Ein einsamer Tannenbaum von Shizana (Animexx Adventskalender 2012) ================================================================================ Auf dem Weihnachtsmarkt ----------------------- Weihnachten ist die wohl schönste Zeit für Kinder und Familien. Bummeln für Weihnachtsgeschenke, süße Düfte vom Plätzchenbacken, fröhliche Familienfeiern und natürlich das gemütliche Schlendern über den Weihnachtsmarkt sind feste Bestandteile für die allseits geliebte Vorweihnachtszeit. Besonders der Weihnachtsmarkt, der in den meisten Städten pünktlich zum ersten Advent aufgebaut und eröffnet wird, erfreut sich großer Beliebtheit. Viele Traditionen werden mit den vielen Ständen verbunden, unter anderem der Kauf von Naschereien wie Gebackene Nüsse oder Karamellisiertes Obst, aber auch Weihnachtszubehör, kleinen Geschenken und natürlich auch dem Weihnachtsbaum.   Auch Mikey gehört zu den vielen Kindern, die den Weihnachtsmarkt lieben und sich jedes Jahr auf das bunte Treiben freuen. Jeden Sonntag nimmt ihn sein Großvater mit auf den städtischen Weihnachtsrummel, lässt ihn eine oder auch zwei Runden Skat fahren und hilft ihm, ein passendes Geschenk für Mama und Papa auszusuchen. Es gibt so viel zu bestaunen. Mikey liebt die vielen, hellen Lichter, die die kleinen Holzhütten wie Kerzenlicht erhellen. Alles wirkt so warm an diesen kühlen Abenden. Von überall wehen süße Gerüche von frisch Gebackenem und heißen Getränken heran. Ein Chor singt liebliche Lieder zu weihnachtlichen Klängen. „Opa, schau!“, ruft er vor einem Stand und zieht ganz aufgeregt an dem Arm seines Großvaters. „Da ist Tante Gerda!“ Tante Gerda, eine etwas rundliche Frau mittleren Alters mit einem mütterlich-sanften Lächeln in dem von braunen Locken umrahmten Gesicht, betreibt einen Backwarenstand. Sie ist jedes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt, um Stollen, Lebkuchen und Pfannkuchen aus eigener Herstellung zu verkaufen. Wie die meisten Kaufleute hier kennt sie nahezu jeder jährliche Besucher der Gegend. „Ah, hallo Mikey“, grüßt sie den kleinen Jungen mit der blauen Schneeflöckchen-Pudelmütze und schenkt ihm ein warmes Lächeln. „Ich habe dir einen Pfannkuchen aufgehoben. Möchtest du ihn haben?“ Die Pfannkuchen von Tante Gerda sind warm, weich und schmecken angenehm süß. Sie sind mit süßer Kirschkonfitüre gefüllt, die sie selbst gemacht hat, wie sie jedes Jahr stolz den Kunden erzählt. Mikey liebt ihre Pfannkuchen mehr als die von jedem anderen Bäcker. Das sagt er ihr auch jedes Mal, dann strahlt sie über das ganze Gesicht und Mikey bekommt einen ihrer frischen Pfannkuchen geschenkt. Sie freut sich jedes Mal, wenn er sie an ihrem Stand besuchen kommt. „Opa, gehen wir Onkel Joe besuchen?“, fragt Mikey und schaut aus freudestrahlenden Augen zu seinem Großvater hoch. Dieser lächelt sanft, holt ein Taschentuch hervor und wischt damit den weißen Puderzucker aus dem Gesicht des Jungen. „Weißt du denn noch, wo er ist?“, fragt er dabei mit einem Lächeln. Nach kurzem Protest gegen die Putzaktion seines Großvaters hebt Mikey einen Arm und deutet in Richtung der fließenden Menschenmasse. „Da entlang“, erklärt er stolz, packt seinen Großvater an der Hand und führt ihn voran. Und tatsächlich, Onkel Joe, eigentlich eher unter den Leuten als „der alte Joe“ bekannt, hat seinen Platz wie jedes Jahr inmitten des Rummels. Dort sitzt er an seinem überdachten, alten Holztisch auf seinem breiten Campingstuhl und nippt gerade an seiner Tabakspfeife. Neben ihm hat es sich Bully, eine alte, dunkle Bulldogge, auf seiner flauschigen Wolldecke bequem gemacht und schläft vollkommen unbeeindruckt von dem Trubel um ihn herum. „Onkel Joe, Onkel Joe!“, ruft Mikey schon aus der Ferne und winkt dem Tannenbaumverkäufer aufgeregt zu. Dieser hebt seinen Blick und tippt kurz an seinem Fedorahut. Der alte Joe sieht mit diesem alten, abgenutzten Filzhut wie ein Abenteurer aus dem Wilden Westen aus, eigentlich ist er aber nur ein alteingesessener Förster. Trotzdem kennt er viele Geschichten, die er Mikey und den anderen Kindern gerne erzählt, wenn man sich zum späteren Abend hin an dem großen Lagerfeuer versammelt. „Jo, Mikey“, grüßt er mit seiner rauen Stimme und hebt sich den Jungen auf den Schoß, als dieser bei ihm angekommen ist. Mit einem Nicken grüßt er auch den Großvater, der ihm die Hand reicht. Die beiden Männer kennen sich noch aus jüngeren Tagen. „Hast du wieder viele Weihnachtsbäume verkauft?“, will Mikey wissen und schaut sich auf dem weiten Stellplatz um. „Na was denkst du denn“, gibt der alte Joe mit einem zufriedenen Grinsen zur Antwort. „Drei Exemplare habe ich noch, davon sind zwei zur Lieferung morgen bestellt. Sie bekommen noch ein gemütliches Zuhause“, erklärt er. „Unseren Weihnachtsbaum haben wir damals auch von dir bekommen, Onkel Joe!“ Mikey platzt bald vor lauter Stolz, während er das erzählt. „Wir haben ihn immer noch und er wird jedes Jahr geschmückt. Mit einem goldenen Stern auf der Spitze, weißt du?“ „Ein richtiger Königsbaum also“, lacht der alte Joe und Mikey wippt dabei im Takt auf seinem Schoß. „Und mit bunten Weihnachtskugeln und Metta!“ „Lametta“, korrigiert ihn der Großvater und schmunzelt dabei. Mikey plustert beleidigt die Backen. „Sag ich doch!“ „Sehr schön, sehr schön.“ Der alte Joe zieht noch einmal kräftig an seiner Pfeife, bläst den Rauch zur Seite aus und grinst den Jungen an. „Na was ist, Mikey, willst du die Bäume sehen?“ Als wäre die Frage des alten Joe eine Aufforderung gewesen, springt Mikey von seinem Schoß und wartet voller Ungeduld darauf, dass sich der Mann aus seinem Sitz erhoben hat. Das dauert einen Moment, deswegen läuft Mikey dann doch schon einmal vor, da er es kaum erwarten kann. Auf dem Stellplatz sind tatsächlich nur noch drei letzte Tannenbäume. Zwei lehnen auf der rechten Seite am grünen Maschendrahtzaun, sorgfältig verschnürt und gebündelt. Sie sind durch die dicke Blasenfolie kaum noch richtig zu erkennen. Enttäuschung macht sich auf Mikeys rundem Gesicht breit. „Ein gutes Jahr für dich, Joe“, bemerkt der Großvater, der mit dem alten Joe hinter Mikey zum Stehen gekommen ist. „Wie man es nimmt“, entgegnet Joe. „Ich habe dieses Jahr weniger Bäume geschlagen als sonst.“ Mikey ist derweil zu dem letzten zum Verkauf stehenden Baum gegangen und schaut zu ihm auf. Er ist kleiner als die anderen beiden Bäume, dürrer und nicht so dicht bewachsen. Einige der Äste mussten bereits abgefallen sein und an diesen Stellen sind nun vereinzelte Lücken. „Was ist mit diesem Baum, Onkel Joe?“, will Mikey wissen und zeigt mit dem Finger auf den Tannenbaum. „Der“, seufzt der alte Joe und stemmt eine Hand in die Hüfte, während er mit der anderen seine Pfeife an seine Lippen hält, „bereitet mir zugegeben ein wenig Sorgen. Ich denke nicht, dass ich den noch verkaufen werde.“ „Wieso hast du ihn überhaupt mitgenommen?“, runzelt Mikeys Großvater die Stirn. „So ein Gefühl“, antwortet Joe. „Er stand da so allein auf der Lichtung. Die Tiere hätten genug Schaden an ihm angerichtet, dass es ohnehin sein letzter Winter geworden wäre, also habe ich ihn auf Gutdünken mitgenommen.“ Noch immer steht Mikey vor dem krummen Baum und mustert ihn eingehend. In seinem Gesicht macht sich Traurigkeit breit, je länger er ihn sich betrachtet. „Na, na, na“, spricht der alte Joe und geht neben Mikey in die Hocke. „Was machst du denn für ein Gesicht, Mikey?“ „Der Baum sieht einsam aus“, antwortet der Junge. Der alte Joe mustert den Tannenbaum vor ihnen: „So, findest du?“ „Denkst du nicht“, wendet sich Mikey an den alten Förster, „dass der Baum traurig ist, wenn ihn keiner haben will?“ „Hm“, überlegt er kurz. „Gut möglich.“ „Was machst du mit ihm, wenn ihn keiner kaufen will?“ Einen Augenblick lang schaut der alte Joe den kleinen Jungen einfach nur an, ohne etwas zu sagen. Dann hebt er einen Arm und legt seine große Hand auf den kleinen Kopf des Jungen. „Weißt du, Mikey“, beginnt er ruhig, „dieser Baum ist schon alt. Ich denke, er ist schon froh, dass er es hier im Augenblick wärmer hat als draußen im Wald. Und hier gibt es viele nette Menschen. Mache dir mal keine Sorgen, dem Baum geht es gut.“ „Aber wäre er nicht glücklicher, wenn er ein Weihnachtsbaum wäre? So wie die anderen auch?“, will Mikey wissen. „Für die Tiere draußen war er ganz bestimmt ein Weihnachtsbaum“, lächelt der alte Joe. „Der schönste von allen, glaube mir.“ Der kleine Junge beginnt zu überlegen. Er versucht sich auszumalen, wie der Baum in jüngeren Jahren ausgesehen haben muss. Grün, dicht bewachsen, der schönste Tannenbaum im ganzen Wald. Er stellt sich vor, wie sich zu Weihnachten Tiere um den Baum versammelt haben, um in seiner Nähe zu ruhen. Es muss schön gewesen sein. Entschlossen dreht er sich zu seinem Großvater um. „Opa? Ich möchte noch einmal zu Tante Gerda.“ „Möchtest du dir noch einen Pfannkuchen abholen? Zuhause gibt es Abendessen, also iss bitte nicht so viel davor“, spricht der Großvater sanft. Mikey schüttelt den Kopf. „Nein, ich möchte sie etwas fragen.“ Die beiden erwachsenen Männer tauschen einen Blick, dann nickt der Großvater. „In Ordnung, gehen wir zu Tante Gerda. Und danach gehen wir nach Hause, einverstanden?“ „Ich bleibe hier“, erklärt der alte Joe und lächelt. „Einer muss ja auf den Laden aufpassen, nech?“ Somit verabschieden sich kleiner Mann und große Männer voneinander, nächsten Sonntag würden sie ihn wieder auf dem Weihnachtsmarkt besuchen kommen. Noch ein kurzer Besuch bei Tante Gerda, ehe es wieder nach Hause ging.   Wie versprochen besucht Mikey eine Woche später wieder mit seinem Großvater den Weihnachtsmarkt. Sofort möchte er den alten Joe besuchen, schon den ganzen Weg über hat er den Großvater darum gebeten. Es ist der vierte Advent und somit ein Tag vor Weihnachten; der letzte Tag, an dem der Weihnachtsmarkt geöffnet hat. „Ah, Mikey!“, werden sie auch gleich von dem alten Förster begrüßt, noch ehe sie richtig bei ihm angekommen sind. Sofort rennt Mikey das letzte Stück zu ihm herüber und der alte Joe geht vor ihm in die Hocke. „Ich habe eine kleine Überraschung für dich. Möchtest du eben mit mir mitkommen?“ „Eine Überraschung?“, fragt der Junge überrascht zurück und weitet die Augen. „Ich habe auch eine Überraschung für dich, Onkel Joe!“ Mit einem fröhlichen Lächeln im Gesicht reicht er dem Erwachsenen eine rote Tüte, in der es leise klirrt. „Sei vorsichtig“, sagt er dabei und der alte Joe nimmt sie ihm behutsam aus den behandschuhten Händen. Als er hineinsieht, ist er im ersten Moment überrascht. Dann grinst er ein schiefes Grinsen, ehe er laut zu lachen beginnt. „Das trifft sich ja großartig!“, freut er sich und hebt sich Mikey auf den Arm, ehe er aufsteht. „Vielen Dank, Mikey. Wollen wir es gleich an den richtigen Ort bringen?“ „Das ist für den Weihnachtsbaum. Mama hat gesagt, das kann er ruhig haben, dann freut er sich bestimmt. Tante Gerda wollte auch noch etwas mitbringen“, erklärt er aufgeregt. Doch entgegen seiner Erwartung bringt ihn der alte Förster nicht zu dem Abstellplatz, wo auch der Baum gestanden hatte. Er trägt ihn fort von seinem Stand, mitten in den Trubel des Weihnachtsmarktes. „Wo ist der Baum?“, will Mikey wissen und wird traurig. „Hast du ihn verkauft? Oder weggeworfen?“ „Was redest du denn da, Mikey?“, lacht der alte Joe mit seiner rauen Stimme. Dann zeigt er nach vorne: „Schau, da ist er doch.“ Der Junge folgt seiner Weisung und er bekommt ganz große Augen bei dem, was er sieht. Im Herzen des Weihnachtsmarktes steht immer eine kleine Tribüne. Dort wird jedes Jahr ein großer Weihnachtsbaum aufgestellt und aus den Boxen klingt liebliche Weihnachtsmusik. Doch der Weihnachtsbaum, der letzte Woche noch dort gestanden hatte, ist nun weg und stattdessen steht dort nun ein anderer. Mikey hätte den Baum fast nicht wiedererkannt. Jemand hat ihn mit Lametta, bunten Weihnachtskugeln und einer hellen Lichterkette geschmückt. Auf seiner kahlen Spitze thront nun ein goldener Weihnachtsstern. Künstlicher Schnee liegt auf den einst kahlen Zweigen und lässt die Lichter noch heller leuchten. Der alte Tannenbaum sieht so festlich aus, so groß und wunderschön, dass gar nicht mehr daran zu denken ist, wie trostlos und verlassen er gestern noch ausgesehen hatte. Nun erstrahlt er im Glanz des Weihnachtszaubers, wie es nur ein richtiger Weihnachtsbaum kann. „Siehst du“, spricht der alte Joe und stellt sich mit Mikey auf seinen Schultern direkt vor den leuchtenden Tannenbaum auf der Tribüne, „nun ist der Baum nicht mehr einsam und traurig. Jeder hier hat geholfen, ihn zu schmücken.“ Mikeys große Kinderaugen beginnen zu strahlen. Heller als jede Lichterkette. Glücklich umarmt er den alten Förster und flüstert ihm zu: „Das ist der schönste Weihnachtsbaum der ganzen Welt!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)