Feuerzange, Feuerzange von inkheartop (Das Gute an Traditionen: Sie kommen und sie gehen auch wieder) ================================================================================ Kapitel 1: Fünfmal mit und einmal ohne -------------------------------------- Feuerzange, Feuerzange 1. Paulas Feuerzangenbowle (Paula) Paula startet die Tradition. Eigentlich ist es gar nicht als Tradition geplant, eigentlich will sie es nur mal ausprobieren bevor sie das Zeug auf dem Weihnachtsbazar verkaufen soll. Es ist der Winter vor dem Abi. Der Gedanke ist seltsam. Die letzte Adventszeit, in der sie so zusammensitzen können. Ist das der Alkohol, der sie so melancholisch macht oder war das unvermeidlich? „Ich werde euch vermissen“, murmelt Paula und starrt in die letzten Reste ihres Getränks. Der Geschmack brennt auf der Zunge. Nicht unangenehm, aber sie mag den Geruch doch lieber. Neben ihr stößt Joel sie an. „Zieh nicht so ein Gesicht. Ist doch nicht das Ende der Welt.“ „Nur das Ende eines Jahres“, meint Lennard. „Zumindest bald.“ „Aber“, murmelt Paula und kann nicht verhindern, dass man den Knoten in ihrer Stimme hört. „Aber ihr geht alle weg.“ „Oh, Schatz.“ Lilian schlingt einen Arm um ihre Schultern. „Aber wir sehen uns doch wieder.“ „Pah“, brummt Balthasar verächtlich. Er ist noch am besten bei der Sache, hat von ihnen immer am meisten vertragen. „Ich bin froh, wenn ich euch los bin.“ Lennard wirft einen Löffel in seine Richtung. „Pass auf, was du sagst, Idiot.“ „Trottel.“ „Pah.“ Paula muss lächeln. Das kommt sonst eher selten vor, wenn die Jungs sich zoffen. Was wiederum quasi an der Tagesordnung steht, inzwischen kann man die Uhr nach ihnen stellen. Eine seltsame Uhr wäre das… „Es wird nie wieder wie vorher“, schnieft Paula. „Nie wieder so wie jetzt.“ „Quatsch“, widerspricht Joel. Er grinst sie schief an. „Wir sehen uns doch immer in den Ferien. Oder mal am Wochenende.“ „Nicht dasselbe.“ Lilians Griff verstärkt sich ein bisschen, Joel und Lennard sehen sich unsicher an. Selbst Balthasar ist jetzt still. Er rührt mit dem Löffel in seinem Glas herum und starrt in die goldbraune Bowle. Nach dem Abi haben sie alle ihre eigenen Pläne, ihre neuen Wege, und die führen sie irgendwie durch halb Europa. Der Gedanke, Balthasars Arroganzanfälle nicht mehr mitzukriegen oder nicht zu sehen, wie Lennard sich beim American Football mal wieder alle Knochen bricht, ist fast schlimmer als die Tatsache, dass sie keine Filmmarathons mehr mit Joel haben kann, und dass jetzt andere Leute in den Genuss von Lilians Apfelkuchen kommen. Eine Weile lang versinkt jeder in seiner eigenen Welt und Paula fragt sich, ob die anderen auch glauben, dass sie Freunde bleiben können für immer. Trotz Entfernung und neuem Leben und dem ganzen Mist. „Wisst ihr“, meint Joel irgendwann und er klingt trotzig dabei. „Nein. Das hier, das geht nicht vorbei. Nein.“ Lilians Gesicht leuchtet förmlich vor Verzückung. „Aw“, macht sie und grinst. „Jetzt ernsthaft.“ Joel runzelt die Stirn. „Wir könnten das hier zu so ner Art… Tradition machen. Jedes Jahr am… den wievielten haben wir? Am neunten Dezember treffen wir uns hier und trinken Feuerzangenbowle. Obwohl das Zeug echt nicht mein Geschmack ist.“ Er verzieht das Gesicht und Paula versteckt ihr Lachen in seiner Schulter. „Schon gut“, nuschelt sie. „Du kriegst Glühwein oder so.“ Ihr Herz macht einen aufgeregten Hüpfer. Tradition. Tradition mit Feuerzangenbowle, das klingt gut, das klingt ausgezeichnet, das klingt beständig. „Beschlossene Sache also.“ Lilian haut mit der flachen Hand auf den Tisch. „Nächstes Jahr, selbe Zeit, selber Ort.“ Sogar Lennard grinst sie an und das passiert selten genug bei den beiden. Manchmal fragt Paula sich, wie die beiden es neunzehn Jahre unter demselben Dach ausgehalten haben, wenn es kaum eine Sache gibt, bei der sie einer Meinung sind. „Hand drauf“, sagt Lennard und streckt seine gleich aus. Nur Balthasar zögert. Er verzieht den Mund und schaut gequält in die Runde. „Euer Enthusiasmus in allen Ehren“, spöttelt er. Paula fühlt sein knirschendes Zweifeln bis in die Zehenspitzen. „Wirklich süß und alles. Aber ich bin nächstes Jahr um diese Zeit in Irland. Müsst wohl ohne mich auskommen.“ Zweifel und… Enttäuschung. Achduje. Lennard lässt seine Hand sinken. Da geht sie hin, die Tradition, denn wenn Balthasar nicht dabei sein kann, ist das ja nicht dasselbe. Da kann er noch so ein arroganter… „Idiot“, schnaubt Lennard und schüttelt entgeistert den Kopf. „Glaub bloß nicht, du kommst aus der Sache raus. Und wenn ich dich eigenhändig herschleifen muss. Idiot.“ Balthasar verdreht die Augen. „Trottel.“ Aber später sieht Paula, wie er Lennard einen Blick zuwirft und ihr ganzer Körper fängt an zu kribbeln. Nächstes Jahr dann. Nächstes Jahr. 2. Tradition: Feuerzangenbowle (Lilian) Die meisten ihrer neuen Freunde grinsen, als Lilian ihnen von der Tradition erzählt. Weil es noch keine Tradition sei, sie hätten das ja erst einmal durchgezogen. Lilian wirft ihnen alle Todesblicke zu, faucht „Schert euch zum Teufel“ und lässt sie mit ihren Matheproblemen allein. Die nur sie lösen kann, weil diese Leute hier einfach kein Gehirn haben. Gott, manchmal vermisst sie Joel viel zu sehr. Zum Glück kommt der neunte Dezember viel schneller als gedacht und dann sitzt sie auch schon an Paulas Küchentisch, ein Glas vor sich und den süßen Geruch von heißem Rotwein und Gewürzen in der Nase. Hmmm. Weihnachten. „Und, wie war dein FSJ bisher so?“, fragt Lilian, als Paula sich endlich mal zu ihnen setzt und nicht mehr wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend flitzt. „Großartig“, strahlt Paula, aber sie strahlt schon so, seit sie Lilian und Lennard die Tür aufgemacht hat, von dem her zählt das irgendwie nicht richtig. „Musst du Bettpfannen saubermachen und alte Leute waschen?“ Lennard grinst dämlich. Und das macht er schon den ganzen Tag. Herrje, diese gute Laune überall. Paula zuckt (strahlend) mit den Schultern. „Auch. Aber den meisten da geht’s recht gut. Nur ein bisschen schusselig und…“ Es klingelt. „Bleib sitzen!“, befiehlt Lennard, als Paula schon wieder aufspringen will. „Du bist schlimmer als unsere Mutter, ehrlich…“ Während er zur Tür geht, wirft Paula Lilian einen fragenden Blick zu. Lilian verdreht die Augen. „Keine Ahnung, was mit dem heute los ist“, seufzt sie. „Aber ich beschwer mich nicht, ist selten genug.“ Joel kommt rein, zieht sich grade den Schal von den Schultern. „Hallo, Fremde.“ Er fällt fast um, als Paula ihm um den Hals fällt. „Na, endlich“, stöhnt Lilian, grinst erleichtert. „Du glaubst gar nicht, wie schwer es ist, der einzige Mensch mit zwei funktionierenden Hirnhälften zu sein.“ Joel lässt sich neben sie fallen, während Paula ihm ein Glas Feuerzangenbowle einschenkt. „So schlimm kann’s doch echt nicht… nicht so viel, Paula!“ Er verzieht das Gesicht. „Doch“, meint Paula in einem Tonfall, der keinen Widerspruch gelten lässt. „Ein Glas nur, dann kannst du auf was anderes umsteigen.“ Angewidert sieht Joel sein Glas an, aber er sagt nichts. „Wo bleibt denn mein Brüderchen?“, fragt Lilian. Brüderchen, weil sie keine Gelegenheit auslässt, darauf hinzuweisen, dass sie die ältere der beiden ist. Diese vier Minuten sind von entscheidender hierarchischer Bedeutung. Ein Grinsen huscht über Joels Gesicht. Amüsiert wirft er einen Blick zur Tür. „Ich bin mit Balthasar gekommen.“ Balthasar. „Whoa, der hat’s hergeschafft?“ Lilian macht große Augen. „Dafür ist er Weihnachten und Silvester nicht da“, erklärt Joel. „Aber darum geht’s nicht.“ „Worum denn dann?“ Irritiert runzelt Paula die Stirn. „Kannst du dir das nicht denken?“ Was denn? Joel klopft mit den Fingerknöcheln gegen Lilians Schläfe. „Dein Superhirn lässt nach, Lili. Diese Leute bei dir haben einen schlechten Einfluss.“ „Pass bloß auf“, witzelt Paula. „Bald musst du tatsächlich einen Taschenrechner benutzen.“ Lilian schlägt Joels Hand weg. „Das ist nicht witzig.“ Doch, wäre es schon, wenn es nicht um sie gehen würde. „Was ist nicht witzig?“, fragt Balthasar und taumelt ein paar Schritte zurück, als Paula sich auf ihn stürzt. „Whoa“, macht er. Lennard hinter ihm lacht. „Hab dir ja gesagt, das wird ein Empfang, der dich von den Socken haut.“ Hm. Lennard lacht. Wieso lacht er. Er lacht nie, wenn Balthasar in der Nähe ist. Zumindest nicht vor ein paar Monaten. Hat sich seitdem so viel geändert? „Jetzt setzt euch endlich“, brummt Lilian. Sie kann es nicht ausstehen, wenn ein Hinweis quasi vor ihr Cha-Cha-Cha tanzt und sie trotzdem nicht draufkommt. Irgendwas ist da doch, irgendwas… Balthasar setzt sich neben Lennard auf die Eckbank und oh. Oh. Was zum Teufel…? Wann ist das denn passiert? „Exakt“, flüstert Joel ihr ins Ohr, als ihm ihr entsetztes Gesicht auffällt. Das kann doch nicht wahr sein… „Also“, strahlt Paula und reißt Lilian dankenswerterweise aus ihren Gedanken, „dann lasst unsere Tradition beginnen!“ 3. Feuerzangenbowle und Glühwein (Lennard) Es ist jetzt siebenundneunzig Tage her, dass er Balthasar zum letzten Mal gesehen hat. Nicht, dass er mitzählen würde. Er springt auch nicht jeden Morgen aus dem Bett und streicht einen Tag am Kalender durch. Nein. Er doch nicht. Lennards Knie hibbelt aufgeregt auf und ab. Wirklich, das ist nur sein Knie, er ist nicht aufgeregt, er doch nicht. „Hör auf damit“, seufzt Lilian und schlägt auf sein Bein. „Hör du doch auf.“ Sie verdreht die Augen und erwidert nichts, wendet sich lieber wieder Joel zu und redet über irgendwas… Chemisches. Lennard hat den Gesprächen zwischen den beiden nie ganz folgen können. „Er kommt doch immer zu spät“, sagt Paula leise und lächelt. Aus dem Augenwinkel sieht Lennard, wie Lilian ihr einen stirnrunzelnden Blick zuwirft. Er kaut auf der Unterlippe. Fuck fuck fuck. Warum ist er nur so offensichtlich? „Glaubst du“, Lennard beugt sich ein bisschen näher zu Paula, „dass er…“ Bevor er überhaupt zu Ende denken kann, klingelt es und keine Minute später steht Balthasar in Paulas Küche und sieht eigenartig deplaziert aus. „Habt ihr mich vermisst?“, grinst er spöttisch, aber irgendwie schaut er nur Lennard an. Fuck fuck fuck. So geht das nicht. „Kommt drauf an, wie du vermissen definierst“, sagt Lilian. Ihre perfekt manikürten Finger winken Balthasar nur zu, während Joel ihn in eine Umarmung zieht. „Lange nicht gesehen, Mann.“ „Viel zu tun“, entgegnet Balthasar und streicht sich durch die kurzen Haare. So kurze Haare. Ist das eigentlich so ne Bundeswehrmodeerscheinung? Gruppenzwang im Sinne des Staates? Und warum sieht er selbst damit noch so ekelerregend gut aus? Balthasar setzt sich neben Lennard, grinst ihn schräg an. „Trottel.“ „Idiot.“ Es kommt wesentlich sanfter raus, als es gemeint ist. Mann, er hat ihn vermisst. Kurz starren sie sich an, dann setzt Paula den Zucker über der Bowle in Flammen und plötzlich ist es ganz egal, wie lange sie sich nicht mehr gesehen haben. Plötzlich ist da nur noch eine alberne Tradition und Lachen und ein Herzklopfen, das nur teilweise was mit Balthasars Hand auf seinem Bein zu tun hat. Lennard legt seine Hand auf Balthasars und fühlt sich gut. Später sind Lilian und Joel wieder in Chemie oder Physik – er kann das nie so ganz unterscheiden – vertieft und Paula ist vor dem Fernseher, an Joels Schulter gelehnt, eingenickt. Lennard geht in die Küche, weil er sich noch was zu trinken holen will, und natürlich kommt Balthasar ihm nach. Ist auch nicht so, dass er darauf gewartet hätte oder so. Nein. Er doch nicht. „Ich versteh kein Wort“, sagt Balthasar. „Das ist wie Chinesisch.“ Lennard schnaubt. „Da siehste mal, wie ich aufgewachsen bin.“ Aber er lächelt, weil er es doch nicht anders haben will. Lilian ist besser in Naturwissenschaften, als er es je sein könnte, aber dafür kann sie keine gerade Linie ohne Lineal zeichnen. Er ist eben der Künstler. Eigentlich ist das doch ganz gerecht verteilt. „Wie lang bist du da?“, fragt Lennard. Lehnt sich betont auffällig – zu betont? Zu auffällig? Er ist echt schlecht in so was – gegen die Küchenzeile und nippt an seinem Glühwein. „Nur übers Wochenende.“ Balthasar zuckt mit den Schultern. „Sonntag muss ich wieder.“ Lennard nickt. Sonntag. Das ist… übermorgen. Das ist doch noch… genug Zeit. Oder? „Cool“, sagt Lennard. Und dann, weil es wahr ist: „Du machst mich nervös.“ Balthasars Grinsen verrutscht ein wenig, seine Ohren werden rot. Es ist, als würde die Verlegenheit erst seine Brust, dann seinen Hals, dann sein Gesicht hoch kriechen. Und mit den kurzen Haaren kann er jetzt sogar die roten Ohren sehen. Süß. „Ich…“, murmelt Balthasar, räuspert sich und rückt sein Grinsen wieder gerade. „Die Wirkung hab ich auf… die meisten.“ Lennard prustet in sein Glas. „Mehr hast du nicht auf Lager? Gott, der Bund macht dich echt weich.“ Bevor Balthasar die Augen verdrehen kann, hat Lennard ihn schon am Kragen zu sich gezogen. Vielleicht macht der Alkohol ihn ein bisschen mutiger, vielleicht hat er aber auch einfach nur verdammte siebenundneunzig Tage hierauf gewartet. „Idiot“, murmelt er gegen Balthasars Lippen. „Trottel“, nuschelt Balthasar zurück. Und dann ist sowieso alles egal. 4. Feuerzangenbowle mit Folgen (Joel) Kurz vor fünf hetzt Joel in einem Affenzahn durch die Straßen und verpasst natürlich trotzdem seine Bahn. Wirklich, warum muss die Uniklinik auch am Arsch der Welt liegen. Inzwischen schneit es auch noch. So großartig er das auch manchmal findet (und er findet das allein deshalb großartig, weil er ganz genau Paulas Gesicht vor sich sieht, wenn sie Schneeflocken mit der Zunge auffängt), so beknackt findet er das jetzt im Moment, weil er am Bahnhof sitzen und frieren muss. Vor allem aber, weil er warten muss. Das konnte er noch nie leiden. Komm später. Wenn überhaupt. Zug verpasst, Schnee, du kennst mein Glück mit der Bahn, schreibt Joel an Paula. Und natürlich muss er nicht lange auf eine Antwort warten: Wenn überhaupt?????? Kein Scherz, da sind echt so viele Fragezeichen. War ja klar, dass sie sich ausgerechnet darauf konzentriert. Dann klingelt sein Handy. „Du!“, ruft Paula, ohne jede Begrüßung. „Sieh gefälligst zu, dass du hierher kommst, klar?!“ Joel seufzt. Er hätte doch Lilian schreiben sollen. „Ich!“, sagt Joel nachdrücklich. „Sitze hier fest, okay? Kann ich auch nichts machen. Die nächste Bahn sollte in ner Stunde kommen, aber jetzt schneit es und mir ist kalt und ich hätte grade wirklich mehr Lust auf Glühwein als auf den Zug zu warten.“ Betretenes Schweigen. „Sorry“, murmelt Paula. „Aber das ist doch unsere Tradition und hmpf.“ „Ich weiß.“ Joel seufzt, setzt sich auf eine der unbequemen Bänke aus Metall und zieht die Beine an. „Und Lennard hat sich extra freigeschaufelt und Lili…“ Sie bricht ab, weil Joel zitternd auflacht. „Lennard hat sich vor allem für Balthasar freigeschaufelt“, grinst er. Beobachtet, wie dicke, weiße Flocken auf den Gleisen liegenbleiben. Es ist seltsam still. „Kommt aufs gleiche raus“, entgegnet Paula. Kurz zögert sie. „Glaubst du, die beiden kommen irgendwann aus dieser komischen Alle-zwei-Monate-Beziehung raus? Das kann doch nicht gesund sein.“ Joel zuckt mit den Schultern, aber das kann Paula ja nicht sehen – leider, leider. Er würde sie grade gerne sehen, dann wäre ihm gleich viel wärmer –, deshalb fügt er ein „Hmh“ hinzu. „Lili sagt, dass sie sich so zumindest nicht auf die Nerven gehen können.“ „Lili sagt viel, wenn der Tag lang ist.“ „Aber meistens hat sie recht.“ „Stimmt auch wieder…“ Sie schweigen. Dann denkt Joel an Paulas Telefonrechnung. Er könnte sie wenigstens mit Minuten füllen, in denen tatsächlich gesprochen wurde. „Irgendwann regelt sich das schon“, sagt er. „In die eine oder andere Richtung. Ich glaub nicht, dass sie aufhören, Freunde zu sein.“ „Hmh“, macht dieses Mal Paula. Er hört, wie sie Gläser aus dem Schrank holt und wünscht sich wie wahnsinnig, er könnte jetzt bei ihr sein. Bei ihnen allen. „Wenn’s klappt, bin ich so um halb neun bei dir“, sagt Joel und findet selbst, dass er lächerlich erbärmlich hoffnungsvoll klingt. Das Geschirrklappern verstummt kurz. Joel stellt sich Paulas Lächeln vor. „Das wäre schön“, sagt sie und ihm wird ganz warm ums Herz. Es wird dann letztendlich zehn Uhr – blöde Bahn –, aber das ist fast egal, als Paula ihm tausend Küsse aufs Gesicht drückt, noch bevor er überhaupt geklingelt hat. „Hallo“, haucht sie dann atemlos und ihr Gesicht leuchtet ihn an. „Hi“, haucht er zurück. „Scheiße, bist du kalt“, grinst Paula plötzlich und lacht, als sie ihre Hände gegen seine Wangen drückt. „Ja“, jammert er. „Mach was dagegen!“ Lilian sieht furchtbar gelangweilt aus, aber das tut sie eigentlich immer, wie sie so in der Küche sitzt, an ihrer Feuerzangenbowle nippt und ein Buch durchblättert, in dem er verdächtig viele Abbildungen von Organen entdeckt. „Was ist das denn? Willst du mir meinen Rang streitig machen?“, fragt er, nachdem er Balthasar und Lennard begrüßt hat. Die wohl denken, dass niemand sieht, wie sie sich unter dem Tisch befingern. Ach, Jungs. Lilian hebt eine Augenbraue. „Wohl kaum. Ich erweitere mein Allgemeinwissen.“ „Mit einem Buch über…“ Er hebt den Deckel an und runzelt die Stirn. „… Röntgendiagnostik innerer Organe? Ernsthaft?“ Sie zuckt mit den Schultern. „Nur Mathe unterfordert mich.“ „Du überforderst Mathe“, mischt Lennard sich ein. Paula schiebt Joel eine Tasse Glühwein zu. Erleichtert nimmt er die Tasse in beide Hände, die so langsam wieder aufzutauen scheinen. Schön. Neben ihm entbrennt eine hitzige – aber ziemlich normale, wenn man Lennard und Lilian kennt – Diskussion über Lilian und ihre Ansprüche. Erst an Mathe, dann an den Rest der Welt. Balthasar, Paula und Joel klinken sich aus und reden über Zeug wie Balthasars Tattoo, Paulas Chefin und Joels Bahnfahrt. Erst als Lilian plötzlich sagt „Vielleicht sind deine Ansprüche auch einfach nicht hoch genug!“ wird es still im Raum. Joel sieht, wie alle Farbe aus Balthasars Gesicht weicht, bis er so weiß ist wie die Wand hinter ihm. Lennard ist sprachlos. Mit leicht geöffnetem Mund starrt er seine Schwester an, als könne er nicht glauben, dass sie das grade gesagt hat. Eigentlich kann das keiner so richtig glauben. „Das war unnötig, Lili“, sagt Paula irgendwann so leise, dass es die Stille nicht mal stört. Lilian klappt den Mund auf und zu, fasst nach vorne, wie um nach Lennards Hand zu greifen. Der zieht sie zurück. „Ich geh nach Hause“, murmelt er. Zurück bleiben Lilian, Paula, Joel, Balthasar und die sehr eigenartige Stille. „Tut mir… tut mir leid“, sagt Lilian nach einer Weile zu Balthasar, der immer noch totenblass ist. „Schon gut.“ „Nichts gut“, fährt Paula auf. „Wieso sagst du so was? Lennard ist dein Bruder. Balthasar ist dein Freund. Wieso sagst du so was?“ Lilian scheint den Tränen näher zu stehen, als Joel sie je gesehen hat. Er umfasst sanft Paulas Handgelenk. „Schon gut“, wiederholt Balthasar. Aber gar nichts ist gut. 5. Feuerzangenbowle Deluxe (Balthasar) Wenn man Balthasar vor fünf Jahren gefragt hätte, ob er sich jemals in Lennard verlieben könnte, hätte er gelacht. Weil ernsthaft, er und Lennard, das war wie Tag und Nacht. Sie konnten ja kaum fünf Minuten in einem Raum verbringen ohne aufeinander loszugehen. Auf der anderen Seite können sie das jetzt auch noch nicht. Und irgendwie macht das ja auch am meisten Spaß. „Du solltest echt mit Football aufhören.“, sagt Balthasar, weil er Lennard vielleicht zwei Wochen nicht gesehen hat und da hatte er seinen Arm noch nicht gebrochen. „Gips steht dir nicht.“ „Klar“, schnaubt Lennard. „Und du solltest echt mit dem Denken aufhören. Steht dir auch nicht.“ Balthasar verdreht die Augen, erwidert aber nur sein gewöhnliches „Trottel“, weil Paula mit dem Zeug für die Feuerzangenbowle reinkommt. Es ist selten, dass Balthasar und Lennard die ersten sind und irgendwie ist es seltsam. Vor allem, weil Lilian fehlt. „Helft mir mal, Jungs“, sagt Paula und dann fangen sie an die Feuerzangenbowle vorzubereiten und Balthasar fühlt sich wieder wie neunzehn, fühlt sich wie kurz vor dem Abi, als alles irgendwie leicht war und schwer. Jetzt ist es auch leicht und schwer. Aber anders. Jetzt ist er dreiundzwanzig und so scheiße verliebt in einen Typen, den er wenn’s hoch kommt alle drei Wochen mal sieht. Jetzt ist er dreiundzwanzig und jede Entscheidung kommt ihm lebensverändernd vor. Gott, wie gerne wäre er wieder neunzehn, mit einem Jahr in Irland vor sich, und sonst noch ohne jeden Plan für die Zukunft. Als Joel kommt und sie sich um den Tisch setzen, wird es eigenartig still. „Redet ihr immer noch nicht miteinander?“, seufzt Joel in Lennards Richtung – und ah, richtig, es gibt tatsächlich Leute, die ihn noch seltener sehen als Balthasar. Und die nicht jede Freiminute des Handyvertrags nutzen, um mit Lennard zu telefonieren. Ja, wie gesagt: Scheiße verliebt. Lennard zuckt mit den Schultern. Für jeden anderen würde es gleichgültig aussehen, aber Balthasar kennt ihn jetzt schon so lange, kennt jedes Zucken in seinem Gesicht, er nimmt es ihm nicht ab. Und Joel offenbar auch nicht, denn er hebt fragend die Augenbrauen. „Ihr solltet echt reden“, sagt Paula. Sie ist so ein Friedensengel. „Bei dem Wetter will doch niemand allein sein.“ Was sie sagen will ist: Bei dem Wetter wird Lilian sich an einem neunten Dezember einsam fühlen. Sie will es sagen, man sieht es ihr an, aber sie spricht drüber hinweg, weil Lennards Gesicht so eiskalt wie der Abend draußen ist. Balthasar nimmt Lennards Hand unter dem Tisch in seine. „Paula hat recht“, meint Joel vorsichtig. „Ihr habt jetzt fast ein Jahr nicht mehr miteinander…“ „Nein“, unterbricht Paula ihn. Sie blinzelt nervös in die Runde, dann der Tischplatte entgegen. „Ich meinte, ihr solltet echt reden.“ Natürlich klingelt es in diesem Moment, denn so ein Timing hat Lilian schon immer gehabt. Wie im Film, ey, wie im Film. Lennard schießt von seinem Platz hoch. „Das hast du nicht getan.“ Paula hat die Höflichkeit, schuldig auszusehen. Zumindest ein bisschen. „Ich wollte wirklich nur… die Tradition…“ „Fick die Tradition“, brüllt Lennard. So hat Balthasar ihn erst einmal gesehen. Kein schöner Gedanke. „Ich bin weg.“ „Nein!“ Entschlossen schlägt Paula mit der Hand auf den Tisch. Kleine Paula, Friedensengel. „Ihr werdet jetzt reden. Ihr seid dreiundzwanzig und das ist so lächerlich!“ Damit stürmt sie zur Tür und zieht Lilian mit in die Küche. Lilians Gesichtsausdruck nach zu schließen, war sie genauso wenig darauf vorbereitet wie Lennard. Oder sonst wer außer Paula. Ein paar Minuten lang ist es still und eisig kalt. Wie ein Winter im Haus. Die Geschwister starren sich an. Lennards Hand ballt sich zur Faust und öffnet sich wieder und eigentlich würde Balthasar ihn gerne anfassen, ihm zeigen, dass das okay ist, dass alles wieder okay wird, aber er tut es nicht. Das hier, das ist gefährlich. Lilians Kinn zuckt plötzlich in die Höhe. Sie sieht nicht ganz aus wie die alte Lilian, ist aber nahe dran. „Ich hab mich entschuldigt“, sagt sie. Es ist fast seltsam, nach beinah einem ganzen Jahr ihre Stimme wieder zu hören. „Oft genug hab ich mich entschuldigt. Das reicht.“ Lennard schnaubt, aber Lilian hat diesen Blick drauf, der ihn zum Schweigen bringt. „Du hast keine hohen Ansprüche“, sagt sie und was zum Teufel sagt sie da? Will sie wirklich da weitermachen, wo Lennard und sie letztes Jahr aufgehört haben? „Wenn du welche hättest, wärst du mit dieser… Beziehung…“, sie fuchtelt mit einer Hand zwischen Balthasar und Lennard hin und her, „… oder wie immer ihr das auch nennt… dann wärst du damit schon viel weiter gegangen.“ Balthasar sieht zu Lennard auf und sieht nur Lennards starren Blick zu seiner Schwester. „Wie oft seht ihr euch inzwischen? Einmal, zweimal im Monat? Wenn’s gut läuft? Herrje.“ Sie schüttelt den Kopf. „Alle, die euch kennen, denken das. Dass ihr euch selber nur unglücklich macht, wenn das so weitergeht. Mach endlich was draus, Lennard. Du liebst ihn doch, verdammt.“ Balthasar bemerkt, wie er scharf die Luft einzieht. Nicht unbedingt, weil Lennard ihm das nie gesagt hat. Hat er ja schließlich auch nicht. Keine große Sache, wirklich, sie sind beide nicht so großartig mit Gefühlen und Worten zusammen. Es ist eher, weil… Weil Lilian ihn nicht mag. Sie mochte ihn nie besonders, von Anfang an nicht, und auch nicht später, als diese Sache zwischen ihm und Lennard angefangen hat. Da war immer diese Skepsis da und irgendwo kann Balthasar sie verstehen. Er würde ja auch niemandem raten, sich mit ihm einzulassen. Dass das mit Lennard trotzdem läuft, ist eigentlich ziemlich egoistisch. Und Lilian weiß das. Hat das immer gewusst. Und jetzt… Lennards Hände sind entspannt. Fast schon kraftlos. „Was?“, fragt er. „Hast mich schon verstanden“, sagt Lilian. Und vielleicht schnieft sie ein bisschen, als sie sich hinsetzt, weil sie bemerkt, dass Lennard sie nicht mehr vierteilen will. „Und krieg ich jetzt endlich meine blöde Feuerzangenbowle?“ + 1. Es geht auch ohne Feuerzangenbowle Ein Jahr später und Paula weiß immer noch nicht, wo sie hingucken soll, wenn Lennard und Balthasar sich küssen. Das ist so… komisch. Sie machen es nicht oft so öffentlich und im Grunde auch nur, wenn beide betrunken sind, deshalb gibt es dieses Jahr weder Feuerzangenbowle, noch Glühwein. Sie treffen sich auch nicht in Paulas Haus, weil Paula genug hat von Kleinkriegen in der Küche ihrer Eltern. Weihnachtsmärkte sind neutraler Boden. Dass die Jungs trotzdem so viel knutschen heute, ist… ah, sie kann es nicht beschreiben. „Ich bin immer noch nicht ganz drüber hinweg“, murmelt Joel in ihr Ohr. Er sieht zu den beiden rüber und… die beiden füttern sich mit Schokofrüchten und der Anblick wäre ja echt niedlich, wenn er nicht so verstörend wäre. „Ich auch nicht“, murmelt Paula zurück. „Versprich mir, dass wir nie so werden.“ „Versprochen.“ „Pah“, macht Lilian und ihre Stimme trieft vor Spott. „Ihr könnt viel schlimmer sein. Wirklich, wir sollten mal eine Tequila-Tradition einführen und dann Videos davon machen, jedes Jahr, um wissenschaftlich beweisen zu können, wie viel schlimmer ihr unter Einfluss von Tequila seid.“ Dann wirft sie ihrem Bruder einen Blick zu und verdreht die Augen. „Aber im Dezember sind die beiden echt konkurrenzlos.“ Lennard wirft eine Schokotraube nach ihr, die sie elegant auffängt und isst. Weil Lilian eben so ist. Sie sind alle so. Und der neunte Dezember – Weihnachten und diese Zeit im Allgemeinen, aber besonders der neunte Dezember – macht sie alle ein bisschen glücklicher als sonst. Und das ist komisch und das ist gut und das geht auch ganz ohne Feuerzangenbowle. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)