Stille Nacht von Ur (Thalia & Luke & Annabeth) ================================================================================ Kapitel 1: Stille Nacht ----------------------- Es schneite. Ich beobachtete die dicken Flocken, die vom nächtlichen Himmel fielen und den Boden unter einer weißen, flauschigen Decke verbargen. Eigentlich mochte ich Schnee sehr, aber im Moment fror ich jämmerlich und hätte mir weniger kalte Temperaturen gewünscht. Meine übergroße Lederjacke half nur wenig gegen die Kälte, aber als meine Augen sich auf das zitternde Bündel vor mir richteten, vergaß ich, dass meine Zehen vermutlich jeden Augenblick abfallen würden. Annabeth hockte zusammen gekauert auf dem Boden und wiegte leicht vor und zurück. Ich hörte ihre Zähne klappern und ihre Lippen waren leicht bläulich. Seufzend erhob ich mich, um neben ihr Platz zu nehmen und sie näher zu mir zu ziehen. Das winzige Feuer, das wegen der Nässe und des Schnees nicht wirklich in Gang kommen wollte, spendete kaum Wärme. Hier saßen wir. Zwei halb erfrorene Halbgötter. Es war erbärmlich und lächerlich. Wir waren Kinder von mächtigen Göttern und würden vielleicht kaum den Winter überstehen. Wenn wir nicht erfroren, dann würden wir vermutlich früher oder später von Monstern gefressen werden. Ich fragte mich dumpf, wo Luke abgeblieben war. Eigentlich war ich dagegen gewesen, dass wir uns trennten, aber der Dickkopf hatte darauf bestanden einen Streifzug durch die nächtlichen Straßen zu unternehmen. Annabeth und ich warteten nun schon seit einer halben Stunde darauf, dass er zurückkam. Wir hatten in einer dunklen, übel riechenden Seitengasse Zuflucht gefunden, wo ein ramponiertes Wellblechdach ein kleines Stück Boden wenigstens halbwegs frei von Schnee hielt. Es roch nach Abfall, Urin und Winter. Immerhin würde der schreckliche Geruch die Monster für einige Zeit von uns fernhalten. Ich fragte mich dunkel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, von zu Hause fortzulaufen. Andererseits hätte ich sonst Annabeth und Luke nie getroffen. Aber dort hatte ich nicht bleiben wollen. Jede stinkende Gasse war besser als diese Wohnung, in der ich andauernd nur angefeindet wurde, weil ich zu viele Schwierigkeiten machte. Ich wollte auf keinen Fall zurück in diese Schule, oder in die nächste Schule. Es würde ja doch nicht aufhören. »Wenn ich gewusst hätte, dass du solchen Ärger machen würdest…« Ich erinnerte mich an den Tag, an dem meine Mutter mir eröffnet hatte, was ich war. Wer ich war. Und wieso ich meinen Vater nie kennengelernt hatte. »Thalia…?« Annabeth‘ Stimme klang leise und kläglich. Sie war erst sieben und sah so allein und verloren aus, wie sie da neben mir hockte und zitterte. »Hm?« »Glaubst du, Luke kommt nicht mehr zurück?« Ich schluckte. Die Kleine hatte einen Narren an Luke gefressen. Sie mochte mich auch, das wusste ich, aber Luke brachte sie zum Lächeln. Er war immer so nett zu ihr und heiterte sie auf, wenn sie weinte. »Doch, ganz bestimmt«, erwiderte ich, auch wenn ich mir nicht sicher war. Für sein junges Alter war Luke ein regelrechter Überlebenskünstler. Was womöglich daran lag, dass er der beste Taschendieb war, den man sich vorstellen konnte. Ich hatte nicht allzu lang gebraucht, um zu erraten, wer sein Vater war, aber ich hatte mit Luke noch nicht darüber gesprochen. Vielleicht wusste er es selbst, aber er schien so wütend auf seinen göttlichen Elternteil zu sein, dass ich ihn nicht unnötig aufregen wollte. Wir alle hatten unsere Probleme damit, ein Kind eines griechischen Gottes zu sein. Wir klagten oft ganz allgemein, aber wir nannten sie nie beim Namen, unsicher, was passierte, wenn wir das taten. »Ihr seht erfroren aus«, ertönte eine Stimme neben uns und ich zuckte heftig zusammen. Luke konnte so lautlos schleichen, als schwebte er eigentlich über dem Boden. Mein Herz hämmerte in meiner Brust und ich starrte zu ihm hoch. Er hielt ein riesiges Bündel in den Händen und hatte einen Rucksack über der Schulter. Seine blauen Augen funkelten im kläglichen Licht unseres winzigen Feuers und er hatte Schneeflocken in seinem sandig blonden Haar. »Wo warst du? Und was ist das alles?«¸ zischelte ich aufgebracht und Luke zuckte mit den Schultern. Seine Augen ruhten kurz auf Annabeth, dann stapfte er entschlossen zu ihr herüber und legte ihr eine dicke, warme Decke um die Schultern. »Hey Knirps«, sagte er schief grinsend. Annabeth schniefte. »Ratet mal, welcher Tag heute ist«, meinte Luke und warf eine Decke über meinen Kopf, sodass ich kurz nur noch schwarz sah und den weichen Stoff auf meinem eisigen Gesicht fühlte. Ich zog mir die Decke herunter und sah zu, wie Luke den Inhalt seines Rucksacks leerte. Der Rucksack sah brandneu aus und ich konnte mir ziemlich genau vorstellen, wie Luke an all diese Dinge gekommen war. Wahrscheinlich könnte er alles stehlen, wenn er nur wollte. Ich sah einige Süßigkeiten, Feuerzeuge, einen Berg Zeitschriften und wahllos zusammen gewürfelte Lebensmittel, darunter eine Packung Würstchen und eine Tube Ketchup. »Keine Ahnung. Irgendein Tag im Dezember, denk ich«, gab ich zurück und sah zu, wie Luke anfing die Zeitungen auf unser Feuerchen zu legen. Wir hatten von einem Sperrmüllhaufen ein paar Holzstücke von einem zerlegten Schrank und einem Stuhl mitgenommen und mit Hilfe eines Feuerzeugs und des Papiers wurde es allmählich größer und strahlte mehr Wärme aus. Ich zog die Decke um mich und nahm das Würstchen, das Luke mir reichte. »Heut ist Weihnachten«, verkündete Luke und sah dabei recht grimmig aus. Vermutlich hatten wir alle nicht wirklich einen großen Bezug zu Weihnachten. Wir waren die Kinder griechischer Götter und hatten es nicht sonderlich mit unseren Familien. Den Geburtstag von Jesus zu feiern, schien für uns eher unsinnig zu sein, aber Luke wirkte sehr entschlossen, während er eine Weihnachtsmütze aus dem scheinbar bodenlosen Rucksack zog und sie sich aufsetzte. Er sah ein wenig lächerlich aus, aber ich lachte trotzdem nicht. Ich warf einen Blick hinüber zu Annabeth, die sich die Decke sogar über den Kopf gezogen hatte, sodass nur noch ihr Gesicht herausschaut. Ihre Augen waren auf Luke gerichtet, der nun ein paar lose Tannenzweige mit einem Faden an einem der Stützstäbe des Wellblechdachs befestigte. »Wo hast du das alles her?«, fragte Annabeth. Ihre grauen Augen leuchteten voller Bewunderung und sie wirkte beinahe ein wenig aufgeregt, als würde sie sich wirklich darauf freuen, mit uns in dieser übel riechenden Gasse, einem Würsten und drei Tannenzweigen Weihnachten zu feiern. »Hab ein paar Läden abgeklappert«, sagte Luke betont lässig. Ich verkniff mir ein Schnauben. Luke setzte sich zu uns ans Feuer und zog die dritte Decke um sich, ehe er nach einem Würstchen griff und die Ketchupflasche öffnete, um beherzt etwas von der roten Flüssigkeit auf das Würstchen zu tun. »Ich hab auch noch Brot und Käse«, sagte er mampfend und kramte erneut in seinem Rucksack. Ich beobachtete, wie Ketchup auf die Decke tropfte. »Wieso willst du so unbedingt Weihnachten feiern?«, fragte ich und hatte eine leise Ahnung von der Antwort. Luke hielt kurz inne und warf mir einen trotzigen Blick von der Seite zu. »Ich hoffe, dass es die da oben ärgert«, sagte er schließlich. Ich musste unweigerlich lächeln. In unserer dunklen Gasse kam kein Passant vorbei und in der Ferne konnte man nur noch dann und wann ein Auto hören. »Außerdem… wer weiß, wann wir tot sind.« Annabeth schniefte erneut. Luke biss sich auf die Unterlippe, als würde er sich wünschen, er hätte das nicht gesagt. Annabeth hatte ihr Würstchen bereits aufgegessen und schaute nun hungrig und mit tränenden Augen hinüber zu dem Brot, das Luke zu Tage befördert hatte. Er riss ihr ein Stück ab und hielt es ihr zusammen mit dem Käse hin. »Keine Sorge«, meinte er behutsam, als Annabeth beides nahm und es traurig betrachtete. »Wir schaffen das schon. Wir finden irgendeinen Platz, wo man uns haben will. Und dann können wir richtig Weihnachten feiern, mit einem Baum und Kugeln dran und was richtigem zu Essen und so.« Annabeth wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. »Meinst du?«, gab sie zurück und biss in das Stück Brot. Luke nickte. Aber ich wusste, dass es wahrscheinlicher war, dass wir bald von irgendeinem Monster umgebracht werden würden. Die Vorstellung, dass Luke und Annabeth irgendetwas passierte, machte mir Angst. Die beiden waren meine Familie. Die Familie, die sich um mich kümmerte und mich gern hatte. Ich nahm mir fest vor, die beiden zu beschützen. Als Tochter von Zeus sollte das doch möglich sein. Zu irgendetwas musste dieser Gottanteil in mir doch gut sein, zu irgendwas musste mein verdammter Vater gut sein, der sich einen Dreck um mich scherte. Ich sah auf und betrachtete Luke und Annabeth. Vielleicht, dachte ich mir, vielleicht schaffen wir es noch etwas länger, damit wir noch etwas mehr Zeit miteinander verbringen können. Das einzige, was die Stille der Nacht durchbrach, war das Knistern des Feuers und das gelegentliche Rascheln eines Süßigkeiteneinwickelpapiers. Der Schnee fiel unaufhörlich weiter und schien die Nacht noch stummer zu machen, als sie ohnehin schon war. »Frohe Weihnachten«, murmelte ich leise. »Frohe Weihnachten«, kam es im Chor zurück. Vielleicht, dachte ich sehnsüchtig, vielleicht könnte ich mir zu Weihnachten wünschen, dass dies nicht das letzte Weihnachten war, das ich mit Luke und Annabeth verbringen würde. Aber es gab niemanden, der mir den Wunsch erfüllen konnte, außer vielleicht mir selbst. Luke begann, leise ›Stille Nacht‹ vor sich hin zu summen, während er einen Schokoriegel verspeiste. Annabeth lehnte sich an ihn und schloss die Augen. Ich sah die beiden an und legte ein Stuhlbein ins Feuer. Während ich beobachtete, wie es langsam verkohlte und anfing, Feuer zu fangen, nahm ich mir vor, dass ich diese beiden beschützen würde, komme was wolle. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)