108 von Rose ================================================================================ Prolog: 0 - Nil --------------- Herzlich willkommen zum Prolog von 108, einer Gijinka!Pokémon-Geschichte, an der ihr hoffentlich nur halb so viel Spaß habt wie ich. Dann reicht's, um mitzufiebern, welche Abenteuer Nil, Gracidea, Cival und ihre Freunde und Feinde noch vor sich haben - und wie viele Leben es braucht um zu vergeben. Es wird dramatisch, so viel kann ich verraten. Und vielleicht hat ja noch der ein oder andere Lust, einen seiner Pokémon-OCs zur Verfügung zu stellen. Viel Spaß. :D PROLOG: 0 - Nil Blitz und Donner ließen die Erde erzittern. Der Wind peitschte erbarmungslos gegen ihr Gesicht. Regentropfen liefen ihr den Oberkörper hinab und färbte ihre Kleidung tiefschwarz. Schon bald würde sich der Sturm nach Süden drehen, doch bis dahin musste sie den Schmerz und die Kälte ertragen. Es kümmerte sie schon lange nicht mehr, dass ihre zersprungenen Lippen eine ungesunde, grüne Farbe angenommen hatten oder dass der Regen ihr jegliches Gefühl in den Beinen raubte, wann immer er sich über den Wald ergoss. Sie hatte seit einer Ewigkeit weder geredet noch ihren Körper gerührt. Nur ihr wildes Haar und die Kapuze, die den Regen nicht fern halten konnte, hoben und senkten sich in den Böen. Das Haar war verknotet und vom Wind zerzaust, ihre Kleidung zerrissen und ihre blasse, weiße Haut erweckte den Anschein, sie sei bereits tot. Unbewegt wie eine Statue saß sie inmitten von Moos und Laub und blickte in die Ferne. Die Sonne ging bereits unter. Sie wusste, dass das Stechen in ihrem Körper, der Frost, der ihr den Verstand rauben wollte, bis zum nächsten Morgen blieb. Die Steinsäulen, die in unregelmäßigen Abständen um sie herum aus dem Boden wuchsen, schirmten sie etwas ab, doch zum Himmel hin war sie der Gewalt der Natur schutzlos ausgeliefert. Ein Blütenblatt klebte ihr an der Wange. Es dauerte einige Minuten, bis es von den letzten Regentropfen hinuntergespült wurde. Starr blickte sie es an und fragte sich, ob sie diese Blume kannte. Sie erinnerte sich nicht. Das große, rosafarbene Blatt spiegelte sich in ihren Augen wider, das eine trüb und milchig weiß. Sie waren schreckhaft aufgerissen und verstärkten den Eindruck einer gerade Verstorbenen, die den Leibhaftigen in seiner ganzen Grausamkeit erblickt hatten. Lebte sie wirklich noch? Sie wollte aufstehen und davonlaufen, um sich davon zu überzeugen, doch egal wie sehr sie sich bemühte, ihr Körper reagierte nicht. Egal wie sehr sie ihren kalten Händen befahl sich zu heben, sie verharrten starr neben dem Felsen, an den sie gekettet war. „Du kannst nicht fliehen, auch wenn du es dir noch so sehr wünscht.“ Eine Stimme, tief und hallend, sprach zu ihr, ohne dass sie deren Ursprung ausmachen konnte. Hätte sie es gekonnt, wäre sie bei ihrem Klang hochgeschreckt. Seitdem sie hier saß hatte niemand mit ihr gesprochen. Weit abgeschieden von der Zivilisation inmitten des Waldes verschlug es selbst die neugierigsten Wanderer nicht an diesen Ort. Hin und wieder setzte sich ein Vogel auf die Bäume in der Nähe, doch sie kamen nie bis zu den Säulen. „Du weißt, dass du nicht entkommen kannst, aber du weißt nicht warum. Du weißt nicht einmal, aus welchem Grund du hier sitzt. Ist es nicht so?“ Sie wollte nicken, doch ihr Kopf blieb steif und unbewegt. Dieses Mal klang die Stimme klarer und weniger fern, doch sie schien trotzdem aus allen Richtungen zu kommen. „Du kannst dich nicht daran erinnern. An nichts. An kein Leben davor, an keines. Aber du erinnerst dich an sein Gesicht. Du willst schreien, du willst davonlaufen, du willst ihn finden und dich an ihm rächen für all die Qual, für sieben Jahre an diesem verfluchten Ort. Wer würde es dir verdenken?“ Mit jedem Wort wurde die Stimme lauter, ohne dass sie irgendwohin gehörte. Dann vibrierte die Luft, Regen stob in alle Richtungen davon und aus dem Nichts tat sich etwas Dunkles, von tiefem Nebel umhülltes auf. Das Etwas trat zwischen die Säulen, als wäre die Barriere, die sie zwischen sich erzeugten, nur Luft und blieb vor der starr am Boden sitzenden jungen Frau stehen. Die Gestalt hatte menschliche Züge, aber sie waren verzerrt von der Schwärze, die sie umgab. Der Nebel verschluckte alles um sich herum wie ein schwarzes Loch, sodass der Wald in der Ferne dunkel und alptraumhaft wirkte. Einzig die strahlenden, blauen Augen des Fremden hatten die Macht, den Nebel zu durchbrechen. Sie waren eindringlich auf die Frau gerichtet. „Es wird Zeit, dich von diesem Stein zu befreien, meinst du nicht?“, fragte die Gestalt und führte eine nebelumhüllte Hand an ihren Mund. Abscheu überkam sie und sie hatte das Verlangen, ihm in den Finger zu beißen, als er sanft über ihre Lippen strich. Sie wusste, dass es keinen Zweck hatte. Doch entgegen ihrer Erwartung zog der Fremde erschrocken die Hand zurück. Ein Schreckensschrei entfuhr ihr und als sie diesen aus ihrem Mund hörte, folgte sogleich ein weiterer. „Du bist ein ganz schön undankbares Biest“, sagte er kühl und betrachtete seine Hand. „Wie hast du – was hast du gemacht?!“ Es war für sie so ungewohnt, wieder zu sprechen, dass sie sich auf die Zunge biss. Ihre eigene Stimme klang fremd, so dass sie sich fragen musste, ob es wirklich die ihre war. In ihrer Erinnerung hatte sie nie gesprochen. Da war nur ein Schrei aus ihrem Mund gewesen, ein Name, ein Gefühl von Hass, das ihre Lippen mit jenem Namen verließ, aber nie ganz, sondern in ihren Eingeweiden verblieb wie ein Tumor, der sie irgendwann zu Grunde richten würde. Der Fremde verschränkte die Arme und lächelte süffisant. Lachte er sie aus oder war es ihr Erstaunen über seine Macht, die ihm Freude bereitete? Aus dem Nebel traten die Konturen seines Gesichts hervor. Wallende, weiße Locken schwebten wie von Geisterhand gehalten um seinen Kopf. Seine Haut war dunkel und auffällig traten nur jene blauen Augen hervor, die sich sofort in ihr Gedächtnis gebrannt hatten. Sie wurden von langen, schwarzen Wimpern geschmückt. Auf unerklärliche Weise war er sehr schön, obwohl wenig Freundlichkeit in seinem Lächeln lag. „Nil“, sagte er. Sie sah ihn ausdruckslos an. Ihre Lippen zitterten, als sie versuchte, ihnen einen fragenden Ausdruck zu geben, denn sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass sie wieder sprechen konnte. Der Mann warf ein gequältes „Ist ja furchtbar, wie du aus der Wäsche schaust“ ein und bewegte abermals seine Hand auf sich zu. Sie ließ es wortlos geschehen, als er ihre Augen bedeckte. Noch nie hatte sie etwas Kälteres gefühlt. Wind und Regen waren nichts gegen seine Hand. „Schon viel besser. Das würde jeden anekeln, wenn er die ganze Zeit mit solchen Hexenaugen angestarrt wird.“ „Das musst du gerade sagen!“, blaffte sie ihn an und blinzelte wiederholt. Erst jetzt spürte sie, wie ihre Augen unter der Last von Wind und Regen hatten leiden müssen. Sie brannten und tränten, sodass sie sie eine Weile zusammenkneifen musste, bevor sie den fremden Mann wieder ansehen konnte. Er lachte. Nun war sie sich sicher, dass er mit ihr spielte. „Nil“, wiederholte er und bevor sie ihn nach der Bedeutung dieses Wortes befragen konnte, fügte er hinzu: „Das ist dein Name.“ „Ist das so? Ich kann mich an nichts erinnern“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm. „Das ist mir bewusst, wie ich bereits gesagt habe. Du hast es wohl nicht so mit dem Zuhören, wie? Dabei sind deine Ohren nicht einmal versiegelt worden. Nun, Nil. Wie ich dir bereits verraten habe, hast du jegliche Erinnerung daran verloren, was vor deiner Verbannung geschehen ist. Und vielmehr hast du die Erinnerung an all die Leben vergessen, die in dir schlummern.“ „In mir schlummern? Was soll das heißen?“, fragte Nil mit eindringlichem Blick. Der Mann grinste und ging an ihr vorbei. Sie verfolgte ihn mit den Pupillen, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwand. Ihr war nicht wohl dabei, dass diese unheimliche Gestalt in ihrem Rücken stand. Sie spürte die Kälte, die von seinem ganzen Körper ausging, unnatürliche und gespenstische Kälte, ganz anders als der Regen. Er kniete hinter ihr nieder und die Kälte ließ alles in ihr gefrieren. Erst glaubte sie, er wolle weiter seine Spielchen mit ihr treiben, doch dann begriff sie, dass er den Felsen betrachten musste, an den sie gebunden war. „Dieser Felsen, an den du gekettet bist, der Spiritkern, ist mit einem Siegel belegt, das viele Seelen beherbergt. Sie wurden alle von dem gleichen Priester hier versiegelt, um für immer verborgen von allem zu bleiben und nie wieder Unheil zu stiften. Du warst einst eine dieser Seelen, die 108. und letzte und somit trägst du jene Leben in dir. In deiner jetzigen Gestalt sollte es dir möglich sein, all ihre Kräfte zu benutzen.“ „108 Leben in mir? Wie soll das denn möglich sein?“ „Das Problem ist aber tatsächlich“, sagte er und tat so, als habe er ihre Frage überhört, „dass du dich nicht an sie erinnern kannst, an keines von ihnen. Wie sollst du die Kräfte nutzen, wenn du gar nicht weißt, dass du sie beherrscht oder wie du sie einsetzen kannst? Was für eine Verschwendung. Ja, er war schlau genug und hat dir die Erinnerungen geraubt für den Fall, dass es irgendwem gelingt, dich zu finden und zu befreien. Mich zum Beispiel.“ Nil konnte sein selbstverliebtes Grinsen nicht sehen, glaubte aber, es zu spüren. Doch es kümmerte sie nicht. Wut stieg in ihr auf ohne dass sie so recht begreifen konnte wieso. Sie war schon immer da gewesen, die Wut auf jenen Mann, der sie verraten und verbannt hatte. Ihre einzige Erinnerung galt ihm. Der Schrei, sein Name. „Cival...“ „Dieses Siegel ist stark. Ein Normalsterblicher könnte nicht einmal den Raum zwischen den heiligen Säulen betreten. Er würde den Spiritkern und jenen, der an ihn gebunden ist, nicht einmal sehen. Aber es ist möglich, den Bann zu brechen, wenn man die nötige Magie beherrscht.“ Er lachte, wobei er ziemlich kindisch klang. „Wie du gesehen hast, bin ich jener Magie mächtig.“ „Lass mich raten, du wirst mich wohl kaum ohne Gegenleistung freilassen.“ Nil begriff, dass sie sich den Launen des Fremden fügen musste und dass er ihr nur so viel verraten würde, wie es ihm gerade passte. Ihr war unwohl dabei, dass er Macht über ihr Schicksal hatte. Doch wenn sie frei sein wollte, musste sie seine Bedingungen eingehen. „Du verstehst schnell. Allerdings wird es mir nicht möglich sein, deine Erinnerungen zurückzubringen. Zumindest nicht ohne dich zu töten und ich nehme nicht an, dass das in deinem Sinne ist. Da wirst du dich also selbst bemühen müssen. Aber glaube mir, ohne Siegel werden sie nach und nach wieder an die Oberfläche treten, aber es wird seine Zeit kosten. 108 Leben können ein Segen sein, aber auch eine Last. Nun?“ „Ich habe wohl keine andere Wahl“, bemerkte Nil. „Wohl wahr“, sagte der Fremde, der sich nun von hinten über ihre Schulter gelehnt hatte und ihr direkt ins Ohr sprach. Nil schnappte nach Luft und biss sich auf die Unterlippe. Sie spürte seinen eisigen Atem, der sie gänzlich lähmte, bevor sie von Nebel umhüllt wurde. Dunkelheit legte sich um sie wie in einem fernen Traum, aus dem es kein Entrinnen gab. Sie spürte, wie er seine linke Hand über ihre Brust legte, gerade dahin, wo er ihr Herz vermutete. Die rechte Hand glitt gebieterisch auf den Bannstein, der bei der Berührung aufglühte. Kälte, Wärme und Übelkeit überkam Nil. Für einen Moment waren da nur Stille und Dunkelheit um sie herum. Sie wollte schreien, doch der Schrei blieb ihr vor Grauen im Hals stecken. Sie wollte nichts mehr fühlen, sie wollte, dass es aufhört, dabei war sie sich nicht einmal sicher, was gerade mit ihr oder dem Spiritkern geschah. Als der Fremde zu ihr sprach, gottgleich wie ihr Retter, der sie als Einziger wieder aus dieser dunklen Welt hinausführen konnte, waren es nicht ihre Ohren, die seine Stimme vernahmen, sondern ihr Innerstes. Er sprach in ihr und zu ihr und mit jenen Worten besiegelte er auf ewig ihre Verbindung. Kapitel 1: 1 - Die Quelle der Kraft ----------------------------------- 1 – Das erste Leben: Unko (Gallopa) Die Quelle der Kraft Als Nil die Augen wieder öffnete, war ihr so übel, dass sie am ganzen Leib zitterte. Sie lag mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken, die wirren Haare in alle Richtungen verteilt. Ihr rasselnder Atem hallte ihr in den Ohren wider, die Morgensonne blendete sie und die Last ihres eigenen Körpers drückte die auf den feuchten Moosboden. Sie war frei. Langsam rührte sie die langen, weißen Finger, als habe sie gerade erst das Licht der Welt erblickt. Vor Erleichterung entfuhr ihr ein Freudenschrei. Es kümmerte sie nicht, wie lange sie das Bewusstsein verloren hatte oder wohin der Fremde verschwunden war. Sie würde ihn aus ihrem Gedächtnis streichen wie all die Erinnerungen, die sie verloren hatte, und diesen Ort für immer verlassen. Nach sieben endlosen Jahren. Der Geruch des nassen Grases, die einzige Spur, die der Sturm hinterlassen hatte, wirkte wie ein Lebenselixier auf sie, sodass sie einen Versuch wagte, sich aufzurichten. Ihre Hände übten Druck auf den Boden aus, aber sie spürte ihn wie durch die Glieder eines Fremden, fern und durch einen Schleier aus dicker, bedrückender Luft. Weder ihre Finger noch ihre Arme wollten ihr recht gehorchen. Die Last ihres Körpers war zu schwer und so sackte sie wieder auf dem Boden zusammen. „Verdammt“, fluchte Nil in sich hinein und vergrub ihre zitternden Hände im Moos. Sie rupfte einige Büschel aus und setzte dann erneut an. Dieses Mal biss sie die Zähne so fest zusammen, dass ihr der Kopf schmerzte, und hievte sich in eine unbequeme Sitzposition. Sie lachte und in ihrem Lachen klang all die Verzweiflung mit, die sie in ihrer Gefangenschaft in sich hinein fressen musste, bis sie schließlich schrie und weinte. Der Wald wurde von ihrem markerschütternden Jaulen erfüllt, bis ihr alles schmerzte. Erst als ihr die Stimme versagte und sie durch das Zittern ihrer Hände wieder ins Straucheln geriet, beruhigte sie sich. Ein Ausdruck des blanken Hasses blieb auf ihrem bleichen, verdreckten Gesicht zurück. Sie spürte, wie jede Faser ihres Körper auf Vergeltung sann. Eine Weile starrte Nil einfach regungslos in den Himmel. Ihre wundgeschriene Kehle brannte entsetzlich. Sie wusste, dass in der Nähe Wasser floss, denn das ferne Rauschen des Flusses hatte sie lange genug begleitet, um sie in den Wahnsinn zu treiben. Obwohl er keine hundert Schritte entfernt war, hatte sie ihn nie gesehen, nie aus ihm kosten können. Sie wusste weder wie er aussah noch wohin er führte. Jetzt war es an der Zeit, dieser Frage auf den Grund zu gehen und ihrem Durst nachzugeben. Nil bemühte sich zwar nach Leibeskräften, auf die Beine zu kommen, doch nach mehreren erfolglosen Versuchen schleppte sie sich einfach auf allen Vieren über den Boden. Nur mühsam gelang es ihr, das Gewicht ihres eigenen Körpers über das feuchte Moos zu hieven. Mehrmals rutschte sie ab und musste sich mühevoll wieder auf die Arme stemmen, bis sie schließlich vollkommen erschöpft das Ufer des Flusses erreichte. Er war kaum fünf Meter breit und von Felsen durchsetzt, die der Strom über Jahre hinweg spiegelglatt geschliffen hatte. Nil nahm in einer Felskuhle Platz und beugte sich zum Wasser. Langsam floss es an ihr vorbei, sodass sie ohne Mühe hineinlangen konnte. Als ihre Finger jedoch die Wasseroberfläche berührten, zog sie die Hand unwillkürlich wieder zurück, ohne so recht zu wissen wieso. Es war das gleiche Gefühl, das sie empfunden hatte, als der Fremde in ihrem Rücken stand. Trotzdem tauchte Nil die Hand wieder ein und schöpfte eine handvoll der kühlen Flüssigkeit in ihren Mund. Es tat so gut, dass sie erleichtert aufatmete. Immer wieder füllte sie ihre leeren Handflächen, nicht aber ohne vorher zusammenzuzucken, wenn sie das Wasser berührten. Sie fragte sich, ob ihr Körper schon immer so reagiert hatte, denn sie wusste instinktiv, dass es kein natürliches Verhalten war. Etwas in ihr wollte sich ihr widersetzen. Etwas in ihr weigerte sich. Bevor Nil sich Gedanken darum machte, was mit ihr geschah, fiel ihr Blick auf die Gestalt, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Es wurde durch die Bewegungen der Wellen verzerrt, aber war noch so klar zu erkennen, dass Nil erschrak. Ihr blickte eine junge Frau entgegen, deren weiße Haut zwischen Dreck und Matsch hervorblitzte, den selbst der Regen nicht hatte abspülen können. Gespenstisch leuchtende Perlen zierten ihre Kleidung, die zerfetzt und durchlöchert war. Das grüne Licht, das sie ausstrahlten, pulsierte mit ihrem Atem. Ihr langes, dunkles Haar stand in alle Richtungen ab und fiel ihr über die Augen, eines dunkel und schmutzig wie der Dreck in ihrem runden Gesicht, das andere weiß und tot. Sie blickte eine Fremde an, die jede ihrer Bewegung nachahmte. Sie wollte nicht begreifen, dass es ihr eigenes Spiegelbild war, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, wie sie vor ihrer Verbannung ausgesehen hatte. Aus den Worten ihres Retters schloss sie, dass diese Erscheinung das Endprodukt aus 108 Seelen war. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, wie diese Menschen alle in einen Körper passten und inwiefern sich dies zeigte. Für sie selbst war sie einfach Nil – das Mädchen, das sich an ihrem Peiniger rächen wollte. Auch wenn irgendwo in diesem Körper die Erinnerung an einen Menschen steckten, der einst nur sie selbst war, frei von den Einflüssen der Verbannung so vieler Seelen, wollte sie nichts davon wissen. Hier und jetzt war sie nur ein dreckiges Ungetüm, das man leicht für eine Waldhexe halten konnte, einen Dämon vielleicht oder eine wandelnde Leiche. Das ganze Ausmaß ihres Seins zu begreifen, war für Nil unmöglich. Der Gedanke daran, dass sie nie allein war, dass tief in ihr Kräfte miteinander rangen, die sie nicht kannte, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Ein Gefühl des Abscheus stieg in ihr auf, wenn sie ihr Abbild auf der Wasseroberfläche betrachtete und doch konnte sie die Neugier darauf, was sich wohl unter der Schicht aus Dreck verbarg, nicht kontrollieren. Sie gab schließlich dem Drang nach, ihr fremdes Gesicht zu ergründen und beschloss, sich zu waschen. Erneut beugte sie sich über die Felsen und tauchte diesmal ihren Kopf unter Wasser. Sie bereute es sofort. Eiseskälte legte sich um ihre Wangen, füllte ihre Ohren, Nase und Lungen. Es war nicht das Wasser selbst, das sie erschaudern ließ, sondern das Gefühl der Ohnmacht und Abneigung, das ihr unter die Haut kroch. Sie versuchte sofort, sich wieder über die Oberfläche zu stemmen, doch ihr ganzer Körper hatte sich so stark verkrampft, dass sie sich nur unkontrolliert schüttelte und wand wie ein Fisch an der Leine. Strampelnd rang sie nach Luft. „Hört auf!“, dröhnte es fern in ihr, „lasst mich in Ruhe!“ Verschwommene Bilder blitzen in ihrem Kopf auf. Die Stimme brannte zwischen dem Schmerz, der ihn an den Rand seiner Belastbarkeit trieb. Als Nil bereits glaubte, Verstand und Bewusstsein zu verlieren, spürte sie einen starken Ruck im Nacken und stolperte rücklings auf das Gras zurück. Hustend rang sie nach Atem, spuckte Wasserreste aus und bemühte sich, nicht wieder zusammenzusacken. Ihr war schwarz vor Augen, doch bevor sie sich nach ihrem Retter umschauen konnte, kehrten die Bilder in ihren Kopf zurück, jetzt deutlicher und nicht nur für einen Augenblick. Erst meinte sie zu sehen, wie sie selbst am Uferrand des Flusses kniete und beobachtete, wie die Wellen ihre Gesichtszüge verzerrten. Die Gestalt aber war kleiner und zierlicher als sie und strahlte so hell zwischen Gestrüpp und dunkler Erde hervor, dass sie ihrem Spiegelbild nicht unähnlicher hätte sein können. Das seine offenbarte das Gesicht eines schmächtigen, rothaarigen Jungen. „Hört auf! Ich habe euch doch nichts getan!“, bettelte er mit seiner hohen, kindlichen Stimme. Um ihn herum waren dunkle Gestalten aufgetaucht, die ihn umkreisten und einengten. Nil sah sie auf sich zukommen, sie sah es wie durch seine Augen, die griffen nach ihr, drängten sie zurück, Schritt für Schritt, bis dass sie ins Wasser stürzte. Als die Bilder verschwunden waren, verstand sie. „Hey Kleiner, du kannst mich hören, oder?“, presste sie keuchend zwischen ihren kalten, grünen Lippen hervor. Das Wasser hatte den größten Teil des Schmutzes von ihrem Gesicht gewaschen, sodass sie noch boshafter wirkten, wenn sie grinste. Schlammreste tropften von ihrem Kinn. Es war ein Lächeln des Triumphes. „Ja, dich mein ich. Du bist ich. Ich bin du. Du bist ein Teil von mir und ich ein Teil von dir. Wir sind eins, ist es nicht so? Du vertreibst dir irgendwo da in mir deine Zeit und ich müh mich hie rmit diesem verkrüppelten Körper ab. Wir sind eine Existenz. Also hör mir jetzt gut zu. Wenn das wirklich alles stimmt, dann wirst du mir jetzt helfen.“ Etwas in ihr schrie und wehrte sich; ein kleiner Junge, dem man nicht nur einmal übel mitgespielt hatte. „Ich kenne deine ach so rührende und traurige Geschichte nicht“, sagte Nil, „und eigentlich interessiert sie mich auch nicht im geringsten. Aber wenn du mir hilfst, kann ich dir etwas versprechen. Ich werde dich rächen. Dich und mich und uns.“ Die Bilder kamen so schnell, als hätte man einen Film in ihrem Kopf mit hundertfacher Geschwindigkeit abgespielt. Lachen und Schreie mischten sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm, der Junge rannte und rannte. Ehe sie begriff, was an jenem Ort geschehen war, war aus ihm ein flammender Blitz geworden, der durch die Ödnis jagte. Erst als er stoppte, konnte sie kurz in sein wutverzerrtes, zu früh gealtertes Gesicht sehen. Es war schön und beängstigend zugleich, wie sein langes, rotes Haar in der Mittagssonne leuchtete wie Feuer und mit dem Blut, das ihm am ganzen Oberkörper klebte, verschmolz. Das letzte, was Nil sah, waren die Augen, die auf den Mann gerichtet waren, das Gesicht, das ihn strafend anblickte, bereit ihm alles zu nehmen. Wieder sah sie es aus seiner Sicht. Vor ihr stand Cival. „Dein Name ist Unko aus der Familie Galoppa von den Windfeldern. Du wurdest in den Spiritkern gesperrt und musstest sieben Jahre mit ansehen, wie Sonne und Wind gehen. Wir sind eins. Willkommen und danke für die Kooperation, wenn man das so nennen kann.“ Nil lachte, denn sie wusste, dass ihr Körper ihr nun gehorchen wurde. Der Fremde hatte recht, es brauchte nur die Erinnerung und das Bewusstsein über jene, die in ihr wohnten, und sie konnte sich die Fähigkeiten der Seelen zu eigen machen. Vielmehr war es sie, die über diese Existenz herrschte und niemand sonst. Sie stemmte sich problemlos auf die Beine, die sich fremd, aber stark anfühlten, und rannte. Den Schatten aber, der im Nebel zwischen den Bäumen verschwand, sah sie nicht mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)