Federspiel von Miuu ================================================================================ Kapitel 17: Begegnungen ----------------------- Der Sommerhimmel über Dansazu City erstrahlte erneut in dem unnatürlichsten, euphorischsten Blau, das er hatte aufbringen können, nur ganz selten von einem wie gemalten Wölkchen unterbrochen. Den Vormittag hatten zwei der drei Federn abermals mit dem Training mit ihren Elementarwaffen verbracht; mehr oder minder erfolgreich. Während Misty mehr und mehr zu der Erkenntnis kam, dass ihr filigrane oder präzise Waffen wie Degen oder Bogen mehr lagen als sperrige, vor allem auf Kraft ausgelegte Schwerter, hatte Ash es immerhin schon ein paar Mal öfter geschafft, Ellenki in die Form eines eben solchen zu führen und ein paar erste Kampfversuche damit unternommen. Aber dann hatten sie beschlossen, ihr Üben für den Rest des Tages ruhen zu lassen und sich anderen Plänen zu widmen. Es beschäftigte die drei noch immer, dass sie hier in Dansazu City mit Mary auf jemanden getroffen waren, der außer ihnen von der Legende der Federn wusste, der sogar so viel mehr über die Geschichte wusste als die derzeitigen Federn selbst. Ausgerechnet hier, ausgerechnet in der Stadt, vor dessen Küste die kleine Insel mit der geheimnisvollen Inschrift ruhte. Ein Zufall? Und wenn es kein Zufall war, wenn die Legende in dieser Gegend doch noch verbreiteter war, als Mary annahm? Sie hatte selbst zugegeben, dass sie schon lange mit niemandem mehr darüber gesprochen hatte, weil sie immer wieder erlebt hatte, dass sie doch niemand ernst nahm. Warum sollte es anderen dann nicht ähnlich ergangen sein? Warum sollte es in dieser Stadt nicht noch Weitere geben, die von der Legende wussten und die ihnen vielleicht etwas Hilfreiches erzählen konnten? Vielleicht, wenn sie nur angestrengt suchten, konnten sie so jemanden finden, und vielleicht brachte es sie der Erfüllung ihrer Aufgabe doch noch einen Schritt näher. Sicher, bisher hatten sie es ihre ganze Reise über strikt vermieden, über die Legende der Federn oder auch nur über die drei legendären Vögel zu sprechen, um kein Aufsehen zu erregen. Und so ganz wohl war ihnen nicht dabei, die Menschen in Dansazu City nach Dingen zu fragen, die sie eigentlich lieber vor ihnen verborgen hätten. Aber andererseits – was hatten sie schon zu verlieren? Ishi wusste schon lange, dass es sie gab, wer sie waren und wo sie sich aufhielten, vor ihr konnten sie sich längst nicht mehr verstecken. Und wenn sie sich einfach nur wie die üblichen Touristen nach einer alten Legende erkundigten, die ja immerhin zuletzt in dieser Gegend hier erwähnt worden war, würde wohl niemand in Panik geraten, der nicht ohnehin wusste, dass die Geschichte wahr war. Schlimmstenfalls würde man sie drei als Spinner und abergläubisch abtun. Also fingen Ash, Misty und Gary an, zu fragen. Noch einmal im Pokémoncenter, in den Hotels und Pensionen, in Restaurants und Supermärkten, an den Souvenirbuden und in den Souvenirläden, bei den Fremdenführern, die lauthals für ihre Rundfahrten durch die Stadt warben. Aber nichts. Dass man ihnen ab und an erzählte, dass es draußen auf dem Meer eine Insel gab, in deren Felsen angeblich etwas eingeritzt sein sollte, war das Höchste, was sie erreichten. Misty seufzte. „Ich weiß, ich sollte nicht mich nicht beschweren… Weil wir ja eh wussten, dass es nicht gerade wahrscheinlich ist, jemanden zu finden, der die Legende kennt. Aber frustrierend ist es trotzdem. Warum sind die Leute hier alle so ignorant, dass sie nicht einmal wissen, was direkt vor ihrer eigenen Insel passiert? Dass keiner die Legende für wahr hält, ok, aber dass die meisten nicht einmal wissen, dass sie existiert?“ Gary schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Sieh es ihnen nach. Dansazu City ist eben eine Touristenmetropole, und mit einer verstaubten, unrealistischen und alten Geschichte kann man kein Geld verdienen. Außerdem, was hätten wir davon, wenn mehr Leute wüssten, dass es die Legende gibt? Solange wir niemanden finden, der weiß, dass sie wahr ist und der uns am besten auch noch irgendwas erzählen kann, was wir noch nicht wissen, ist es doch gleich, ob die Leute hier die Inschrift kennen oder nicht.“ Misty nickte zustimmend. „Ja, du hast ja recht…“ Sie atmete noch einmal tief durch und stemmte dann die Hände in die Hüften. „Also schön, was soll's. Versuchen wir es eben weiter, vielleicht…“, sie sah sich um, „in dem Nudelsuppenrestaurant da vorn? Wir könnten sowieso langsam mal was essen.“ „Gute Idee. Was ist mit dir, Ash?“ Der Angesprochene nickte stumm, ohne wirklich zu registrieren, worum es ging. Den ganzen Vormittag über war er immer wieder in Gedanken versunken, Gedanken über die etwas seltsame Situation vom vorherigen Abend und darüber, ob er sie nicht doch noch einmal hätte ansprechen sollen. Entweder bei Gary, und eigentlich hatte er auch genau das in der vergangenen Nacht noch vorgehabt. Aber während er so auf seinem Bett gelegen hatte, sich darüber ärgernd, dass er zu perplex gewesen war, um Gary einfach nachzulaufen, hatte ihn letztendlich doch die Müdigkeit übermannt. Und dabei hätte er definitiv noch Fragen gehabt. Fragen danach, was plötzlich mit ihm los gewesen war, warum er ihre Unterhaltung so Hals über Kopf abgebrochen hatte. Aber vor allem hatte er auch noch Fragen zu ihrem eigentlichen Gesprächsthema gehabt. Es hätte ihn schon noch, oder sogar vor allem, interessiert, wie Misty die ganze Sache damals gesehen hatte und wie sie sie jetzt sah. Aber das waren wohl Dinge, die er wenn dann lieber mit dem Mädchen direkt besprechen sollte, statt Gary hinter ihrem Rücken über sie auszuhorchen. Aber war das etwas, das er in ihrer momentanen Situation einfach so ansprechen konnte? Was würde sie von ihm denken, dass es etwas so verhältnismäßig Belangloses war, das ihn beschäftigte? Andererseits fragte er sich schon, was diese kleine Begebenheit, nachdem er Misty vor Ishi gerettet hatte, zu bedeuten hatte. Ob sie etwas zu bedeuten hatte. Und ob er eigentlich wollte, dass sie etwas zu bedeuten hatte. Nur wichtiger als all diese Fragen, die er sich oder ihr immer noch stellen konnte, wenn sie die Welt erst einmal gerettet hatten, wäre es vielleicht gewesen, mit ihr über Garys seltsames Verhalten zu sprechen. Aber da heute Morgen nichts mehr an ihm an dieses eigenartige Ereignis von zuvor erinnert und er sich so normal wie immer gegeben hatte, hatte auch Ash letztendlich geschwiegen. Vielleicht interpretierte er zu viel in alles hinein. Vielleicht war er einfach nur enttäuscht, dass ihr Gespräch ein so jähes Ende genommen hatte, gerade, als es für ihn erst angefangen hatte. „Ash, kommst du?“ Er bemerkte, dass er sich von seinen eigenen Gedanken hatte ablenken lassen, und lief den anderen beiden eilig hinterher.   Das Restaurant war ein kleiner, aber sehr gemütlich eingerichteter Laden. Die maritim anmutende Dekoration an Wänden und vor den Fenstern, bestehend aus Muschelschalen, kleinen Netzen und hübsch geknüpften Tauen passte zwar nicht so ganz zu einem traditionellen Nudelsuppenrestaurant, dafür aber umso mehr zu dem Strandstädtchen, das Dansazu City nun einmal war. An Theke und um kleine Tischchen drängten sich die Gäste, und ein brummendes, aber nicht unangenehmes Stimmenwirrwarr erfüllte den Raum. Die drei sahen sich nach einem freien Platz um, aber in diesem Augenblick kam auch schon ein junger Mann auf sie zu, um die Hüften eine schwarze Schürze gebunden, in der Hand einen Notizblock, mit dem er ihnen freudig zuwinkte. „Willkommen, die Herrschaften, einen Platz für drei? Wenn Sie möchten, hier –“ Doch er brach ab, starrte mit einem Mal ungläubig auf die drei Jugendlichen und die Überraschung, als er sie erkannte, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ach du… die Knirpse! Wobei, eigentlich, so knirpsig seid ihr gar nicht mehr…“ Auch Ash und Misty traf nun die Erkenntnis, instinktiv gingen sie in Abwehrhaltung und Ash ertappte sich dabei, wie er nach einem Pokéball an seinem Gürtel greifen wollte, erinnerte sich jedoch rechtzeitig daran, dass er ja nur Zapdos bei sich trug und dieses hier loszulassen keine gute Idee war. „James!“ Also half nur der verbale Angriff. „Dann sind Jessie und Mauzi doch bestimmt auch nicht weit. Hat Team Rocket es immer noch nicht aufgegeben, anderen Leuten ihre Pokémon zu stehlen? Bringt aber nichts, ich hab Pikachu nicht dabei. Ihr könnt also –“ „Nun halt mal die Luft an, immer mit der Ruhe.“ Beschwichtigend hob James die Hände und versuchte den ersten Gästen, die sich irritiert umgewandt hatten, mit einem freundlichen Lächeln zu signalisieren, dass alles in Ordnung war. „Ja, Jessie und Mauzi sind auch hier. Aber was Team Rocket treibt, interessiert uns nicht mehr. Wir haben mit Team Rocket nichts mehr am Hut.“ „Ach, und das sollen wir euch glauben? Das ist doch wieder nur einer eurer Tricks, um den ahnungslosen Leuten hier ihre Pokémon abzuknöpfen.“ „Ich kann ja verstehen, dass ihr misstrauisch seid… aber bitte macht doch nicht so einen Aufstand, die Gäste werden schon unruhig.“ Sichtlich hilflos sah James sich um. „Oder schlimmer, Jessie könnte unruhig werden, und dann –“ Aber er kam nicht einmal mehr dazu, seinen Satz zu beenden. „Verdammt noch mal, was ist denn das für ein Lärm?!“ Da hob sich am hinteren Ende des Raums schon ein Vorhang und die zweite wohlbekannte Gestalt trat hervor. „James, kannst du nicht mal für Ruhe sorgen? Was ist denn überhaupt…“ Aber er sagte nichts, und er musste auch nichts sagen, weil sie in diesem Moment ebenfalls die drei Gäste erblickte und augenblicklich verstand, was hier vor sich ging. „Ach nee.“ Sie verschränkte die Arme vor ihrem Körper und blickte die Jugendlichen missmutig an. „Lasst mich raten: Wir haben uns jetzt… vier Jahre oder so nicht gesehen, ihr stolpert zufällig in dieses Restaurant, und statt mal einen Moment daran zu denken, dass in vier Jahren eine Menge passiert sein kann, macht ihr hier einen Aufstand und beschuldigt uns wer weiß welcher Absichten.“ „Eigentlich waren es fünf Jahre…“ „Ruhe, James, ich rede jetzt!“ „Aber Jessie, Liebes, du sollst dich doch momentan nicht so aufregen…“ „Ach was, ich bin schließlich nicht krank. Und ich rege mich nun mal auf, wenn hier drei nichts wissende Knirpse reinmarschieren, die allem Anschein nach nur vom Körper, aber nicht vom Geist her gewachsen sind und mir mit ihrem Gebrüll die Gäste vergraulen!“ Er verkniff sich den Kommentar, dass die meisten Gäste momentan vor allem wegen ihres Wutausbruchs verunsichert zu ihnen herübersahen. „Also, ihr habt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder, ihr verschwindet sofort aus meinem Laden und tretet mir in eurem ganzen Leben nie wieder unter die Augen! Oder ihr setzt euch brav an einen Tisch, bestellt wie jeder andere auch und denkt mal ein bisschen darüber nach, dass ihr nicht von allem eine Ahnung habt.“ Ash und Misty sahen sich unschlüssig an, während Gary abwartend daneben stand. Er war diesen beiden, oder Team Rocket generell, während seiner Pokémonreisen nur selten begegnet, wusste aber, dass Ash und Misty sich unzählige Male mit ihnen hatten herumschlagen müssen. Ob sie ihnen jetzt vertrauen sollten oder lieber das Weite suchten, das überließ er also ihnen. „Na schön.“ Es war Ash, der als erster von ihnen wieder das Wort ergriff, ruhiger diesmal, wenn auch immer noch zögernd. „Du hast recht, wir haben uns lange nicht gesehen, und in so vielen Jahren kann eine Menge geschehen.“ Das hatte er schließlich mehrfach selbst erfahren. Also warum sollte es nicht wahr sein? Wenn er sich von allem abgewandt und allen misstraut hatte, warum sollen Jessie und James dann nicht das Gegenteil getan und sich wirklich ein anderes, ehrliches Leben gesucht haben? Irgendetwas an den beiden erschien ihm so echt, so wirklich, dass er mit einem Mal bereit war, ihnen zu glauben, oder ihnen wenigstens erst einmal in Ruhe zuzuhören. Und wenn sich das ganze doch als Scharade herausstellen sollte – nun, sie hatten in der Vergangenheit mehr als einmal über Team Rocket triumphiert, und für den absolut schlimmsten Fall wussten sie ein paar sehr mächtige Pokémon an ihrer Seite. „Wir bleiben.“ Jessie nickte zufrieden, nun ebenfalls ruhiger, und winkte eine Kellnerin herbei. „Tess, gib den dreien hier einen Tisch und nimm ihre Bestellungen auf.“ Dann wandte sie sich wieder an die drei Federn. „Ich helfe Mauzi eben in der Küche, dann komme ich wieder. Und wehe, es gibt hier noch mal so einen Aufstand!“ Sie ließen sich von dem Mädchen an einen der Tische setzen, wählten aus der Karte, die sie ihnen gegeben hatte, beobachteten, wie James seinerseits eifrig zwischen den Gästen umhereilte, die sich inzwischen beruhigt und die kleine Auseinandersetzung von zuvor scheinbar schon wieder vergessen hatten. Es war ein wenig seltsam, und das Seltsamste war vielleicht, dass Ash mit einem Mal nicht mehr misstrauisch war, und Misty ebenfalls nicht, das glaubte er an ihrer entspannten Körperhaltung und Mimik ablesen zu können. „Schon komisch, oder?“ Er legte seine Hände um das Wasserglas vor sich, drehte es hin und her und beobachtete die Lichtreflexionen. „Die Vorstellung, dass die zwei, oder die drei, jetzt tatsächlich rechtschaffene Leute sein sollen? Das hätte ich mir damals niemals vorstellen können, und auch nicht, dass ich es irgendwie glauben würde, wenn es passieren würde.“ Anderseits hatte er sich sicher auch niemals vorgestellt, sein Ziel, der größte Pokémonmeister aller Zeiten zu werden, von einen Tag auf den anderen aufzugeben. „Ja… aber wenn Jessie und James es geschafft haben, ihr kriminelles Leben hinter sich zu lassen und noch mal ganz von vorn zu beginnen, dann muss es doch auch irgendwie möglich sein, den Ishi-Menschen zu retten. Menschen können sich ändern, selbst, wenn sie vielleicht viele und große Fehler begangen haben. Gary nickte zustimmend, aber sie konnten ihr Gespräch über ihre Mission nicht vertiefen, da sich in diesem Moment Jessie und James wieder zu ihnen gesellten, die eine mit noch immer etwas säuerlicher Miene, der andere beschwichtigend wie eh und je. „So.“ Mit verschränkten Armen ließ Jessie sich auf einem Stuhl am Tisch der drei nieder. „Und bevor wir jetzt irgendwas erzählen, erst mal raus mit der Sprache – was führt euch überhaupt in diese Gegend? Ich weiß, Dansazu City ist bei Touristen unglaublich beliebt, aber ihr drei seht mir nicht so aus, als würdet ihr hier Urlaub machen. Und wieso hast du gesagt, du hast Pikachu nicht bei dir? Ich hab dich, glaube ich, noch kein einziges Mal ohne gesehen.“ Sie hätten vielleicht einen Moment darüber nachdenken sollen, welche Geschichte sie Team Rocket – oder jetzt eben nicht mehr Team Rocket – auftischen sollten. Umso überraschter waren Misty und Gary, als Ash ohne jedes Zögern das Wort ergriff. „Wir sind wie immer auf einer Pokémonreise, was sonst sollten wir am anderen Ende der Welt machen? Ich habe Pikachu und auch meine anderen Pokémon nicht dabei, weil ich noch mal ganz von vorn beginnen wollte, so, als hätte ich meine Reise gerade erst begonnen. Als neue Herausforderung, sozusagen. Ich habe nur ein einziges Pokémon bei mir, eines hier aus der Region.“ Er klopfte sich vielsagend auf die Tasche mit dem Pokéball darin, die seine ungewöhnliche Farbe und den geheimen Inhalt verborgen hielt. „Und Misty und Gary begleiten mich, weil das Reisen zusammen mehr Spaß macht.“ „Und weil er mir auch nach sechs Jahren immer noch ein neues Fahrrad schuldet.“ Ein unterdrücktes Lächeln huschte über Ashs Lippen, und fast hätte es die Fassade gebrochen, die er soeben errichtet hatte. „Was ihr nicht sagt…“ „Und wie seid ihr hier gelandet? Und wie kam es überhaupt dazu, dass ihr Team Rocket verlassen habt?“ „Kennst du das Gefühl, wenn du eines Morgens aufwachst und dir denkst: 'So kann es nicht weitergehen'?“ Jessie sah die drei eindringlich an. „Ich meine, wir waren aus ganz verschiedenen Grünen zu Team Rocket gekommen, aber weder mir, noch James oder Mauzi hatte es das gebracht, was wir uns davon erhofft hatten. Wir waren nichts weiter als ein paar tölpelhafte, erfolglose Kriminelle und ständige Fußabtreter für den Boss. Also haben wir eines Tages beschlossen, dass es reicht. Wir haben Team Rocket den Rücken gekehrt, was einfacher war, als wir befürchtet hatten, weil uns dort scheinbar niemand vermissen würde. Mauzi haben wir freigestellt, ob er sich uns anschließen oder zu Giovanni zurückkehren will, und dann haben wir drei so viel Abstand wie nur irgendwie möglich zwischen uns und unsere Vergangenheit gebracht. Wir haben uns mehr schlecht als recht durchgeschlagen, haben die schlechtbezahltesten Jobs gemacht, um uns irgendwie über Wasser zu halten, aber irgendwie haben wir auch diese Zeit überstanden.“ „Weil wir uns hatten.“ Jessie sah auf, als sie mitten in ihrer Erzählung unterbrochen wurde, schwieg dann aber. „Schließlich war nicht alles an der Zeit bei Team Rocket schlecht gewesen. Wir hatten gelernt, auch in den miesesten Zeiten zusammenzuhalten, und wir hatten gelernt, mit allen möglichen Situationen zurechtzukommen. Nach und nach haben wir es geschafft, sogar ein bisschen Geld anzusparen, und dann haben wir alles auf eine Karte gesetzt und dieses Restaurant eröffnet. Es war ein bisschen heikel, aber es hat sich gelohnt und ich würde es jederzeit wieder tun.“ Fast liebevoll ließ er seinen Blick durch den Raum, über die vergnügten Gäste schweifen. „Aber dass es so gut funktionieren würde, hätten wir dann auch nicht gedacht. Ich meine, jetzt haben wir sogar eine eigene Angestellte, was so gar nicht geplant war, aber vieles im Leben kommt eben anders, als man denkt.“ „Richtig, ursprünglich hatte Mauzi die Gäste bedient, das kam bei den Leuten ganz gut an, so ein sprechendes Pokémon.“ „Auch, wenn er es nie gern gemacht hat und jetzt ganz froh ist, dass er in der Küche stehen kann und sich nicht mehr zur Schau stellen muss.“ „Miauz, genau!“ Überrascht fuhren Jessie und James herum, als sie hinter sich die Stimme des Pokémons hörten. „Mauzi! Solltest du nicht eigentlich hinten sein?“ „Schon, aber ich habe gehört, dass wir prominente Gäste haben, und da muss ich doch wenigstens mal kurz vorbei schauen.“ „Nichts da, scher dich sofort wieder an die Arbeit!“ Jessie stand auf und rückte den Stuhl zurecht, auf dem sie gesessen hatte. „Wir waren ohnehin gerade fertig. James, kümmere dich dann bitte auch wieder um die Gäste. Ich geh mit Mauzi zurück in die Küche.“ Er nickte und sah ihr einen Moment nach, bevor er sich wieder den drei Jugendlichen zuwandte. „Und? Glaubt ihr uns?“ Irgendwie war es eine seltsame Frage, fast ein wenig überflüssig, aber als Ash nun bekräftigend nickte, fühlte es sich richtig an, dass sie gestellt worden war. „Ja, wir glauben euch. Und wir wünschen euch alles Gute für die Zukunft.“ „Euch auch.“ James lächelte. „Was auch immer ihr damit vorhabt.“ Dann ließ er die drei ohne ein weiteres Wort sitzen und ging wieder seiner eigentlichen Arbeit nach. Fast sofort danach erschien die junge Kellnerin wieder, stellte vor ihnen ihre Bestellungen ab und schenkte jedem ein freundliches Lächeln, wobei sowohl Ash als auch Misty auffiel, dass diese Geste bei Gary ein paar Augenblicke länger andauerte. Und auch, als sie den dreien sagte, dass sie sich einfach melden sollten, wenn sie noch irgendeinen Wunsch hatten, lag ihre Aufmerksamkeit einen Moment länger auf dem Jungen, der davon jedoch nichts zu bemerken schien. „Ich glaube, du gefällst ihr“, sagte Misty mit einem Schmunzeln auf den Lippen, als das Mädchen gegangen war. „Wem?“ „Na, der Kellnerin. So wie die dich angesehen hat…“ „Ist mir nicht aufgefallen.“ „Im Ernst? Sogar ich hab mitbekommen, dass sie dich angestarrt hat.“ Ash sah ihn überrascht an und Misty nickte zustimmend. „Du hast doch früher keine Gelegenheit ausgelassen, um zu flirten. Oder ist sie nicht dein Typ?“ „Haben wir im Moment nicht ganz andere Sorgen als so etwas?“ „Ach, ich weiß nicht.“ Misty füllte ihre Sprechpause mit einem Löffel Suppe. „Ist es nicht gut, wenn wir auch ein 'Danach' haben, auf das wir uns freuen können? Ich weiß, wir haben eine sehr wichtige Aufgabe und das sollte immer an erster Stelle stehen. Aber wir haben doch auch noch ein Leben danach. Warum nicht jetzt schon damit anfangen, schöne Erinnerungen für morgen zu schaffen?“ Gary schwieg, schien nachzudenken und schüttelte dann den Kopf. „Morgen werdet ihr beide wieder trainieren, wir haben bis dahin vielleicht jemanden gefunden, der noch etwas über die Legende weiß, und falls nicht, sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie es jetzt weitergehen soll.“ Misty verdrehte genervt die Augen, verkniff sich aber einen Kommentar dazu, dass Gary ganz genau wusste, was für ein 'morgen' sie gemeint hatte. „Meint ihr, wir sollten noch mal zur Legende gehen? Nachschauen, ob wir vielleicht noch irgendetwas übersehen haben?“ Ash sah die anderen beiden fragend an. „Ich glaube nicht, dass das was bringt“, kam die Antwort von Gary. „Wir haben die Inschrift auf den Felsen doch sehr sorgfältig untersucht und jedes Wort abgeschrieben. Außerdem hat Mary doch auch gemeint, dass die Legende so, wie wir sie jetzt kennen, komplett ist.“ „Die Legende?“ Ash, Misty und Gary zuckten innerlich zusammen, als von der Kellnerin, die gerade am Nachbartisch ein paar Schüssel zusammengeräumt hatte, diese Worte und der dazugehörige fragende Gesichtsausdruck kamen. „Meint ihr die Inschrift in den Felsen draußen auf der Insel? Ihr habt sie gelesen?“ Für einen Moment befürchteten die drei Federn, sie hätten vielleicht zu viel gesagt, hätten nicht so unachtsam erwähnen sollen, dass sie drei etwas mit der Legende zu tun hatten. Aber dann – war das hier vielleicht die Chance, nach der sie gesucht hatten? Ganz offensichtlich wusste dieses Mädchen ja zumindest, dass die Inschrift existierte. „Ja, genau die… Weißt du zufällig was darüber?“, fragte Ash. „Nicht viel.“ Die Kellnerin stellte die Schüsseln wieder auf den Tisch und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Nur, dass es sich bei der Inschrift um eine Legende handeln soll, die sich um Mew, Arktos, Lavados und Zapdos dreht. Und ihr habt sie wirklich gelesen? Entschuldigt, wenn ich so neugierig frage. Aber ich… arbeite im Moment an einem Buch über Pokémon-Legenden und –Sagen aus der ganzen Welt. Ich bin überhaupt nur wegen dieser Legende hier in Dansazu City und war überrascht zu hören, dass ihr sie gesehen habt. Ich bin nämlich bisher nicht dazu gekommen, zu überprüfen, ob dort wirklich etwas in den Felsen steht. Ohne Pokémon ist man heutzutage nur wenig mobil.“ „Ja, es gibt wirklich eine Inschrift auf der Insel, und sie handelt von einer Legende um die drei Vogelpokémon und Mew. Wir interessieren uns auch ein bisschen dafür, weißt du.“ „Ah, verstehe.“ Sie lächelte die drei an und schien einen Moment nachzudenken. Dann fuhr sie fort. „Vielleicht könnten wir uns mal ein bisschen darüber austauschen, vielleicht hilft uns das ja irgendwie gegenseitig weiter.“ Sie wussten nicht, ob das Mädchen wirklich irgendwelche hilfreichen Informationen für sie hatte, oder ob ihre Kontaktfreudigkeit vielleicht doch nur an Gary lag. „Klar, wieso nicht.“ Aber was hatten sie schon zu verlieren. „Prima! Wollen wir dann vielleicht –“ „Tess, schwatz nicht so viel, hilf mir hier lieber mal!“ „Ja!“ Sie seufzte. „Ihr hört, ich muss arbeiten. Aber vielleicht habt ihr heute Abend Zeit, wenn ich fertig bin? Wir könnten uns unten am Strand treffen?“ Sie willigten ein, das Mädchen schenkte ihnen noch ein Lächeln und machte sich dann wieder an ihre Arbeit.   Viel später am Abend, während sich draußen am Strand drei Auserwählte mit einer Kellnerin trafen und die Sonne längst untergegangen war, lag das kleine Nudelsuppenrestaurant in Ruhe und inzwischen verlassen da. Nur ein schwaches Licht im Inneren verriet, dass sich immerhin seine Besitzer noch darin aufhielten und die Vorbereitungen für den nächsten Tag trafen. James war soeben damit fertig geworden, die Stühle auf die Tische zu stellen und Jessie griff gerade nach einem Besen, um den Raum auszufegen. Er nahm ihn ihr aus der Hand. „Lass mich doch machen…“ Sie widersprach nicht, stützte stattdessen die Unterarme auf die Theke, lehnte den Kopf auf ihre Hände und blickte nachdenklich vor sich hin. „James, findest du nicht auch, dass irgendwas an den Knirpsen seltsam war? Ich meine klar, wir haben sie lange nicht gesehen… aber ich habe das Gefühl, dass da irgendwas in der Luft liegt. Irgendwas hat sie beschäftigt, irgendetwas, worüber sie nicht reden konnten. Irgendetwas scheint ganz und gar nicht in Ordnung zu sein.“ Er hatte stur auf den Besen gestarrt, aber jedes ihrer Worte gehört, jedem ihrer Bedenken Beachtung geschenkt. Nun stellte er das Putzgerät zur Seite und trat an sie heran. „Ich weiß, was du meinst. Aber ich kann dir leider auch nicht sagen, ob da was dran ist und ob es für uns irgendwie von Bedeutung ist. Aber ich verspreche dir“, und mit diesen Worten trat er hinter sie und legte die Arme um sie, „dass ich auf dich aufpassen werde. Auf euch.“ Sie lächelte, wenn auch unsicher, und legte eine Hand auf seine. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)