Federspiel von Miuu ================================================================================ Kapitel 6: Fiasko ----------------- In dem Augenblick, in dem sich das kalte Metall eigentlich in den Hals des jungen Mädchens hätte schneiden müssen, in dem es ihm das Leben hätte aussaugen müssen, in diesem Augenblick blitzte draußen vor dem Fenster plötzlich für den Bruchteil einer Sekunde ein Licht, irgendein Leuchten auf. Es ließ den Jungen zurückschrecken, und verwundert wandte er sich um, richtete seinen Blick dorthin, von wo das Phänomen gekommen war; doch draußen war nichts mehr zu sehen. Was war das gewesen? Bloß eine Einbildung? Wohl kaum, dafür war es viel zu intensiv gewesen, ein viel zu starkes Licht, obwohl er es ja nicht einmal direkt gesehen hatte. Doch was konnte dahinterstecken? Er erstarrte, als ihm in diesem Moment bewusst wurde, dass das Licht vielleicht nicht nur ihn aufgeschreckt hatte. „Ash…?“ Die verschlafene Stimme war wie eine Bestätigung seiner Gedanken. „Ash, was machst du hier? Es ist mitten in der Nacht.“ Er schwieg und drehte sich nicht um. Auch so hörte er, wie sie die Decke zurückschlug und sich scheinbar aufsetzte. „…Ash?!“ Und an dem plötzlich überraschten, entsetzten Ton in ihrer Stimme hörte er, dass sie wohl das Messer in seiner Hand gesehen haben musste. Er spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg. „Ash, was soll der Mist?!“ Sie sprang aus dem Bett und das Geräusch ihrer nackten Füße auf dem Holzboden näherte sich. „Verdammt noch mal, ich rede mit dir!“ Er wandte sich um, zögerlich, und ihre Augen blitzten ihn zornig, aber auch verunsichert und verletzt an. „Ash, was willst du mitten in der Nacht hier? Damit?“ Er folgte ihrem Blick nicht, sah das Messer in seiner Hand nicht an. „Kann man sich das nicht denken?“ Seine Stimme war leise und erschreckend ruhig, aber sie klang fremd, eisig und leblos. „Ich komm dir zuvor. Ich räume lieber dich aus dem Weg, bevor du mich im Schlaf ins Jenseits beförderst.“ Ohne eine Miene zu verziehen beobachtete er, wie sich ihre Augen ungläubig weiteten. „Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt? Wie kommst du auf die Idee, dass ich dir irgendwas antun will? Ich hab doch überhaupt keinen Grund dazu! Wir müssen gemeinsam unsere Aufgabe als Federn erfüllen, wieso sollte ich dich da umbringen wollen?! Ash, ich brauche dich, schließlich –“ „Halt den Mund.“ Das Messer aus seiner Hand ging scheppernd zu Boden. „Ich will deine Lügen nicht mehr hören.“ Erschrocken stellte sie fest, wie sich rund um seine Hand ein schwaches, gelbliches Leuchten ausbreitete. „Und ich werde sie mir nicht mehr anhören.“ Das Leuchten wurde heller, doch als Misty hastig nach seinem Handgelenk griff, verschwand es. „Ich hab zwar keine Ahnung, was in dich gefahren ist, und du scheinst es mir ja auch nicht erklären zu wollen. Aber was auch immer du vorhast – lass uns das nicht hier klären. Wir dürfen keine Unschuldigen in die Sache mit reinziehen.“ Er nickte, widerwillig, auch wenn er innerlich wusste, dass sie recht hatte. Während sie in ihre Schuhe schlüpfte und sich ihren Mantel überwarf, ließ er sie keinen Moment aus den Augen. Und auch, als er vor ihr das Zimmer verließ und die Treppen hinab schlich, wandte er sich alle paar Schritte zu ihr um. Sie tat es ihm gleich, betrachtete den Jungen misstrauisch und hielt den Pokéball mit Arktos in ihrer Tasche fest umklammert. Wie hatte es soweit kommen können?   Nur wenige Minuten später hatten sie das kleine Dorf mit seinen heruntergekommenen Wohnhäusern hinter sich gelassen und den Rand eines Wäldchens erreicht, das fast vollständig in Dunkelheit lag und nur ärmlich vom fahlen Mondlicht durchdrungen wurde. Wind zerrte an den struppigen Baumkronen. „So, vielleicht kannst du mir jetzt noch mal in Ruhe sagen, was genau dein Problem ist.“ „Ich bin nicht zum Reden mit dir hierher gekommen! Und du bist momentan das einzige Problem, das ich habe! Und darum bring ich es hier und jetzt zu Ende. Du wirst mich nicht mehr täuschen!“ Er hob die Hand und sie hörte, wie die Blätter hinter ihr stärker rauschten. „Ash, das ist doch verrückt! Ich hab dich nicht getäuscht, womit denn auch?!“ „Tu nicht so unschuldig!“ Abermals breitete sich das gelbe Leuchten um seine Hand aus. „Wir wissen beide, dass das alles nur eine große Lüge war!“ Das Licht wurde größer, intensiver, wand sich kleinen, sprühenden Funken gleich um seine Finger. „Und jetzt reicht's mir einfach! Ellenki!“ Er hatte das Wort kaum ausgesprochen, da entlud sich die Energie um seine Hand herum in eine wild blitzende Kugel, die geradewegs auf das Mädchen zuschoss. Panisch zuckte sie zurück, riss instinktiv die Arme hoch und verschränkte sie vor ihrem Körper. „Wazu!“ Ein Schild aus Eis wehrte die Elektrokugel ab, ließ sie zerbersten, bevor auch der Schild zersprang und den Boden mit Eissplittern übersäte. Misty zitterte. „Ash, hör auf mit diesem Wahnsinn…“ „Ich fang gerade erst an! Gut zu wissen, wozu diese Mächte so zu gebrauchen sind. Wär ja auch Verschwendung, wenn man damit nur Pokémon fangen könnte. Ellenki!“ Die Szenerie von zuvor wiederholte sich, sprühende Funken trafen auf glitzernde Eiskristalle. „Verdammt noch mal, was soll denn eine Lüge gewesen sein?“ „Der ganze Federkram! Ellenki!“ Sie wich dem Angriff zur Seite aus, ging in die Knie und sah ihr Gegenüber ungläubig an. „Die Legende? Ash, ist dir klar, dass dieser Kampf der beste Beweis dafür ist, dass es die Wahrheit ist? Und Zapdos, das ist doch schließlich alles passiert!“ „Und wenn schon!“ Abermals ging eine Elektrokugel auf sie los, und in ihr stieg die Verzweiflung. Was war nur in ihn gefahren? Warum sah er nicht den offensichtlichen Widerspruch in dem, was er sagte? „Ellenki!“ Sie musste irgendetwas tun. Sie wollte ihn nicht angreifen, aber irgendwie musste sie ihn stoppen. Denn auf Dauer würde sie diese Angriffe nicht durchhalten können. Sie biss sich auf die Unterlippe, streckte einen ihrer Arme nach vorn und richtete ihre Handfläche gegen Ash. „Wazu.“ Ein Eisstrahl schoss auf den Jungen zu, dem er gerade noch rechtzeitig ausweichen konnte. „Jetzt zeigst du also endlich dein wahres Gesicht. Wurde ja auch Zeit! Ellenki!“ „Wazu!“ Sie wollte ihn nicht angreifen, aber sie sah keinen anderen Ausweg mehr, als sich auf diesen Kampf einzulassen. Funken trafen auf Eis, Eis auf Funken, immer wieder, Schlag auf Schlag. Sobald ihre Angriffe aufeinander prallten, lösten sie sich gegenseitig auf. Es war ein Kampf unter Ebenbürtigen, ein Kampf, den derjenige verlieren würde, der zuerst aufgab. Wie hatte es soweit kommen können? „Ellenki!“ „Wazu.“ Wohin sollte das führen? „Ellenki!“ „Wazu.“ Irgendetwas musste geschehen. Dringend. „Ellenki!“ „Wazu!“ „Fii!“ Kurz bevor die Energien ein weiteres Mal aufeinanderstoßen konnten, schoss plötzlich von irgendwoher ein gewaltiger Feuerball auf sie zu und vernichtete Elektrofunken und Eiskristalle mit einem Schlag. Verwundert durch die plötzliche Störung blickten Ash und Misty auf, sahen in die Richtung, aus der das Feuer gekommen war. „Oh je, oh je. Das fängt ja gut an, wenn die ersten Federn sich schon gegenseitig bekriegen.“ „Wer ist da?“ Mistys Rufen klang zornig, weil es ihr nicht gefiel, ihren fremden Gesprächspartner nicht sehen zu können, aber gleichzeitig verspürte sie einen Hauch von Erleichterung, weil ihr Kampf mit Ash zumindest für den Augenblick eine Unterbrechung gefunden hatte. „Jemand, der sich ernsthaft Sorgen um diese Welt macht, wenn die Federn wirklich nichts Besseres zu tun haben, als aufeinander los zu gehen.“ Zwischen den Baumstämmen trat eine Gestalt hervor, von der Statur her ein Junge, doch seine Gesichtszüge waren in der Nachtschwärze nicht auszumachen. „Woher weißt du von der Legende?“ Misty hoffte, dass ihre Frage überflüssig und die Antwort darauf offensichtlich war; dass es sich bei dem Fremden um den dritten Auserwählten handelte, und dass dieser Ash wieder zur Vernunft bringen konnte, wenn er erst einmal sah, dass außer ihr noch jemand von der Legende wusste. „Na rate mal.“ Seine Worte klangen fast schon verhöhnend, und ohne wirklich eine Reaktion von Ash oder Misty abzuwarten griff der Fremde in eine seiner Taschen, holte einen Gegenstand daraus hervor und warf ihn zu Boden. Jetzt sahen auch Ash und Misty, dass es sich dabei um einen Pokéball handelte, welcher sich nur den Bruchteil einer Sekunde später bereits öffnete; er gab ein großes, von Flammen umgebenes Pokémon preis. „Lavados?“ Die Freude und Hoffnung übertönte die Verwunderung in Mistys Stimme, während Ash still blieb und mit einer Mischung aus Unglauben und Unbehagen auf den Feuervogel blickte. „Siehst du Ash! Ich hab dir gesagt, dass das alles keine Lüge war! Wie heißt du?“ Die letzten Worte hatte sie wieder an den fremden Jungen gerichtet. Dieser kam nun näher, und als das Mondlicht sein Gesicht streifte, war das verschmitzte Grinsen auf seinen Lippen deutlich zu erkennen. „Ich hoffe mal, ihr habt meinen Namen noch nicht vergessen.“ Ein weiteres Mal fand Misty sich überrascht, und auch in Ashs Augen blitzte für einen kurzen Moment Verwunderung auf. „Du, Gary? Du bist der dritte Auserwählte? Die Feder des Feuers?“ „Sieht ganz so aus. Und scheinbar komm ich keine Sekunde zu früh. Könnt ihr mir mal sagen, was in euch gefahren ist?“ Er versuchte, ihnen einen herablassenden Blick zu schenken, aber die Besorgnis darin war nicht zu übersehen. „Hey, die ganze Sache war bestimmt nicht meine Idee! Ash stand plötzlich mit einem Messer in meinem Zimmer und hat –“ „Ich hab mich gewehrt! Schließlich wolltest du mich umbringen! Ich hab nichts weiter getan, als dir zuvor zu kommen.“ „Spinnst du denn vollkommen? Ich hab's dir vorhin schon gesagt, und ich sag's dir auch jetzt noch mal: Ich habe absolut nicht vor, dir irgendetwas anzutun, verdammt, warum denn auch?! Was hab ich denn getan, dass du auf solche verrückten Ideen kommst?“ „Du hast mich angelogen! Die ganze Legende –“ „Gary und Lavados sind hier, und du hast Ellenki, Wazu und Fii gerade selbst gesehen! Meinst du nicht, dass das eindeutig genug ist?“ „Aber du wolltest… eine Feder wird… und damals…“ Die Worte entglitten ihm und er verstummte. Gary, der die Szenerie bis eben nachdenklich und schweigend beobachtet hatte, trat nun noch ein Stück näher an die anderen beiden Federn heran. „Misty, du sagst, Ash ist plötzlich mit einem Messer bei dir aufgetaucht. Was hast du gedacht, als du das gesehen hast?“ „Ich hab im ersten Augenblick glaube ich gar nichts gedacht… Ich hab mich erschrocken, und dann habe ich mich gefragt, was er mit dem Ding will. Und dann hat er auch schon damit angefangen, zu behaupten, ich würde ihn umbringen wollen und er müsse mir zuvor kommen.“ Gary nickte leicht. „Und du, Ash?“ Der Angesprochene sah fragend auf. „Was hast du in diesem Augenblick gedacht?“ „Dass ich…“ Er stutzte. Eben noch war der Gedanke klar und deutlich da gewesen, aber jetzt fühlte es sich unsicher, irgendwie verschwommen an. „Dass ich sie töten muss… Dass ich ihr alles heimzahlen muss, alle Lügen…“ „Aber das mit der Legende der Federn war keine Lüge, das siehst du ja nun.“ Ash schwieg. Er suchte nach den passenden Antworten, aber sie waren ihm entwichen. „Wie hat das angefangen? Wie kamst du darauf, dass du sie töten musst?“ „Da…“ Ein Erinnerungsfetzen huschte ihm durch den Kopf. Wie war er noch mal darauf gekommen? Wann hatte es angefangen? „Da waren diese Gedanken. Im… im Nebel. Als wir im Nebel waren, als ich sie vor den Blitzen beschützen sollte, da dachte ich plötzlich, was für eine einfache Art das war, jemanden loszuwerden, den man loswerden wollte. Und dass sie sich so verändert hatte… Was sie zu mir gesagt hatte… Ich wollte das gar nicht denken, aber es ging immer weiter, und irgendwann wusste ich, dass sie mich nur belogen hat, dass sie mich umbringen will, und dann wollte ich ihr zuvorkommen und mich für alles rächen, ich musste es tun, ich –“ Er stoppte, als Gary ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Ist gut, Ash. Es ist vorbei. Ishi hat dich reingelegt.“ Als hätte Gary statt eines einfachen Satzes eine Zauberformel von sich gegeben, brach etwas um Ash beim Klang dieses fremden Wortes plötzlich zusammen, und auch Misty horchte auf. „Ishi?“ Gary nickte. „Ja, Ishi. Die vierte der Mächte.“ Fragend sah sie Gary an, und ihre Verwunderung irritierte auch ihn. „Wart ihr denn nicht bei der Insel draußen? Ich dachte, Arktos und Zapdos würden ihre Auserwählten auch dort hinbringen. Ich denke, du kennst die Legende der Federn?“ „Ja, ich war auch draußen, und ich hab die Bruchstücke der Legende gelesen. Aber da stand nirgends der Name Ishi. Nur, dass es eine vierte, böse Macht gibt, und dass wir dagegen kämpfen müssen.“ „Ishi ist –“ Er wurde unterbrochen, als Ash in diesem Moment kraftlos auf die Knie sank, den Blick gen Boden gerichtet, sein Gesicht vor den anderen beiden verbergend. „Was… was hab ich getan…“ „Das nennt man dann wohl Erkenntnis… Misty, auch wenn's sicherlich schwer zu glauben ist – ich denke wirklich, dass Ash reingelegt worden ist, dass er von Ishi aufgehetzt wurde und dass es nicht seine Schuld ist.“ „Was ist denn diese Ishi nun? Du scheinst ja noch mehr darüber zu wissen. Stand das auch an den Felsen? Ich konnte nur den ersten Abschnitt deutlich lesen, den über Ellenki, Wazu und Fii. Der Rest war nur Bruchstücke.“ „Bei mir war der Text auch nicht vollständig, aber anscheinend vollständiger als bei dir? Warte, ich les euch vor, was ich abgeschrieben hab.“ Er kramte einen Block aus seiner Tasche, hustete kurz leise, räusperte sich, und begann dann mit deutlicher Stimme zu lesen. „'Und dann ist da noch eine weitere Macht, und das ist Ishi, die Kraft über die Gedanken und das Seelenleben. Aber Ishi ist anders als die anderen Mächte, und anstatt das Gleichgewicht zu bewahren…' Da fehlt ein Stück. Und dann geht es weiter: 'Ishi birgt auch die Macht, die Gedanken anderer zu manipulieren, und das macht sie noch stärker, und für manch einen ist sie zu stark.' Dann fehlt wieder ein Stück. Und es endet so: 'Wer sie nicht kontrollieren kann, wer zu schwach für diese große Macht ist, den stürzt sie ins Chaos, und dann gerät Ishi außer Kontrolle und stürzt die ganze Welt ins Chaos. Und wann immer Ishi außer Kontrolle gerät, erwachen auch die die drei Federn und werden von den drei Vögeln zusammengeführt. Es ist ihre Aufgabe, Ishis Träger in jedem Fall zu stoppen, was auch immer sie dafür tun müssen. Und nur gemeinsam kann es ihnen gelingen, Ishi zu bannen und zu versiegeln, auf dass sich die Welt wieder beruhigen kann.'“ Er hielt für einen Moment inne, beobachtete die Reaktion seiner beiden Zuhörer, und fuhr dann fort. „Ich denke, wer auch immer Ishi beherrscht, weiß von diesem Teil der Legende, oder weiß zumindest, dass alle drei Federn notwendig sind, um Ishi zu versiegeln. Darum versucht er, uns von einander zu trennen, noch bevor wir uns gefunden haben. Wenn wir uns zerstreiten, wenn einer von uns nicht mehr an die Sache glaubt, dann ist der Kampf vorbei noch bevor er überhaupt angefangen hat.“ Er rief Lavados zurück in seinen Pokéball, verstaute diesen wieder in seiner Tasche und sah die anderen beiden abwartend an. „Also war das alles nur ein Theater, das Ishi eingefädelt hat. Ein Trick, um Ash wütend auf mich zu machen und uns auseinander zu bringen.“ „Ich gehe davon aus, ja.“ Misty nickte und sah dann zu Ash, der noch immer am Boden hockte, die Hände in den kalten Boden gekrallt. Wie hatte das passieren können. Wie hatte passieren können, dass jemand anderer von seinen Gedanken Besitz ergreift, dass er sie so manipuliert, bis er bereit war, das Unmöglichste zu glauben und das Unfassbarste zu tun? Warum war er so schwach gewesen? Warum hatte er diesen Gedanken so sehr Vertrauen geschenkt? Ash zuckte zusammen, als er plötzlich erneut eine Hand an seiner Schulter vernahm. Diesmal war es nicht Garys. „Es ist ok.“ Mistys Stimme war leise. „Du hast Gary gehört: Du wurdest reingelegt und es ist vorbei.“ „Wie kannst du das so einfach sagen?!“ Er stand auf, wischte ihre Hand von seiner Schulter, doch statt Zorn lagen nun Unverständnis und Selbstzweifel in seinem Blick. „Was ist denn, wenn das noch mal passiert? Wenn es Ishi noch mal schafft, mich zu bequatschen? Wenn das Ganze dann wieder von vorne losgeht?“ „Nun, zumindest sollte sie nicht mehr versuchen, einen von uns aus dem Weg zu räumen, denn da hat sie einen gehörigen Denkfehler gemacht. Wenn du Misty wirklich umgebracht hättest, wäre schließlich eine neue Feder erwacht. Und auch wenn Arktos die erst hätte finden müssen, hätte Ishi so nicht viel gewonnen. Ok, das wäre natürlich nur ein schwacher Trost für uns gewesen, aber –“ „Ein ganz schön schwacher Trost! Verdammt, selbst wenn Ishi nicht mehr vorhaben sollte, einen von uns zu ermorden – ich will nicht, dass mir das gleiche noch mal passiert, ich will nicht noch mal zu ihrer Marionette werden!“ „Na dann nehmen wir ihr doch einfach mal die Grundlage dafür.“ Ash und Misty sahen Gary verwundert an. „Ich glaub einfach nicht, dass du dich nur von so einer einfachen Lüge hast bequatschen lassen.“ „Dass die Legende nicht echt sein soll? Vielleicht ist es meine Schuld… Vielleicht hätte ich ihm mehr erzählen können, ihm die Insel zeigen können, damit er es glaubt.“ „Es kann nicht nur an der Sache mit der Legende gelegen haben. Wie du vorhin selbst gesagt hast, er hat Zapdos gefangen, und er hat die drei Mächte gesehen, er hat Ellenki sogar selbst benutzt. Das war so eine offensichtliche Lüge, das kann nicht alles gewesen sein.“ Er versuchte, sich die Ereignisse von zuvor ins Gedächtnis zu rufen. War da nicht irgendein Anhaltspunkt in dem, was Ash gesagt hatte? „Weißt du noch, was für Gedanken genau das waren, die Ishi dir zugeflüstert hat?“ Ash dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf. „Nein. Es ist irgendwie alles… weg. Also alles Konkrete… Ich weiß nur noch, dass ich plötzlich unglaublich wütend war und… und dass ich…“ „Ist schon gut.“ Misty griff nach seiner Hand. „Quäl dich nicht.“ „Aber irgendwas muss doch noch gewesen sein… Du hast vorhin irgendwas von 'damals' gesagt. Kannst du dich erinnern, was du damit gemeint hast? Wann war denn dieses Damals? Und was war da?“ Ash zuckte zusammen und zog seine Hand weg. „Das hat nichts damit zu tun.“ Gary besah ihn mit einem skeptischen Blick. „Ich glaube schon, dass es das tut, du wirst das schließlich nicht ohne Grund erwähnt haben. Und wenn du dich sogar noch daran erinnern kannst, was du gemeint hast – meinst du nicht, du bist uns eine Erklärung irgendwie schuldig?“ Ja, das war er wohl. Betreten sah er zur Seite. „Ich…“ Er hatte es nicht sagen wollen, weil es ein Zeichen von Schwäche war. Aber sich von Ishi beeinflussen zu lassen war definitiv die größere Schwäche gewesen. „Ich… war wütend wegen damals. Als Misty gegangen ist. Dass sie mich einfach so im Stich gelassen hat.“ „Aber ich hab dir doch gesagt, warum ich das gemacht hab! Weil wir dir nur im Weg standen, und du –“ „Genau das hat mich ja so wütend gemacht! Dass du mir sagst, du wärst nicht gegangen, wenn ich nicht so unfähig gewesen wäre! Dass ihr bei mir geblieben wärt, wenn ich mich nicht auf euch verlassen hätte. Ich wollte nicht, dass das die Antwort ist. Ich wollte, dass es eine Ausrede ist, eine Lüge, dass es nicht meine Schuld war, dass ihr alle gegangen seid. Ich wollte, dass du auch Schuld daran hast, dass du auch etwas falsch gemacht hast, dass nicht nur ich –“ „Ich habe etwas falsch gemacht.“ Er sah überrascht auf. „Aber ich war zu stolz, um es zuzugeben. Ash, ja… ja, ich bin gegangen, weil ich dir helfen wollte. Aber ich hab gemerkt, dass es dumm war, nicht mit dir darüber zu reden. Ich dachte, was ich mache wär klug, dass du schon über uns hinweg kommst und dann endlich der Trainer werden kannst, der du längst hättest sein sollen. Aber dir nichts zu erklären und einfach so zu gehen war wohl das Dümmste, was ich hätte tun können. Das wurde mir leider erst klar, als ich hörte, dass du es aufgegeben hattest, ein Pokémontrainer zu sein. Ich wusste, dass es falsch war, was ich gemacht hatte, und dass ich dir bestimmt irgendwie hätte helfen können… Aber ich wollte meinen Fehler nicht einsehen, nicht zugeben, und hab mich darum weiter hinter der guten Absicht versteckt, die ich gehabt hatte… Es tut mir leid.“ Er sah sie an. Er wollte irgendetwas sagen, irgendetwas erwidern, aber jeder Satz, jedes Wort, das ihm in den Sinn kam, war nicht gut genug und konnte nicht ausdrücken, was er gerade empfand, weil in ihm die Verwirrung tobte, aber auch Erleichterung und Reue. „Ich hoffe, du kannst mir das verzeihen.“ Der hauchdünne Anflug eines Lächelns legte sich auf seine Lippen. „Ich hab gerade versucht, dich umzubringen, und du bist mir scheinbar kein Bisschen böse. Wenn du mir also das verzeihen kannst…“ „Du warst nicht du selbst. Und du hast länger gelitten.“ „Ja… aber jetzt kenn ich die Wahrheit. Und dass du mal über deinen Schatten springen und dich bei mir entschuldigen musst, war es die Sache fast schon wert.“ Er scherzte, er neckte sie, und sie konnte nicht fassen, dass das gerade wirklich passierte, und dass es für einen Moment fast wie früher zwischen ihnen war. „Also schön. Ich verzeih dir.“ „Danke.“ Gary, der die Szene bis eben wortlos beobachtet hatte, lächelte nun und hustete leise, woraufhin die beiden anderen sich zu ihm umwandten. „Ich denke, jetzt wo das geklärt ist, sollten wir langsam mal zusehen, dass wir noch ein wenig Schlaf finden. Denn ich geh mal davon aus, dass der Großteil der Strapazen erst noch vor uns liegt.“ Die anderen beiden nickten. Und so waren es nun drei Federn, die ihren Weg zurück in das trostlose Dorf und das kleine, heruntergekommene Hotel fanden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)