Driving Home for Christmas von Juju (with a thousand memories...) ================================================================================ Kapitel 1: Zugfahrten und Erinnerungen -------------------------------------- „Aufgrund der Wetterlage wird dieser Zug voraussichtlich dreißig Minuten später eintreffen. Wir bitten um Verständnis.“ Dies war die Ansage, die in diesem Moment über den Bahnsteig schallte und die Zwillingsschwestern Hanna und Samantha genervt aufstöhnen ließ. „Jetzt sind es schon dreißig. Eben waren es noch fünf“, knurrte Samantha und warf einen grimmigen Blick auf die Anzeigetafel, die nun auch zu dem Entschluss gekommen war, dass fünf Minuten zu nett waren. Hanna ließ sich auf einen der großen Koffer fallen, die die Mädchen umgaben, rieb sich die Hände und tippelte mit den Füßen um gegen die Kälte anzukämpfen. Die Temperatur lag gefühlte zwanzig Grad unter dem Gefrierpunkt und dicke weiße Flocken fielen bereits seit dem vorigen Abend vom Himmel. „Setz dich nicht auf den Koffer, der geht noch kaputt“, sagte Samantha streng. „Ich geh auch gleich kaputt, wenn dieser Scheiß-Zug nicht gleich kommt!“, begehrte Hanna auf. „Wenn es doch wenigstens nicht so kalt wäre.“ Sie zog sich den grauen Wollschal bis über die Nase, die bereits ganz rot war. „Wann war es eigentlich das letzte Mal einen Tag vor Weihnachten so eiskalt? Das muss doch schon Jahre her sein“, überlegte Samantha, die ungeduldig immer wieder Blicke auf die große Uhr warf, die nur wenige Meter entfernt über ihnen hing. Es war bereits zehn Minuten vor vier. Man konnte nicht sagen, ob es bereits langsam dämmerte, denn es war den ganzen Tag über nicht sonderlich hell gewesen. „Weißt du noch, das eine Mal, als so ein Rekordwinter war? Wie alt waren wir da? Sechs?“, erinnerte Hanna sich plötzlich. „Sieben“, berichtige Samantha sie. „Guck mal, wie schön mein Schneeengel geworden ist!“, rief die siebenjährige Hanna aufgeregt und betrachtete das Gebilde unter sich. „Zeig mal!“, befahl Samantha, die noch im Schnee lag, der so tief war, dass sie fast darin versank. Sie wollte sich aufrappeln, fiel jedoch wieder hin und zerstörte somit ihren eigenen Schneeengel. Als sie es schließlich schaffte aufzustehen und sah, dass ihr Schneeengel höchstens noch ein Schneeungeheuer war, verzog sich ihr Gesicht und Tränen traten in ihre Augen. „Jetzt hast du deinen Engel kaputt gemacht“, stellte Hanna fest und sah ihre Schwester vorwurfsvoll an. Diese schluchzte laut auf und die Tränen liefen über ihre Wangen. „Jetzt heul doch nicht gleich wieder rum. Guck, ich mach dir einen neuen.“ Mit diesen Worten warf Hanna sich erneut rückwärts in den Schnee und bewegte die Arme und Beine so, dass ein neuer Schneeengel entstand. Sie stand wieder auf, klopfte sich die Hände ab als wären sie dreckig geworden und betrachtete stolz ihr Werk. Samantha schniefte und starrte glücklich auf den neuen Schneeengel. Vorsichtig legte sie sich in die Vertiefung. Natürlich passte sie genau hinein. Eineiige Zwillinge sind schließlich gleichgroß. Und gleichdick. „Ich hab keine Lust mehr auf Schneeengel“, verkündete Hanna. „Los, lass uns was anderes spielen!“ Sie packte Samantha am Arm und zog sie hoch. Dann lief sie los durch den Garten zu einer Stelle, wo der Schnee besonders tief war. Hier reichte er den Mädchen schon fast bis zur Hüfte. „Wir könnten eine Schneehöhle bauen und uns da drin verstecken. Und wenn Mama ruft, dann kommen wir einfach nicht. Dann denkt sie, wir sind im Schnee verloren gegangen.“ Hannas Augen leuchteten und sie fing schon an zu buddeln, doch Samantha bewegte sich nicht. „Dann wird sie aber traurig sein“, erwiderte sie mit hoher Stimme. „Quatsch, sie hat doch noch Papa und David und James und Michelle“, antwortete Hanna bestimmt und wollte weiter buddeln, doch dazu kam sie nicht, denn soeben kamen der elfjährige David und der dreizehnjährige James zu ihnen gestapft. Sie hatten auf der Straße gespielt. „Na, ihr Gackerlisen“, sagte James und grinste blöd. David lachte nur. „Macht ihr wieder alberne Babyspiele?“ „Nee.“ Hanna streckte ihm die Zunge raus. „Wir machen keine Babyspiele. Wir bauen eine Schneehöhle“, antwortete Samantha wütend. Ständig nervten ihre beiden Brüder sie beim Spielen. „Uh, das ist voll Baby“, höhnte David und lachte wieder. „Ist es nicht!“, rief Samantha und trat mit dem Fuß nach ihm, doch weil der Schnee so hoch war, bekam sie ihren Fuß kaum hoch, verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Po. Die Jungen kugelten sich vor Lachen. „Ihr Blödmänner!“, schrie Hanna, schaufelte mit den Händen Schnee auf und schleuderte ihn gegen ihre Brüder. David wurde getroffen, doch James wich geschickt aus und schubste sie zur Rache so hart, dass sie neben Samantha im Schnee landete. „Wir können ja mal was Richtiges spielen“, sagte James und sah auf die beiden Mädchen herunter, die sich mühevoll aufrappelten. „Eine Mutprobe. Aber ich wette, das traut ihr euch eh nicht.“ „Mutprobe? Klar trauen wir uns das.“ Herausfordernd stemme Hanna die Hände in die Hüften und sah ihren Bruder an. Samantha stand unsicher ein wenig hinter ihr und hatte eigentlich gar keine Lust auf eine Mutprobe. „Das macht ihr eh nicht. Wetten ihr traut euch nicht, euch für zehn Minuten nackt in den Schnee zu legen?“ James und David lachten laut. „Klar trauen wir uns das! Los, Sammy, denen zeigen wir's!“ Und schon zog Hanna den Reißverschluss ihrer grasgrünen Jacke auf. „Ich will's denen aber nicht zeigen“, sagte Samantha kleinlaut. Hanna zog ihre Jacke aus, warf sie achtlos beiseite und zog dann auch am Reißverschluss von Samanthas Jacke. „Komm schon, das sind doch nur zehn Minuten“, sagte sie ungeduldig. Dabei hatte sie eigentlich gar keine Ahnung, wie lang überhaupt zehn Minuten waren. Würden sie jetzt den ganzen Abend da liegen müssen? Und wenn schon! Der blöde James und der blöde David konnten ihr gar nichts sagen. Schnell entkleidete sie sich, bis sie nur noch ihre rosafarbene Unterhose trug. Anschließend half sie ihrer Schwester, die immer ein bisschen langsamer war. Schlotternd standen sie da. „Hanni, das ist blöd. Mama wird schimpfen“, jammerte Samantha, die schon wieder aussah, als würde sie gleich losheulen. „Baby, Baby!“, riefen James und David und lachten. Dann sah James auf seine Armbanduhr. „Los, legt euch in den Schnee. Zehn Minuten.“ Auch Hanna bibberte und zitterte, doch sie ließ sich fallen und zog ihre Schwester unsanft mit sich. Diese schrie auf, verkniff sich aber das Heulen. „Los, wir buddeln sie ein!“, rief David aufgeregt und fing an mit den Händen Schnee auf die frierenden Mädchen zu schippen. „Nein!“, schrie Samantha panisch, doch weit sollten die Jungen eh nicht kommen. „Was macht ihr denn da?!“, kreischte plötzlich eine Frau. Die Mutter der vier Kinder kam auf sie zu gerannt. „James! Seid ihr verrückt geworden?“ Als sie die ganze Szene sah, lief ihr Gesicht knallrot an und sie sah aus, als würde sie jeden Moment explodieren. „IHR SPINNT WOHL! James, David, nehmt sofort die Sachen der Mädchen und bringt sie rein! SOFORT!“ Die beiden Jungen waren ganz klein geworden. Schnell schnappten sie die Sachen der Zwillinge, die um sie herum verstreut lagen, und rannten zum Haus. Die Mutter schnappte sich die beiden Mädchen und klemmte sie sich links und rechts unter die Arme. „Und ihr beide...“ „Die haben gesagt, wir sollen das machen!“, schrie Samantha verzweifelt und heulte nun doch. „Wie könnt ihr denn auch noch machen, was die euch sagen? Wenn die sagen, ihr sollt aus dem Fenster springen, macht ihr das dann auch?“ Wutentbrannt schleppte sie die beiden Mädchen ins Haus. „Und danach lagen wir zwei Wochen krank im Bett“, beendete Hanna ihre Erinnerung und die beiden lachten. Auch Samantha hatte sich inzwischen auf einen Koffer gesetzt. „Was ist eigentlich aus 'Der Koffer geht kaputt' geworden?“, stichelte Hanna und sah ihre Schwester gespielt streng an. „Ach, sei doch still“, antwortete Samantha und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ist eigentlich noch was von dem Tee übrig?“ „Nee, den hab ich doch vorhin schon ausgetrunken“, sagte Hanna gleichgültig. Samantha setzte gerade zu einer Beschwerde an, doch ihre Schwester funkte schon dazwischen. „Sei du mal ganz leise. Wer hat denn letztens wieder mal meine Lieblingsschokolade aufgegessen, ohne dass ich was abbekommen hab?“ „Selbst schuld, wenn du die immer so lange im Kühlschrank gammeln lässt“, murrte Samantha. Hanna warf ihr einen feindseligen Blick zu. Manchmal war es nicht leicht, mit der eigenen Schwester in einer WG zu wohnen, vor allem, wenn diese meinte, man könnte sich an allem beliebig bedienen, was im Kühlschrank liegt. „Meine Damen und Herren, auf Gleis fährt jetzt ein...“ „Na endlich!“ Samantha sprang auf und hielt nach ihrem Zug Ausschau, der soeben angesagt worden war. „Wird auch Zeit. Ich spüre meine Füße nämlich nicht mehr.“ Auch Hanna stand auf und sah unglücklich auf den Gepäckhaufen, den die Mädchen um sich herum aufgebaut hatten. Zwei Koffer, eine Reisetasche und zwei Handtaschen. Wie hatten sie nur schon wieder so viel Gepäck zusammen bekommen? Eigentlich wollten sie nur mit einem Koffer und zwei Handtaschen nach Hause fahren. „Hoffentlich kriegen wir überhaupt einen Platz“, bemerkte Samantha besorgt und sah sich am Bahnsteig nach den vielen Leuten um, die alle das gleiche zu denken schienen. „Wir müssen uns halt durchboxen“, antwortete Hanna halbherzig und trat an die Bahnsteig kannte als würde sie sich für einen Kampf bereit machen. „Das überlasse ich dir“, sagte Samantha großzügig und schnappte sich einen der Koffer. Der Zug fuhr langsam ein und kam schließlich so zum Stehen, dass die beiden Mädchen – wie es eigentlich auch nicht anders zu erwarten war – genau zwischen zwei Türen standen. „Na super“, stöhnte Hanna genervt und drehte den Kopf in beide Richtungen um abschätzen zu können, welche der beiden Türen näher lag. „Dann hat sich das mit dem Platz ja erledigt“, fügte Samantha mit gerunzelter Stirn hinzu. Doch das war nicht ihr einziges Problem, denn beide hatten nun einen Koffer an der Hand und eine Handtasche in der anderen. „Wie machen wir das jetzt mit der Reisetasche?“ „Geh du vor und versuch, einen Platz zu kriegen. Ich nehm die Tasche“, bestimmte Samantha, warf sich ihre Handtasche ungelenk über die Schulter und schnappte mit der freigewordenen Hand die Reisetasche. Sie standen nun in einer Schlange vor einer Tür und warteten, bis sie endlich einsteigen konnten. Samantha rutschte die Handtasche immer wieder von der Schulter, sodass sie ungeschickt versuchte, sie wieder zurückzuschieben, wobei sie allerdings den Koffer umwarf. „Mist!“, rief sie wütend und sah sich nach dem Koffer um, der bereits von einem jungen Mann wieder aufgestellt worden war. „Danke.“ „Gib her, ich nehm dir die Tasche ab“, bot er an und nahm Samantha die Tasche aus der Hand. Überrascht sah sie zu ihm auf. Er war ein wenig größer als sie selbst, war höchstens Mitte zwanzig, hatte welliges hellbraunes Haar und ein paar Sommersprossen auf der Nase. Seine Augen hatten in etwa die Farbe von Hannas Lieblingsschokolade. „Äh... okay, danke.“ Samantha lächelte ihn schüchtern an. Hanna verdrehte die Augen und quetschte sich in den Zug. „Komm schon!“ Sie hatten es mitsamt ihrem Gepäcks in den Zug geschafft und sahen sich nun nach einem Platz um. Natürlich war bereits alles belegt, also blieben sie einfach im Eingangsbereich stehen. „Das ist ja wieder mal prima. Drei Stunden in einem vollen Zug“, stöhnte Hanna und ließ sich wieder auf ihren Koffer fallen. Samantha blieb unzufrieden stehen und fragte sich, ob sie nach dieser Zugfahrt ihre Beine wohl noch spüren können würde. Der junge Mann stellte die Tasche neben ihr ab. „Ist es okay, wenn ich einfach bei euch stehen bleibe? Ist ja eh nichts mehr frei.“ „Ja, klar“, antwortete Samantha schnell. „Und danke.“ Hanna warf ihrer Schwester einen genervten Blick zu. Ob sie wohl jemals aufhören würde sich zu bedanken? „Fahrt ihr auch nach Hause zur Familie?“, fragte der junge Mann freundlich. Nein, wir fahren in den Urlaub zum Holzhacken, dachte Hanna sarkastisch. Wo sollte man denn an einem dreiundzwanzigsten Dezember sonst hinfahren? Zudem noch in einer Bahn, die so voll war, dass man seinen Mitmenschen näher war, als einem lieb sein konnte. „Ja.“ Samantha nickte lächelnd. „Du etwa auch?“ „Ja“, antwortete der junge Mann. „Weihnachten halt“, sagte Samantha nach kurzem Zögern. Hanna sah belustigt zu ihr auf. Das war wieder typisch für ihre Schwester. Es fiel ihr schwer, sich mit fremden Menschen zu unterhalten, vor allem mit jungen gut aussehenden Typen. „Wo müsst ihr aussteigen?“, fragte er weiter. „Endstation“, antwortete Samantha. „Müssen also ganz bis zum Ende fahren.“ Hanna konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Okay, dann muss ich ja nur eine halbe Stunde früher raus als ihr“, stellte der junge Mann fröhlich fest. „Ich bin übrigens Phil. Ich dachte, das könntet ihr wissen, wenn wir jetzt schon zweieinhalb Stunden miteinander verbringen.“ „Ja“, antwortete Samantha. „Ich bin Samantha und das ist meine Schwester Hanna.“ Phil lächelte auch Hanna an, die zum Gruß nickte. „Warte mal. Ihr seid Zwillinge, oder? Das fällt mir jetzt erst auf.“ Abwechselnd sah er von einer zur anderen. „Nein, wir sehen uns nur durch Zufall so ähnlich“, murmelte Hanna. Samantha gab ihr einen Klaps gegen den Hinterkopf und hoffte, dass ihr Einwurf Phil nicht verärgerte. „Ja, entschuldigt. Ich war wegen der Haarfarben verwirrt“, antwortete Phil und musterte beide. „Oh, dazu gibt es so eine Geschichte...“ Es war einen Tag vor Weihnachten, als die siebzehnjährige Samantha wütend vor dem Spiegel im Badezimmer stand und sich „Kupferbraun“ in die eigentlich flachsblonden Haare schmierte. Hin und wieder kleckste ein Spritzer der Farbe zu Boden, wo er auf den weißen Fliesen nicht zu übersehen war. „Sammy, du machst einen Fehler.“ Ihre Mutter stand mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihr und sah sie flehend an. „Bitte hör doch auf damit.“ „Ich hör jetzt nicht auf damit! Wie seh ich denn dann aus?“, fauchte Samantha und fuhr unbeirrt fort. Ihre Stirn war bereits mit Kupferbraun vollgeschmiert. „Ich glaub, das sieht cool aus“, verkündete Michelle, die an Samanthas anderer Seite stand, mit blitzenden Augen. Kein Wunder. Mit vierzehn Jahren findet man so ziemlich alles cool, was die eigene Mutter so gar nicht cool findet. „Ich glaub, ich färbe mir meine Haare auch.“ „Vergiss es, Fräulein“, zischte ihre Mutter und sah sie streng an. „Warum? Sam macht es doch auch!“, protestierte Michelle. „Sam ist auch älter als du. Und außerdem macht sie es ohne Erlaubnis. Hör doch bitte auf damit“, fügte sie an Samantha gewandt hinzu. „Nein! Ich will nicht mehr aussehen wie die“, rief diese wütend und klatschte sich eine große Menge Farbe auf den Kopf. „'Die' heißt immer noch Hanna“, entgegnete ihre Mutter. „Schön. Dann will ich halt nicht mehr aussehen wie Hanna“, knurrte Samantha und verrieb die Farbe in ihrem Haar. „Du weißt schon, dass ihr Zwillinge seid und du trotzdem noch aussiehst wie sie, auch wenn du dir die Haare kurz schneiden und grün färben würdest?“, sagte Michelle höhnisch. „Halt doch die Klappe und kümmer dich um deinen eigenen Kram“, fauchte Samantha. „Ich glaube, ich färbe meine Haare grün“, sagte Michelle unbeirrt. „Ich glaube nicht!“, erwiderte ihre Mutter warf ihrer zweitjüngsten Tochter einen Blick zu, bei dem man besser schleunigst das Weite suchte. Michelle ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken. „Weshalb habt ihr euch eigentlich gestritten?“, fragte sie neugierig. „Geht dich gar nichts an“, murrte Samantha. Das ging niemanden etwas an, nur Hanna und sie. Außerdem war ihr das Problem zu peinlich. Samantha hatte sich in einen Jungen aus der Schule verguckt, neben dem sie in zwei Fächern saß und hatte es Hanna erzählt. Ein paar Tage später bei einer Party hatte sie Hanna dabei erwischt, wie sie mit eben diesem Jungen rumknutschte. Seitdem hatte sie kein Wort mehr mit ihr geredet. Noch nie hatte sie irgendjemand so enttäuscht und sie wusste nicht, ob sie jemals wieder nicht mehr wütend auf sie sein konnte. Sie war heulend nach Hause gegangen und wusste nicht, was sie mehr verletzte; der Junge, der sich nicht für sie, sondern für ihre Zwillingsschwester interessierte, oder Hanna, die ihr Vertrauen missbraucht und weggeworfen hatte. Samantha war bei diesem Anblick sofort heulend nach Hause gegangen und Hanna hatte seitdem nicht einmal versucht mit ihr zu reden, obwohl sie wusste, dass ihre Schwester die beiden gesehen hatte. Das war für Samantha ausschlaggebend, sich von ihr abzukapseln und ihre innige Verbindung aufzulösen. Sie hatten eh zu viel zusammen herumgehangen. Es wurde Zeit, dass sie sich andere Leute suchte. „So, das war's“, verkündete Samantha, nachdem sie die letzte Portion Kupferbraun in ihre Haare massiert hatte. „Eine halbe Stunde einwirken und dann bin ich endlich nicht mehr blond.“ „Du machst einen Fehler“, sagte ihre Mutter wieder und verließ kopfschüttelnd das Badezimmer. In dieser Nacht wurde Samantha geweckt, weil jemand sie an der Schulter rüttelte. Verschlafen öffnete sie die Augen. Das einzige Licht, das in ihrem Zimmer brannte, kam von der Lichterkette, die das Fenster schmückte. Hanna musste sie angeschaltet haben, denn sie war es, die über Samantha gebeugt vor ihrem Bett stand und sie ansah. „Bitte färb deine Haare wieder um“, sagte sie flehend. Hatte sie Tränen in den Augen? „Was? Spinnst du? Was willst du hier?“ Samantha setzte sich auf und sah sie wütend an. „Ich bin hier um dir zu sagen, dass du deine Haare wieder blond färben sollst“, antwortete sie und setzte sich auf Samanthas Bett. „Nein! Blonde Haare sind bescheuert“, fauchte Samantha. „Und jetzt geh wieder raus!“ „Sammy!“ Tränen rannen nun über Hannas Wangen und Samantha fragte sich überrascht, wann sie Hanna das letzte Mal hatte weinen sehen. „Ich hab ihm gesagt, dass aus uns nichts wird wegen dir.“ „Wem?“ „Na wem wohl?“ „Wann?“ „Gestern“, sagte Hanna langsam. Sie schniefte und nahm sich ein Taschentuch aus der Packung auf Samanthas Nachttisch. „Und als du dir heute die Haare gefärbt hast, da hab ich gesehen, dass es ernst ist und Angst bekommen.“ „Wie bitte?“, begehrte Samantha auf. „Du merkst erst, dass mir etwas ernst ist, wenn ich mir die Haare umfärbe? Weißt du, mit wem es noch vorbei ist? Mit uns!“ Sie stieß Hanna so hart, dass diese seitwärts vom Bett fiel und sich den Ellbogen aufschlug. Sie machte keine Anstalten, aufzustehen, sondern blieb auf dem Boden sitzen und sah zu ihrer Schwester hoch. „Oh, entschuldige“, murmelte Samantha und es tat ihr wirklich Leid, dass sie Hanna wehgetan hatte. „Aber weißt du eigentlich, wie blöd das von dir ist? Du knutschst mit dem rum, den ich toll finde, und dann entschuldigst du dich nicht mal dafür, dass du mich hintergehst! Wenn man Verwandtschaft auflösen könnte, dann würde ich das jetzt sofort mit dir machen.“ Nun standen auch Samantha Tränen in den Augen. „Nein!“, rief Hanna. „Hör mal. Das ist alles blöd gelaufen und...“ „Ja, toll, blöd gelaufen! Ich glaub, ich spinne!“ „Jetzt lass mich doch mal ausreden! Ich bin auch in ihn verknallt!“, verkündete sie unerwartet. Überrascht sah Samantha zu ihr hinunter. „Ich war es sogar schon, bevor du mir gesagt hast, dass du ihn toll findest und ich wusste auch, dass er an mir interessiert ist. Deswegen hab ich nichts gesagt und hab heimlich mit ihm geknutscht.“ Eine Weile starrte Samantha ihre Schwester ungläubig an und wusste nicht so richtig, was sie sagen oder tun sollte. „Du lügst doch“, sagte sie schließlich. „Nein, wirklich nicht. Ich wollte dich nicht verletzen, deswegen hab ich nichts gesagt“, widersprach Hanna und schluchzte laut. „Und weil du mich nicht verletzen wolltest, knutschst du mit ihm rum?“ „Es tut mir doch Leid! Ich hab ihm ja jetzt gesagt, dass aus uns nichts werden kann. Jetzt kannst du dich an ihn ranmachen.“ Sie kniff die Lippen zusammen, wandte aber den Blick nicht von Samantha ab. Wieder herrschte eine Weile Schweigen, in der beiden die Tränen über die Wangen liefen. „Bitte rede wieder mit mir und sei wieder meine Schwester!“, durchbrach Hanna die Stille, sprang auf und stürzte sich auf Samantha. Sie drückte sie so fest an sich, dass Samantha fast die Luft wegblieb. „Kannst du mir verzeihen?“ „Ich glaub schon“, schniefte Samantha, doch insgeheim hatte sie ihr schon verziehen, als sie von ihr wachgerüttelt wurde. „Das war das einzige Mal, dass wir nicht miteinander geredet haben“, schloss Samantha die Erzählung und sah zu Hanna hinunter. Diese lächelte sie liebevoll an. „Aber warum hast du dann jetzt immer noch dunkle Haare, wenn ihr euch danach wieder vertragen habt?“, fragte Phil. „Ach, mir hat die neue Haarfarbe dann gefallen und außerdem mochte ich es eh nicht, immer wieder von Leuten verwechselt zu werden“, antwortete Samantha schulterzuckend. „Verstehe. Die Farbe steht dir auch echt gut“, bemerkte Phil lächelnd. Samantha zog die Augenbrauen hoch und lief rosa an, während Hanna wieder nur die Augen verdrehte und überlegte, ob sie sich lieber einen anderen Stehplatz suchen sollte. Sie hatte keine Lust, den beiden noch zwei Stunden lang beim Flirten zuhören zu müssen. „Dann seid ihr also drei Schwestern zu Hause?“, fragte Phil ein wenig ungläubig nach. Hanna prustete. „Schön wär's.“ „Also... nein“, antwortete Samantha. „Wir haben noch zwei ältere Brüder, die sind jetzt fünfundzwanzig und siebenundzwanzig Jahre alt. Michelle ist achtzehn. Dann haben wir noch eine kleine Schwester, die ist jetzt dreizehn, und noch einen Bruder, der neun ist.“ Sie hoffte, dass sie niemanden vergessen hatte, denn manchmal sah sie bei ihren vielen Geschwistern selbst nicht mehr durch. Verblüfft sah Phil sie an. „Wow. Ich hätte auch gern Geschwister, aber ich bin ein Einzelkind.“ „Ja, Geschwister sind toll“, stimmte Samantha zu. „Naja, sie können aber auch anstrengend sein“, warf Hanna ein, die noch immer auf ihrem Koffer hockte. „Wenn man zum Beispiel auf die Jüngeren aufpassen muss, obwohl man lieber in die Disco gehen würde. Oder schon mit neun Jahren Windeln wechseln muss. Oder wenn sie einem mal wieder alles weg gegessen haben und die Mutter einem Geld in die Hand drückt, damit man sich was bei McDonald's holen geht.“ „Red nicht so!“, forderte Samantha sie auf. „Du tust ja so, als wäre alles blöd.“ „Nein, tu ich nicht. Das denkst du nur, weil du mir nie richtig zuhörst“, entgegnete Hanna und streckte ihr die Zunge raus. „Das kommt davon, weil du zu viel redest“, warf Samantha ihr vor. Sie wurden schließlich durch Phils Lachen unterbrochen. „Ihr seid echt amüsant. Man merkt, dass ihr euch liebt.“ „Pf“, machte Hanna, obwohl sie sich insgeheim über diese Bemerkung freute. Der Zug ratterte dahin und das Schneetreiben draußen wurde nicht schwächer. Dafür war es nun schon fast dunkel und man konnte sein eigenes Spiegelbild in den Fenstern erkennen. „Studiert ihr beide?“, fragte Phil. „Ja, Erziehungswissenschaften“, antwortete Samantha. „Echt? Du auch?“, fragte Phil an Hanna gewandt. Diese nickte nur. „Habt ihr das mit Absicht gemacht? Dass ihr das gleiche studiert, meine ich.“ „Nein, eigentlich wollten wir nicht das gleiche machen und wir sind auch beide unabhängig voneinander auf diesen Studiengang gekommen“, erklärte Hanna „Manchmal ist das mit der Ähnlichkeit ein bisschen unheimlich“, sagte Samantha und lächelte verlegen. „Was studierst du denn?“ „Medizin“, sagte Phil und schob die Hände in die Hosentaschen. Eine Weile unterhielten sie sich über ihre Studiengänge, bis es Hanna zu langweilig wurde. Sie blickte aus dem Fenster neben sich. Durch den ganzen Schnee, der so weiß leuchtete, konnte man draußen trotz der Dunkelheit gut die Landschaft erkennen. Alles war weiß und je länger der Zug unterwegs war, desto mehr freute sie sich auf ihre Familie und auf Weihnachten. Sie dachte an die vielen Weihnachtsfeste zurück, die sie bereits mit ihrer Familie verbracht hatte. Obwohl es immer sehr laut gewesen war und es auch ab und an Streit gab, waren sie doch immer wieder neu schön gewesen. Als Hanna wieder auf das hörte, was Samantha und Phil sprachen, musste sie feststellen, dass die beiden immer noch über ihre Studiengänge redeten und Phil gerade ausführlich erklärte, wie er einmal dabei war, als eine Leiche untersucht wurde. „... und es ist echt komisch, diese Leiche aufzuschneiden und dann kommt da gar kein Blut raus. Und wie die Organe aussahen...“ „Ah, ich glaube, ich muss mich gleich übergeben!“, rief Hanna dazwischen und hielt sich die Ohren zu. Samantha und Phil lachten. „Tut mir Leid, ich wollte dich nicht vergraulen“, entschuldigte er sich und bedachte Hanna mit einem schuldbewussten Blick. „Sie kann kein Blut sehen, weißt du?“, erklärte Samantha. „Das erinnert mich an dieses eine Weihnachten...“ „Bist du doof? Die freie Fläche da oben! Nicht dort!“ Samantha stand vor dem für ihr Wohnzimmer viel zu großen Weihnachtsbaum der Familie Shipley und gestikulierte energisch. Hanna stand auf einer wenig vertrauenerweckenden, wackeligen Leiter und hängte weiße und goldene Kugeln an die verschiedenen Äste. Oder zumindest versuchte sie es. „Stell du dich doch hier oben hin und mach das!“, fauchte sie ihre Schwester an und hängte die Kugel, die sie gerade in der rechten Hand hielt, an den nächstbesten Zweig. „Doch nicht da. Die hängt doch jetzt viel zu nah an dieser goldenen dort“, rief Samantha und schlug sich eine Hand gegen die Stirn. Hanna war drauf und dran, ihr den Karton mit den Christbaumkugeln, den sie in der linken Hand hielt, an den Kopf zu werfen, aber das wäre schade um die hübschen Kugeln, die ihre Mutter erst vor ein paar Tagen gekauft hatte. Also nahm sie die Kugel wieder ab und hängte sie an den Zweig, auf den Samantha deutete. „So sieht es doch schon besser aus.“ Die Vierzehnjährige verschränkte die Arme vor der Brust und nickte zufrieden. „Sind noch viele Kugeln übrig?“ „Noch drei“, antwortete Hanna grimmig und nahm die nächste aus der Schachtel. Samantha trat zwei Schritte zurück und betrachtete den Baum kritisch. „Da oben fehlt noch eine.“ Hanna verdrehte genervt die Augen, stellte sich auf der wackeligen Leiter auf die Zehenspitzen und streckte sich aus. Gerade als sie fast den Zweig erreichte, passierte es und die Leiter kippte plötzlich. Hanna stieß einen überraschten Laut aus, Samantha schrie und schon war Hanna durch eine Scheibe der großen Fensterfront, vor welcher sich der Baum befand, gestürzt. Glas splitterte und ein dumpfes Geräusch verkündete Hannas Aufprall auf dem Terrassenboden draußen. „Oh mein Gott!“, kreischte Samantha, rannte zur Glastür, die zur Terrasse führte, riss sie auf und sprang nach draußen. Es lag Schnee und es war ziemlich kalt und mitten dort lag Hanna verkrümmt auf dem Boden inmitten von einem Haufen Glasscherben. „Hast du dich verletzt?“ Panisch stürmte Samantha auf sie zu und kniete nieder. Hanna setzte sich vorsichtig auf und sog scharf die Luft ein. „Meine Arme tun weh. Und meine Beine.“ Sie hatte einige Schnitte auf den Unterarmen und ihre Hose war an manchen Stellen aufgeschlitzt, aber sie schien sich nichts gebrochen zu haben. „Was macht ihr denn für einen Lärm? Ach du...“ David stand mit großen Augen in der Tür und starrte auf das Geschehen. „Wie hast du das geschafft?“ „Die Leiter ist umgekippt, als Hanna gerade Kugeln an den Baum gehängt hat“, erklärte Samantha verzweifelt. „Oh Gott...“, kam es leise von Hanna, die einen kurzen Blick auf ihre Unterarme geworfen hatte. „Ich blute!“ Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Nein, nein, nein, nicht heulen! Ist doch gar nicht so schlimm. Komm, wir kleben Pflaster drauf“, sagte Samantha schnell, stand auf und wollte Hanna hoch ziehen, aber David hielt sie auf. „Warte mal, sie sitzt da mitten in den Scherben und hat keine Schuhe an. Bin gleich wieder da.“ David verschwand kurz und tauchte mit Schuhen an den Füßen wieder auf. Er schickte Samantha ins Haus, stapfte auf Hanna zu, umfasste ihre Taille und trug sie so einfach ins Haus, wo er sie abstellte. „Ich hol ein paar Pflaster“, verkündete Samantha und wollte schon loslaufen, doch wieder hielt David sie auf. „Nee, lass uns lieber ins Krankenhaus fahren und die Wunden richtig versorgen. Nicht, dass irgendwo noch ein Splitter drin steckt.“ In diesem Moment fiel Hanna plötzlich einfach um, als hätte sie keine Knochen und Muskeln mehr im Körper. „Hanna!“, schrien David und Samantha gleichzeitig. Das Blut sickerte langsam durch ihre Hose. Sie wachte schon wieder auf. „Mir ist schlecht“, murmelte sie. „Ich kann kein Blut sehen.“ „Schon gut, wir fahren dich ins Krankenhaus und dann ist alles wieder gut“, sagte David beruhigend. Dummerweise war der Rest der Familie gerade beim letzten großen Weihnachtseinkauf, abgesehen von James, der studierte und erst am nächsten Tag nach Hause kommen würde. Aber immerhin war das zweite Familienauto noch da und David hatte bereits seit einem halben Jahr seinen Führerschein. Und so trugen sie gemeinsam Hanna ins Auto und fuhren am Tag vor Weihnachten ins Krankenhaus. „Das war schrecklich“, stöhnte Hanna bei der Erinnerung. „Mir war noch nie in meinem Leben so schlecht wie an diesem Vormittag.“ „Ist denn da noch irgendwas Schlimmes gewesen?“, fragte Phil schockiert. „Nein, zum Glück nicht“, antwortete Hanna. „Sie haben ihr nur ein paar Glassplitter raus gezogen und die Wunden desinfiziert. Und wir mussten uns dann zu Hause um eine neue Scheibe und kümmern und aufräumen.“ Samantha grinste bei der Erinnerung. „Dass du auch genau durch die Glasscheibe fällst.“ „Ich wäre bestimmt nicht durchgefallen, wenn du nicht so ein Tyrann gewesen wärst mit deinen blöden Kugeln!“, zischte Hanna und sah ihre Schwester vorwurfsvoll an. „Oh, ich muss ja aussteigen“, warf Phil ein, als seine Haltestelle plötzlich angesagt wurde. „Also... war nett mit euch beiden. Die Fahrt verging viel schneller als sonst.“ Er lächelte. „Ja, hat uns auch gefreut“, sagte Samantha und lief wieder einmal rosa an. „Bestimmt sehen wir uns mal wieder“, sagte Phil und sah dabei besonders sie an. „Ich bin jeden Tag so halb eins in der Mensa.“ Er zwinkerte ihr zu und stieg dann aus, als der Zug angehalten hatte. Samantha warf Hanna ein unsicheres Lächeln zu. „Sammy ist verknallt, Sammy ist verknallt“, sang diese und grinste vielsagend. „Bin ich gar nicht!“, protestierte Samantha. „Aber du willst ihn wiedersehen“, trällerte Hanna weiter. Sie stand von ihrem Koffer auf und streckte sich, wobei sämtliche Gelenke laut knackten. „Mann, jetzt tut mir der Rücken weh.“ „Kein Wunder“, murmelte Samantha. „Wir sind fast da. Nur noch ein bisschen. Den Rest der Fahrt sahen die beiden gedankenverloren aus dem Fenster und beobachteten die verschneite Landschaft. Schließlich wurde der Zug langsamer und ihre Haltestelle wurde angesagt. „Na endlich!“, rief Hanna und schnappte ihre Handtasche. „Jetzt müssen wir mit dem Gepäck allein klarkommen. Wer holt uns eigentlich ab?“ Auch Samantha hatte sich ihre Handtasche über die Schulter gehangen und griff schon nach einem der Koffer. „Mama“, antwortete Hanna und hielt bereits nach ihrer Mutter Ausschau, als sie in den Bahnsteig fuhren. Der Zug hielt an und die Zwillinge kämpften sich mit ihrem Gepäck und vielen anderen Menschen nach draußen. Ihre Mutter stand nur wenige Meter von ihnen entfernt und winkte ihnen bereits lachend zu. Sie waren endlich angekommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)