Schneekugel von Flordelis (Fanfic-Adventskalender 2012) ================================================================================ Schnee ------ Das Dielenbrett knarrt, als ich darauf trete. In der Stille klingt es für mich wie ein Pistolenschuss – oder jedenfalls wie ich mir einen solchen vorstelle. Ich halte inne und lausche auf Geräusche aus dem Wohnzimmer, in dem mein Vater gerade sitzt. Der Fernseher läuft, vermutlich sieht er sich irgendein Sportspiel an. Mein Magen zieht sich zusammen, als ich mir vorstelle, wie dieses Gerät ihn beobachtet, Signale an irgendetwas sendet und die Anderen darüber informiert, was er tut – und damit auch was ich tue. Aber heute habe ich keine Zeit, um darüber nachzudenken. Da er nicht auf mich aufmerksam geworden ist, räuspere ich mich vernehmlich, ohne in die offene Tür zu treten und dadurch in den Blickbereich des Fernsehers zu kommen. „Ich gehe eine Weile nach draußen.“ Auch wenn es eigentlich nicht notwendig ist, sage ich ihm lieber Bescheid, wenn ich gehe. Er antwortet mit einem desinteressierten Grunzen, das in meinen Ohren so klingt als wolle er mir sagen, dass ich gar nicht zurückkommen muss. Ich ignoriere seine Abweisung, so wie immer, und gehe nach draußen, wo mir schneidend kalte Luft entgegenschlägt. Der graue Himmel scheint mir undurchdringlich, aber immerhin hat es zu schneien aufgehört. Seit dem letzten Schnee sind einige Jahre vergangen, weswegen es ein noch ungewohnter Anblick ist, aber das wird schnell zur Nebensache, als ich eine Frau entdecke, die sich an die Wand lehnt. An diesem Tag ist ihr Haar schwarz, ihr Pony allerdings lila gefärbt, also wieder einmal eine andere Farbe als bei unserem letzten Treffen, Lucy überrascht mich jedes Mal aufs Neue. Als sie mich bemerkt, kommt sie auf mich zu und umarmt mich. „Da bist du ja, Michael. Ich habe auf dich gewartet.“ Für einen Moment genieße ich ihre Nähe, ihre Wärme, ihren Geruch. „Warum hast du nicht geklingelt?“, frage ich, als ich die Umarmung wieder löse. Sie schiebt ein wenig die Unterlippe vor, so als würde sie schmollen und wirft einen nervösen Blick zum Haus hin. „Du weißt doch, dass ich nicht gern an deinen Vater gerate.“ Ich nicke. Jedes Mal, wenn die beiden sich treffen, tut mein Vater so als wäre sie nicht einmal anwesend, er beachtet sie ganz einfach nicht. Wenn ich mit ihm rede, gibt er wenigstens rudimentäre Laute von sich. „Lass uns ein wenig spazieren gehen“, schlägt Lucy lächelnd vor. „Ich habe schon seit Ewigkeiten keinen Schnee mehr gesehen.“ Da es mir genauso geht, habe ich nichts dagegen einzuwenden und laufe, Hand in Hand, mit ihr los. Trotz der Kälte ist es angenehm, bei ihr zu sein, immerhin ist sie auch eine der wenigen, die mich versteht und deren Anwesenheit ich wirklich genießen kann – und zum Glück ist außer uns sonst niemand unterwegs. Die meisten Leute fürchten die Kälte eben immer noch, dabei gibt es so viel mehr Dinge vor denen sie Angst haben sollten, denen sie sich aber tagtäglich aussetzen. Unser Weg wird im Schnee deutlich durch Fußspuren gekennzeichnet und für einen kurzen Moment mache ich mir Sorgen, dass uns jemand verfolgen könnte, doch Lucys Stimme holt mich sofort in die Realität zurück: „Du hast deine Tabletten heute nicht genommen, oder?“ „Woher weißt du das?“, erwidere ich verblüfft. Sie lächelt schelmisch. „Ich sehe dir an, dass deine Gedanken immer wieder fortschweifen. Deine Augen verraten mir das – und außerdem kenne ich dich sehr gut.“ Unter diesen Umständen kümmert es mich nicht weiter, dass sie recht hat. Nicht zuletzt, weil ich weiß, dass sie mich versteht, im Gegensatz zu meinem Vater. Während wir laufen, entscheiden wir uns, den gefestigten Weg zu verlassen. Durch den Schnee bemerken wir ohnehin nicht, dass wir uns auf unebenem Boden bewegen. Doch nicht lange danach hält Lucy wieder inne, mein Blick wandert sofort in dieselbe Richtung wie ihrer. Dort war ein kleiner Hügel zu sehen, den man im ersten Moment für einen Erd- oder Blätterhaufen halten konnte, aber bei genauerem Hinsehen wird einem bewusst, dass es etwas anderes sein muss – zumindest sagt meine Neugier mir das. Also gehe ich auf die Knie und befreie das darunter liegende von dem Schnee. „Oh“, entfährt es Lucy verzückt, als sie sieht, worum es sich handelt. „Das ist fast schon komisch.“ Was sich uns zeigt, ist eine Schneekugel, das Glas ist mit Kratzern übersät und noch dazu verschmutzt, aber sonst nicht ernsthaft beschädigt, wie ich nochmal bestätigen kann, als ich sie hochhebe. Der Sockel ist aus Holz gefertigt und weist lediglich eine ringförmige Vertiefung als Dekoration auf. Im Inneren der Kugel befinden sich kleine Figuren, die ich als Vater, Mutter und Kleinkind identifizieren kann. Durch ein sanftes Schütteln wird der Schnee im Inneren aufgewirbelt, worauf Lucy wieder ein verzücktes Geräusch von sich gibt. „Wie hübsch!“ „Aber warum liegt es hier?“ Da es im Schnee begraben war, muss es schon lange hier sein. Aber ich verstehe den Grund dafür nicht. Und Lucy auch nicht, wie mir auffällt, als ich zu ihr hinübersehe. Mit gerunzelter Stirn betrachtet sie die Kugel weiter, ehe ihr eine Idee zu kommen scheint. „Dreh sie doch mal um.“ „Weswegen?“ Nun hebt sie endlich den Blick, um mich anzusehen, aber ihre Stirn ist nach wie vor in Falten gelegt. „Manchmal schreiben Leute etwas auf die Unterseite, wenn es ein Geschenk ist oder so.“ Das leuchtet mir allerdings ein, also drehe ich es wirklich um, damit ich die hölzerne Unterseite näher betrachten kann. Undeutlich erkenne ich tatsächlich Buchstaben, die hineingeätzt sind, vermutlich von einem Fachmann, wie ich mir denke. Aber das Holz war zu lange den Witterungen ausgesetzt, weswegen ich nicht sagen kann, was die Buchstaben genau aussagen wollen. „Wäre auch zu einfach gewesen“, stellte Lucy mit einem enttäuschten Seufzen fest. „Was machst du jetzt damit?“ „So lange wie sie schon hier liegt, wird sie wohl niemand gesucht haben – ich würde sagen, ich nehme sie mit nach Hause.“ Es spricht auch nichts dagegen, immerhin wird derjenige, der sie verlor, die Suche bestimmt schon aufgegeben haben, hier draußen hat es keinerlei Nutzen – und vor allem ist es nicht im Mindesten elektronisch. Keine Drähte, Kabel, Chips jeder Art, nichts, das den Anderen helfen könnte, mich zu beobachten oder zu orten. „Eine schöne Idee“, stimmt Lucy mir mit einem Lächeln zu. „Wollen wir dann weiter?“ Ich verstaue die Schneekugel in meiner Tasche, ehe ich ihr zunicke und dann den Weg gemeinsam mit ihr fortsetze. Es wird bereits dunkel, als wir endlich wieder an meinem Zuhause ankommen. Wie elektrisiert hält Lucy inne, als wir dem Haus zu nahe kommen. „Ich gehe dann lieber mal.“ „Willst du nicht noch mit reinkommen?“ Doch sie schüttelt den Kopf. „Dein Vater wird ohnehin schon schlecht genug gelaunt sein, da lasse ich ihn lieber in Ruhe und bewahre dich vor Ärger.“ Mit einem kurzen Kuss verabschieden wir uns voneinander und während sie langsam davongeht, die Arme um sich geschlungen, um sich vor der Kälte zu schützen, die mit dem Einfall der Nacht zunimmt, betrete ich das Haus. Bereits an der Tür höre ich, dass der Fernseher noch immer plärrt, ein Mann kommentiert derart aufgeregt und mit abgehackten Sätzen, dass seine Stimme sich überschlägt und ich kein Wort mehr verstehen kann. Nicht, dass es mich überhaupt interessieren würde. „Ich bin wieder da.“ Auch diese Ankündigung nimmt mein Vater einfach grunzend zur Kenntnis. Ich werfe nur einen kurzen Blick in das Wohnzimmer hinein, das lediglich vom Schein des Bildschirms erleuchtet wird. Sofort zucke ich wieder zurück, ehe ich ins Blickfeld der Anderen geraten kann. Am Liebsten würde ich diesen Fernseher einfach nach draußen bringen, damit das ganze Haus sicher vor denen ist, aber bislang gab es keine Gelegenheit dafür, mein Vater bewacht ihn besser als den Rest des Gebäudes scheint mir.. Als ich die Jacke ausziehe, höre ich plötzlich ein lautes Geräusch und im nächsten Moment sehe ich, wie die Schneekugel in Richtung Wohnzimmer davonrollt. Mit einem erschrockenen Keuchen bücke ich mich und greife nach vorne – doch meine Hand geht ins Leere. Die Kugel ist bereits ins Zimmer gerollt und obwohl ich sie nur wenige Schritte von mir entfernt sehen kann, weigert sich alles in mir standhaft, hinüberzugehen. Ich bin vor Angst wie gelähmt, etwas in meinem Kopf scheint leise zu summen. Mein Vater beginnt dafür, sich zu bewegen, wie ich hören kann und schon einen Augenblick später, steht er plötzlich neben der Schneekugel und hebt diese auf. Während er sie eingehend betrachtet, stelle ich mir vor, wie er sie gleich missgelaunt wieder zu Boden fallen lassen wird, statt mir den Gefallen zu tun, sie mir wiederzugeben. Doch stattdessen zieht er plötzlich die Brauen zusammen und sieht dann mich an. „Woher hast du das?“ Die Stimme des Kommentators rückt sofort in den Hintergrund, als er mir diese Frage stellt, in seinem Tonfall ist etwas zu hören, das ich nicht von ihm gewohnt bin, aber dafür sorgt, dass ich ihm sofort antworte: „Lucy und ich haben es bei unserem Spaziergang zwischen den Bäumen gefunden, nicht weit von hier.“ Ich sehe, dass er damit kämpft, ob er mir das glauben soll, beschließt dann aber offenbar, das doch zu tun, denn er fragt nicht weiter in diese Richtung. Stattdessen blickt er wieder auf die Schneekugel hinab, mit einen melancholischen, fast schon schmerzvollen Gesichtsausdruck, den ich nur von ihm kenne, sobald es um meine Mutter geht. Er wendet sich ab und entfernt sich wieder aus meinem Blickfeld, kurz darauf höre ich, wie er den Fernseher ausschaltet und dafür das Licht anmacht. Ich sehe es als Signal an, ins Wohnzimmer zu kommen und er beschwert sich auch nicht darüber, als ich es tue. Inzwischen sitzt er wieder auf dem Sessel, direkt gegenüber des Fernsehers, dessen Bildschirm nun vollkommen schwarz ist. Er hält die Schneekugel weiterhin in den Händen und schüttelt sie immer wieder sacht. Ich will fragen, was er darin sieht und warum er derart melancholisch ist, aber er kommt mir bereits zuvor: „Ich dachte, ich würde das nie wiedersehen. Deine Mutter hatte sie bei sich, als sie von denen entführt wurde.“ Mein Magen verknotet sich regelrecht, als ich wieder an die Kinder der Erde denke, jene Sekte, die meine Mutter noch vor meiner Geburt entführte. Bei dieser Aktion muss sie die Kugel verloren haben und niemand war auf die Idee gekommen, gerade dort danach zu suchen, wo ich sie fand. „Warum hatte sie die Schneekugel dabei?“ Er stieß ein lautloses Seufzen aus. „Ich habe ihr diese Kugel geschenkt, weil sie die unbedingt haben wollte und besonders während der Schwangerschaft hat sie die überallhin mitgenommen. Sagte, sie wolle überall etwas Schönes sehen, sei gut für das Baby. Sie hat sich wirklich sehr auf dich gefreut.“ Bei seinem letzten Satz wirft er mir einen vorwurfsvollen Blick zu, gegen den ich bereits immun bin, so oft wie ich ihn bereits mein ganzes Leben ertrage, doch sieht er sofort wieder auf die Kugel hinab. Aber dieses neue Wissen bringt mich bei einer anderen Frage weiter: Die Buchstaben auf dem Boden bilden den Namen meiner Mutter und vielleicht noch irgendeinen kitschigen Spruch, der nicht zu meinem Vater passt – jedenfalls nicht so wie ich ihn kennengelernt habe. Damit ist der Plan, sie zu behalten, gestorben. Ich sehe, wieviel sie meinem Vater bedeutet, weswegen ich denke, dass es besser ist, wenn er sie behält. Als er erneut den Kopf hebt, lese ich erstmals etwas anderes in seinem Blick. Keinen Vorwurf, keine Abneigung und nicht die stumme Frage, wie lange ich eigentlich noch zu bleiben gedenke, nein, zum ersten Mal sehe ich Dankbarkeit, auch wenn er diese niemals mit Worten ausdrücken würde. „Gut, dass du die Kugel gefunden hast.“ Ich schlucke ein wenig, unfähig, etwas zu erwidern, weil ich ihn noch niemals so erlebt habe. Statt etwas zu sagen, was ihn vermutlich ohnehin nur wütend machen würde, nicke ich lediglich. Als er den Blick wieder auf die Kugel richtet, wende ich mich ab und gehe hinaus. Es ist deutlich, dass er lieber allein sein will und da er ohnehin nicht gern mit mir redet, stört ihn meine Anwesenheit nur unnötig. Ich suche mein Zimmer auf und bemerke dabei wieder einmal, welch ungewöhnliche Beziehung wir zueinander haben. Es ist schon immer eine deutlich lieblose gewesen, aber vielleicht würde sich das nun ändern, auch wenn ich nicht viel Hoffnung hege. Aber vielleicht, nur vielleicht, war dies jetzt der entscheidende Stoß gewesen, der ihn mich nicht mehr nur aus Pflichtbewusstsein und Liebe zu meiner Mutter bei sich wohnen lässt, sondern weil er mich auch mag oder vielleicht sogar als Sohn liebt. Und dieser kleine Funken Hoffnung auf Besserung ist es, der in mir wieder den Entschluss verstärkt, dieses Haus von allen elektronischen Geräten zu befreien. Nicht nur, um mich zu schützen, sondern auch ihn – und dann wird er das auch verstehen, da bin ich mir sicher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)