damit verbracht hatte, meiner Mutter auf die frisch gewischten Dielen zu kotzen und das waren echte Höhepunkte. Mittlerweile saß ich schweigend an besagtem Feuer. Meine Kleidung war überraschend trocken, zumindest unter dem Gesichtspunkt, dass sie vor kurzem ein Vollbad genommen hatte. Glücklicherweise war es keine Baumwolle, sonst hätte ich hier wohl nackt sitzen können und dabei weniger gefroren. Wolle hingegen isolierte selbst nass bedeutend besser und mit dem Feuer war ich zumindest an der Vorderseite schnell knusprig braun. Vermutlich hätte ich mich drehen sollen wie ein Grillspieß, aber ich schenkte dem Feuer kaum Beachtung. Meine Beachtung galt dem Wetter. Eine Tüte mit Biberfleisch in meinen Händen starrte ich stur in den grauen Himmel. Offiziell versuchte ich, die Uhrzeit abzuschätzen. Natürlich hätte ein Blick auf meine Armbanduhr diese Frage leichter beantworten können – wäre ich nicht auf die grandiose Idee gekommen, sie unter Wasser zu setzen. So blieb mir nur übrig, die Uhrzeit anhand des Sonnenstandes abzuschätzen, den man bei den dichten Wolken, die über uns hinweg glitten, auch nicht sehen konnte. Bei unserem Glück hatten wir es späten Nachmittag, aber mit dieser Mutmaßung wollte ich mich nicht zufrieden geben. Früher Vormittag wäre für unsere kommenden Schritte deutlich vorteilhafter, auch wenn das bedeutete, dass wir mindestens eine Nacht lang bewusstlos gewesen waren. Aber gut – ich beobachtete auch nur offiziell den Himmel. Inoffiziell tat ich das vor allem deshalb, um nicht an den Biber in meinen Händen denken zu müssen, denn sobald ich das tat, sah ich dunkle Schatten durch die Bäume huschen, die nicht da waren. Hoffentlich. „Du solltest was essen“, hörte ich 04/75s Stimme, ohne ihr wirklich Beachtung zu schenken. „Oder halluzinierst du immer noch?“ „Würde ich immer noch halluzinieren, würde ich dich vermutlich nach wie vor in voller Pracht sehen“, gab ich zurück, ohne den Blick von den grauen Massen über uns abzuwenden. „Vermutlich in grün.“ „So wie die Weiber im Kapitol?“ „Wenn du die Spiele gewinnst, könntest du es dir leisten.“ Ein Schnauben verkündete mir deutlich, was sie davon hielt, sich die Haut färben zu lassen. „Grün ist vollkommen aus der Mode, Lunch“, verkündete sie. „Pink ist das neue Grün.“ Jetzt senkte ich den Blick doch. „Pink?“ Ja, vermutlich sah ich genauso angeekelt aus, wie ich klang. „Oh, ja. Es kam erst letzte Woche ne neue Order. Seitdem gehen nur noch pinke Glitzersteinchen über Dads Fließband.“ „Pink“, echote ich erneut und schüttelte den Kopf. „Du solltest es versuchen. Du gibst bestimmt ein tolles Glitzsteinchen ab.“ „Hast du gerade Gliterschweinchen gesagt?“ „Was? Nein habe ich nicht!“ So lebensmüde war ich dann nämlich doch noch nicht. Aber war sie so taub? Wohl kaum. Ob ihre Halluzinationen zurückkehrten? Nein, oder? Unsere Blicke trafen sich, ihrer unter zusammengezogenen Brauen und zornigen Falten, meiner – ja, keine Ahnung. Neben der Spur vermutlich, aber das war nichts neues. Neu hingegen war ihr Lachen, das dem Blickwechsel folgte. Verständnislos sah ich sie an, bis sie es selbst bemerkte. „Oh, jetzt schau nicht so, Lunch“, erwiderte sie, immer noch lachend. „Hast du dir die Kandidaten für diese Farbe mal angesehen? Die haben doch das Casting für unsere neue Eskorte live übertragen. Fünf Kandidaten, einer davon ein Mann mit ausgestopftem Busen, eine bunt wie ein Regenbogen und die übrigen Drei …“ Demonstrativ blies sie die Backen auf. Jetzt lachte auch ich. „Schweinchen?“ Sie nickte, ausgesprochen selbstzufrieden. „Glitzerschweinchen.“ „Ich hatte also doch recht. Sie sollten es in Futterspiele umbenennen.“ Apropos Futterspiele. Ich blickte auf den Beutel in meinen Händen. Sie hatte gesagt, ich solle essen. Vermutlich sollte ich das in der Tat tun. Aber wenn ich mir mein Essen so ansah … Wie auf Befehl tanzten meinem Augenwinkel unsichtbare Schatten. Wieder. „Sag mal, du hast doch gesagt, du hättest genug Vleisch. Hast du es hier?“ Kurz stockte sie, anscheinend durch meinen abrupten Themenwechsel irritiert. „Ja, hab ich. Aber das willst du nicht wirklich. Ich meine wir haben dein Fleisch.“ „Doch. Ich tausche.“ Ihre Augenbrauen glitten höher. „Ich meine es ernst. Hab das Zeug schließlich jeden Tag, du nicht. Also, haben wir einen Deal? Vleisch gegen Fleisch. Du kannst nur gewinnen.“ Sie schwieg. Lange. Ich wusste, dass sie mir nicht glaubte, vermutlich ging sie von irgendeinem faulen Trick aus und wirklich – ich konnte es ihr nicht verübeln. Ich hätte mir an ihrer Stelle schließlich selbst nicht geglaubt. Dennoch ließ ich den Arm nicht sinken. Mit der Zeit wurde es anstrengend, doch meine Ausdauer wurde belohnt. Ich hörte ein „Na schön“ und dann Rascheln. Einen Moment später hielt sie mir eine Plastikdose entgegen. „Deal.“ Ich nickte zufrieden. „Deal.“ Einen Augenblick später öffnete ich den Deckel meiner Beute. Sie hatte nicht zu viel versprochen – es war Vleisch. Klassisch. Die typischen Rationen, die wir in der Akademie hinterhergeworfen bekamen. Außen Panade oder schöne Grillstreifen, innen Sojapappe. Skeptisch griff ich nach einem Schnitzel und unterdrückte den Reflex, daran zu schnüffeln. Das Zeug würde nicht besser schmecken, nur weil ich daran roch, das wusste ich aus Erfahrung. Bevor ich jedoch auch nur abbeißen konnte, hörte ich erneut 04/75s Stimme. „Lunch?“, fragte sie „Glaubst du immer noch zu halluzinieren?“ Spontan verging mir der letzte Rest Appetit. Ich ließ das Schnitzel wieder sinken und zuckte mit den Achseln. Was sollte ich auch sagen? Ich wusste die Antwort ja selbst nicht. Qualifizierten Biber-Schatten, die ich im Unterholz ausmachen konnte, als Halluzinationen? Vermutlich nicht als Jägerwespen-Halluzinationen. Aber wenn ich nicht wegen des Gifts halluzinierte … Plötzlich fröstelte ich trotz des Feuers und zwar von beiden Seiten. Von 04/75 kam die Frage, die vermutlich kommen musste, die ich deshalb aber noch lange nicht hören wollte. „Alles in Ordnung?“ „Ja, klar. Ist nur der Wind.“ Himmel, die Lüge war schlecht. Nur der Wind. Hah, die Ausrede war selbst für mich in halb-halluzinierendem Zustand erbärmlich. Eine kalte Brise strich über meine Haut und ließ mich noch stärker zittern. Vielleicht konnte ich es doch auf den Wind schieben. Nicht unbedingt neugierig, aber dafür erpicht darauf das Thema zu wechseln hielt ich meine Nase in den kalten Luftzug. „Er kommt immer noch aus Norden.“ „Das ist schlecht?“ Okay, das war beinahe schon zu einfach – aber gut, ich würde mich nicht beschweren. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu, dann stellte ich die Dose Vleisch ab und stand auf. Fast so, als könne ich dank dieser Bewegung über den Berg hinweg sehen, was natürlich Schwachsinn war. Schlagartig fror ich stärker. Schützend verschränkte ich die Arme vor der Brust, doch das half nicht viel. Mein Arm passte aktuell kaum in die Ärmel, geschweige denn in die Handschuhe, und der Rest meiner Kleidung war bestenfalls klamm. „Kommt drauf an. Wenn er noch mehr Schnee bringt, enden wir vielleicht als Yetis. Wenn er Kälte bringt enden wir als Eiszapfen. Ich könnte auf beides verzichten.“ Obwohl es mich weiter zu dem Eiszapfen-Schicksal brachte, schritt ich noch ein paar Fuß weiter in den Wind. Ich hatte nicht nur Erinnerungen an Biber und die beißende Kälte auf meiner Haut rief sie wach. Es waren gute Erinnerungen an andere Tage voller Nordwind und beißender Kälte. An Tage in den Bergen, an denen die Sonne nicht unter ging, sondern der graue Himmel nur langsam dunkler wurde. An Tage, lange vor der Akademie, als noch vier Menschen in dem Haus meiner Eltern lebten. Ich will es sehen. Hinter mir hörte ich 04/75 rascheln. Vermutlich drehte sie sich zu mir um, doch ich sah nicht über meine Schulter, um das zu überprüfen. „Du halluzinierst immer noch“, hörte ich sie sagen und dieses Mal war es keine Frage. Dieses Mal antwortete ich allerdings auch nicht mit einem Achselzucken. Ich schüttelte den Kopf. „Nein“, antwortete ich und lächelte dünn. „Nein, tue ich nicht. Ich erinnere mich nur.“ „Woran?“ Sie war nicht überzeugt. Wäre ich auch nicht gewesen. „Boreas.“ „Borewas?“ Ich schnaubte leise, aber eher belustigt, als verärgert. „Boreas. Der Nordwind. … Vor langer Zeit – lange, lange vor den Dunklen Tagen – gab es eine andere Zivilisation, am anderen Ende der Welt. Die Menschen, die in ihr lebten, hießen Griechen und lebten auf vielen Inseln und Halbinseln. Sie hatten nicht die Technik, die wir haben. Sie hatten keine Züge, nur Schiffe aus Holz. Sie wussten noch nichts von Strom oder Mutationen. Sie wussten noch nicht einmal, warum die Sonne untergeht, wie Gewitter entstehen und all das, obwohl es das natürlich damals auch schon gab. Sie haben sich diese Dinge damit erklärt, dass alles in der Natur einen übernatürlichen Ursprung hat. Bäume wurden von Nymphen bewacht und Götter herrschten über die Welt. Jeder Gott war für etwas bestimmtes zuständig – für Gewitter, für die Ernte, die Liebe, den Tod, den Krieg. Boreas war einer davon. Er war der Gott des Nordwindes.“ Sie schwieg. Es war ein sehr skeptisches Schweigen, doch im Moment war es mir egal. Beinahe konnte ich die Stimme meines Großvaters wieder hören, wie er mir von all den phantastischen Mythen erzählte. Die Geschichte von Apollon und Daphne. Die Abenteuer des Iasons auf seiner Argo. Odysseus‘ Odyssee. Orpheus und Eurydike. Boreas … „Boreas brachte die Winterstürme, Schnee und Eis. Er herrschte weit im Norden, doch hinter seinem Reich gab es ein weiteres Land. Hyperborea. Es konnte weder zu Fuß noch mit dem Schiff erreicht werden, aber ein paar der Helden der Griechen gelangten trotzdem dorthin. Angeblich kannten die Hyperboreen weder Krankheit noch Alter.“ Den Blick nach Norden gerichtet schwieg ich, in meinen Ohren die Geschichten von Musen und Apollon. Vor meinem inneren Auge stapften riesige Gestalten durch den Schnee, friedliebend und ungefährlich. Am liebsten wäre ich mit ihnen gerannt, aber für dieses Verhalten war ich mittlerweile zu alt. „Das glaubst du nicht ernsthaft, oder Lunch? Ich meine, das irgendwo im Norden ein sagenumwobenes Land liegt, in dem niemand altert oder stirbt?“ 04/75s Stimme brach den Zauber. Sie war anscheinend immer noch nicht überzeugt, aber verübeln konnte ich ihr das im Moment nicht. Seufzend schüttelte ich den Kopf. „Nein. Es ist trotzdem der Grund, warum ich an den Hungerspielen teilnehmen will.“ „Um ein Land zu finden, an dass du nicht einmal selbst glaubst?“ Ich schnaubte und senkte mit einem schiefen Grinsen den Kopf. „Nein. Mein Hyperborea habe ich schon gefunden.“ Ich konnte sie nicht sehen, aber vor meinem inneren Auge sah ich, wie sie die Augenbrauen hochzog und die Lippen skeptisch kräuselte. Aber sie schwieg. Vermutlich glaubte sie immer noch, ich würde halluzinieren. Tatsächlich war das komplette Gegenteil der Fall. Die Halluzinationen der letzten Nacht waren unendlich weit entfernt, mitsamt ihren dummen Bibern. „Mein Hyperborea ist hier, Glimmer. Hier, hinter dem Zaun. Deshalb war ich hier unterwegs, als wir uns getroffen haben. Deshalb war ich hier vor drei Wochen. Ich bin seit ich sechs war ständig hier.“ „Oh.“ Und da sage noch jemand, ich sei nicht zu Überraschungen fähig. Hatte sie wirklich geglaubt, ich wäre nur ein Mal hier oben gewesen und hätte mich gleich dabei erwischen lassen? … Uh, schon gut. „Das ist ja schön und gut. Was hat das mit den Hungerspielen zu tun?“ Ich drehte mich zu ihr um und zuckte mit den Achseln. „Ich will nur den Rest von Griechenland sehen.“ „Panem.“ Verstehen dämmerte über ihr Gesicht. Ich lächelte zufrieden. Kurzentschlossen trat ich näher und beugte mich über sie. Nur kurz – aber lang genug, um einen Streifen Fleisch von ihrem Brot zu fischen und es mir in den Mund zu schieben. „Hey! Ich dachte, du wolltest dein Kaninchen nicht!“ „Hab‘s mir anders überlegt“, antwortete ich kauend, dann schluckte ich. „Wir sollten gehen, bevor es wieder dunkel wird. Oh und übrigens. Es ist Biber.“ * * * Es war nicht unser Glück, das wir hatten – zum Glück. Unser Glück hätte vermutlich bedeutet, in den Sonnenuntergang zu laufen und irgendwann in Schneewehen zu verschwinden. Wir taten nichts von beidem. Tatsächlich war der Abstieg erschreckend unspektakulär, trotz müder Knochen, geschwollener Handgelenke und Kälte. Die größte Hürde waren Glimmers Entsetzen darüber, das meine Mutter armen kleinen, plüschigen Bibern mit großen Augen bei lebendigem Leib das Fell abzog – Glimmer formulierte das etwas anders, aber das war der Kern ihrer Aussage – und der Zaun unseres Distrikts. Beide Hürden waren leicht zu überwinden, denn sie waren störanfällig. Bei Glimmer genügte ein Hinweis auf ihren mit Fleisch gefüllten Magen, beim Zaun genügten die drei Schneeflocken, die während unserer Exkursion gefallen waren. In anderen Distrikten mochte das anders aussehen, aber bei uns genügte bereits eine kleine Störung, um das elektrische Systems des Zauns für Stunden außer Betrieb zu setzen. Vielleicht lag das daran, dass die Distriktleitung die Pelztiere nicht aus Versehen grillen wollte, vielleicht auch daran, dass die Manufakturen den Teil des Stroms wegfraßen, der nötig gewesen wäre, um den Zaun ordnungsgemäß zu betreiben. Was auch immer es war – mir war es egal. Mittlerweile hatte unser Glück uns eingeholt, es wurde langsam dunkel. Ausnahmsweise nicht der schlechteste Zeitpunkt dafür – die Lichtanlage des Zauns war so anfällig, wie die Elektrifizierung des Zaunes selbst und wir damit nicht mehr als zwei dunkle Schatten. Ich ließ mich, so grazil wie der Bär von gestern, auf der Distrikt-Seite des Zaunes fallen und rannte. Erst als ich die ersten Tannen des Distrikt-Waldes erreichte, wurde ich langsamer. Ich musste nicht darauf warten, das Glimmer mich einholte, ohne Rucksack hielt sie erschreckend gut mit. Selbige hatten wir noch jenseits des Distrikts zurückgelassen. Zu groß war die Gefahr, mit Wilderern verwechselt zu werden – und das wollten wir noch weniger, als meiner kleinen Showeinlage auf dem Akademieplatz eine Zugabe zu spendieren. Die Bewohner von Distrikt 1 waren keine Freunde von Wilderern und Dieben. Beide waren schlecht fürs Geschäft. Grund genug, langsamer zu werden und nicht aufzufallen. Wir fielen nicht auf. Niemandem außer ein paar Albino-Eichhörnchen, zumindest. Das Atmen wurde einfacher, als wir die ersten Lichter der Wohnviertel sahen. Mittlerweile war es dunkel – auch egal. Das letzte, was vor uns lag, war ein Abstieg hinunter zu den Häusern und den kannten hier selbst Sechsjährige blind. Und wir waren keine sechs, wir waren sechzehn – siebzehn in ihrem Fall – ein paar große Schritte und kleine Sprünge später standen wir am Rand der ersten Siedlung. Vor den Häusern aufgereihte Leinen mit Pelzen und Häuten verkündeten, wo wir waren. In meinem Fall: zuhause. „Lunch?“ Ich stoppte augenblicklich. „Jetzt schau mich nicht so an!“ Sie kicherte. „Ich wollte nur – Wir sind da, oder?“ „Sieht danach aus, ja.“ Um etwas zu tun zu haben, musterte ich die Häuser vor uns. Auf den Dächern lag noch eine dünne Schneeschicht, aber ansonsten war von dem Chaos, das ein paar hundert Fuß höher herrschte, nicht viel zu sehen, fast so, als wolle uns selbst das Wetter zeigen, dass unser kleines, bäriges Date zu Ende war. Was vor uns lag, war weniger Winterwunderland und Abgeschiedenheit. Jetzt erwarteten uns besorgte Eltern, die Akademie und Gloss‘ dämliche Visage, wenn er bemerkte, dass wir immer wieder zurück kamen wie Flummis. Plötzlich zog ich den Bären vor. „Wir sehen uns in der Akademie, nehm ich an?“ Ich zuckte mit den Achseln. „Wenn sie mich nicht rauswerfen.“ Das wollten sie sicher immer noch. Und auch wenn sie möglicherweise darauf warteten, dass ich von selbst ging. hatte ich ihnen mit meiner kleinen Exkursion ein probates Mittel an die Hand gegeben, den Rauswurf vorzuziehen. Nicht, dass sie das so dringend brauchten. Eine Bewegung in meinem Augenwinkel erregte meine Aufmerksamkeit. Als ich den Kopf drehte, flog ein Bärenzahn in die Luft. Die Trophäe flog in die Luft, beschrieb eine schmale Parabelbahn und landete schließlich erneut in Glimmers Fingern. „Werden sie nicht. Es ist billiger für sie, wenn du dich selbst austrägst. Na dann. Bis … ach, was weiß ich. Tschüss.“ „Hey, wolltest du dich nicht bei mir bedanken, wenn wir angekommen sind?“ Sie hatte sich bereits weggedreht, blieb aber noch einmal stehen – wenn auch nur, um bedeutungsschwer mit den Schultern zu zucken. „Ja. Hab‘s mir anders überlegt. Es war Biber.“ Es war – oh man. Ich lachte und sie stimmte mit ein. Dann war sie fort – unterwegs zu ihrem Haus in ihrem Wohnviertel. Ich sah ihr noch kurz hinterher, dann machte ich mich selbst auf den Weg. Selbiger war ein kurzer. Meine Eltern hatten ein einfaches, zweistöckiges Haus aus der Zeit vor der gescheiterten Revolution. Auf Leinen, die Vater über den Garten gespannt hatte, hingen auch hier Felle. Für mich war das ein normaler Anblick und doch blieb ich stehen. Ein Schauer lief über meinen Rücken, als ich erkannte, was für Pelze es waren. Biber. Kopfschüttelnd drehte ich mich weg – demonstrativ, obwohl mich die Biber kaum würden sehen können. Schneller als nötig gewesen wäre, eilte ich zur Haustür und drückte die Klinke hinab. Offen. Anscheinend erwartete man mich bereits. „Wo bist du gewesen?“ Willkommen zuhause, Marvel, alter Junge. Kaum hatte ich den Flur betreten, steckte meine Mutter den Kopf durch die Tür. Ihr Tonfall verhieß nichts gutes. Ich sah, wie sie den Mund öffnete – definitiv für eine Predigt epischen Ausmaßes – doch dann schien sie mich endlich anzusehen. Die Worte blieben ihr im Halse stecken. „Weg“, antwortete ich ihr, während ich an ihr vorbei zur Treppe schritt. „Ich hoffe, ich habe nichts wichtiges verpasst.“ „Gloss war hier. Du warst vorgestern nicht in der Akademie.“ Vorgestern? Ups. „Ich weiß“, gab ich zurück, blieb aber nicht stehen, um darauf zu warten, dass sie ihre Predigt wiederfand. Als ich das obere Ende der Treppe erreichte, hatte sie das zwar geschafft und ihre Worte folgten mir bis zu meinem Zimmer, doch als die Tür hinter mir zufiel, herrschte Ruhe. Ich hätte das Licht anstellen können – immerhin hatten wir aktuell Strom – ließ es aber bleiben. Den Weg zu meinem Bett fand ich blind. Genauso blind ließ ich mich darauf fallen. Irgendetwas rutschte gegen meinen Oberschenkel. Irritiert griff ich danach. Hatte meine Mutter mir etwas aufs Bett gelegt? Normalerweise benutzte sie dafür doch meinen Nachtschrank … Meine Finger schlossen sich um zwei Dinge. Der erste Gegenstand war eine Tube. Im Dämmerlicht, das durch mein Fenster herein fiel, konnte ich den Aufdruck nicht erkennen, doch das Motiv neben der Schrift hatte vage Ähnlichkeit mit einem Insekt. Vermutlich hätte ich es genauer identifizieren können, wäre ich nicht von dem zweiten Gegenstand abgelenkt gewesen. Der war viel kleiner, flach und rund. Meine Finger spürten kleine Vertiefungen auf der Oberfläche, die ich sicher mit mehr Licht hätte sehen können. Ich musste sie nicht sehen können, um zu wissen, was jemand in die Münze geprägt hatte. Es war eine 74 und ich wusste, was sie bedeutete. Sie war kein Zahlungsmittel – sie war eine Aufforderung. Gloss war hier, hallte Mutters Stimme durch meinen Kopf. Du warst vorgestern nicht in der Akademie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)