Federspiel von Miuu ================================================================================ Kapitel 18: Glück und Glas -------------------------- Vom Hauptstrand drang immer wieder schallendes Gelächter herüber. Eine Gruppe Jugendlicher schien es sich dort im Sand bequem gemacht zu haben und nun vergnügt den Tag ausklingen zu lassen; im Schein der einzelnen Laternen, die sie als Lichtquellen mitgebracht hatten, waren ihre Konturen nur schwach zu erkennen. Dort, wo die drei Federn und ihre neue Bekanntschaft sich aufhielten, weiter ab vom Badestrand, wo der feine Sand unförmigen Steinen gewichen war, war es ruhiger und die vier allein. Die Kellnerin, die Ash, Misty und Gary an diesem Mittag in Jessies und James' Restaurant kennengelernt hatten, war eben erst zu ihnen gestoßen und hatte sich sogleich für ihr spätes Kommen entschuldigt. „Schon gut, du hast ja gesagt, dass du wahrscheinlich lange arbeiten musst.“ Ash sah sie freundlich an. „Ich glaube, wir haben uns vorhin gar nicht vorgestellt? Ich bin Ash, und das sind Misty und Gary. Ähm, und du warst …?“ „Tess.“ Sie erwiderte das Lächeln und ließ sich neben den dreien auf dem Boden nieder. „Danke, dass ihr so lange gewartet habt. Ehrlich gesagt bin ich mir aber gar nicht sicher, ob ich euch nicht irgendwie zu viel Hoffnung gemacht habe. Ihr scheint ja sehr an der Legende der Federn interessiert zu sein. Ich fürchte aber, dass ich euch nicht wirklich etwas Neues darüber erzählen kann. Ich war nur überrascht, dass ihr die Legende lesen konntet.“ Ash schüttelte den Kopf. „Vielleicht erzählst du uns genau damit schon etwas Neues.“ Tess sah den Jungen fragend an, aber es war Misty, die weitersprach. „Ja, denn von dir hören wir zum ersten Mal, dass es die Möglichkeit gab, dass wir sie nicht lesen können. Alle anderen, die wir gefragt haben und die irgendetwas von der Legende wussten, haben nie angemerkt, dass sie vielleicht nicht für jeden sichtbar ist, oder irgendwie versteckt oder verschlüsselt.“ „Allerdings“, setzte Ash das Gespräch nun fort, „war es wirklich so, dass am Anfang nicht der komplette Text an den Felsen stand.“ Sie hatten eine Weile darüber gesprochen, ob sie dem fremden Mädchen wirklich davon erzählen sollten, oder ob es vielleicht schon zu viel über sie verriet, ob es schon verriet, dass sie mehr mit der Legende zu tun hatten als andere. Bis zuletzt waren sie nicht ganz sicher gewesen, was wohl die beste Entscheidung war, aber nun, da Tess hier bei ihnen saß, hatten sie das Gefühl, dass es in Ordnung war, wenn sie ihr davon erzählten. Und da sie sich in den letzten Tagen mehr als einmal auf ihr Gefühl verlassen hatten, hatten sie sich auch diesmal für diesen Weg entschieden. Wenn Tess annahm, dass die Legende wahr war, wenn sie wusste, dass es die drei Auserwählten gab, dann würde es vermutlich keinen Unterschied machen, wenn sie etwas ahnte. Und wenn sie nichts von alldem wusste, dann würde sie durch ihre Erzählungen jetzt auch keinen Verdacht schöpfen. „Nicht der komplette Text?“ „Ja, wir drei kennen uns zwar schon länger, waren aber unabhängig von einander auf der Insel.“ „Und erst, als ich als letzter von uns dort war, konnten wir die ganze Legende lesen.“ „So ist das also. Ihr musstet erst alle drei hin, bevor der Text vollständig war.“ Tess starrte an den dreien vorbei hinaus auf das Meer und schien angestrengt nachzudenken. Aber dann schüttelte sie den Kopf. „Tut mir leid, ich verstehe das leider auch nicht. Ich … habe eben nur davon gehört, dass nicht jeder die Legende lesen können soll, darum war ich ja so überrascht, dass ihr sie kanntet.“ „Na ja, irgendwer muss sie wohl lesen können, sonst gäbe es ja niemanden, der sie kennt. Und du kennst sie ja schließlich auch.“ Tess sah auf, als nun zum ersten Mal in diesem Gespräch Gary das Wort ergriff, und seine harschen Worte irritierten sie einen Moment, bevor sie nickte. „Ja, ich habe auf meinen Reisen davon gehört, ich weiß schon gar nicht mehr, wann und wo genau. Die Menschen kennen teilweise so viele fantastische Geschichten, auch wenn natürlich nicht alle von ihnen wahr sind. Ich kenne den Inhalt der Legende der Federn und ich weiß, dass es einen Auserwählten gibt, der durch die Kraft der Gedanken die Chance auf einen Neubeginn hat. Und auch, dass die drei legendären Vögel Arktos, Lavados und Zapdos mit drei weiteren Auserwählten einschreiten, wenn sie der Meinung sind, diese Kraft würde außer Kontrolle geraten. Aber ich habe die Legende nicht selbst gelesen, ich war nicht draußen auf der Insel. Wie gesagt, ohne Pokémon oder ein Boot, mit dem man dorthin kommen kann, ist es schwierig, die Legende mit eigenen Augen zu sehen.“ Mit einem Mal schien das Mädchen ein wenig traurig, und Ash hätte ihr gerne angeboten, ihr die Legende draußen in den Felsen zu zeigen. Aber da die drei ihr nicht offenbaren konnten, welche Pokémon sie mit sich führten und wie sie zur Insel gekommen waren, schwieg er. „Wie kommt es eigentlich, dass du kein Pokémon hast? Das ist heutzutage doch eigentlich sehr ungewöhnlich.“ Und darum verunsicherte es ihn auch, als Misty nun diese Frage stellte, und er hoffte, dass Tess nicht im Gegenzug neugierig wurde, wie sie drei eigentlich die Insel erreicht hatten. Nun, wobei, sie konnten immer vorgeben, dass jemand auf einem Boot sie mitgenommen hatte. Tess indessen lächelte müde. „Ja, ich weiß, es ist nicht normal, kein Pokémon zu besitzen. Es ist nicht so, dass ich Pokémon nicht mögen würde, und natürlich habe ich als Kind wie alle anderen eines bekommen.“ Sie dachte kurz nach. „Vor gut zehn Jahren war das jetzt. Aber ich hatte einfach kein Talent für das Trainieren und Kämpfen. Ich bin eine Weile durch das Land gezogen, eine sehr lange Weile sogar, mehrere Jahre lang. Aber es wurde einfach nicht besser und war am Ende nur noch frustrierend. Ich habe die wenigen Pokémon, die ich besaß, an Freunde gegeben und eingesehen, dass der Traum vom Pokémonmeister wohl nicht meiner war.“ Sie sagte es sanft, mit einen Lächeln auf den Lippen, aber irgendwie versetzte es Ash einen Stich. Vielleicht, weil ihre Geschichte seiner ein wenig ähnelte. Sich nach vielen Jahren eingestehen zu müssen, dass der Traum, den man hatte, sich wohl niemals erfüllen würde oder dass er einem einfach nicht mehr das bedeutete, was er einst getan hatte, war eine schmerzliche Erfahrung. Mit einem Mal tat sie ihm leid, und er hätte gerne irgendetwas Aufbauendes zu ihr gesagt, weil er sie nett fand und ja gerade selbst erlebte, dass man manchmal Altes von sich streifen musste und dafür etwas Neues fand, auf das man sich konzentrieren konnte. Vielleicht, wenn sie sich zu einem anderen Zeitpunkt kennengelernt hätten, wenn er nicht gerade in der Vollfüllung einer wichtigen Aufgabe gesteckt hätte, die nicht zuließ, dass sie zu sehr Kontakt zu anderen Menschen aufnahmen, vielleicht hätten sie Freunde werden können und er ihr zeigen, dass es immer wieder Chancen im Leben gab, noch einmal von vorn zu beginnen. Ein Jammer. Ash blinzelte, irritiert von dem Gedanken, der sich nicht anfühlte, als wäre er von ihm gekommen, und seine Brust verkrampfte sich, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Ishi? Hier? Jetzt? Was sollte diese Aussage, wollte sie ihnen drohen? Er versuchte, einen möglichst unauffälligen Blick zu den anderen beiden Federn zu werfen, aber Misty und Gary schienen nichts bemerkt zu haben, also ließ er sich ebenfalls nichts anmerken. Er durfte Tess da nicht mit reinziehen, musste verhindern, dass Unschuldige in diesen Kampf involviert wurden, der nur sie drei und Ishi etwas anging. Es riss ihn aus seinen Gedanken, als Tess plötzlich aufstand, sich den Staub von ihrem Kleid klopfte und den dreien ein entschuldigendes Lächeln zuwarf. „Es tut mir leid, ich fürchte, ich habe eure Zeit verschwendet. Ihr hattet euch sicher mehr von mir erhofft und jetzt habe ich euch nur mit meiner Lebensgeschichte gelangweilt. Ich fand es trotzdem sehr nett, euch kennenzulernen.“ Sie warf einen kurzen Blick zu Gary, aber als sie ihn erwidert fand, wandte sie sich sogleich ab. „Na ja, wir laufen uns bestimmt noch mal über den Weg. Man sagt doch, man sieht sich immer zweimal im Leben. Also, macht's gut.“ Und mit einem letzten, freundlichen Lächeln ließ sie die drei zurück und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt. Die drei Federn sahen ihr einen Moment lang schweigend nach, aber dann ergriff Ash das Wort. „Habt ihr Ishi eben auch gehört?“ „Was, Ishi war hier?“ Misty sah ihn entsetzt an und auch Gary stand die Verwunderung ins Gesicht geschrieben. „Ja, eben, kurz, während wir uns mit Tess unterhalten haben. Das heißt, ich weiß natürlich nicht, ob sie nicht immer noch in der Nähe ist.“ „Was wollte sie?“ „Ich weiß es nicht so genau … Ich hab darüber nachgedacht, dass es schade ist, dass wir uns nicht richtig mit Tess anfreunden können, weil wir ja niemanden in Gefahr bringen dürfen. Und da hat sie 'Ein Jammer' gesagt. Das war aber auch schon alles.“ „Klingt irgendwie, als würde sie uns verspotten.“ Gary legte die Stirn in Falten. „Aber es scheint ja nicht so, als würde sie jetzt einen Angriff planen. Also lasst uns zurück zu Mary gehen.“ Die anderen beiden stimmten zu und gemeinsam setzten sie sich in Bewegung, über das steinige Ufer zurück in Richtung Stadt, über die grasbewachsenen Hügel, die vorm Strand abfielen. Es war erstaunlich still, immer seltener drang von unten her ein vereinzeltes Lachen herüber, und die sanften Geräusche von allerlei Nachtgetier waren leise und unaufdringlich. Umso deutlicher war in diesem Schweigen mit einem Mal ein kurzes, klägliches Fiepen zu hören. Die drei Federn sahen sich an. War das eine Einbildung gewesen? Wohl kaum, wenn sie es alle drei gehört hatten. Aber was war es gewesen? Und wo kam es her? Aber da ertönte das Geräusch auch schon ein weiteres Mal, länger diesmal und noch eine Spur kläglicher. Es klang jetzt ziemlich deutlich wie das verzweifelte Jammern eines Pokémons. Die drei wandten sich von ihrem Weg ab und folgten, allen voran Ash, den Lauten in die Richtung, aus der sie zu kommen schienen. Dichtes Gestrüpp machte das Vorankommen ein wenig schwierig, aber Ash stapfte unbeirrt durch das hohe Gras weiter, bis zu einer kleinen Buschgruppe, die die Quelle des Klagens zu sein schien. Ohne große Umschweife ging Ash auf die Knie und schob mit den Händen die Äste eines Buschs zur Seite. „Ash, sei vorsichtig …“ Aber nicht minder neugierig als der Junge starrte nun auch Misty gefolgt von Gary in die Dunkelheit unter den Strauch, ohne jedoch etwas erkennen zu können. Auf Ashs Lippen aber legte sich ein Lächeln, als er zwischen den Blättern und Ästchen eine kleine, pelzige Gestalt ausmachte. „Na, was bist du denn für ein kleines Ding? Wie kommst du denn hierher, hm?“ Seine Stimme war sanft und leise und er hoffte, das Pokémon, das ihn nun mit großen Augen ein wenig ängstlich ansah, damit beruhigen zu können. „Was ist es denn?“ Ash antwortete ihr nicht, sondern streckte vorsichtig die Hand aus. „Na komm her, mein Kleines. Wir tun dir nichts …“ Er reckte die Hand noch ein wenig weiter, verschwand nun seinerseits fast unter dem Busch, und als er kurz darauf wieder unter ihm hervorkam, hatte er ein kleines, braunes Pelzknäuel im Arm. „Es ist ein Evoli.“ Das kleine Pokémon ließ ein klagendes 'Eee!' ertönen. „Ist es verletzt?“ Ash schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich weiß nicht, warum es so gejammert hat. Vielleicht ist es jemandem ausgebüxt und ruft jetzt nach seinem Trainer.“ „Und dann sucht es niemand?“ Misty dachte einen Moment nach. „Wilde Evoli gibt es nur ganz selten, und so zutraulich, wie es ist, hat es sicher jemandem gehört.“ „Du meinst, es wurde von seinem Trainer freigelassen?“ Gary, der bis zu diesem Moment nichts gesagt und dem Evoli nur einen kurzen Blick geschenkt hatte, mischte sich nun doch in das Gespräch ein. „Misty meint, es wurde ausgesetzt. Den meisten Pokémon macht es nichts aus, wieder in die Wildnis entlassen zu werden, weil sie auch dort sehr gut zurechtkommen. Aber es stimmt schon, Evoli gibt es nur sehr selten in freier Wildbahn, und da sie so anhänglich und zutraulich sind, finden sie sich dort nicht mehr zurecht, wenn sie einmal an Menschen gewöhnt waren. Außerdem“, er griff an den Hals des Pokémons, ignorierte das überraschte Quieken und strich vorsichtig das Fell zur Seite, sodass ein abgetragenes Halsband und die Reste einer Lederleine sichtbar wurden; der dichte Pelz hatte beides bis eben verborgen gehalten. „War es irgendwo angebunden. Also, wenn es nicht doch jemandem abgehauen ist, wurde es definitiv ausgesetzt.“ Ash nickte. „Dann sollten wir es erst mal mitnehmen. Lasst uns noch schnell im Pokémoncenter vorbeischauen. Um sicherzugehen, dass es nicht doch irgendwie verletzt ist. Und vielleicht vermisst es ja doch jemand …“   Im Pokémoncenter hatte niemand ein Evoli als vermisst gemeldet und Schwester Joy konnte sich auch nicht erinnern, in der letzten Zeit eines gesehen zu haben. Damit stieg die Wahrscheinlichkeit, dass jemand das kleine Ding ausgesetzt hatte. Immerhin war es kerngesund, nur ein wenig ausgehungert, aber nachdem es in wenigen Minuten eine beachtliche Menge Pokémonfutter verdrückt hatte, war es zusammengerollt und seelenruhig eingeschlafen. „Und was machen wir jetzt damit?“ Ash betrachtete das schlafende Bündel in seinem Schoß. „Normalerweise würde ich ja sagen, einer von uns soll es behalten, und Schwester Joy hat ja auch gesagt, das Pokémoncenter ist überfüllt und es wäre gut, wenn das Evoli schnell einen neuen Trainer findet. Falls es doch jemand sucht, können wir es ja immer noch zurückgeben …“ „Aber wir können es ja schlecht mitnehmen. Wir haben extra unsere anderen Pokémon zuhause gelassen, um sie nicht in Gefahr zu bringen, jetzt können wir das Kleine nicht bei uns haben.“ Ash nickte zu Mistys Worten. „Dann schicken wir es am besten morgen früh zu Professor Eich. Heute Nacht behalte ich es erst mal bei uns. Es soll nicht denken, dass es schon wieder abgeschoben wurde.“ Misty stimmte ihm zu während Gary nur abermals schwieg, ein leichtes Husten unterdrückend.   Das Evoli schlief weiter, als Ash es auf seiner Hälfte des Doppelbetts absetzte, zuckte nur kurz mit den Ohren und rollte sich dann noch ein wenig dichter zusammen. Ein Lächeln huschte über Ashs Gesicht, während er sich nun selbst auf seinem Bett niederließ. „Ich merke gerade mal wieder so richtig, wie sehr ich meine Pokémon vermisse, ganz besonders Pikachu. Ich bin so froh, wenn das alles hier zuende ist und ich endlich zu ihnen zurück nach Hause kann.“ Er sah hinüber zu Gary, und dass der Junge sich wie in letzter Zeit häufig in Schweigen gefüllt hatte, machte es ihm nicht gerade einfach. „Wie ist es bei dir, Gary? Wir haben uns so lange nicht gesehen, ich weiß überhaupt nicht, was du inzwischen alles für Pokémon hast.“ Er dachte einen Moment nach, sah kurz auf das Evoli und dann wieder zurück zu Gary. „Hey, du hattest doch auch mal ein Evoli! Dass ich da vorhin nicht dran gedacht hab. Ist ja kein Wunder dann, dass du dich so gut mit ihnen auskennst.“ Garys Miene blieb undeutbar. „Ja, ich hatte eines.“ „Vielleicht solltest du das Kleine hier dann nehmen. Aus deinem hast du ein Nachtara gemacht, nicht wahr?“ Er lachte leise. „Das ist so lange her … Bestimmt ist es inzwischen sehr stark geworden. Und bestimmt vermisst du es und deine anderen Pokémon genauso wie ich meine, stimmt's?“ Er lächelte ihn aufrichtig an. „Ich besitze keine Pokémon mehr.“ Das Lächeln erstarb. „Was? Aber wieso? Nicht einmal Nachtara? Ich hatte damals den Eindruck, dass es dir besonders am Herzen lag, dass es dein Lieblingspokémon war, so wie Pikachu für mich.“ Gary schwieg weiterhin, aber diesmal sah man ihm an, dass er mit sich rang, dass er anscheinend nicht wusste, ob er etwas sagen wollte oder nicht. Und schließlich gab er Ashs fragenden, eindringlichen Blick statt. „Nachtara ist gestorben.“ Die Verwunderung und das Entsetzen standen Ashs ins Gesicht geschrieben. „Das tut mir leid. Wirklich …“ Gary nickte. „Wie ist das passiert? Ich meine, falls du drüber reden willst.“ Er schüttelte den Kopf, fuhr im Gegensatz zu dieser Geste aber mit seinen Worten fort. „Es kam sehr plötzlich und unerwartet … Ich war mal wieder unterwegs, damals, gar nicht lange nachdem Misty und ich uns getrennt hatten. Wir waren draußen in den Wäldern, weit entfernt von jeder Zivilisation, haben gegen einen Haufen wilder Pokémon gekämpft, immer wieder. Teilweise, weil ich sie fangen wollte, teilweise als Training, und ab und an, wenn wir uns zu weit in die Reviere anderer Pokémon vorgewagt hatten, mussten wir auch kämpfen, um uns zu verteidigen. Weil ich Nachtara selten im Pokéball hatte, hat es mich oft von sich aus verteidigt, wenn wir von Pokémon angefallen wurden. Und in irgendeinem dieser Kämpfe, mit irgendeiner Verletzung, die es sich zugezogen hat, muss es sich irgendwas eingefangen haben, eine Infektion oder sonst was … Erst hab ich nur gedacht, dass Nachtara von den vielen Kämpfen erschöpft war, zumal wir auch lange in keinem Pokémoncenter mehr gewesen waren. Aber dann hab ich gemerkt, dass das nicht alles war, dass es krank war, dass die Tränke und Gegengifte, die ich dabei hatte, nicht halfen und dass wir dringend in ein Pokémoncenter mussten. Ich …“ Er suchte nach Worten. „Ich hab wie blöde nach dem nächsten Center gesucht, ich weiß noch, dass ich stundenlang mit Nachtara auf dem Arm durch den Wald gehetzt bin und wie erleichtert ich war, als wir uns endlich einer Stadt näherten.“ Der Blick auf seinem Gesicht wurde ausdruckslos. „Aber als wir das Pokémoncenter erreicht hatten, war es zu spät.“ Ash schluckte schwer. Sein Magen verkrampfte sich und seine Brust fühlte sich an wie zugeschnürt. „Danach hab ich meine anderen Pokémon an andere Trainer weitergegeben, in fähigere Hände. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, dass ich in der Lage war, mich um sie zu kümmern.“ „Das … das ist wirklich furchtbar. Das tut mir so leid, Gary.“ Es erinnerte ihn an sein allererstes Abenteuer mit Pikachu, als sich das kleine Pokémon vollkommen verausgabt hatte, um ihn zu beschützen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. „Aber Gary …“ Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Es ist nicht deine Schuld. Ich weiß, das ist eine schreckliche Geschichte … Aber du konntest mit so etwas nicht rechnen, und du hast alles versucht, um dein Pokémon zu retten. Es ist nicht deine Schuld.“ „Denkst du, das weiß ich nicht?!“, fuhr Gary ihn an und Ash war überrascht und schockiert zugleich, Tränen in seinen Augenwinkeln zu sehen. „Meinst du, das macht es irgendwie besser?! Erzähl mir nicht, du würdest dir keine Vorwürfe machen, wenn Pikachu dir unter den Händen weggestorben wäre!“ Abermals spürte Ash, wie sich sein Körper verkrampfte. „Du weißt nicht, wie das ist, wenn jemand stirbt, den du in deinen Armen hältst … Und das ist gut so.“ Seine Stimme war nun leiser und ruhiger als zuvor, seine Miene gefasst. „Das ist eine Erfahrung, die ich niemandem wünsche. Ich weiß nicht, ob ich damals nicht doch etwas hätte tun können, ob ich Nachtara hätte retten können, wenn ich ein bisschen früher gemerkt hätte, was los war, wenn wir nicht so weit weg von der nächsten Stadt gewesen wären. Ich weiß, dass es nicht meine Schuld war, aber das ist etwas, was du nie wieder im Leben vergisst. Und ich weiß, dass ich es niemals wieder zulassen werde, dass jemand vor meinen Augen stirbt, egal, ob Mensch oder Pokémon …“ Da schenkte Ash ihm ein liebevolles Lächeln. Sachte zog er ihn näher an sich und lehnte seine Stirn gegen Garys. „Und das ist der Grund, warum du eine Feder geworden bist.“ Er berührte seine Lippen in einem kurzen, sanften Kuss und sah ihn danach wieder an. „Lavados muss es so leid sein, dass es gerade immer wieder die Feuerfeder ist, die den Ishi-Träger tötet. Ich denke, das ist der Grund, wie die drei legendären Vögel diesmal die Federn auserwählt haben. Mit dir haben wir jemanden, der mit aller Macht verhindern wird, dass der Ishi-Träger getötet wird, und mit Misty jemanden, der es tun kann, falls es keinen anderen Ausweg gibt.“ „Und was ist mit dir?“, fragte er heiser, nicht böse über den plötzlichen Themenwechsel. Ash dachte einen kurzen Augenblick nach, schüttelte dann aber den Kopf. „Ich weiß es nicht … Das werden wir wohl erst noch herausfinden.“ Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen und blieb bei dem Evoli hängen, das noch immer tief und fest schlief und sich von ihrem Gespräch eben nicht hatte aus der Ruhe bringen lassen. „Gary … Ich denke, du solltest das Evoli trotzdem nehmen. Oder vielleicht erst recht. Ich kann mir vorstellen, dass es schwer ist und bestimmt wehtut … Aber vielleicht hilft es dir auch, einen Schlussstrich zu ziehen und einen Neuanfang zu machen?“ Schweigend betrachtete Gary das Pokémon, das friedlich atmete und ein wenig so aussah, als würde es im Schlaf lächeln. Ein Neuanfang. Das war es doch, was in der Legende dem Ishi-Träger versprochen worden war, aber warum sollte es nicht auch auf die anderen Federn zutreffen? Doch Gary schüttelte den Kopf. „Nein … Nimm du es, oder gib es Misty. Ich kann nicht.“ Ash nickte überrascht, aber verständnisvoll. „In Ordnung.“ Er nahm das Evoli vorsichtig hoch und legte es behutsam neben seinem Kopfkissen ab, bevor er unter die Bettdecke schlüpfte. „Aber wenn du es dir anders überlegst …“ Er ließ seinen Satz unbeendet und Gary nickte ausdruckslos, bevor er sich von seinem Bett erhob und zur Tür ging. Ash sah überrascht auf. „Wohin gehst du?“ „Noch mal kurz an die frische Luft. Ich brauch einen Moment für mich allein.“ Ash nickte verstehend. Die Zimmertür fiel leise ins Schloss.   ***   „Zögern wir es nicht mehr länger heraus … Es wird Zeit, die Sache zu beenden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)