Heimfahrt von abgemeldet (Das Fangirl und die Normale) ================================================================================ Heimfahrt --------- Jeder Fan hat einen - liebevoll 'normal' genannten - Freund. Und jeder 'Normale' hat einen - liebevoll 'verrückt' genannten - Fan zum Freund. Der Bahnhof war voller Menschen. Überall stand jemand, ging jemand oder blieb jemand genau vor den Füßen einer anderen Person einfach stehen. Der Bahnhof war voll, alle wollten nach Hause. Es war der 20. Dezember und für Julia und ihre Freundin Hanna der letzte Tag in ihrer Studiumsstadt. Für dieses Jahr zumindest, denn beide wollten die letzten anderthalb Wochen in der gemeinsamen Heimatstadt – drei Stunden Fahrt entfernt – verbringen. Julia war auf dem Weg zum Gleis, sich geduldig zwischen den Menschenmassen hin und her schlängelnd. Der große Koffer ließ sich relativ leicht ziehen, die Handtasche war klein genug um sie nicht zu stören. Sie stoppte um ein älteres Paar durchzulassen und sah sich kurz suchend um. Hanna musst irgendwo hier sein, die letzte SMS war vor einigen Minuten gekommen und hatte eine Hasstirade auf Menschen beinhaltet. Das Gleis war nicht ganz so gerammelt voll wie der Rest des Bahnhofs, aber Julia blieb am Anfang stehen um auf ihre Freundin zu warten. „Was wäre wenn...“ Julia zuckte zusammen und drehte sich abrupt um, nur um Hanna keine zwei Schritte entfernt hinter sich zu sehen. Hanna lächelte vage und lugte über Julias Schulter auf den Bahnsteig. „Was wäre, wenn alles da drüben Orks wären? Und wir – als Menschen in Mittelerde – an ihnen vorbei müssten?“ Julia wollte die Augen verdrehen doch stoppte sich. So ein Spruch war typisch für ihre Freundin. Dies war die Frau die ihren Gummibaum mit Zuckerstangen und rotem Lametta schmückte. Deren Fan-Dasein man beim Betreten ihres Zimmers anhand der Mittelerde-Karte neben Postkarten aus aller Welt erahnen sofort konnte (was sich dann durch das riesige Poster von Aragorn über ihrem Bett nur bestätigte). Die Kekse in Form des TARDIS backte, Höhenangst seit dem Ende der zweiten 'Sherlock'-Staffel hatte und bei fast allen Serien mindestens eine Folge hatte, die sie beim bloßen Erwähnen zum Weinen brachte. Sätze wie 'Lass uns die Schraubenzieher blau anmalen und wir haben mehrere 'Sonic Screwdriver'!' oder 'Das muss ich mir kaufen, es erinnert mich an irgendeinen-Charakter-den-Julia-nicht-kennt!' waren Alltag in der kleinen Wohngemeinschaft. Und in der Universität. Und in der Stadt. Eigentlich überall, wo Julia und Hanna zusammen waren. Aber Julia war eine gute Freundin, und wies lieber logisch auf den Denkfehler hin als die irrationale Idee ganz abzutun. „Wir können die Menschen auf dem Bahnsteig schlecht töten, Hanna. Allein schon deswegen nicht weil wir keine Schwerter haben und ziemlich viel Ärger kriegen würden, wenn wir es versuchten.“ Hannas Blick wurde augenblicklich theatralisch verzweifelt. „Aber diese ganzen Menschen“, sagte sie und betonte das Wort 'Menschen' mit so viel Verachtung, dass Julia kicherte. „Was wollen sie denn überhaupt hier?“ „Ich vermute mal, auch in die Heimat fahren.“ „Und wir können sie nicht loswerden?“ „Hast du ein Schwert?“ Hanna schmollte und zuckte mit den Schultern. Julia tat das Thema als erledigt ab – ihre Freundin jammerte gerne über die Anwesenheit von Leuten im Übermaß – und wollte auf den Bahnsteig hinaus, zu dem Abschnitt an dem ihr Zug halten würde, gehen doch Hanna hielt sie mit einer Hand auf dem Arm auf. „Ich habe Geschenkpapier gekauft.“ Julia sah sie stumm an. Hanna sprach nicht weiter und schließlich nickte Julia ihr zu wie sie es immer ihren kleinen Cousinen gegenüber tat und sagte – im selben Tonfall, wie man ein dummes Kind lobte - „Fein. Das hast du toll gemacht.“ Hanna bemerkte den Sarkasmus nicht, oder ließ sich zumindest nichts anmerken. „Nicht wahr? Wir können immerhin so tun als hätten wir Schwerter und die Möglichkeit sie zu nutzen.“ Ah. Nein, was? Julia starrte noch einige Sekunden und schüttelte den Kopf. „Du willst dass ich mit einer Rolle Geschenkpapier so tu als hätte ich ein Schwert und soll damit dann über das Gleis hier laufen?“ Hanna nickte enthusiastisch. Das breite Lächeln dimmte etwas als Julia den Kopf weiterhin schüttelte. „Ach komm schon. Es wird Spaß machen.“ „Was sind wir, zehn?“ „Ist doch egal! Können wir nicht Spaß haben? Es ist Weihnachten und wir haben viel zu viele Menschen um uns herum, genau wie die Gefährten immer viel zu viele Orks um sich herum hatten!“ „Hanna...“ Julia seufzte. Man konnte mit der Frau nicht reden wenn es um eine ihrer verrückten Fangeschichten ging. „Gut, ich nehme eine Rolle – ein Schwert. Aber ich werde keinen der fremden Menschen damit schlagen!“ Hanna lachte laut und zog einige Blicke auf sich. Julia hätte sich gerne irgendwo versteckt, als die meisten Leute weiterhin auf die beiden jungen Frauen starrten weil Hanna zwei Rollen Geschenkpapier aus ihrer Tüte zog und eine an Julia weiterreichte. Hanna hielt die Rolle am unteren Ende fest, vor sich als wäre sie bereit jederzeit jemanden damit zu erschlagen. Die andere Hand zerrte ihren kleinen, ramponierten Koffer nach, der durch die Gegend hüpfte wie ein aufgeregter kleiner (grüner) Hund. Julia verdrehte die Augen, erfreute sich aber daran, dass die meisten Zuschauer sich entweder ganz abwandten, oder mit ihren Blicken der noch immer lachenden, Geschenkpapierrollen-schwingenden Frau folgten. Aber keiner traute sich näher als fünf Schritte an sie heran, sie wichen sogar eher zurück, also nahm Julia an, dass Hannas Vorhaben sich die 'Orks' vom Leib zu halten wohl funktionierte. Obwohl – und Julia hatte nur die Filme gesehen und das erste Buch gelesen, nahm es aber trotzdem stark an – keiner der Charaktere aus 'Herr der Ringe' so irre aussah wie Hanna. Gollum vielleicht. „Julia!“ Hanna stand am anderen Ende des Bahnsteigs und winkte. „Komm! Der Zug kommt gleich.“ Sie sah viel zu fröhlich aus um gleich drei Stunden still zu sitzen. Sie hatte Recht behalten. Hanna machte sie nervös. Sie saßen nebeneinander im Zug, Julia mit dem zweiten Band der Trilogie vor der Nase und Hanna mit der Nase an der Scheibe. Ihr Bein wippte auf und ab und Julia wusste es war nur eine frage von wenigen Minuten, bis Hanna sich wieder irgendetwas überlegte um sie beim Lesen zu stören. Und schon wurde ihre Ahnung bestätigt, als Hanna herumfuhr und freudestrahlend fragte, „Wie gut wäre es, wenn wir einfach in Mittelerde landen könnten?“ „Ich wäre besser dran als du, ohne ständig jemandem um den Hals zu fallen und so“, meinte Julia sarkastisch und abwesend, mehr auf Rohan als auf Hanna konzentriert. „Was?“ jammerte Hanna. „Du würdest doch überhaupt und gar nicht klarkommen!“ Julia sah empört auf. „Und warum nicht?“ „Nun, zum einen weil du weder reiten noch mit einem Schwert kämpfen kannst.“ Hanna verdrehte die Augen. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass beides gebraucht wird, wenn man sich das übliche Leben in Mittelerde vornimmt.“ „Also bitte“ Julia klang skeptisch. „Ich weiß über diese fiktive Welt nicht halb so viel wie du, aber Butterblum ist ein fetter Wirt der sicherlich weder reiten noch mit dem Schwert kämpfen kann.“ Nach dem ersten schmerzhaften Zusammenzucken als Reaktion auf die Formulierung 'fiktive Welt', schaute Hanna ein wenig überrascht drein. „An den hab ich nicht gedacht.“ „Oder generell einfach mal die Hobbits. Wir wissen doch mit ziemlicher Sicherheit dass keiner auch nur mit einem Schwert umgehen möchte.“ „Das ist wahr.“ Hanna war einen Moment still und sah mit unzufriedener Miene, wie Julias Gesichtsausdruck immer triumphierender wurde. „Aber!“ „Aber?“ „Aber, was würde dir ein Leben als schwertloser Hobbit bringen, wenn du noch Gondor und Ithilien sehen wolltest? Hm?“ Julia verzog das Gesicht. „Ach Mist“, sagte sie mit einem gespielt schweren Seufzer und zuckte mit den Achseln. „Du hast gewonnen.“ „Ha!“ Hanna sprang von ihrem Sitz und führte einen irrwitzigen kleinen Siegestanz auf, der sie zwischen den Sitzen hindurch, über Julia drüber, auf den Gang und wieder zurück führte. Julia seufzte theatralisch und hob ihr Buch wieder auf Augenhöhe. Die Schlacht um Helms Klamm war unbestreitbar spannender als Hannas seltsamer Freudentaumel. Hanna fiel zurück auf ihren Sitz als die Blicke der anderen Fahrgäste auch ihr zu vorwurfsvoll wurden. „Es beweist doch wieder dass ich mehr Ahnung habe als du.“ „Du hast mehr Ahnung von Herr der Ringe“, betonte Julia. „Jetzt. Ich habe neben den Filmen gerade mal anderthalb Bücher gelesen, während du jedes Lexikon und tausend Fanfiktions zu dem Thema verschlingst.“ „Ich werde immer mehr wissen als du.“ „Du lieber Himmel, ist das ein Wettbewerb? Du warst doch so hinterher dass ich die Bücher überhaupt lese.“ Hanna war mit nichts so schlimm wie wenn jemand einen ihrer drei Lieblingsromane erwähnte. Nicht mal, wenn sie einem die komplette Staffel Episode für Episode erklärte, nur weil man nach dem Namen eines Charakters fragte. Julia stieß ihrer schmollenden Freundin den Ellenbogen in die Rippen und schlug ihr vor, „Du kannst natürlich immer noch versuchen an den Menschen in den Abteilen vorbeizukommen ohne dass sie dich entdecken.“ Der Großraumwagen in dem sie saßen war voller Menschen, die aufgeschreckt hoch schauten, als die junge Frau die eben noch tanzte laut „Genau!“ schrie. Es gab in dem ICE zwischen dem Großraum und den Türen zwar nur drei Abteile, aber das zu beiden Seiten und sechs davon sollten Hanna erst einmal beschäftigen. Julia wandte sich wieder ihrem Buch zu und gab sich alle Mühe nicht rot zu werden, als mehrere Leute neugierig hinter ihrer verschwindenden Freundin hersahen und dann zurück auf sie. Manchmal benahm sich Hanna wie ein kleines Kind, das die ganze Zeit beschäftigt werden musste. Aber da Julia sie lieb hatte – und genau wusste dass sie selber in der Gegenwart bestimmter Männer in etwa so anstrengend, wenn auch nicht so kindisch war – hatte sie eine hohe Toleranzgrenze. Also wenn Hanna unbedingt Weihnachten unter Orks spielen wollte, wie käme dann Julia dazu sie zu stoppen. Wenn diese FF nicht nur für den Adventskalender ist, dann ist sie außerdem für Judith. Die meine nicht ganz so schweren Obsessionen (ich identifizier mich nicht mit Hanna) nicht ganz so gelassen (ich identifizier dich nicht mit Julia) erträgt, aber es irgendwie tut. Frohe Weihnachten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)