Wintersonnenwende von Lianait (Götterfunken / 21. Türchen 2012) ================================================================================ Kapitel 1: Rauhnacht -------------------- David rieb sich die Augen und starrte dann wieder müde auf sein Interface, während eine Unzahl an Informationen durch sein Hirn flutete. Er war der Letzte in der Bibliothek, alle anderen waren schon gegangen, aber ehe er endlich auch in die Winterferien gehen konnte, musste er erst noch diesen Projektbericht vor ihm beenden. Es war erst Nachmittag, doch draußen vor den Fenstern setzte bereits die Dämmerung ein und begann dunkel gegen die Scheiben zu drücken. Glücklicherweise war David bereits im letzten Teil seines Berichts und konnte hoffentlich auch bald nach Hause gehen. Doch scheinbar war das große kosmische Etwas ganz und gar nicht dafür. Sein Interface begann zu flackern und in aller Panik gelang es ihm gerade noch so seinen Text zu sichern, aber er konnte es nicht wieder zum Laufen bringen, egal, was er auch versuchte. Seine Hand wanderte wie von selbst zu seinem Nacken hinauf, um den Input in seinem Nacken zu kontrollieren, aber die Flut an fremden Informationen in seinem Hirn ließ ihn vermuten, dass dieser noch in Ordnung war. „Super…“, seufzte er geschlagen. Wahrscheinlich war es wieder der Transponder, der nicht richtig funktionierte; er hatte schon häufiger damit Probleme gehabt und sollte den Transponder wohl besser langsam ersetzen, wenn er nicht wollte, dass auch noch sein Interface durch die fehlerhafte Verbindung zu leiden hatte. Kurzerhand schob David seinen Schreibtischstuhl zurück, griff den länglichen, silbernen Stab, sein Holodrid, der sowohl Interface-Projektor als auch Transponder beinhaltete, und erhob sich, um das Tech Labor aufzusuchen. Vielleicht hatte er ja wider Erwarten Glück und er war doch nicht der einzige Mensch in der Akademie, obwohl er sich so fühlte. Seine Schritte hallten laut durch die leeren, hell beleuchteten Gänge und ihm begegnete auf seinem Weg keine Menschenseele, noch nicht einmal der Sicherheitswärter. David wanderte eine Weile durch das Gebäude, ehe er schließlich die halb geöffnete Tür des Labors erreichte; er konnte erkennen, dass Licht im Inneren des Raumes brannte. Das Tech Labor war kein Labor im eigentlichen Sinne, sondern viel eher eine feingliedrige Werkstatt, in der sich für gewöhnlich die Mitglieder des Technik-Clubs und vielleicht dann und wann ein paar interessierte Lehrer aufhielten. Sein Input sagte ihm, dass es bereits fünf Uhr an diesem letzten Unterrichtstag vor den Ferien war, was bedeutete, dass sich in Clubräumen mit teurerem Equipment eigentlich nur noch Lehrkörper befinden sollten, die hinterher die Räume abschließen konnten. Seine Chancen, seinen Transponder repariert zu bekommen und somit im Endeffekt seinen Bericht fertigzustellen, waren gerade um ein vielfaches angestiegen. Er klopfte an die ungeschlossene Tür, um wem auch immer auf der anderen Seite zu signalisieren, dass er sich hier aufhielt. Ohne auf eine Antwort oder eine Aufforderung von drinnen zu warten, öffnete er die Tür und trat in den mit Geräten überfüllten Raum. Doch als er die einzige Person im Labor erkannte, musste er einen weiteren Seufzer unterdrücken, denn zu seiner Überraschung fand er keinen Lehrer vor, sondern Williams. Milena Williams war ein Sonderling. Sie war nicht unbedingt wegen ihres Äußeren auffällig – nicht wenige Leute hatten blaue Haare und trugen viereckige, schwarze Hornbrillen, die, wie ihm sein Input vermittelte, scheinbar etwa alle zwanzig Jahre wieder in Mode kamen – sondern vielmehr aufgrund ihres Verhaltens. Sie war eigenbrötlerisch und isolierte sich selbst von allen, auch wenn dies laut Aussagen einiger seiner Mitschüler wohl nicht immer so extrem gewesen sein musste, aber wohl nach dem Tod eines Mitschülers noch vor Davids eigener Ankunft hier eskaliert war. Es war ja nicht so, dass er sie nicht leiden konnte, aber er empfand es als ungewöhnlich schwer, mit ihr ein Gespräch für länger als ein paar Minuten zu führen. Auf der einen Seite war er überrascht, dass sie offensichtlich einen Schlüssel für dieses Labor haben musste, schließlich war sie auch nur eine Schülerin, aber der anderen Seite wiederum nicht. Zugegeben, sie war zwar nicht unbedingt die Person, die er gehofft hatte, hier vorzufinden, aber trotz ihrer sozialen Unbeholfenheit und der Tatsache, dass sie nicht unbedingt die beliebteste Person der Akademie war, waren sich alle Meinungen einig, dass sie ein regelrechtes Technikgenie war. Glücklicherweise sah sie nicht gleich auf, als er eintrat, sodass er die Gelegenheit hatte, sich erst wieder zu fangen, sondern schraubte stattdessen an etwas herum, das wie eine alte Schaltplatte aussah. Schließlich sah sie auf und ihre Haare hingen ihr ein wenig wild ins Gesicht, als sie ihn durch ihre Brille anblinzelte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde jedoch schnell verschlossen, als sie erkannte, wen sie vor sich hatte. David beschlich das unbestimmte Gefühl, dass sie ihre bisherigen minimalistischen Gespräche auch nicht viel mehr genossen hatte, als er selber. Er nahm es nicht persönlich, nicht wirklich; schließlich konnte er sich nicht daran erinnern, je einen anderen Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen zu haben. „Farley? Warum bist du noch hier?“ Er schluckte, aber es half alles nichts, wenn er heute noch hier weg wollte, müsste er sie fragen. „Ich war gerade dabei, noch meinen Projektbericht zu schreiben, als mein Holodrid kaputt gegangen ist“, sagte er und hielt das silberne Gerät hoch. „Ich hatte gehofft, hier noch jemanden zu finden, der mir vielleicht damit helfen könnte…“ Sie runzelte die Stirn und ließ dann ein leichtes Schnauben vernehmen. Offenbar war sie nicht sonderlich erbaut darüber, ihm helfen zu müssen, doch sie legte schließlich das Schaltbrett beiseite und streckte die Hand aus. „Gib her“, seufzte sie schließlich geschlagen. Er tat wie ihm geheißen, ehe sie es sich noch anders überlegte. „Ich bin mir nicht sicher, ob es daran liegt, aber ich habe schon seit einer Weile Probleme mit dem Transponder…“, erklärte er. Aber kaum hatte er ihr diese Information gegeben, breitete sich ein Gefühl ihn ihm aus, das Unruhe und zugleich ein leichtes Unwohlsein in sich vereinte, schließlich würde sie sehen, dass der Transponder nicht mehr ganz das Wahre war, sobald sie das Gerät öffnete. Es waren noch nicht einmal fünf Minuten vergangen und er wusste schon wieder nicht, was er sagen sollte. Williams schraubte mit gezielten Handgriffen schnell den Holodrid auf und begutachtete dessen Inneres. Bis zu diesem Punkt wäre David auch gekommen, aber in nur wenigen Augenblicken hatte Williams das ganze Gerät auseinandergebaut und überall auf ihrem Tisch lagen kleine Teile, die für David alle gleich aussahen, aber sie schien zu wissen, was sie tat. „Jap, dein Transponder ist im Eimer, ein wahres Wunder, dass er es überhaupt noch gemacht hat, einige der Ports sind vollkommen durchgeschmort“, erklärte sie abwesend und er nickte. Allerdings hätte sie ihm alles Mögliche sagen können und er hätte es ihr geglaubt; Technik war nicht unbedingt seine Stärke. Sie murmelte ein paar unverständliche Worte, stand auf und begann in den Schränken nach irgendetwas zu suchen, höchstwahrscheinlich Ersatzteilen. Sie kramte eine Weile und ging schließlich schnellen Schrittes an ihren Platz zurück, nur um noch schneller an den gefühlten tausend Teilen des zerlegten Holodrids zu schrauben, während David nichts anderes übrig blieb, als sich in dem viel zu vollgepackten Technik Labor umzusehen. Überall standen kleinere und größere Teile von alten und neuen Computern, Schaltplatten, Kabel und Holo-Bildschirme. Als er wieder zu Williams sah, fand er sie vollkommen vertieft in ihre Aufgabe. Es war offensichtlich, dass sie Spaß an ihrer Arbeit hatte, denn er glaubte nicht, dass sie darauf achtete, was ihr Gesichtsausdruck in diesem Moment wohl zeigen mochte, als sie den Holodrid Stück für Stück wieder zusammensetzte. Warum setzt sie überhaupt immer diesen abweisenden Gesichtsausdruck auf? Doch anstatt sie dies zu fragen, weil es ihn ja eigentlich nichts anging, sagte er: „Danke.“ Sie sah auf und blinzelte, als hätte sie erst in diesem Moment, in dem er sie ansprach, wieder realisiert, dass er überhaupt hier war. Auf seine Dankesbekundung ging sie nicht ein, sondern stellte ihm eine Frage. „Weißt du, was heute für ein Tag ist?“ David hatte nicht mit so einer Frage gerechnet und runzelte die Stirn. „Der 21. Dezember, warum?“ Diese Antwort schien sie jedoch nicht zufrieden zu stellen. „Und was ist an diesem Tag so besonders?“, fragte sie. Das ein- und ausschaltbare Implantat in seinem Nacken, sein Input, war noch immer mit dem globalen Netzwerk verbunden und die darin enthaltenen Informationen, sprossen in vielen Stichworten wie kleine Triebe aus dem Boden. „Radium wurde an diesem Tag entdeckt, es ist Wintersonnenwende und dadurch auch die längste Nacht des Jahres, vor knapp 70 Jahren dachten die halbe Menschheit, die Welt würde aufgrund eines alten Kalenders untergehen-“, ratterte er die ersten Stichworte herunter, die klarer hervortraten. „Schon gut!“, sagte sie, ehe er fortfahren konnte. Obwohl Williams ihn nach diesen Informationen gefragt hatte, klang ihre Unterbrechung ein bisschen harsch. Aber warum hatte sie ihn danach gefragt? Fast jeder Mensch besaß mittlerweile einen Input und Williams war keine Ausnahme. Warum hatte sie ihn, David, danach gefragt, wenn sie es selber hätte nachschauen können? „Und warum fragst du danach, wenn du es dann doch nicht wissen willst?“, hakte er verwirrt nach. „Ach, ist nicht so wichtig“, murmelte sie und wich seinem Blick aus. Statt ihn anzusehen, starrte sie mit einem undeutbaren Blick aus dem Fenster. Ehe David jedoch weiter fragen konnte, klopfte es an der Tür und ihrer beider Aufmerksamkeit richtete sich darauf. Der Sicherheitswärter, wunderbar an seiner schwarz-weißen Uniform zu erkennen, erschien und sah von einem zum anderen. „Wisst ihr zufällig, wo der Schüler aus Raum 337 abgeblieben ist? Da oben liegen noch Unterrichtsutensilien, ein Rucksack und eine Jacke, aber kein Schüler“, wollte der Wärter wissen. „Oh, das sind meine Sachen“, erklärte David. „Als ich einen Bericht geschrieben habe, hat mein Holodrid den Geist aufgegeben und ich bin hergekommen, um Milena hier um Hilfe zu bitten.“ Der Wachmann nickte verstehend. „Ah, gut. Ich lasse euch dann besser weiterarbeiten, aber denkt dran, um acht muss ich hier alles abschließen. Und ihr wollt ja sicher auch möglichst schnell in die Ferien, oder?“ Er zwinkerte ihnen zu. „Schon in Ordnung“, sagte Williams jedoch, „ich bin ohnehin fertig.“ Rasch reichte sie David das reparierte Gerät zurück und setzte sich dann wieder. „Äh, danke“, entgegnete David überrumpelt als er den Holodrid unbeholfen entgegennahm. „Gut. Dann, mein Junge, bring ich dich gerade hoch zu deinen Sachen“, meinte der Wachmann und führte David aus dem Raum. Er warf noch einen Blick zurück über die Schulter auf Williams, doch sie erwiderte seinen Blick nicht und war schon wieder in ihre Arbeit an dem alten Schaltbrett vertieft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)