Gebrannte Mandeln von Jeschi ================================================================================ Kapitel 1: Gebrannte Mandeln ---------------------------- Das Wasser ist zu heiß. Viel zu heiß. So heiß, dass es mir die Haut regelrecht verbrennt. Sie ist schon ganz rot und aufgeweicht ist sie sowieso schon längst. Es tut auch weh, aber das ist schon okay. Ich gehöre ja nicht zu den Leuten, die auf Schmerzen stehen, aber das heiße Wasser stört mich nicht. So lange ich nur auf den Schmerz achte, denke ich nichts anderes. Das ist meine Devise. Deswegen denke ich auch gar nicht daran, es kälter zu drehen. Besser Schmerzen als sich Gedanken um das zu machen, was mich dazu bewogen hat, mich unter die Dusche zu stellen. Damit meine ich jetzt keinen absonderlich ekligen Geruch, sondern eher die quälenden Fragen, mit denen ich mich seit einiger Zeit herumschlagen muss. Fragen, über die ich mit keinem reden, die ich einfach keinem stellen kann. Das ist sozusagen eine Sache, die ich mit mir selbst ausmachen muss. Deswegen die Dusche. Weil ich unter der Dusche am besten nachdenken kann. Deshalb gehe ich auch immer, wenn ich irgendwelche Probleme habe, unter die Dusche, lasse mich vom Wasser berieseln und denke nach – oder schalte ab. Je nachdem, was für mein Seelenheil gerade besser geeignet ist. Im Moment also Abschalten. Das Wasser ist immer noch zu heiß. So langsam sollte ich es vielleicht doch kälter dreh- „Leon! Was glaubst du, wie lange du noch unter der Dusche stehen willst? Das Wasser läuft jetzt schon eine Viertelstunde. Ich weiß, du kannst es dir nicht vorstellen, aber so was kostet Geld! Ich kann es dir natürlich auch vom Taschengeld abziehen!“ Meine Mutter hämmert von außen gegen die Badtüre und zetert genau so lange, bis ich den Hahn abdrehe und seufzend aus der Dusche steige. Dann erst wendet sie sich mit einem Schnauben ab und ich habe wieder meine Ruhe. Seufzend lehne ich mich gegen das Waschbecken und starre in den Spiegel. Eigentlich sehe ich ja ganz normal aus. Braune, kinnlange Haare (eigentlich etwas wuschelig, aber top gestylt), braune Augen, sportliche Figur. Passt also gar nicht zu diesem komischen, unnormalen Sorgen, die ich mit mir herumschleppe. Ganz und gar nicht. Aber was ist schon normal und unnormal. Darüber könnte ich jetzt natürlich auch einen ganzen Roman erzählen, aber wirklich interessieren tut es doch keinen. Die Leute interessiert nicht, was normal und was unnormal ist. Die Leute interessiert nur, ob ich normal oder unnormal bin. Ja, ich übertreibe. Aber ich habe einfach Angst, dass sie mich meiden, wenn sie herausfinden, was mit mir nicht stimmt. Andererseits kann ich auch nicht länger mehr verleugnen, was mit mir nicht stimmt. Denn ob ich es nun will oder nicht – ich bin schwul! Was an sich vielleicht nicht das Problem wäre. Ich könnte irgendwo hin ziehen, wo mich keiner kennt. Weit weg von meinen Freunden, die alle glauben, ich wäre total der Weiberheld. Und dann könnte ich dort auch mit einem Mann leben. Nur leider bin ich gerade erst in der zehnten Klasse und habe noch zwei weitere Jahre Schule vor mir, so dass es mit dem Wegziehen einfach unmöglich ist. Was vielleicht auch noch kein Problem wäre, wenn ich einfach so tun könnte, als wäre ich hetero. Kann ich aber nicht – zumindest nicht so gut, wie ich es die ganze Zeit gekonnt habe, als ich es mir selbst noch nicht eingestehen wollte. Denn bis dato gab es auch keinen Einflussfaktor, der an dieser Maske rütteln konnte. Aber jetzt. Jetzt gibt es so was. Jetzt gibt es… ihn. Und wie soll ich es verbergen, dass ich ihn ständig ansehen muss, weil ich noch nie einen hübscheren Jungen als ihn gesehen habe? Wie soll ich es verbergen, dass ich ihn ständig ansprechen muss, nur um seine wundervolle Stimme zu hören? Das fällt doch auf. Außer, man ist clever. Clever bin ich momentan allerdings, was diese Punkte betrifft. Und meinem Image wird somit kein Schaden zugefügt. Die Verbergungstaktik, ihn anzugaffen und zu lästern, wie freaky er ist und ihn damit anzusprechen, um ihn zu fragen, ob er sich heute schon geritzt hat – ja, das ist dann eher das, was schadet. Unserer Beziehung schadet. Wobei Beziehung falsch klingt – aber ich weiß auch keinen anderen Ausdruck. Unserem Zwischenmenschlichen vielleicht. Er denkt nämlich, dass ich ihn hasse, obwohl ich ihn vergöttere. Und weil er denkt, dass ich ihn hasse, hasst er mich. Und ich muss sagen, das kann man drehen und wenden, wie man will – das ist einfach verdammt scheiße. Soweit so gut, denke ich, während ich mich abtrockne und in meine Boxershorts schlüpfe. Ich hab mein Problem jetzt oft genug vor mir selbst dargelegt und je öfter ich es tue, desto beschissener scheint es zu werden. Dabei hat unser Klassenlehrer dem Ganzen heute erst die Krone aufgesetzt. Mit seiner hirnlosen Idee, in der Klasse zu Wichteln. Wichteln! Wer sich so was ausgedacht hat, gehört auch erschossen. Mag ja sein, dass Mädchen so was total klasse finden, aber ich finde es hirnlos, meinem ‚Wichtelopfer’ etwas zu kaufen, was er eh nicht gebrauchen kann und dafür etwas zu bekommen, was ich eh nicht gebrauchen kann. Und weil ich es sowieso schon unschön finde – um mal ohne obszöne Worte auszukommen –, habe ich auch noch ein besonders schreckliches Los gezogen. Mein Wichtelopfer ist nämlich Marie. Und Marie ist seit einem halben Jahr in mich verknallt. Und alle meine Kumpels finden, dass es die Gelegenheit ist, sie – wie sie sich gerne ausdrücken – ‚klarzumachen’. Nun, jetzt habe ich also die Herausforderung mehr oder minder annehmen müssen, sie klarzumachen. Immer noch besser, als das herauskommt, das ich Gefühle für unseren kleinen Freak entwickelt habe, die ich nicht haben sollte. ‚Unser kleiner Freak.’ Das sollte ich lieber nicht in der Öffentlichkeit sagen, das klingt, als spräche da die pure Zuneigung aus mir. Was ja leider auch so ist. Wirklich gruselig. Vielleicht sollte ich einen kurzen Überblick über ihn geben, nur, damit nachvollziehbar ist, wie anbetungswürdig er ist. Und ja – ich benutze das Wort anbetungsbedürftig. Ich bin ein bisschen in Mitleidenschaft gezogen, weil er in so weiter Ferne ist. Es gibt nichts schlimmeres, als sich in jemanden zu verknallen, den man einfach nicht haben kann. Egal, zurück zu ihm. Er heißt Leslie. Was die meisten Jungs aus meiner Klasse einfach unglaublich witzig finden. Sie sagen immer, der Name klingt schon so richtig tuntig, das würde ja total zu Leslie passen. Aber Leslie ist gar nicht tuntig. Sie behaupten es nur, weil er eben schwul ist. Und ja, Leslie ist schwul. Was die Sache nur noch viel, viel, viel, viel schlimmer macht. So wird mir quasi jede Sekunde vor die Nase gehalten, dass ich Leslie vielleicht sogar haben könnte, wenn ich nur offen die Karten auf den Tisch legen könnte. Jedenfalls hat man ja schon heraushören können, dass er ein wenig freaky aussieht. Wenn man ganz clever ist, hat man vielleicht auch schon erraten, dass er ein Emo ist. Dementsprechend kann man sich einfach einen Klische-Emo vorstellen. Nur, dass Leslie einfach noch hundertmal besser aussieht. Die schwarzen Haare stehen ihm unbeschreiblich gut und die Art und Weise, wie sie ihm ins Gesicht fallen, ist total niedlich. Und noch viel niedlicher ist die Handbewegung, mit der er sie dann wieder aus diesem wischt. Und seine Augen. Oh Gott, diese Augen schaffen mich. Sie haben ein wunderschönes braun-grün. So was habe ich noch nie gesehen, einfach nur faszinierend. Überhaupt ist er faszinierend. Die kleine Stupsnase, die schmalen Lippen, der zierliche Körper. Ich könnte ihn sprichwörtlich fressen, wenn ich ihn so vor mir stehen sehe. Also… jetzt steht er natürlich nicht vor mir. Aber wenn ich mir schon vorstelle, er würde es jetzt tun… oh Gott, das wäre einfach nur das Beste, was mir passieren könnte. So weit, so gut. Ich stehe nun also vollkommen angezogen im Bad und bin eigentlich fertig, traue mich aber nicht, es zu verlassen, aus Angst, meine Mutter könnte mir noch eine Standpauke über meinen enormen Wasserverbrauch halten. Allerdings kann ich mich auch nicht ewig vor einer Konfrontation drücken, denn dank meines Duschintermezzos bin ich nun schon spät dran und irgendwann muss ich ja doch mal in die Schule. Also schließe ich die Türe doch auf und bewege mich in die Küche. Glücklicherweise sagt meine Mutter kein Wort mehr dazu und ich kann hastig ein trockenes Toast herunterwürgen, ehe ich meine Schultasche packe, im Flur noch schnell Schuhe, Jacke und Schal anziehe und mich dann auf den Weg zur Schule mache. „Leon!“, begrüßt mich mein bester Kumpel Anton, kaum dass ich den Schulhof betrete, und klopft mir in netter Geste auf den Rücken, haut mich dabei aber fast um. Ich kenne Anton schon seit der Grundschule. Wir sind damals zusammen in eine Klasse gekommen und seitdem sitzen wir nebeneinander und haben uns richtig gut angefreundet. Er ist wirklich richtig beliebt, und das, obwohl er vor ein paar Jahren noch gehänselt worden ist. Leider ist er nämlich das, was man umgangssprachlich als fett bezeichnen würde. Dennoch muss man dazu sagen, dass er ein wirklich hübsches Gesicht hat. Und abgesehen davon ist er einfach einer der nettesten Jungen, die ich kenne. Er mag es auch ganz und gar nicht, wenn wir über Leslie herziehen. Weil er genau weiß, wie es ist, wenn man gemobbt und beschimpft wird. Ich halte mich dann meistens zurück, wenn er dabei ist. Aber ganz zurückhalten kann ich mich dann auch nicht. Früher konnte ich es. Aber jetzt, unter den gegebenen Umständen, muss ich einfach allen Verdacht von mir lenken. Und das geht einfach am besten damit, Leslie niederzumachen. Leslie. Der steht bei den Weibern aus meiner Klasse, wie er es immer tut. Das ist auch so ein Punkt, der viele Jungs so richtig nervt. Er hat den total hießen Draht zu den Mädels, hat immer den Überblick darüber, welcher es gerade gut und welcher es gerade schlecht geht, welche frisch verliebt und welche frisch single ist. Muss sicher total zum kotzen sein, wenn man selbst gerne in das Innerste des Traummädchens gucken würde. Ich kann da ja nicht mitreden. Mich interessiert nur Leslies Inneres. „Starrst du schon wieder zu Maria,“ grinst Anton neben mir und ich weiche aus, ehe er mir noch mal mit einer seiner Pranken in den Rücken hauen kann. Schon allein wegen seines Gewichtes hat er ja ziemlich Kraft. Aber dazu kommt, dass er auch noch so groß ist. Man könnte ihn glatt ein Fell überziehen – schon ginge er als Grisslybär durch. Er weiß es übrigens auch nicht – was da so in mir abgeht. Keiner weiß es. Und der positive – oder auch wahlweise negative – Aspekt daran, dass Leslie immer von Mädels umzingelt ist, ist der, dass man natürlich nie auf die Idee kommt, ich könnte ihn anstarren. Nicht, wenn so eine ‚Hammerbraut’ wie Maria neben ihm steht. Die ist nämlich in der Klasse diejenige, auf die alle Jungs scharf sind. Lange brauen Haare, große blaue Kulleraugen und eine dermaßen scharfe Figur, dass selbst ich sie anfangs einfach angucken musste – bis ich gemerkt hab, dass mir keiner abgeht, wenn ich mir beim Wichsen vorstelle, ich würde an ihren Brüsten herumspielen. Nun…. Jedenfalls grinst Anton mich nun belustigt an und ich zwinge mich dazu, auch zu grinsen und irgendwie verliebt auszusehen. „Hast du schon eine Idee, was du ihr kaufen wirst?“, fragt er mich und ich schüttle den Kopf. Mein Plan sieht eigentlich vor, dass ich auf den Weihnachtsmarkt latsche, irgendein hässliches, billiges Dekoteil besorge, es in hässliches Geschenkpapier wickle, auf dem Katzen mit Weihnachtsmützen abgebildet sind, und es ihr dann vor die Nase klatsche. Wenn ich besonders gut gelaunt bin, mach ich sogar ein Schleifchen drum rum – aber ich glaube, das ist dann doch zu viel des Guten. Andererseits denken alle, ich wäre in Marie verliebt und da sollte es wohl doch so aussehen, als hätte ich mir irgendwie richtig arg Gedanken gemacht, was ich nun schenke. Und genau deshalb mein ich jetzt auch zu Anton: „Keine Ahnung. Ich weiß einfach nicht, was man Weibern am besten schenkt.“ „Klar. Bist ja auch nicht Leslie. Ich wette, der könnte einen ganzen Wunschzettel für jede einzelne schreiben, so viel, wie sie ihm da unter die Nase reiben.“ Das ist Thomas, der sich zu uns gesellt. Er kann mich eigentlich nicht leiden, weil er total auf Maria steht und es absolut scheiße findet, dass sie nichts von ihm, sondern von mir will. Ich meine… er kann sie gerne haben. Ich wickele sie sogar in Katzenweihnachtspapier und klebe eine Schleife drauf. Er sieht nun erst spöttisch zu Leslie, dann abfällig zu mir. „Schon traurig, sogar Leslie hat mehr Ahnung, als du.“ Ich ignoriere ihn. Mach ich eigentlich immer. Warum sollte ich mich auch mit ihm anlegen, wegen etwas, was mir total am Arsch vorbei geht. Anton jedoch sieht das ganz und gar nicht so. Ganz, bester Freund, der er nun einmal ist, setzt er dazu an, Thomas den Wind aus den Segeln zu nehmen: „Du hast doch selbst keinen Plan. Stimmt es, dass du Leslie gefragt hat, was du Anna als Wichtelgeschenk kaufen kannst?“ Thomas wird ein wenig rot, sagt aber nichts mehr dazu, zieht lieber ab. Ich grinse Anton dankend an, bereue es aber, als er mir in den Rücken fällt: „Frag doch Leslie, was du Maria schenken kannst!“ Es schneit. Mein Gott, ich hasse Schnee. Ganz ehrlich. Wenn es dann mal taut, ist über all auf der Straße Matsch. Und wenn es gefriert, dann ist über all Eis und man kann total auf die Fresse fliegen. Deswegen bewege ich mich auch so geschmeidig wie eine Katze über den Pausenhof – eigentlich krieche ich vorsichtig dahin, also eher wie eine Schildkröte. Ich bin auf der Suche nach Leslie. Jaha… nach Leslie. Antont hat nämlich nicht locker gelassen, was dieses ‚Dann frag doch mal Leslie’-Getue angeht. Und irgendwann habe ich dann entnervt im Matheunterricht gestöhnt und gemeint, ich werde es tun. Das hat mir zum einen eine Standpauke von unserer Lehrerin, und zum anderen diese beschissene Situation hier eingebrockt. Dann endlich sehe ich Leslie. Er steht mit Maria, Anna und Loraine aus meiner Klasse zusammen am Zaun und unterhält sich. Ich trete zu ihnen und räuspere mich. Erst mal geschieht gar nichts. Keiner beachtet mich. Erst, als ich mich so stark und laut und eklig räuspere, das man meinen könnte, ich würde an meinem Schleim ersticken, blickt man mich an. „Leon,“ meint Maria erfreut und ich schenke ihr ein gekünsteltes Lächeln und wende mich dann schleunigst Leslie zu. „Kann ich dich mal sprechen? Unter vier Augen?“, frage ich ihn und wende mich sofort ab, um mich von den Mädels zu entfernen, ehe er widersprechen kann. Fast glaube ich, er folgt mir gar nicht erst, weil er mich einfach total scheiße findet, aber dann dackelt er mir tatsächlich nach. Und einige wenige Sekunden später bin ich mit ihm allein. Na gut, was heißt alleine. Um uns herum sind überall Schüler. Aber dennoch spreche ich gerade das erste Mal alleine mit ihm – und ich kann nicht behaupten, dass mich das kalt lassen würde. Im Gegenteil. Ich bekomme so ein richtig bescheuertes Kribbeln im Bauch, das mich total kirre macht – so was kann ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen. „Du musst mir helfen,“ sagen ich, als er mich fragend ansieht. Auf die Ansage hin zieht er nur belustig eine Augenbraue in die Höhe. „Ja. Ähm… wegen Maria…“, sage ich und er blinzelt, sagt aber nichts. „Das Wichteln. Ich hab sie gezogen und wollte ihr was auf dem Weihnachtsmarkt besorgen – aber ich weiß nicht was.“ Er sieht mich nur forschend an und ich füge hinzu: „Ich mag sie total. Ich würde ihr gerne eine Freude machen.“ Das macht ihn etwas weicher. „Kauf ihr einfach eine Kette. Sie steht total auf Schmuck,“ klärt er mich dann auf und wendet sich ab. Und genau in diesem einen Moment setzt mein Gehirn vollkommen aus und ehe ich mich versehe, habe ich seinen Arm gepackt und ihn zurück gezerrt. Er sieht mich erschrocken an. Und ich starre nicht minder geschockt zurück – nein! Geschockt trifft es nicht. Ich bin nicht geschockt – ich bin absolut entsetzt von mir selbst. „Was denn noch?“, fragt er dann und befreit sich aus meinem Griff. Nun bin ich in der Bredouille, etwas zu sagen, mich zu rechtfertigen. Und weil mir nichts Besseres einfällt, sage ich das blödeste, was ich nur sagen kann. Ich sage: „Kannst du nicht mitkommen und mir beim Aussuchen helfen?“ Ich mag keine Weihnachtsmärkte. Die sind mir zu voll und ich kann es nicht haben, dass es an jeder Ecke nach anderen Leckereien riecht, die einen nur fett machen, und man sein ganzes Geld für irgendwelchen Schund ausgeben soll, den keiner braucht, aber doch jeder will. Von dem berüchtigten weihnachtlichen Zaubern, den so ein Markt angeblich ausstrahlt, hab ich dagegen noch nie wirklich etwas gemerkt. Romantisch ist daran doch nicht wirklich etwas, oder? Selbst nicht an solch düstern Tagen, wie den heutigen, wenn bereits am späten Nachmittag alles beleuchtet ist und somit einladend kitschig aussieht. Berührt mich nicht wirklich. Das einzige, was mich berührt, ist die Kälte. Und zwar an jedem Fetzten Haut, der nicht von Stoff bedeckt ist – was wirklich nicht mehr viel ist. Es war eine dumme Idee, Leslie zu fragen, ob er mitkommen kann. Nun stehe ich mir hier die Beine in den Bauch, während ich auf ihn warte und erfriere dabei auch noch. Unter anderen Umständen wäre ich nun schon über den Markt geschrubbt, hätte irgendein hässliches Ding gekauft und läge bereits wieder in meinem molligwarmen Bettchen. Stattdessen warte ich auf den Emo und hab so langsam das Gefühl, er hat mich versetzt. Gerade will ich einfach schon zulaufen, als mein Handy in meiner Hand vibriert. Besagte Hand ist schon richtig taub von der Kälte, weil ich, blöd wie ich bin, meine Handschuhe vergessen habe. Mit unbeweglich-starren Fingern entsperre ich das Handy und starre auf die SMS, die mir Leslie gerade geschrieben hat. Seit gestern bin ich nämlich im Besitz seiner Handynummer. Wir haben ja einen Weg finden müssen, uns für heute – Samstag – verabreden zu können. Immerhin hat er gestern noch nicht gewusst, ab wie viel Uhr er Zeit haben wird. „Wo bist du?“, hat er mir geschrieben und ich tippe hastig zurück, wo genau ich stehe. Plötzlich befällt mich eine seltsame, freudige Erwartung, als mir bewusst wird, dass Leslie gleich hier vor mir stehen wird. Das ist doch eigentlich… ein Date! Zwar wird er es sicher nicht als solches betrachten, aber ich hingegen schon. Irgendwie könnte ich plötzlich kotzen vor Aufregung. Zeit dafür habe ich allerdings nicht, denn im nächsten Moment taucht Leslie in der Menge auf und ich winke, während er sich suchend umsieht. Als er mich entdeckt, beginnt er zu Grinsen. Keine Ahnung warum, aber er tut es. Und ich weiß nur, dass es mich dabei fast aus den Socken haut. Ich kenne ihn ja und kenne auch sein Lächeln. Aber das… das ist einfach umwerfend. Das habe ich noch nie so gesehen. Er strahlt total, als wäre er absolut begeistert, mich zu sehen, und als er vor mir steht, schwingt da noch so was wie Verlegenheit in seinem Lächeln mit. Ich kann nicht anders, als ihn anzustarren. Haltet mich fest, oder ich falle über ihn her. Hier, im Schutz der Öffentlichkeit, ist das doch wirklich eine Sünde wert. „Hey,“ meint er, tatsächlich leicht verlegen. Das aber wohl eher, weil er keine Ahnung hat, wie er sich mir gegenüber verhalten soll. Da sind wir dann aber schon Zwei. Ich weiß nämlich auch nicht, wie ich mich ihm gegenüber jetzt verhalten soll. Eigentlich hassen wir uns ja, oder? Vielleicht sollte ich es einfach mit Hass probieren, genau! „Hey,“ brumme ich also, aber es kommt kein Brummen heraus, nur ein tonloses, seufzendes – und äußerst peinliches – Gekeuche. Er scheint davon ein wenig irritiert. Offenbar hat er wirklich damit gerechnet, ich motze ihn an oder so. „Tut mir Leid, dass ich zu spät bin. Hast du lang gewartet?“, fragt er wohl auch deshalb und ich schüttle den Kopf. „Höchstens ’ne Minute. War auch spät dran.“ Voll die Lüge. Ich stand eine halbe Stunde hier doof in der Gegend rum und spüre den Großteil meiner Körperteile nicht mehr. Bei jedem anderen wäre ich sicher ausgeflippt. Aber bei ihm kann ich das nicht. Nicht mehr. Nicht, wenn ich nicht muss. Er sieht nicht so aus, als würde er mir glauben. Sicher stand er irgendwo hier in der Nähe und hat mir mit diebischer Freude dabei zugesehen, wie ich langsam den Kältetod sterbe. Ich merke erst, dass ich ihn schon wieder anstarre, als er anfängt, verlegen seinen Mantel glatt zu streichen. Seinen Mantel. Ich beäuge ihn genauer. Irgendwoher kenne ich den doch. „Hat Maria nicht den gleichen Mantel?“, rutscht es mir dann auch schon heraus. Er wird rot und einen kurzen Moment kommt mir der Gedanke, dass er was mit ihr hat und aus Versehen ihren Mantel angezogen hat. Was eigentlich so ziemlich die dümmste Idee ist, auf die ich je in meinem Leben gekommen bin – noch dümmer, als die Idee, ihn hier her zu bestellen. „Ja… ähm. Sie hat den gleichen,“ meint er dann und zupf wieder daran herum. „Du trägst Frauenklamotten?“, frage ich skeptisch nach und er blickt zur Seite. „Die für Jungs sind mir zu weit geschnitten. Da pass ich nicht rein,“ rechtfertigt er sich und ich… schmelze dahin. Ganz ernsthaft. Normalerweise hätte ich sagen müssen ‚Wie tuntig ist denn so was?’. Stattdessen bin ich hin und weg, weil das einfach nur niedlich ist. Und weil es genauso genommen gar nicht aufgefallen wäre, wenn er es nicht gesagt hätte. Weil der Mantel gar nicht tuntige oder mädchenhaft aussieht. Er ist schlicht geschnitten, dunkelblau, mit schwarzem Fellkragen und weißen Knöpfen. Und wäre er nicht ein wenig taillierter, als mein einfacher schwarzer Mantel, würde es gar nicht auffallen. Er scheint sich jedenfalls ziemlich unwohl zu fühlen, weil ich ihm auf die Schliche gekommen bin, deswegen meine ich: „Steht dir aber.“ Danach muss ich mich mental ohrfeigen. Was zur Hölle ist denn los mit mir?! Wollten wir es nicht mit Hass und Ablehnung probieren?! Keine Ahnung, ob er es mir abkauft, denn er sagt nichts mehr dazu, sondern wendet sich dem Markt zu. „Gehen wir dann los?“ Ich nicke und folge, als wäre ich so ein Hündchen. Aber was sollen wir auch sonst machen? Über Mäntel reden? Theoretisch gesehen könnte ich mich jetzt natürlich noch stundenlang mit seinen Mantel aufhalten, aber praktisch ist das wohl nicht möglich. Tatsächlich finde ich mich Sekundenbruchteile später auch schon mitten im Getümmel wieder und will nur noch nach Hause. „Was hast du denn gedacht, dass du ihr schenken willst?“, fragt mich Leslie irgendwann, als wir eine Zeit lang ziellos und schweigend hin und her gelaufen sind. „Mh…“, brumme ich nicht gerade intelligent und zucke mit den Schultern. „Irgendwas halt. Hauptsache, ich hab was.“ Plötzlich bleibt er stehen und mustert mich und ich sehe ihn verwirrt an. „Was?“ „Hast du nicht gestern noch gesagt, dass es dir total wichtig ist? Und jetzt ist es doch egal?“ Ich mag das nicht, das Schwule so ein Radar dafür haben, wenn man lügt und das dann auch sofort durchschauen. So was ist doch nicht normal. (Und ja, ich weiß, dass ich selbst schwul bin. Es ist trotzdem nicht normal!) Verlegen stammle ich etwas davon, dass es mir nicht egal ist, aber auch nicht total am Herzen liegt und er zieht die Brauen immer höher, während ich mich winde wie ein Fisch an der Angel. Irgendwann grinst er dann, genau wie er vorhin gegrinst hat. Von einem Ohr zum Anderen. „Was?“, frage ich und er winkt ab und bahnt sich seinen Weg durch die Menge. Ich beeile mich, ihm zu folgen. „Was ist los?“, frage ich erneut, aber er schüttelt nur den Kopf und führt mich zu einem Stand mit selbst gemachtem Schmuck. „Kauf einfach was davon.“ Ich will nicht groß widersprechen, also kaufe ich einfach eine Kette, die – seiner Meinung nach – hübsch aussieht und habe die Herausforderung meines Lebens endlich hinter mich gebracht. Ich sehe ihn an und er scheint über etwas zu grübeln. Plötzlich meint er: „Was jetzt? Willst du noch irgendwo gucken oder so?“ Ehrlich gesagt habe ich damit gerechnet, dass er gleich abhauen will – möglichst schnell, möglichst weit weg von mir. Vielleicht wartet er aber auch darauf, dass ich das für ihn übernehmen und schnell abzuhauen versuche. Aber da hat er Pech. Jetzt bin ich schon alleine mit ihm hier, jetzt werde ich das auch ausnutzen. Andererseits… „Ich hab keine Ahnung. Ich mag Weihnachtsmärkte nicht so,“ gestehe ich und er sieht mich aus großen Augen an. „Wer mag denn bitte keine Weihnachtsmärkte?“ Ich zucke hilflos mit den Schultern. „Was genau ist daran denn auch so toll?“, entgegne ich und grinst er wieder – überhaupt grinst er schon die ganze Zeit, als hätten ihn gerade Engelchen geküsst oder so. „Ich glaube, ich sollte dir mal zeigen, was genau daran so toll ist,“ zwinkert er mir zu und schleift mich dann wieder mit sich. Wenig später ziehen wir von Stand zu Stand und ich schaue ihm dabei zu, wie er alles beäugt. Und ehrlich gesagt weiß ich mittlerweile ganz genau, was an diesem Weihnachtsmarkt toll ist: Er! „Du läufst die ganze Zeit mit so einer abwehrenden Haltung durch die Gegend,“ schimpft er irgendwann, spielt dabei wohl auf meine Hände an, die ich tief in meinen Manteltaschen vergraben habe. Ich zucke erneut mit den Achseln. „Tu ich nicht.“ „Tust du wohl!“, ruft er gespielt empört und ich zeige ihm meine Hände. „Ich hab meine Handschuhe vergessen. Glaubst du, ich lasse zu, dass mir die Finger abfrieren?“ Im nächsten Moment hat er meine Hände mit seinem umschlossen und ich sterbe. Ich meine es ernst. Ich bekomme einen Herzinfarkt. Irgendjemand darf jeden Krankenwagen rufen, weil ich wirklich, wirklich, wirklich sterbe. Ich spüre es schon, wie mein Leben aus mir weicht und nur ein ziehendes Gefühl im Magen zurück bleibt, als würde ich in tausend Metern Höhe schweben. Er rubbelt sie ein wenig – also meine Hände – und sieht sich um. „Entweder holen wir dir Handschuhe, oder wir trinken einen Glühwein und du wärmst dir daran die Hände,“ überlegt er und ich stimme für letzteres. Also besuchen wir einen der zahlreichen Glühweinstände – Ganz ehrlich?! Deutschland ist ein Alkoholikerland! – und ich erkläre mich bereit, ihm einen auszugeben. „Das musst du nicht,“ wehrt er ab, aber ich bestehe darauf. Mit der Ausrede, dass er es als Dank aufnehmen soll, dafür, dass er mir geholfen hat, das Geschenk auszusuchen. Eigentlich will ich ihm nur was ausgeben, weil ich finde, das sollte ich. Er ist toll. Er hat so einen scheiß Glühwein verdient. Wenig später halten wir die Tassen in den Händen und er sieht nachdenklich aus. Er war ja schon verwundert, dass ich wusste, dass er keinen Alkohol trinkt und ihn einen Kinderglühwein bestellt hatte, ehe er mich darauf aufmerksam machen konnte. Seitdem ist er jedenfalls irgendwie komisch. „Was ist los?“, frage ich ihn und er schüttelt langsam den Kopf. „Ich hab mich nur was gefragt,“ klärt er mich auf und ich sehe ihn neugierig an. „Aber das kann nicht sein,“ winkt er nur ab und lächelt dann breit. „Sind Weihnachtsmärkte nun wirklich so schlimm?“, will er wissen und ich schüttle den Kopf. „Mit dir sind sie erträglich,“ gestehe ich und etwas schimmert dunkel in seinen Augen auf, ehe er sanft lächelt. „Dachte ich mir doch.“ Ich muss lachen und er öffnet eine Tüte Gebrannte Mandeln, die er sich vorhin gekauft hat. Ich sehe ihm zu, wie er sich eine nimmt und in den Mund steckt. Er ist eindeutig wunderschön, wenn er Gebrannte Mandeln ist. „Willst du eine?“, fragt er. Wahrscheinlich denkt er, ich starre ihn an, weil ich gierig bin. „Ich weiß nicht. Eigentlich mag ich-“ Ich komme nicht dazu, den Satz zu Ende zu sagen, weil er mir einfach eine in den Mund stopft. Seine Finger berühren flüchtig meine Lippen und ich schwöre bei Gott – diesmal bin ich wirklich tot! Ich kaue die Mandeln und finde plötzlich, sie schmeckt einfach nur unglaublich gut. Dabei mochte ich nie Gebrannte Mandeln. Nie. „Doch lecker, was?“, lacht er und ich nicke und schlucke und hab schon die nächste im Mund. Ich glaube, er stopft mir die ganze Tüte in den Mund. Es nimmt kein Ende. „Kannst du mal aufhören, mich zu füttern?“, keuche ich und er sieht mich plötzlich ernst an. „Warum? Ist das peinlich? Zu schwul? Zu tuntig? Zu… Emo?“ Ich starre ihn an. Verkackt nennt man das wohl. Blinzelnd schüttle ich den Kopf. „Nein… ähm… ich muss nur zwischenzeitlich auch schlucken?“ Er wägt ab, ob er mir das glauben kann. Ich kann förmlich sehen, wie er hin und her argumentiert. Dann tritt er ohne Vorwarnung einfach näher und stopft mir noch eine in den Mund. Ich esse brav und sehe ihn an. „Es stört dich ja tatsächlich nicht,“ stellt er erstaunt fest und ich schüttle den Kopf. „Warum nicht?“, fragt er leise und ich bin verwirrt. Den soll mal einer verstehen! Erst passt es ihm nicht, dass es mich stört. Dann passt es ihm nicht, dass es mich nicht stört… Das sage ich ihm auch und er lacht kurz auf. „Ich hab mich nur gefragt, ob…“ Er bricht ab, aber so lasse ich das nicht durchgehen. „Du hast dich was gefragt?“, will ich wissen und er zuckt hilflos mit den Schultern. Ich sehe ihn an und mir wird plötzlich klar, wie nah er neben mir steht. Schon werden meine Beine weiche wie Pudding und ich klammere mich mit einer Hand am Stehtisch fest, um nicht umzufallen. Er blickt auf seine Glühweintasse und beachtet mir gar nicht. Aber ich, ich beachte ihn. Oh, und wie ich ihn beachte. Alles an ihm. Er ist so hübsch. „Leslie?“, frage ich und er sieht auf, blickt mich an. „Ja?“ Er blickt mich an und ich muss lächeln. Wahnsinnig tolle Augen. Wunderschöne schmale Lippen. Hübsche zartrosa Bäckchen. „Leon? Alles okay?“ Ich nicke. „Mir ist nur gerade aufgefallen, wie hinreißend du bist.“ „Hinreißend?“, lacht er auf und ich nicke. Als er daraufhin merkt, dass ich es ernst meine, wird er ganz still und ernst und sieht mich abwartend an. Und irgendwie… sehnsüchtig. Und plötzlich ist das diese Bekannte Spannung in der Luft. Sozusagen dieser eine Moment, in dem man handeln oder für immer ausharren muss. Und ich möchte nicht ausharren. Ich möchte handeln. Deswegen beuge ich mich vor und meine Hand umklammert halt suchend das Stehtischchen, als ich meine Lippen auf seine lege. Es ist nichts weiter, nur ein Kuss. Aber niemand kann sich vorstellen, wie wundervoll dieser Kuss ist. Es fühlt sich an, als würde man fallen. Diese weichen Lippen spüren, die sich begierig gegen deine pressen – das ist einfach Wahnsinn. Er schmeckt nach Glühwein und Gebrannten Mandeln und nach sich selbst und dabei so süß, dass ich wirklich nicht mehr anhalten kann. Meine Hände lösen sich von Tisch und Tasse und ich umklammere ihn, drücke ihn an mich. Seine Arme umschlingen meinen Hals und er schmiegt sich so perfekt passend in meine Arme, als wäre er für mich geschaffen. Irgendwann lösen wir uns voneinander und er sieht mich aus großen Augen kann. Er kann bestimmt genauso wenig glauben, was gerade passier ist, wie ich. „Ähm…“, macht er leise und ich blicke zu Boden. Und plötzlich… plötzlich bekomme ich richtig Panik. Das tolle Gefühl von eben ist dahin und ich habe erneut das Gefühl zu sterben. Diesmal aber nicht, weil er so wundervoll ist und sich alles so toll anfühlt, sondern weil ich gerade den größten Fehler meines Lebens begangen habe. Ich habe sozusagen alles richtig gemacht – und gleichzeitig alles falsch. Was, wenn er das irgendjemanden erzählt?! Was… wenn er irgendwas erwartet?! „Ich muss gehen!“, quieke ich, von Panik erfüllt, und dann stürme ich einfach los, renne fast noch eine Omi um und stolpere halb über ein Kabel, das aber auch mitten auf dem Weg liegt. Was hab ich nur getan?! Sonntage sind Scheißtage. Wer die erfunden hat, gehört auch verboten. Was will man von einem Sonntag schon groß erwarten?! Er tut nichts, außer vorhanden zu sein und einen mit dem Wissen zu quälen, dass man am nächsten Tag wieder früh aufstehen und in die Schule gehen muss. Totaler Unnütz, ehrlich wahr. Vor allem, wenn der nächste Schultag einfach nur der Horror werden wird. Ich sehe es schon, wie Leslie es jedem erzählt. ‚Leon, der supertolle Leon, hat mich geküsst. Seht her, er ist genau so eine Schwuchtel, wie ich auch.’ Einfach nur schrecklich. Ich werde keinem mehr in die Augen sehen können. Ich werde es auch gar nicht mehr dürfen, weil mich alle meiden werden. Sie werden mich alle meiden und hassen und hassen und meiden. Und das ist alles allein meine Schuld. Weil ich mich nicht beherrschen konnte. Nicht an mich halten konnte. Weil… weil einfach! Ich hätte einfach sagen sollen: ‚Haha! Hast du gedacht, ich mein das ernst?! Falsch gedacht. Ich wollte dich einfach nur verarschen, du armer, armer Volltrottel! Komm! Geh in die Ecke und ritz dich!’ Aber auf so eine Idee komme ich ja nicht. Stattdessen renn ich weg wie ein Feigling. Schöne Scheiße aber auch. Ich vergrabe mich tief unter meiner Bettdecke und komm auch nicht hervor, als meine Mutter anklopft und reinkommt. „Ist etwas passiert?“, fragt sie besorgt und ich gebe nur undefinierbare Laute von mir. „Leon?“, meint sie leise und einfühlsam, ganz die Mamistimme. „Jaaaaah…“, meine ich gedehnt und sie seufzt. „Du kannst mit mir über alles reden, das weißt du hoffentlich,“ bietet sie sich an und ich grunze nur und meine, ich würde später darauf zurück kommen. Oder auch nicht. Weil ich am Montag nämlich alles in Ordnung bringen werde. Ja genau, das werde ich. Ich habe das Gefühl, dass mich alle anstarren, aber in Wirklichkeit interessiert sich keine Sau für mich. Und als ich in das Klassenzimmer trete, fragt Anton mich nur, warum ich so spät wäre. Ich entschuldige mich damit, dass ich verschlafen habe, aber in Wirklichkeit habe ich mich eine halbe Stunde dazu ermutigen müssen, aufzustehen und in die Schule zu gehen. Aber das sage ich natürlich keinen! Leslie ist schon da. Er hockt auf seinem Platz, hinten in der rechten Ecke, bei den Mädels. Er beachtet mich nicht. Womit ich nicht meine, dass er mich nicht beachtet, sondern dass er mich nicht beachtet . Es ist so ein krampfhaftes Nichtbeachten. Ein blickausweichendes, wegdrehendes Nichtbeachten. Kein du-bist-mir-einfach-egal Nichtbeachten. Es ist einfach nur unerträglich und am liebsten möchte ich sterben. Klappt leider nicht, stattdessen bringe ich die ersten zwei Stunden irgendwie über mich und gehe mit den anderen in der Pause raus auf den Hof. Alles ist wie immer und gleichzeitig ist alles anderes. Leslie hat nichts erzählt und es wohl auch nicht vor. Er quatscht normal mit den Mädels über irgendeine Castingshow, während wir Jungs ein Stück weiter stehen und darüber diskutieren, wer in der Klasse die größten Titten hat. Nur, dass ich mich nicht auf die Titten, sondern auf Leslie konzentriere. Ihn beobachte, wie er redet und mich nicht beachtet. „Was ist denn los mit dir? Du starrst schon wieder unentwegt zu Maria.“ Ich verziehe den Mund. Ich sollte handeln. Einfach handeln… Also tue ich das auch. „Ich starre nicht zu Maria, sondern zu Leslie. Seht ihr den Mantel? Den gleichen hat Maria auch. Ist das nicht tuntig?“ Tatsächlich scheint es den Jungs erst aufzufallen, als ich es ausspreche und ehe ich mich versehe, stehen sie alle bei der kleinen Gruppe und sprechen Leslie darauf an. Sein Blick fällt auf mich. Klar weiß er, dass ich es war, der es erzählt hat. Ich versuche erst, entschuldigend dreinzublicken, ehe mir klar wird, dass ich das ja gerade noch so wollte. „Was guckst du denn so?“, frage ich deshalb und blicke ihn so abfällig wie nur möglich an. „Ich werde ja wohl noch rum erzählen dürfen, dass du Frauenklamotten trägst. Ist ja nicht so, als wäre nicht eh allen klar, dass du voll die Transe bist.“ Ich weiß nicht genau, was es ist, aber irgendetwas zerbricht in seinem Blick. Normalerweise lassen ihn solche Sprüche kalt, aber das hier… das verletzt ihn. Und ich fürchte, es verletzt ihn, weil es von mir kommt. Nur sagt er nichts dazu. Stattdessen zieht er sich zurück, während die Mädels nun beginnen, auf uns einzuhacken. Ich höre ihnen eine ganze Zeit lang zu, ohne zu verstehen, was sie sagen, während ich nachdenke. Sein Verhalten gestern auf den Weihnachtsmarkt… Er hat die ganze Zeit so fröhlich gewirkt, obwohl ich immer so scheiße zu ihm war. Und der Kuss… Er hat sich nicht gewehrt, er hat mitgemacht und ich weiß, dass er gelächelt hat, als wir uns gelöst haben. Das habe ich selbst in meiner Panik noch mitbekommen. Ich hab mich nur gefragt, ob… Das hat er gesagt. Hat er sich etwa die ganze Zeit gefragt, warum ich mich so komisch verhalte. Und hat er etwa gehofft es hätte etwas mit dem zu tun, was mich dazu getrieben hat, ihn letztlich zu küssen. So aufeinander abgestimmt, ergibt alles einen Sinn. Er war glücklich mich zu sehen. Und er hat sich gefragt, ob ich mich auch so komisch verhalte, weil ich glücklich bin, ihn zu sehen. Und als ich ihn geküsst habe… da hat er… gehofft ich meine es ernst. Und jetzt denkt er, dass ich es doch nicht ernst gemeint habe. Und deswegen ist er traurig und verletzt. Einfach, weil er… weil er in mich verliebt ist. In mich. So, wie ich in ihn. Ich bin so blöd! Und so dumm! Und überhaupt!!! Die Chance – es ist die Chance meines Lebens, um es ein wenig zu dramatisieren. Und ich bin ein verdammter Idiot, dass ich das nicht eher gemerkt und sie genutzt habe. Denn sind wir ehrlich. Was ist das bisschen Hohn und Spott schon, wenn man nur Leslie hat?! Wenn er nun wirklich so fühlt wie ich, dann verliere ich vielleicht – aber gleichzeitig gewinne ich auch. Sollte es das nicht wert sein?! Ich lasse die entnervten Jungs und die aufgebrachten Mädels zurück und suche nach Leslie. Keine Ahnung, wo er hin ist, deshalb irre ich auch auf den Hof umher, bis ich ihn in einer Ecke finde. „Ist das nicht sogar für dich zu sehr im Klischee – So, in die Ecke setzen und heulen?“ Okay, das ist der schlechteste Anmachspruch, den es auf der ganzen Welt gibt, aber er lächelt. Er lächelt tatsächlich und gibt ein tränenersticktes Geräusch von sich. „Ich hab nicht damit gerechnet, dass du hier auftauchen wirst,“ gibt er zu. Er sitzt auf der Mauer, die den Schulhof abgrenzt und ich hieve mich ebenfalls auf sie und setze mich ihm gegenüber. „Hab ich auch nicht,“ gestehe ich und sehe ihn dann an. „Das war gerade voll scheiße. Das war überhaupt alles scheiße. Es war schon scheiße, wegzulaufen,“ seufze ich und bringe die Sache auf den Punkt. „War es,“ stimmt er zu und ich lächle. Ich ergreife seine Hand. Oh Gott, seine Hand. Sie ist so wundervoll. Sanft spiele ich mit seinen Fingern, während ich nach Worten suche. „Die werden mich alle auslachen und als Schwuchtel beschimpfen, dass ist dir aber schon klar, oder?“, frage ich und er schüttelt den Kopf. „Werden sie nicht. Ihr seid doch Freunde.“ Ich zucke mit den Schultern und vielleicht hat er ja sogar Recht und sie werden es gar nicht tun. Und vielleicht ist das auch einfach egal, solange ich nur seine Hand halten kann. Ich blicke auf, in seine Augen und er lächelt mich an und beginnt wieder zu weinen. „Ich freue mich so, dass du mir nachgekommen bist,“ sagt er leise und ich beuge mich vor und küsse seine Nasenspitze – und das hier, wo uns jeder zusehen kann. Und das, obwohl ich wirklich Angst habe. Das sage ich ihm auch und drücke seine Hand fester. Er entzieht sie mir. „Angst? Was bist du denn für ’ne Schwuchtel?“, lacht er dann und ich muss grinsen. „Tut mir Leid, das alles,“ entschuldige ich mich und er winkt ab. Das tut er tatsächlich. Unglaublich! Ich will widersprechen, aber ehe ich das tun kann, beugt er sich bereits vor, um meine Lippen mit seinen zu versiegeln. Ich drücke ihn an mich und kann nicht fassen, was gerade alles geschieht. Vor ein paar Tagen lief mein Leben noch in geregelten Bahnen und jetzt kommt alles so schnell so durcheinander, dass ich kaum weiß, wo mir der Kopf steht. Und gleichzeitig fühlt sich endlich mal alles richtig an. Fast, als geschehe hier ein kleines Wunder – ein Weihnachtswunder sozusagen. Auch, wenn ich fürchte, was jetzt folgen wird, wird übel werden. Vor allem, weil ein paar aus meiner Klasse nach uns gesucht haben und die Szene zwischen uns nun beobachten. Aber eigentlich ist mir das gerade egal. Gedanken machen kann ich mir gerade nämlich nicht wirklich, dafür schmeckt Leslie einfach viel zu gut. Irgendwie nach gebrannten Mandeln und nach mehr. Und dabei mag ich doch eigentlich gar keine gebrannten Mandeln. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)