Wintersonnenwende von Lianait (Götterfunken / 21. Türchen 2012) ================================================================================ Kapitel 2: Die Wilde Jagd ------------------------- Es war schon nach sieben als David die Akademie endlich verlassen hatte. Er wäre wahrscheinlich viel schneller fertig gewesen, wenn er nicht noch Informationen über den 21. Dezember eingeholt hätte und dann nicht auch noch zusätzlich dabei abgedriftet wäre. Sobald er das Netzwerk nicht mehr brauchte, schaltete er seinen Input aus, denn all die Informationen, die über die sehr starke Akademieverbindungen direkt in seine Gedanken gelangten, bereiteten ihm auf Dauer immer Kopfschmerzen. Der frisch gefallene Schnee knirschte unter seinen Schuhen, aber David glaubte nicht, dass er liegen bleiben würde. Sein Atem stieg in kleinen weißen Wölkchen nach oben, als er zum Himmel aufblickte. Er konnte nur ein paar wenige Sterne sehen, denn die Lichter der Stadt überblendeten sie. Unwillkürlich kam ihm der Gedanke, dass er nun schon genau ein Jahr hier lebte. Die Nacht, in der er in die Stadt gekommen war, um hier zur Schule zu gehen, war genauso wie diese gewesen: kalt, aber kaum Schnee, obwohl es auf das Jahresende hinauslief. Er erinnerte sich noch, dass ihm damals ein Mädchen auf der Straße begegnet war und er gedacht hatte, wie anders diese Stadt doch von der Vorstadt, in der seiner Familie lebte, war. Er wusste nur noch, dass sie selbst für einen Städter exzentrisch gekleidet gewesen war, und glaubte, dass sie grüne oder blaue Haare gehabt haben musste. Er konnte sich nicht an ihr Gesicht erinnern, weil er kein einziges Wort mit ihr gewechselt hatte und es dunkel gewesen war, aber das war die erste Erinnerung, die er an diese Stadt, die nun schon seit einem Jahr seine Heimat war, hatte und er musste aufgrund der Albernheit dieser einfachen Erinnerung lächeln. Er war schon auf halben Weg zu seiner Haltestelle am Kulturmuseum, als ihm einfiel, dass er noch eines seiner Textbücher, das er eigentlich hatte über die Ferien mit nach Hause nehmen wollen, in seinem Spind vergessen hatte und er machte auf dem Absatz kehrt und eilte zur Akademie zurück, was glücklicherweise nicht lange dauerte, denn auch wenn er kein Talent für Technik hatte und froh war, überhaupt seinen eigenen Herd bedienen zu können, lag seine Stärke eher in der Leichtathletik. Mit Mühe und Not verstaute er schließlich auf seinem Rückweg das Buch in seinem überfüllten Rucksack, als er eine Nachricht von seiner Schwester Elaine bekam. Hey. Mir ist etwas dazwischen gekommen und ich kann heute leider nicht mehr vorbeikommen, sorry. Aber morgen bestimmt~! David seufzte. Hätte sie ihm das nicht früher sagen können? Elaine war sechs Jahre älter als er, aber war immer sehr impulsiv und so verplant, sodass er oft das Gefühl hatte, der Ältere sein zu müssen. Aber statt sich zu beschweren, schrieb er ihr Schon okay. zurück, schließlich kannte er seine Schwester und wusste, dass sie es nicht böse meinte. „Oh, du bist noch hier?“, ertönte eine männliche Stimme hinter ihm, als er bereits wieder auf den Ausgang zuhielt, und David drehte sich um. Der Sicherheitswärter stand etwas entfernt im Gang hinter ihm und schloss rasch zu ihm auf, mit einem Ausdruck des Bedauerns auf dem Gesicht. „Ich finde es sehr nett von dir, dass du deine Freundin abholen willst; ich sehe das arme Mädchen immer nur alleine im Tech Labor sitzen“, meinte der Wachmann und David brauchte einen Moment um zu realisieren, dass er fälschlicherweise glaubte, dass David und Milena Williams Freunde waren. David wollte das Missverständnis aufklären, doch der Wachmann sprach bereits bedauernd weiter. „Aber sie ist leider schon gegangen. Allerdings erst vor ein paar Minuten, vielleicht hast du ja Glück und erwischst sie noch“, fügte der Wachmann hinzu und klopfte ihm sachte auf die Schulter, als er ihn aus der Akademie geleitete. David überlegte noch einmal dem Sicherheitswärter zu sagen, dass sie eigentlich keine Freunde waren, doch beließ es dann dabei. Er nickte dem Mann nur freundlich zum Abschied zu, schließlich meinte er es auch nur gut, und verließ dann zum zweiten Mal an diesem Abend das Gebäude. Er schlug jedoch dieses Mal den Weg zu einer anderen Haltestelle, der am Nordpark, ein, da seine Bahn am Museum bereits abgefahren war. Um diese Bahn nicht auch zu verpassen und womöglich noch eine halbe Stunde in der Kälte auf die nächste warten zu müssen, ging er einen Schritt schneller. Es waren nur wenige Menschen auf dem Gehweg, denn die meisten Einwohner waren in den Einkaufsstraßen damit beschäftigt, Geschenke zu kaufen. Wie jedes Jahr kurz vor Weihnachten. In der Ferne konnte er schließlich eine bekannte Uniform entdecken, die Uniform seiner Schule. Gepaart mit blauen Haaren. Milena Williams. Super, bei meinem Glück sitzt sie jetzt auch noch in derselben Bahn… Doch wider Erwarten ging sie nicht die Treppen zur Station hinunter, sondern ging schnurstracks daran vorbei und David runzelte die Stirn. Wohin geht sie? Aber eigentlich ging es ihn ja nichts an und er hatte schon einen Fuß auf die Stufen hinunter zur Station gesetzt, als er ihr wieder hinterher sah. Allerdings stellte sich ihm auch die Frage, was eine Person wie Milena Williams mit ihrer Freizeit anfing, schließlich schien sie keine wirklichen sozialen Kontakte zu haben. Er sah die Stufen zur Station hinunter. Dann sah er wieder auf Williams‘ kleiner werdende Figur. Er war diesen Abend ohnehin alleine… Station. Williams. Ach, was soll’s?! Kurzerhand entschied er sich dazu, ihr zu folgen. Wenn man ihn hinterher gefragt hätte, warum, hätte er keinen triftigen Grund angeben können. Sie hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen, um sich vor der Kälte zu schützen und ihr anfängliches, langsames Schlendern wurde langsam aber stetig zu einem festeren, schnelleren Gang. Er folgte ihr durch die Straßen, doch sie schien kein spezifisches Gebäude anzupeilen, bis sie schließlich den Weg zum Park einschlug. Im Gegenzug zu den Straßen war der Park weniger stark beleuchtet und nur dann und wann fand sich eine einsame Laterne, die den Kiesweg erhellte. David konnte sehen, wie Williams immer häufiger in die Schatten unter den Bäumen schaute und durch ihr nervöses Verhalten wurde er selber so paranoid, dass er glaubte Bewegungen in der Dunkelheit sehen zu können. Er folgte ihr eine Weile durch den dunklen Park, doch als sie ihn verließ, nutzte sie keinen der Hauptausgänge, sondern einen Nebenausgang in eine kleine, nasse Gasse. In einem Abstand, den er als sicher erachtete, ging er ihr durch weitere schlecht beleuchtete Gassen nach, die noch schlechter rochen, als sie aussahen. Gelegentlich hörte er streunende Hunde heulen, doch zum Glück sah er keinen von ihnen. Mit kleineren Hunden kam er klar, aber alles ab Schäferhundgröße verpasste ihm ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. David kannte diesen Stadtteil nicht, in dem sie sich bewegten, auch wenn er ihn geographisch grob einordnen konnte; er glaubte, sich nur einen Stadtteil entfernt von seinem Wohnblock zu befinden. Williams‘ offensichtliche Nervosität war mittlerweile auf ihn übergangen, sodass er sich sogar seltsame Geräusche wie das Wiehern eines Pferdes wahrzunehmen einbildete. Er schüttelte das seltsame Gefühl in seinem Nacken ab und versuchte die Obdachlose mit den seltsam aussehenden Augen zu ignorieren. Fast glaubte er, Williams verloren zu haben, als er um eine Straßenecke in eine Sackgasse bog und sie nicht mehr sehen konnte. Am Ende der Gasse konnte er ein schmutziges Schaufenster ausmachen. Ein Laden? Hier? Er trat näher heran, konnte aber nicht entziffern, was auf dem Schild über dem Fenster stand. Er drehte sich einmal im Kreis, um zu sehen, ob Williams vielleicht eine andere, versteckte Gasse betreten hatte, doch konnte dann auf der anderen Seite des schmutzigen Schaufensters sehen, wie sich etwas Blaues bewegte. Seine Füße bewegten sich wie von selbst und ehe er sich versah, hatte er die Tür des Ladens geöffnet und trat ins Innere hinein. Es war dunkel in diesem Laden und überall hingen seltsame Kräuter und sonderbare Gehänge von der Decke. In den aufgestellten Vitrinen standen Dinge, die er nur mit veralteten Worten, wie ‚Artefakt‘ beschreiben wollte, auch wenn er keine Ahnung hatte, wofür diese Gerätschaften überhaupt gebraucht wurden. Doch was ihm wohl am meisten auffiel, war der Geruch. Eine Mischung aus Gewürzen und Kräutern gepaart mit einem süßlichen Duft, der alles andere unterlief, den er aber nicht recht zuordnen konnte. „Was ist das hier für ein Laden?“, fragte er schließlich laut, als er sich umsah und etwas erblickte, das wie getrocknete Ohren aussah. Vollkommen überrascht wirbelte Williams herum und sah ihn entgeistert an. „Was machst du denn hier?!“, zischte sie. „Also ich finde die Frage viel interessanter, was du hier machst“, warf David ein und betrachtete die Dinger, die wie Ohren aussahen, genauer. Einen Laden für geklaute Computerteile hätte er eher erwartet, als das hier. „Ich… ähm, hole nur etwas ab…“, murmelte sie und klang verlegen. Er richtete seinen Blick auf sie, doch Williams sah ihn tunlichst nicht an. „Ich fürchte nicht“, sagte eine neue Stimme und sowohl Williams als auch David wandten sich ihr zu. Ein hochgewachsener Mann war hinter dem Tresen in einem Gang erschienen und hielt noch immer einen dunklen Vorhang beiseitegeschoben, so als hätte er mitten in der Bewegung innegehalten. „Aber Mr. Alexander hatte ihn mir zurückgelegt!“, warf Williams ein und in ihre Stimme hatte sich ein Hauch von Panik geschlichen. „Nun Mr. Alexander ist aber nicht hier“, entgegnete der Mann kühl und lächelte ein unwirkliches Lächeln. Seine Augen funkelten in der Dunkelheit und wirkten auf David irgendwie beängstigend. Scheinbar war er mit diesem Gefühl nicht alleine, denn Williams trat einen Schritt zurück und er konnte sie schlucken hören. „Und… wo ist Mr. Alexander?“, fragte sie nervös. Der Mann lächelte jedoch nur sein Lächeln und antwortete nicht. Stattdessen glaubte David das Knurren eines Hundes hören zu können und Williams trat einen weiteren Schritt zurück, sodass sie mit David fast Schulter an Schulter stand. So nah bei sich konnte er einen gemurmelten Fluch von ihr vernehmen und die kleinen Haare in seinem Nacken stellten sich langsam auf, als das Knurren erneut ein wenig lauter und unverwechselbar ertönte. Schon fast automatisch wanderte Davids Blick durch den Laden, auf der Suche nach dem Ursprung des Geräusches, doch er konnte nichts sehen. Nun ja, zumindest sagte ihm dies sein logisch denkender Verstand. Seine irrationale Nervosität, die höchstwahrscheinlich nur eine Mitläufereigenschaft war, ausgelöst durch Williams‘ Panik, wollte ihm weismachen, dass sich etwas Großes in den Schatten um sie herum bewegte. David gab seinem inneren Drängen nach und schüttelte kurz mit geschlossenen Augen den Kopf, um wieder klar zu werden, doch als er danach die Augen wieder öffnete, waren die sich bewegenden Schatten noch immer nicht verschwunden. Scheinbar weigerte sich sein Kopf mit den Spielchen aufzuhören, denn die Schatten schienen sich nun auch noch zu verdichten. Erst als sich drei geisterhafte Hunde von der Größe einer ausgewachsenen Dogge mit roten Augen und Ohren und ansonsten fast transparenten, weißen Körpern aus den Schatten lösten und tiefe, unwirkliche Knurrlaute ihren Kehlen entsprangen, wollte David einräumen, dass es hier nicht ganz mit rechten Dingen zuging. Der Mann stand noch immer an Ort und Stelle, doch nun bemerkte David, was mit seinen Augen nicht stimmte; sie waren so rot, wie die der Hunde. Und sein Lächeln war den gefletschten Zähnen der Tiere nicht unähnlich. „Ihr gehört mir.“ Er sagte nichts weiter, aber weder Williams noch David baten ihn lange darum, wobei David nicht wirklich eine Wahl gehabt hatte, denn Williams griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich aus dem Laden. „Lauf!“, rief sie und David ließ sich nicht zwei Mal bitten. Als hätten die unwirklichen Hunde nur darauf gewartet, setzten sie ihnen nun nach und es fühlte sich so an, als wären sie mit ihrem heißen, feuchten Atem direkt an ihren Nacken. Ohne ein wirkliches Ziel zu haben, rannten Williams und David einfach nur durch die Gassen, in der Hoffnung, sich ja nicht erwischen zu lassen und die Ungetüme vielleicht in diesem Gassenwirrwarr zu verlieren. Mehr als nur einmal hörte David wie sie hinter ihnen ins Schlittern kamen, doch er wagte es nicht, sich umzudrehen. In der Ferne glaubte er ein galoppierendes Pferd zu hören und das manische Lachen einer Frau. Als sie den Park erreichten, hielt Williams ihn davon ab, hineinzugehen und nach einem Moment, wusste er auch warum, als etwas auf sie zukam, das wie ein wandelnder Baum aussah. „Hier lang!“, keuchte er, da sie nun wieder in ihm bekannten Gefilden waren, und zog Williams, deren Hand er noch immer hielt, mit sich, auf einen Platz, der für gewöhnlich immer gut besucht war. Er hatte die Hoffnung, dass die vielen Gerüche diese Ungeheuer vielleicht verwirren würden. „Wir brauchen einen sicheren Unterschlupf“, meinte sie ebenfalls keuchend, als sie auf dem Platz einen fast nicht existenten Moment verschnaufen konnten, da sie in der Menschenmasse untergetaucht waren. „Wie zum Beispiel?“ David versuchte über die Köpfe der Menschen hinweg, ihre Verfolger auszumachen. „Eine Kirche oder ein privates, abgesichertes Haus oder eine Wohnung. Sie haben Probleme mit den Türschwellen“, erklärte sie schnell sprechend und ihre Worte überschlugen sich fast. Er hörte viel näher als ihm lieb war, den Aufschrei einer Frau und in der Menschenmenge entwickelte sich eine neue Dynamik als die Leute versuchten, vor den riesenhaften Hunden davonzulaufen, die sicher ohne Zweifel auch hier angekommen sein mussten „Meine Wohnung ist nicht weit“, meinte er und zog sie wieder rasch mit sich, aber sie erhob keine Einwände. So schnell sie konnten, kämpften sie sich durch die Menge und achteten nicht darauf, wie viele Menschen sie anrempelten; sie wollten nur so schnell, wie es ging, die größtmögliche Distanz zwischen sich und die Hunde bringen. Sobald sie in eine der Nebenstraßen gelangten, rannten sie nur noch so schnell sie konnten. Glücklicherweise hatte David den Schlüssel zu seinem Wohnhaus bereits in seiner Jackentasche, als sie wieder lauter werdend das Bellen und Knurren der Hunde hören konnten. Er schloss mit fahrigen Händen die Tür auf, schob Williams hinein und nachdem er die Haustür zugeknallt und von innen verschlossen hatte, stürmten sie die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. „Zweiter Stock, rechts“, rief er ihr zu, damit sie wusste, wo sie halten musste. Auch hier schloss er die Tür mehr zittrig als stetig auf und erst als er die Tür zweimal hinter sich verschlossen hatte, sank Williams inmitten seines kleinen Flurs zu Boden und er glitt schwer atmend und mit hämmerndem Herzen mit dem Rücken an seiner Wohnungstür hinunter. „Ich glaube, … wir sollten reden…“, brachte er nur noch schnaufend hervor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)